ADB:Rümelin, Gustav von
Rümelin: Gustav R., Staatsmann, akademischer Lehrer, Schriftsteller.
1. Jugend- und Wanderjahre 1815–45. R. ist am 26. März 1815 in Ravensburg geboren, wo sein Vater damals Oberamtmann war. Die Rümelin (schwäbisch Remele ausgesprochen) sind eine altwürttembergische Familie, deren Vertreter uns theils als Handwerker, theils als Professoren, Juristen, Schreiber und Amtleute begegnen; einer, der Schultheiß in Kenzingen war, hatte aus Wien 1593 einen Adelsbrief erhalten. Die mit ihm nicht im nachweisbaren Zusammenhang stehende Linie unseres R. ist im Städtchen Ebingen (Oberamt Balingen) lange nachweisbar; es waren angesehene Handwerker, von welchen mehrere als Senatoren und Judices im Kirchenbuch bezeichnet werden. Gustav’s Großvater (Christian Friederich), aus der Schreiberlaufbahn hervorgegangen (1739–1803), verwaltete lange das einträglichste altwürttembergische Amt Maulbronn, lebte aber zuletzt 1796 bis 1803 von seinem Vermögen und der Pachtung mehrerer Schafgüter in Ludwigsburg. Er galt als ein schöner, stattlicher Mann, hatte in seinen älteren Jahren die Eigenheit, ankommende Briefe nicht mehr sofort zu öffnen, auch öfters im Schlafrock zu amtiren. Der Vater Gustav’s, Ernst Gustav, in Maulbronn aufgewachsen, sollte Theologie studiren, setzte aber den Uebergang zur Jurisprudenz in Tübingen durch, bekleidete nacheinander verschiedene Amtmannsstellen (Weikersheim, Ravensburg, Besigheim), und als 1816–19 die Oberämter (die Bezirksverwaltungsstellen) von den Bezirksgerichten getrennt wurden, nahm er 1819 die Oberamtsrichterstelle in Heilbronn an, woher seine Frau, eine geborene Dreiß, stammte; er lebte und amtirte hier bis zu seinem Tode (10. Januar 1850), zuletzt mit dem Titel eines Oberjustizraths. Er war ein sehr angesehener, allgemein beliebter Bezirksbeamter, einer der sachkundigsten Weinproducenten der Stadt, ein in Geschichte und Politik wohlerfahrener Mann, hatte das Mandat eines liberalen Landtagsabgeordneten mit Erfolg bekleidet. Der Sohn sagt in der Familienchronik von ihm: „Er war eine mehr weiche als energische Natur. Wo Pflicht und Ehre im Spiele waren, zauderte er nicht; aber in einer übrigens recht glücklichen Ehe war er nicht ganz das Haupt des Hauses.“ Er war ein Christ im Sinne der Kant’schen Philosophie; der Schwerpunkt lag für ihn auf dem Ethischen und Praktischen; das Neue Testament lag immer auf seinem Pulte. Schiller war der Abgott des Hauses; für Musik und bildende Kunst war es verschlossen; Humor und feinerer Witz waren nicht gerade gepflegt.
Die Mutter Gustav’s, Henriette (1790–1865), stammt aus einer ursprünglich in Calw lebenden Kaufmannsfamilie; Calw war die wohlhabendste Industrie- und Exportstadt Altwürttembergs; ein Zweig der Familie kam im 18. Jahrhundert nach Stuttgart; der Vater Henriette’s war Lehrling in Heilbronn geworden, blieb da als Procurist eines bedeutenden Kaufhauses, war ein sehr gescheiter Mann, vorzüglicher Kaufmann, lebhaft und energisch, heiter und witzig, gastfrei und in Geldsachen splendid, aber jähzornig. Seine Frau war in Sprache und Sitte eine echte Heilbronnerin, wein- und weinbergkundig, von gutmüthigem Humor und sanftem Naturell. Ihre Tochter, Gustav’s Mutter, war schon in der Schule stets die erste, hervorragend begabt, [598] wie wenige Frauen; sie besaß eine scharfe, in das Wesen der Dinge eindringende Auffassung, gute Darstellungsgabe; ihre Briefe lasen sich wie die eines gebildeten Mannes, oft scharf und schneidig; hätte sie eine höhere Bildung genossen, so hätte sie eine Schriftstellerin von Ruf werden können; ein Aufsatz von ihr über Somnambulismus ist gedruckt. Sie war in Heilbronn und anderwärts sehr gefeiert; R. warb in Concurrenz mit anderen angesehenen Candidaten um ihre Hand und erhielt sie. Der Sohn schildert sie in folgender Weise: „Eine seltene und hervorragende Frau, sehr intelligent, durchaus rechtschaffen und pflichtgetreu, eine thätige und tüchtige Hausfrau, eine treue Gattin und Mutter, jedoch vielleicht zu männlich, eigenwillig und selbständig, um zu den liebenswürdigen Frauen gerechnet zu werden.“ Ein geradezu genialer, aber verschwenderischer, liederlicher Bruder von ihr, der als Rechtsanwalt in Göppingen endete, galt lange als der beste und gefürchtetste Jurist und Redner des Landes. – Aus der Ehe von Ernst Gustav entsprossen vier Söhne, von welchen unser G. der zweite war; 1812 bis 1823 geboren, wuchsen sie in Heilbronn auf, besuchten die dortigen Schulen.
