ADB:Drobisch, Moritz
Mollweide, in Philosophie an Krug, den Kantianer, anschloß. Durch letzteren wurde er in die kritische Philosophie eingeführt, die er Zeit seines Lebens hoch schätzte, wenn er auch nicht auf Kant’schem Standpunkte stehen blieb. Im Jahre 1824 erwarb er sich die Doctorwürde in Leipzig und zugleich die Rechte eines Privatdocenten in der philosophischen Facultät durch die Dissertation: „Theoriae analyseos geometrica prolusio“. Er hatte die Absicht als Lehrer an einer höheren Schule thätig zu sein, wurde aber 1826 schon zum außerordentlichen Professor und in demselben Jahre, also 24 Jahre alt, zum ordentlichen Professor nach dem Tode Mollweide’s ernannt. Zuerst widmete er sich als akademischer Lehrer vorzüglich der Mathematik, hielt aber auch philosophische Vorlesungen und übernahm 1842 nach dem Tode Krug’s zugleich eine ordentliche Professur der Philosophie, auf die er sich von 1864 an beschränkte. In seinem 84. Jahre ließ er sich von der Verpflichtung, Vorlesungen zu halten, entbinden. Der Kreis der Gegenstände, über die er las, war ein sehr weiter: außer seinen mathematischen Vorlesungen, namentlich über reine Mathematik, Geometrie, Trigonometrie und Astronomie, hielt er namentlich solche über Encyklopädie und Methodologie der Philosophie, über Logik, Psychologie, Metaphysik nach Herbart, Metaphysik der Natur, Mathematische Psychologie, Fundamente der theoretischen und praktischen Philosophie, Grundlehren der Ethik und Religionsphilosophie, Religionsphilosophie, Grundlehren der Erkenntnißtheorie Kant’s mit kritischer Bezugnahme auf dessen Vorgänger, über den Mechanismus und die teleologische Naturansicht, über Willensfreiheit. Das Gebiet der Geschichte der Philosophie vertrat der mit ihm zusammenwirkende Hartenstein, doch wählte D. sich auch gewisse Gegenstände zu historisch-kritischer Behandlung für seine Vorträge aus, so Kant’s Theorie und Kritik der Erfahrung, Fundamente von Kant’s Moralphilosophie, historisch-kritische Uebersicht der Principien der Ethik u. a. Seine Vorlesungen zeichneten sich durch große Klarheit, präcise Entwicklung der Probleme und ihrer Lösungen, strenge Ordnung und wissenschaftlichen Ernst aus. Dabei wurden sie lebendig gehalten und führten den Anfänger namentlich in die großen Fragen der Philosophie trefflich ein. Tausende von Zuhörern haben zu seinen Füßen gesessen und sind ihm als Schüler dankbar gewesen.
Drobisch: Moritz Wilhelm D. war am 16. August 1802 in Leipzig geboren, als Sohn des dortigen Stadtschreibers, besuchte zunächst die Nicolaischule daselbst und brachte die letzten Jahre seiner Gymnasialzeit an der Fürstenschule zu Grimma zu, wo er eine große Neigung zu Mathematik und Astronomie zeigte. Seine Universitätsstudien machte er in seiner Vaterstadt, indem er sich in Mathematik besonders anWas seine wissenschaftlich-schriftstellerischen Leistungen betrifft, so bezogen sich seine ersten Schriften und auch später noch mancherlei Arbeiten auf Mathematik und auf dieser verwandte Gebiete. Es sind da von ihm erschienen: „Grundzüge der Lehre von den höheren numerischen Gleichungen“, Leipzig 1834, „Ueber die mathematische Bestimmung musikalischer Intervalle“, ebd. [81] 1846, „Ueber musikalische Tonbestimmung und Temperatur“, ebd. 1852, ferner: „Ueber das Florentiner Problem“, „Ueber den Raum von drei Dimensionen“, „Ueber Fechner’s psycho-physisches Grundgesetz“ und vieles andere. Wenn auch D. dem wunderbaren Aufschwung, den die Mathematik durch Jacobi, Abel u. A. nahm, nicht ganz folgte, so zeichneten sich seine Schriften auf diesem Gebiete doch durch „scharfsinnige Durchführung wie durch Klarheit und Präcision der Darstellung aus“. Seine hauptsächlichen wissenschaftlichen Verdienste liegen jedoch auf dem Gebiete der Philosophie, und hier wieder darin, daß er im ganzen, nachdem er mit den Schriften Herbart’s und später mit diesem Philosophen selbst persönlich bekannt geworden war, sich dessen Ansichten anschloß, ja sich als Herbartianer bekannte. Freilich schwor er als selbständiger Denker nicht auf die Worte des Meisters, machte im Gegentheil gegen Herbart’s Ansichten, namentlich gegen dessen mathematische Psychologie manche Bedenken geltend, so daß sogar in das ursprünglich sehr gute Verhältniß zwischen ihm und Herbart gegen das Lebensende des letzteren bemerkbare Kälte kam. Herbart hatte gehofft, in D. einen durchaus ergebenen Apostel zu finden, der ihm besonders wegen seiner mathematischen Schulung von großem Nutzen sein sollte, hatte sich aber darin getäuscht. Ein Zeugniß für Herbart legte D. noch an dessen hundertstem Geburtstage in einer akademischen Festrede ab, die auch gedruckt wurde, indem er sagte, er glaube nicht, daß alle Probleme, an denen sich die großen Denker alter und neuer Zeiten abgemüht hätten, durch