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ADB:Waitz, Theodor

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Artikel „Waitz, Theodor“ von Georg Gerland in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 40 (1896), S. 629–633, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Waitz,_Theodor&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 07:12 Uhr UTC)
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Waitz: Franz Theodor W., Philosoph, wurde am 17. März 1821 zu Gotha geboren. Er stammte aus einer Familie, welche im 16. Jahrhundert aus Waitzen in Ungarn (nach welcher Stadt sie sich benannte) um des Glaubens willen nach Deutschland eingewandert sein soll, ein Vater mit 11 Söhnen. Ihre Nachkommen sind weit verbreitet, die W. in Schleswig und so auch der verstorbene Historiker Georg W. gehören zu ihnen, in Sachsen-Gotha folgt sich im 17. und 18. Jahrhundert eine fast ununterbrochene Reihe von Predigern und Schulmännern dieses Namens. Auch Theodor W., dessen Großvater und Urgroßvater geistliche und Schulämter bekleidet hatten, war der Sohn eines Geistlichen, des hochgeachteten Stiftspredigers und Directors des Lehrerseminars Heinr. W., der neben seinem pädagogischen Beruf sich gern mit Philosophie beschäftigte und 1840 ein kurzes Lehrbuch der Logik herausgegeben hat. Auf das sorgfältigste leitete derselbe die Erziehung seiner beiden Kinder, eines Sohnes und einer Tochter, und dieser Sohn zeigte schon früh eine ungewöhnliche Begabung. Es ist sehr merkwürdig, wie sich W. sein ganzes Leben hindurch gleich geblieben ist; alles das, was sich später bei ihm entwickelt hat, zeigt sich in seiner frühesten Kindheit vorgebildet. Und ganz analog verläuft seine spätere philosophische Entwicklung: schon bei seinen ersten Anfängen tritt uns in den Grundzügen das ganze System derselben entgegen. W. ist bei reichem Ausbau desselben immer weiter, höher gekommen, aber seine Bahnen waren ihm von Jugend auf in gerader Linie vorgezeichnet. – Schon als kleines Kind ließ er sich nur ungern helfen: mit dem Wort „selber“ pflegte er, noch ehe er es richtig sprechen konnte, fremden Beistand abzulehnen; sehr früh „zeigte er eine entschiedene Neigung für den Lehrstand, die sich bei ihm stets gleichgeblieben ist“. [630] In der Jugend ernst, ist er mit den Jahren eher heiterer geworden; seine Mutter, eine kluge und begabte Frau, war infolge seines verschlossenen Wesens nicht immer gerecht gegen ihn, den schon früh das Bewußtsein durchdrang, daß der Mensch vor allem seiner Pflicht leben müsse, der sich schon früh schriftlich Rechenschaft zu geben pflegte, ob er das gethan. Gegen Unfreundlichkeit, auch wenn sie nur in der äußeren Form lag, war er leicht empfindlich und zog sich dann scheu von Menschen, die ihm so begegneten, zurück. Innig empfand er das Bedürfniß nach Freundschaft, doch schloß er sich nur schwer an, da seine Anforderungen hoch und nicht leicht zu befriedigen waren. Er kannte seinen Werth, war aber stets und durchaus bescheiden und eher zurückhaltend. – Auf seine Kindheit und Jugend wirkte auch eine treffliche Fürstin ein: Karoline Amalie, die Tochter des Kurfürsten Wilhelm I. von Hessen, seit 1822 Wittwe des Herzogs August von Sachsen-Gotha, hatte so viel Freude an dem schönen Knaben, daß sie ihn zusammen mit den Söhnen ihrer Stieftochter, dem nachmaligen Herzog Ernst von Koburg-Gotha und dem Prinzen Albert aufwachsen lassen wollte, und als dies Waitz’ Eltern verhinderten, ihn wenigstens viel um sich hatte und bis zu ihrem Tod, 1848, mit ihm in Verbindung blieb.