Von allen wesentlichen Eigenschaften Rümelin’s wird man sagen können, daß sie sich auf seine Vorfahren, hauptsächlich auf seine beiden Eltern, zurückführen lassen. Energischen, unbeugsamen Willen, durchdringenden Verstand, schriftstellerisches Talent hatte er von der Mutter, eine gewisse Bequemlichkeit, Herzensgüte und edeln Charakter vom Vater. Von der Erziehung durch letzteren sagt der Sohn: „Sie war weder streng noch ängstlich; man hat uns ziemlich freien Lauf gelassen; aber um unser Lernen und sonstiges Fortkommen kümmerte er sich aufs Angelegentlichste; er war unermüdlich im Anfeuern.“
G. R. besuchte in Heilbronn zuerst eine Privatschule, kam dann 7jährig in das Gymnasium; „da ich – sagt er – ich weiß nicht warum, zum Theologen bestimmt war (der ältere Bruder war Jurist, die zwei jüngeren wurden Kaufleute), so hatte ich nach Landesbrauch die drei damals abzulegenden Landexamina zu machen und wurde im Herbst 1828 in das Seminar Schönthal aufgenommen.“ – In diese erste Jugendzeit fällt der Anfang seiner innigen Freundschaft mit Robert Mayer, dem späteren großen Naturforscher und Entdecker des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft; in dessen väterlicher Apotheke lernten die Jungen „bästeln“, beobachten, experimentiren. „Die schul- und arbeitsfreie Zeit, – sagt R. in dem schönen Nachrufe, den er dem Freunde widmet – die uns weit reichlicher als der heutigen Jugend zugewiesen war, brachten wir fast jeden Tag, und meist nur zu zweien, wenn möglich im Freien, in den Höfen und Gärten, am und im Neckar und als eifrige Nachenfahrer auch auf demselben zu.“ Die Freunde wußten die Schiller’schen Gedichte und Dramen auswendig, vertieften sich in Walter Scott, van der Velde, Wilhelm Hauff. Eines eigenthümlichen geographischen Spiels der Beiden erwähnt R.: mit Atlas und Länderbeschreibungen ausgerüstet, theilten die Knaben die Welt in zwei gleiche Hälften unter sich; „wir gaben unsern Ländern Verfassung und Gesetze, schlossen Verträge ab, übernahmen zur Ausgleichung Servituten und gegenseitige Ablieferung von Producten. Ich sah in realistischer Neigung mehr auf Zahl und Eigenschaft der Einwohner, auf Militärmacht und Finanzen; Mayer achtete in erster Linie auf die Producte, das Klima, die großartigen Naturerscheinungen.“ Wir sehen, im Einen regt sich der künftige Statistiker und Staatsmann, im Andern der Indienfahrer und Naturforscher.