Herbart ganz befriedigend gelöst seien, er habe sich aber unvergängliche Verdienste um die Philosophie erworben, die tiefe Gründlichkeit seiner Untersuchungen, die Methode seiner Forschung, sei mustergültig, und die Resultate, die er gewonnen, würden in der überwiegenden Mehrzahl einen bleibenden Werth behalten. Und in einer nicht lange nach dem Tode Herbart’s veröffentlichten Abhandlung: „Blicke auf die philosophischen Zustände der Gegenwart“, hatte er in ehrlich anerkennender Weise schon geäußert, daß nach den langen Kämpfen der speculativen Philosophie, die ohne dauernden Erfolg geblieben seien, die Zeugungskraft der Philosophie sich am fruchtbarsten bewähren würde, wenn man die Untersuchungen aufnähme, die Kant so großartig eingeleitet und nach ihm niemand umfassender und scharfsinniger fortgeführt habe als Herbart, an den man also anknüpfen müsse. Wie Herbart selbst von Kant ausgegangen war, so fühlte sich auch D. in seinem Denken dem Königsberger Philosophen nahe verwandt, beschäftigte sich in der letzten Zeit seines Lebens namentlich wieder eifrig mit ihm, wofür die mehrfachen Vorlesungen über Theile der Philosophie Kant’s, sowie die Schrift: „Kant’s Dinge an sich und sein Erfahrungsbegriff“, Leipzig 1882, sprechen. Auf Herbart’schem Standpunkt stehen mehr oder weniger die Hauptschriften Drobisch’s. Unter diesen ist zunächst zu nennen: „Neue Darstellung der Logik nach ihren einfachsten Verhältnissen“, Leipzig 1836, 5. Aufl., ebd. 1885, in der die formale Logik, wie sie Kant und Herbart gelehrt, im Gegensatz zu Hegel zu ihrem Rechte kommen sollte; nichts von Metaphysik, nichts von Erkenntnißlehre war darin zu finden. In den späteren Auflagen war der nackte Formalismus etwas gemildert. Diesem musterhaft klar geschriebenen logischen Lehrbuch folgten: „Grundlehren der Religionsphilosophie“, Leipzig 1840, aus denen namentlich die eingehende Prüfung der sogenannten Gottesbeweise hervorzuheben ist. Sehr verdienstlich ist ferner Drobisch’s „Empirische Psychologie nach naturwissenschaftlicher Methode“, Leipzig 1842, in welcher er durch bloße Zergliederung, Vergleichung und Verknüpfung von Thatsachen der inneren Erfahrung eine brauchbare Ansicht von den Vorgängen des geistigen Lebens gewinnen wollte, im Gegensatz zu den mystisch-phantastischen Aufstellungen unter den Anhängern Schelling’s. Gleichsam als [82] Ergänzung und als Versuch nach der rationalen Seite hin ließ er „Erste Grundlinien der mathematischen Psychologie“, Leipzig 1840 erscheinen, indem er hier die Ansicht ausspricht, daß die aufeinander folgenden, verschiedenen seelischen Zustände nur eng zusammenhängenden mathematischen Untersuchungen zugänglich seien, aber in der Art der Begründung wie in den Ergebnissen vielfach von Herbart abweicht. Mit einer ethischen Frage beschäftigte sich die Schrift: „Die moralische Statistik und die menschliche Willensfreiheit“, Leipzig 1867, worin er nach der Weise Herbart’s nicht einen eigentlich mathematischen, sondern nur einen psychologischen Determinismus anerkennt. Aus den vielen Abhandlungen, die von ihm in den Schriften der Kgl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften veröffentlicht worden sind, sei nur die eine erwähnt: „Die Stellung Schiller’s zur Kantschen Ethik“, die sich besonders gegen Kuno Fischer wendet und darthut, daß Schiller keineswegs das moralische Ideal durch das ästhetische verdrängen ließ.
Obgleich wissenschaftlich als Schriftsteller und namentlich als Lehrer äußerst thätig, widmete er doch noch viele Zeit den Universitäts-Angelegenheiten, und er war unter den Professoren Leipzigs einer der angesehensten und einflußreichsten, zum Theil wegen seiner großen praktischen Begabung. So gebührt auch ihm der Hauptdank für die Gründung der Kgl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften im Jahre 1846, deren Statuten, wie sie der Hauptsache nach angenommen wurden, von ihm entworfen waren. – D. war ein durchaus ehrenwerther Charakter: die Pflicht ging ihm über alles, er schien der verkörperte kategorische Imperativ zu sein. Ernst stets, wo es ernsten Sachen galt, dagegen heiter, ja witzig in der Geselligkeit, deren Feste er durch ernste und scherzhafte Gedichte zu würzen suchte. Im vollen Vertrauen zur göttlichen Vorsehung trug er schwere Schicksalsschläge, so den zeitigen Verlust seiner Frau und einer Reihe von Kindern. Söhne hat er nicht hinterlassen, dagegen drei Töchter. Er starb am 30. September 1896, nicht ohne die Schwächen des hohen Alters empfunden zu haben, kurze Zeit ehe er sein 70jähriges Jubiläum als ordentlicher Professor hätte feiern können.
- S. Max Heinze, M. W. Drobisch, Gedächtnißrede, Leipzig 1897. – Luigi Credaro, Maur. Guglielmo D., Rom 1897. – Walth. Neubert Drobisch, M. W. Drobisch. Ein Gelehrtenleben. Leipzig 1902.