Seinen ersten Unterricht empfing W. auf der Seminarschule und schon damals wurde der Grund zu seiner tüchtigen mathematischen Bildung gelegt; später besuchte er das Gymnasium seiner Vaterstadt, an welchem Männer wie Döring, Wüstemann und Rost lehrten: „hier trieb er mit vorzüglichem Interesse die alten Sprachen und Mathematik, am meisten aber fand er sich schon vor dem Beginn seiner Universitätsstudien von abstrakten philosophischen Fragen angezogen“. Eine ungewöhnlich frühe geistige Reife war einer der bezeichnendsten Züge seiner Natur und so bestand der erst siebzehnjährige (1838) die Maturitätsprüfung mit der besten Note. „Nach einem kurzen und schnell als unthunlich erkannten Versuche, sich der Theologie zu widmen, hörte er in Jena und Leipzig hauptsächlich philosophische und mathematische Vorlesungen“ – in Jena war es Göttling, in Leipzig namentlich Drobisch, der ihn anzog und mit dem er in fortdauernder fruchtbarer Verbindung blieb – „während er für sich fast ausschließlich mit dem Studium Plato’s, Kant’s und Herbart’s beschäftigt war“. Schon 1840 überraschte er seine Eltern zu ihrer silbernen Hochzeit mit dem philosophischen Doctordiplom, das er sich in der ehrenvollsten Weise und aus selbstverdienten Mitteln erworben hatte. Nach Absolvirung des Trienniums und einjährigem Aufenthalt im Elternhause, den er zu eifriger Vorbereitung benutzte, begab er sich „auf eine längere Reise nach Italien und Frankreich, deren Bibliotheken ihm das Material zu der zwei Jahre später erschienenen Ausgabe des Aristotelischen Organons lieferten. Neben der Ausarbeitung dieses Buches, welches eine bleibende Vorliebe für jenen Philosophen und für dessen Richtung des Denkens bei ihm begründete, machte er sich mit den Quellen der Geschichte der neueren Philosophie genauer bekannt und ging dann (1844), obwol nicht ohne Mißtrauen in seine Kräfte, nach Marburg, um sich an der dortigen Universität für das Fach der Philosophie zu habilitiren, da sein engeres Vaterland ihm keine Wirksamkeit als Lehrer eröffnen zu wollen schien“. Seine Habilitationsschrift behandelt Aristot. περὶ ἑρμηνείας cap. 12. Die Ausgabe des Organon (2 Bde., 1844 u. 1846) mit einer Anzahl ungedruckter griechischer Scholien und lateinischem Commentar, ist noch heute eine der besten: schon dies erste Werk des jugendlichen Verfassers zeigt – so sagt Zeller – alle die Vorzüge, welche seine Arbeiten überhaupt auszeichnen, gewissenhafteste Genauigkeit der Einzelforschung, vollkommene Beherrschung des Materials und eine Sicherheit der Methode und Reife des Urteils, wie man sie bei einem dreiundzwanzigjährigen Jüngling äußerst selten in solcher Vollkommenheit finden wird. Die [631] Gründe, welche W. zum Studium des Aristoteles trieben, sind charakteristisch für ihn; die Philosophie, beginnt die Vorrede Org. I, ist in wahrer Lebensgefahr: non defuerunt enim qui in philosophia excolenda ita versati sint, ut somniis delectati non solum homines, sed etiam ipsam veritatem spe inani eludere non erubescerent; Aristoteles aber muß einen jeden fesseln, qui philosophiae studio se dedit, non ut sibi fingat, sapientiam generi humano esse datam, cujus qualemcunque formulam componat, sed ut quod sciri possit redigat ad disciplinam accurate non modo fundatam, verum etiam exstructam. Es ist dies der Grundzug aller seiner Werke; dies der Grund, warum W. sich namentlich zu Herbart hingezogen fühlt, warum er aber auch in so wichtigen Punkten, z. B. in Ablehnung der mathematischen Behandlung der Psychologie, über Herbart hinauswuchs. Zugleich ist es der Grund, weshalb er sich zunächst hauptsächlich psychologischen Studien zuwendete, „in denen er sich auch durch die Unruhe des Jahres 1848 nur wenig stören ließ, nicht weil er gleichgültig gegen die politische Bewegung gewesen wäre, sondern weil er überhaupt niemals sich entschließen mochte, thätigen Antheil an Dingen zu nehmen, von denen er sich bewußt war, nur wenig zu verstehen. Der Anregung seines Freundes Ludwig hatte er es zu verdanken, daß er seine psychologischen Untersuchungen in eine möglichst enge Verbindung mit den einschlagenden Thesen der Physiologie setzte und infolge davon sich immer mehr bemühte, ihnen eine empirische Grundlage zu geben“. Diese seine ganze Richtung gab aber auch seinen Vorlesungen die klare, ruhige, eher nüchterne Art, die formell von den Studenten nicht immer gewürdigt werden konnte, deren Inhalt aber in seiner scharfen Bestimmtheit die Zuhörer so leicht nicht wieder losließ. In Marburg entfaltete W. eine geradezu staunenswerthe schriftstellerische Thätigkeit. Mit dem 2. Bde. des Organon erschien 1846 seine „Grundlegung der Psychologie, nebst einer Anwendung auf das Seelenleben der Thiere“. Man begreift kaum, wie beide Werke zusammen fertig werden konnten. Denn auch die Grundlegung zeugt von höchst umfassenden Vorarbeiten, wie denn W. längere Zeit auch praktisch anatomisch arbeitete; es zeigt sich hier die Anregung seines Freundes Ludwig, des berühmten Physiologen. Und schon 1849, nachdem W. am 26. August 1848 zum Extraordinarius ernannt war, veröffentlichte er sein großes „Lehrbuch der Psychologie als Naturwissenschaft“, und Grundlegung wie Lehrbuch sind „zwei der werthvollsten neueren Werke auf psychologischem Gebiet“ (Zeller).