Die vier württembergischen Klosterschulen oder niederen Seminare für die 13–17jährigen, das Tübinger Stift für die 18–21jährigen künftigen Theologen sind eine Stiftung der Reformation und des großen Herzogs Christoph, [599] um hier kostenfrei „den jungen Bomsatz der Kirche Gottes“ (wie es 1583 heißt) zu erziehen. Jährlich werden 30–40 der fähigsten Knaben aus dem ganzen Lande durch das Landexamen zum Stolz und zur Erleichterung ihrer Eltern, meist aus Pfarrer-, Beamten-, aber auch aus anderen Familien ausgesucht; es ist eine demokratische Maßregel; diese Klosterschüler galten immer mit als die besten Deutschlands. In das Kloster Schönthal trat G. R. im Herbst 1828 nun ein; es wirkten da treffliche Lehrer, der ebenso kluge wie humane Vorstand, der Ephorus Wunderlich, dann Prof. W. Klaiber, der mit seiner schönen, geistreichen Frau ein Haus machte; in ihm trat dem jungen Seminaristen edle Sitte, feine Bildung, anmuthiger Humor, der ganze Reiz der höheren Geselligkeit zum ersten Male entgegen. Unter den Knaben befand sich Bockshammer, Kapff, Schelling, Weitbrecht; der Freund Rümelin’s, Mayer, konnte es in Heilbronn nicht allein aushalten; er folgte dem Freunde bald als Hospitant des Seminars nach. Im Mittelpunkte der Bildungsbestrebungen standen neben den alten Classikern Schiller und Goethe, Shakespeare und Kleist, Klopstock und Körner. R. rühmt die Schönthaler Jahre als eine Zeit des täglichen und stündlichen Zusammenseins mit strebsamen, begabten, ideale Lebensziele suchenden Kameraden der verschiedensten Art. Von Anfang an einer der Ersten, sinkt er durch seine Lässigkeit einige Mal auf den 15. Platz, schreibt aber darüber beruhigend an den Vater; das betrachte er als ein Glück, weil es ihn ansporne. Wunderlich entließ ihn 1832 mit dem Zeugnisse: „Rümelin ist wohl der beste Kopf unter allen, mit vieler Einsicht und Reife; er arbeitet leicht; die Arbeiten sind in der Regel gediegen; er hält es nicht für nöthig, immer fleißig zu sein, da er bei seinen guten Anlagen mit geringer Anstrengung dasselbe zu leisten vermag und noch mehr als andere; zuweilen ist er wieder recht fleißig, nur mit Unterbrechungen. – Er hat so viel reifen Verstand und gesundes Urtheil, daß man wohl für seine Zukunft gute Aussicht geben kann.“
In der akademischen Studienzeit in Tübingen (1832–36) litt R. zwar auch unter mancherlei; im ganzen aber hat er sie in ihrer Freiheit, in ihren Jugendfreundschaften, in dem Genusse des Lernens und geistigen Fortschritts voll und ganz genossen. Bald nachdem er von Tübingen geschieden, schrieb er: „Das Philisterium ist bitterer, als ich mir’s gedacht, und ich hab es mir bitter genug gedacht.“
Was ihn damals schon drückte, war der sich steigernde innere Widerstand seiner ganzen Natur, sowie seiner Ueberzeugungen gegen den künftigen Pfarrerberuf; auch empörte er sich gegen die mönchisch geartete strenge Clausur und Stiftsdisciplin, die fast unverändert in der Reformationszeit aus dem klösterlichen Leben übernommen, bis ins 19. Jahrhundert sich erhalten hatte – einmal erhält er im Semester 38 Noten wegen kleiner Vergehungen; „die Malice des Ephorus“ gibt ihm gegen das Votum der übrigen Inspectoren drei Tage Hausarrest dafür. Selbstbewußt schreibt er dem Vater: „Ich bin zu stolz, mich darüber zu schämen; ich freue mich nur über die gute Gelegenheit, zu arbeiten.“
Ein noch reicherer Freundeskreis als in Schönthal umgab ihn; zu R., Mayer und den Compromotionalen kamen Griesinger, K. Gerok, Hermann Kurz, Sigm. Schott, E. Zeller, Robert Kern. Mit dem letzteren knüpfte er einen Bund fürs ganze Leben; ihr Briefwechsel (1846–87) zeigt, wie der beweglich aufgeschlossene, dichterische, liebenswürdige, schwärmerische, spätere Rector (zuerst in Oehringen, dann in Ulm) den ernsteren, nüchterneren, verständigeren und tieferen Freund glücklich ergänzte; ihm allein hat R. sein ganzes Leben lang sein innerstes Herz aufgeschlossen. Und neben den Freunden [600] wirkten damals die um 7–8 Jahre älteren, hochbegabten Repetenten und Privatdocenten F. Th. Vischer, geb. 1807, Repetent 1833, D. Strauß, geb. 1808, u. A., dann als Professor F. Ch. Baur (geb. 1806, seit 1826 in Tübingen), der eben damals die kritische Tübinger Theologenschule begründete. Strauß las, kurz von Berlin zurückgekehrt, 1835 als seine erste Vorlesung über „Logik“ im Hegel’schen Sinne.
Ueber die tiefe Einwirkung Hegel’s auf die damalige studentische Jugend hat R. selbst (1870) in einer akademischen Rede (Reden und Aufsätze I, 32 ff.) berichtet: „Wir waren – sagt er – erfüllt von einem idealen Enthusiasmus; wir wollten ein geschlossenes System, einen einheitlichen Aufbau des Kosmos; das gab uns die Lehre von dem Geiste, der sich in der Natur entfaltet, im Menschen, in der Gesellschaft, im Staate zu sich selbst zurückkommt. Man sehnte sich nach einer einheitlichen Entwicklungslehre, nach einer Erklärung der Vergangenheit und der Gegenwart, nach einem Stufenbau der Geschichte. Die verführerische Mystik der Dialektik täuschte uns, weil die Zweifler unter uns den Fehler in sich, in ihrer platten Verstandesmäßigkeit sahen, die nicht zu höherer Vernunft durchdringen könne. Die deutsche Philosophie von Kant bis Hegel hatte sich durch Tief- und Scharfsinn ausgezeichnet, aber nicht zu der Klarheit und Präcision des Denkens geführt, um die Schwächen des bestehenden Systems sofort zu sehen. Und die seltenen Vorzüge Hegel’s, seine Sprachgewalt, seine geistvollen Vergleichungen, sein großes Verständniß für Staat und Politik, für die Geschichte, in der er die Offenbarung Gottes sah, mußten uns hinreißen.“ R. fügt aber bei: gerade die Tübinger Schule mit ihrer historischen Kritik der Offenbarung habe von Anfang an in ihm und anderen damaligen Studenten den blinden Glauben an Hegel wesentlich eingeschränkt. Zu der von ihm gelösten Preisaufgabe (1835), mit der er 1836 den philosophischen Doctor machte, „Ueber den sittlichen Gehalt der mosaischen Gesetzgebung“, ist wohl die philosophische Construction von Heidenthum, Judenthum und Christenthum in Hegel’scher Weise gemacht, aber im übrigen überwiegt die kritisch-historische Analyse; er will die Unvollkommenheit des Mosaismus, aber auch seine Perfectibilität nachweisen; er sieht die letztere in den Propheten, in den großen Königen wie David, in den Maccabäern, im Christenthum. In den Schriften Rümelin’s aus den 40er Jahren ist jeder Einfluß der Hegel’schen Philosophie abgestreift. Aber hübsch ist, wie er in einem Tübinger Briefe an seinen Vater, der ihm Unbeständigkeit und Wechsel in den Gegenständen seines Studiums vorwirft, Hegelisch (1833) antwortet: „Das Beste an ihm sei eben seine Veränderlichkeit; indem er eine Sache erfasse und sie dann negiere, dringe er stets zu Höherem auf. Gott ist überall, der Gipfel aller Weisheit und alles Glaubens ist, ihn zu schauen und zu verehren.“ Dazu komme er durch seine Veränderlichkeit, von Stufe zu Stufe vordringend.