Auf dieser theoretischen Psychologie baut W. zunächst seine praktische Philosophie, die Ethik, und dann die Kunstlehre der letzteren, die Pädagogik auf. Seine „Allgemeine Pädagogik“ erschien 1852; einige pädagogische Abhandlungen waren ihr vorausgegangen, wie die 1848 geschriebene „Welchen Antheil soll der deutsche Reichstag an der Organisation des Unterrichtswesens nehmen?“; 1851 „Reform des Unterrichts“ 1823 „Ueber die Methode des Unterrichts im Lesen und Schreiben, eine psychologische Untersuchung“. Andere folgten nach, welche sich wieder auf die Reform des Unterrichts und auf den damals in Kurhessen heftig entbrannten Streit über diese Reform bezogen (1857 f.) – ein Streit, der von Heinr. Thiersch angeregt, dadurch ein allgemeines Interesse hat, daß er in Deutschland eine der ersten und lebhaftesten Aeußerungen gegen manche Uebelstände des Unterrichts war. Von der damals überall herrschenden Reaction wurde W. als sachlich gefährlicher Gegner betrachtet; er hat nie einen Ruf an eine andere Universität erhalten und obwol er am 16. November 1862 zum Ordinarius ernannt war, hielt man ihn von der Prüfungscommission für Gymnasiallehrer fern, in welche er erst im Februar 1864 eintrat. „Sein Interesse für Erziehung und Unterricht zu bethätigen“, sagt W. von sich selbst, „und seine psychologischen Studien in dieser Richtung zu verwerthen, fand sich, abgesehen [632] von Vorlesungen und von der Ausarbeitung eines selbständigen Werkes über diesen Gegenstand keine Gelegenheit. Reifer pädagogischer Einsicht schien man um diese Zeit weder in Kurhessen noch anderwärts in Deutschland zu bedürfen.“

Außer durch seine pädagogischen Schriften, die O. Willmann in Prag in 2. vermehrter Auflage (mit Zusätzen aus Waitz’ Nachlaß) 1875 herausgegeben hat, wirkte W. durch seine Vorlesungen, und diese Wirkung blieb stets eine tiefeingreifende. Er las Psychologie, Ethik, Pädagogik, Geschichte der Philosophie, Logik, später kamen Vorlesungen hinzu über Leib und Seele sowie über Anthropologie der Naturvölker. Letztere Wissenschaft war es, welcher sich W. nach Vollendung der Pädagogik vorzugsweise zuwendete. Nach sechsjährigen anstrengenden Vorstudien erschien 1859 der erste Band seines größten und leider auch letzten Werkes, der „Anthropologie der Naturvölker“ mit dem Separattitel „Ueber die Einheit des Menschengeschlechts und den Naturzustand des Menschen“ (in 2. Aufl. mit Zusätzen a. d. Papieren des Verf. vom Unterzeichneten 1877 herausgegeben), dem in staunenswerth rascher Folge die weiteren Bände folgten: 1860 der 2. Band: die Negervölker und ihre Verwandten, ethnographisch und kulturhistorisch dargestellt; der 3. u. 4: die Amerikaner, 1862 und 1864; der Unterzeichnete gab dann 1865 das druckfertige Manuscript: die Malaien heraus und hat später mit Benutzung der Waitzischen Excerpte die zweite Hälfte des 5. und den 6. Band ausgearbeitet (1870 und 1872); Waitz’ Studie „Die Nordamerikaner“ veröffentlichte Ploß 1865. Sie war ursprünglich in Sybel’s Histor. Zeitschrift erschienen. „Waitz“, so lautet der Schluß der Selbstbiographie, „war 1848 zum a. o. Professor ernannt worden, er hatte seine Lehrfähigkeit ausgebildet, er war ihrer sicher geworden und so konnte es nicht fehlen, daß der längere Aufenthalt in einer kleinen Universitätsstadt, die an Kunstgenüssen fast nichts, interessanten geselligen Verkehr nur in sehr beschränktem Maße und dem akademischen Lehrer nur eine geringe Wirksamkeit bot, ja in der die Wissenschaften selbst mehr nur noch geduldet als gepflegt zu werden schienen, für ihn allmählich immer drückender wurde. Er suchte und fand für diese Entbehrungen eine Entschädigung in einem glücklichen Familienleben und in Ferienreisen, vor allem aber in weiteren Studien, die sich von nun an vorzüglich einem in Deutschland leider noch zu wenig bekannten und beachteten Fache, der Anthropologie und Ethnographie zuwendeten“.