Nachdem R. im Herbst 1836 das theologische Facultätsexamen bestanden hatte, wurde er erst Vicar des Stadtpfarrers Hermann in Heilbronn und nach dessen Tode provisorischer Vertreter dieses Amtes. Im J. 1838 entschied er sich definitiv für das Lehrfach, wurde Repetent in Schönthal und hat dann von da bis 1845 eine Reihe provisorischer Lehrstellungen an Lateinschulen und Gymnasien bekleidet, in Ludwigsburg, Kirchheim, Langenburg, Heilbronn, Ellwangen, Göppingen, Stuttgart. Dazwischen legte er 1841 die zweite theologische und die Präceptorats-, 1843 die Professoratsprüfung (für die höheren Gymnasiallehrstellen) ab. In die Jahre 1840–41 fällt außerdem seine Reise nach Köln, Bremen, Hamburg, Berlin, Dresden, Jena, Weimar; in Berlin hörte er noch ein Semester lang Vorlesungen, hauptsächlich bei Ranke mittelalterliche Geschichte, bei Böckh über Demosthenes, bei Ritter allgemeine Erdkunde, bei [601] Dönniges europäisches Staatsrecht, bei Franz über Plato, bei Georges über Hegel und Schleiermacher. Die in Berlin empfangenen Eindrücke waren groß und nachhaltig. „Der Aufenthalt hier, schreibt er, ist für meine Zwecke unglaublich förderlich und heilsam; hier ist eine Summe von Intelligenz, eine solche Menge gebildeter und gescheiter Menschen, wie in unserem ganzen Ländchen nicht. Dinge, durch die man sich bei uns schon auszeichnet, sind hier etwas ganz Ordinäres.“ R. wäre ohne Zweifel nicht von 1848 an ein so kühner und beredter Vertheidiger der Führung Deutschlands durch Preußen geworden, wenn er damals nicht die geistigen und realen Kräfte dieses Staates mit eigensten Augen kennen gelernt hätte.
Ohne Zweifel hat der Gegensatz der großen Berliner Erinnerungen und der besonders unangenehmen Stelle an der Lateinschule in dem kleinen Oertchen Langenburg (1842) dazu beigetragen, den großen inneren Conflict Rümelin’s so zu steigern, daß er seinen Beruf für unerträglich hielt, seine Eltern (31. August 1842) bat, ihn mit seinen 27 Jahren noch Jura studiren zu lassen: alle seine geistigen Interessen seien dem öffentlichen Leben, den Zuständen und Gesetzen der Völker, dem Staatsrecht, der Politik zugewendet; ja, wenn er noch Aussicht hätte, bald 14–18jährige zu unterrichten; wahrscheinlich werde er aber in den nächsten 8–12 Jahren dummen Jungen unter 14 Jahren in kleinen Landstädtchen die Anfänge des Latein mit dem Stock in der Hand einbläuen müssen. Das ertrage er nicht; er habe das Gefühl, zu Besserem bestimmt zu sein. Rückkehr zum Pfarramt sei noch weniger möglich. Er glaube an Gott, die Heiligkeit des Sittengesetzes, die Unsterblichkeit der Seele; aber die christlichen Fundamentalsätze von Sünde, Erlösung, Gottheit Christi könne er nicht lehren; er könne sich nicht als Muster gottseligen Wandels vor die Gemeinde hinstellen. Die Eltern waren durch alle diese Argumente nicht zu überzeugen. R. mußte zunächst im Lehrfach bleiben. Seine geistige Spannkraft fand einen anderen Ausweg: die schriftstellerische Thätigkeit auf politischem, zunächst auf schulpolitischem Gebiete.
Schon 1841 hatte er in der kleinen anonymen Schrift: „Ueber eine zeitgemäße Reform des evangelisch-theologischen Seminars in Tübingen“ die Unhaltbarkeit der Anstaltsverfassung aus ihrer Rückständigkeit und der damaligen Krise der Theologie abgeleitet; dabei aber realistisch und conservativ nicht etwa der Anstellung von Leuten wie D. Strauß das Wort geredet, sondern die Pflege der kirchlichen Mitte, gegenseitige Duldsamkeit der Zweifler und der Gläubigen, vor allem aber die Mehrzahl der Stellen in den Seminaren und im Stift für künftige weltliche Staatsdiener gefordert. Jetzt holte er weiter aus, schrieb von Herbst 1843–44 im elterlichen Hause das Buch: „Die Aufgabe der Volks-, Real- und Gelehrtenschulen, zunächst mit Beziehung auf die württembergischen Zustände“ (1845, 184 S.). Dem Freunde schrieb er damals: „Ich bin gegenwärtig beschäftigt mit einem langweiligen Buche, das ich nicht lese, sondern selber mache. Veracht mich nicht darum, sonst muß ich dich geringschätzen.“ Es genüge, daß der Studienrath ihn darum in Bann und Acht erklären werde.