W. hatte sich 1847 mit Luise Beck, Tochter des 1779 zu Pirmasens geborenen großh. hessischen Generals Beck verheirathet, mit der er verwandt war, einer ebenso liebenswürdigen wie bedeutenden Frau, die ihrem Manne geistig ebenbürtig zur Seite stand. Von den drei Kindern dieser Ehe lebt noch der Sohn, Professor Karl Waitz in Tübingen. Dies Familienleben war ein sehr glückliches und höchst anziehend für nähere und fernere Freunde. W. selber war eine durchaus edle Natur, nach allen Seiten durchgebildet, im Verkehr liebenswürdig, mit freundlichster Theilnahme für jeden – eine Persönlichkeit, wie man sie im Leben so gern hat und doch so selten findet. Ein Zug seines Wesens ist noch besonders zu erwähnen: seine musikalische Befähigung. Er war ein tüchtiger Kenner der musikalischen Litteratur, ein tüchtiger Clavierspieler, sein freies Phantasieren wird als sehr ergreifend geschildert; auch hat er, wie Herbart, selbst componirt, und eine größere Sonate ist 1844 bei Breitkopf und Härtel erschienen. Seine letzte Sonate ist 1861 geschrieben – wie es scheint, schrieb er die Compositionen rasch nieder, sie zeigen keine Correcturen. Leider wurde dies reiche Leben, welches noch so viel leisten konnte und leisten wollte – nach der Anthropologie beabsichtigte W. die Religionsphilosophie zu bearbeiten – frühzeitig zerstört. Schon im Herbst 1863 war W. von München [633] krank zurückgekehrt und hatte sich den ganzen Winter über unwohl gefühlt. Dennoch ging er in den Osterferien 1864 zu neuen Studien wieder nach München, wieder kam er krank zurück: schnell entwickelte sich ein Typhus, der nach anscheinend günstigem Verlauf sich plötzlich verschlimmerte und am 21. Mai 1864 den eben 43iährigen dahinraffte.

Ueber Waitz’ Philosophie, namentlich über seine „praktische“ Philosophie hat am ausführlichsten und vortrefflich O. Willmann in der Einleitung zur 2. Auflage der Pädagogik gehandelt. Und allerdings liegt auf dem Gebiet, welches W. als praktische Philosophie bezeichnete, das Hauptgewicht seiner Thätigkeit: abgesehen von der Logik behandelte er theoretisch nur Psychologie und Psychophysik, und beide als Naturwissenschaften. Er konnte (Grundlegung S. IV) die Aufgabe der Philosophie nur darin finden, eine Wissenschaft aufzustellen, welche den Grund aller Erfahrung und diese aus jenem begreiflich macht; alles andere erschien ihm inhaltsleere Speculation. Durch strenge Consequenz dieses Standpunktes nimmt er eine ganz eigenthümliche Stellung ein: er geht von der philosophischen Betrachtung des Individuums aus und kommt zur Philosophie der Gesellschaft, zur Grundlegung der Sociologie; denn als solche muß man seine Anthropologie der Naturvölker bezeichnen. Auch die Religionsphilosophie liegt auf diesem Wege und daß die gesammte praktische Philosophie ebenfalls dahin führt, ist klar. Dadurch hat er für die Zukunft Grundlage und Bahnen von größter Wichtigkeit und Fruchtbarkeit geschaffen. Und gerade nach dieser Richtung hin ist dann auch seine Anthropologie der Naturvölker vorzugsweise benutzt worden.

Selbstbiographie in Strieder’s hess. Gel.- u. Schriftstellergesch., fortgesetzt von Otto Gerland. Kassel 1863, S. 153 (im Vorstehenden mit „ “). – Nekrolog in der Beil. der Augsb. Allg. Ztg. vom 2. Juni 1864 (von Prof. E. L. Th. Henke). – Ed. Zeller, Theodor Waitz, in Vorträgen und Abhandlungen. 2. Samml. Berlin 1877, S. 363 f. – Familiennachrichten, Mündliches, z. Th. von Prof. Dr. K. Waitz (Tübingen), persönl. Erinnerungen.