Man sieht den stolzen Muth, der die Wahrheit sagen will, auch wenn sie schädlich für die Carriere wäre. Mit den „pädagogischen Notabilitäten“ des Landes, Klumpp, Nagel, Eyth, Bäumlein geht er schroff ins Gericht. Es ist ein einseitiges, aber ein sehr hervorragendes Buch, das man heute noch mit Freude liest. Es baut sich ganz auf die Erfahrungen seiner 12jährigen eigenen Lernezeit und seiner 8jährigen Lehrthätigkeit auf; es geht überall von großen Gesichtspunkten aus; es umfaßt den gesammten Unterrichtsbetrieb von der Volksschule bis zur Universität; er fordert nicht allzuviel Neuerungen, [602] aber er begründet sie mit eindringlicher Kritik des Bestehenden. Besonders charakteristisch ist die ablehnende Haltung gegen die damals modischen Rousseau-Pestalozzi’schen Reformgedanken, deren schwärmerische Gemüthsseligkeit ihm nicht zusagte; der Verherrlichung der individuellen Selbstthätigkeit bei der Erziehung stimmt er nur für die ältere Jugend, hauptsächlich für die Universitätszeit zu.
Alle Schulen sollen den Menschen humanisiren, ihn über das Thier erheben, keine soll ihm Fachbildung geben. Die Volks-, die Real- (besser Bürger-)schulen, die Gelehrtenschulen sollen sich nur durch das Maaß der vermittelten Bildung unterscheiden; sie dienen verschiedenen Classen der Gesellschaft. Die jetzige Volksschule steht viel zu tief; sie erzeugt kein Denken, keine Selbständigkeit; trotz ihr stehen unsere unteren Classen tiefer als die in England, Frankreich, Italien; sie sind plumpen schwerfälligen Geistes; sie lernen nur die Bibelsprache des 16., die Kirchenlieder des 17. Jahrhunderts; gedankenloses Auswendiglernen ist der Hauptzweck der jetzigen Volksschule. Ein Lesebuch aus Stücken der heutigen Litteratur muß der künftige Mittelpunkt des Unterrichts neben dem Religionsunterrichte werden. Die neuen Realschulen für die Söhne des städtischen Bürgerstandes bis zum 14. Jahre waren unzweifelhaft nöthig, um die Gelehrtenschulen von ihrer Ueberfüllung bis zum 14. Jahre zu befreien. Ihr Fehler ist nur, daß man sie mit viel zu viel verschiedenen Fächern überlastet hat; Deutsch, Länder- und Völkerkunde, Mathematik muß die Hauptsache werden. Auch bei den lateinischen Schulen für die Knaben der höheren Stände bis zum 14. Jahre hat man zu vielerlei in den Lehrplan eingefügt, was hier noch viel schlimmer wirkt als in den Gymnasien, den Anstalten für die 14–18jährigen. Auch für die Gelehrtenschulen steht die Erlernung der Muttersprache im Mittelpunkt; aber sie wird am besten erreicht durch Lateinisch und Griechisch, die Sprachen der Völker, denen die Menschheit am meisten dankt. R. vertheidigt dann die alte Unterrichtsmethode, welche durch Prämien, Lokationen, körperliche Strafen wirkte; all das werde jetzt als verwerflich bezeichnet; jeder Knabe solle individuell behandelt werden. Man überschätze die Selbstthätigkeit der Jungen bis zum 18. Jahre. Die Autorität, die strenge, geistige Zucht müßten bis dahin die Hauptsache bleiben: auf der Hochschule beginne zeitig genug die Freiheit, die auf der Schule zur Faulheit, zur unreifen Reflexion und miserablen Kritik führe. Die Lateinschule theile Fertigkeit, das Gymnasium Kenntnisse, die Universität erst eigenes Wissen mit. Für die Universität verlangt R., daß jeder Student drei durch eine besondere Prüfung abschließende Semester allgemeinen, theils philosophischen, theils naturwissenschaftlichen und historischen Studien obliege; sonst zerfalle die Universität in französische Fachschulen. Ein hochstehender Stand von Beamten, Geistlichen, Lehrern, welcher Bildung und Intelligenz des ganzen Landes in sich vereinige, durch Unbestechlichkeit, Pflicht- und Rechtsgefühl der öffentlichen Achtung würdig sei, gegen Eingriffe einer willkürlichen Gewalt einen Schutzdamm bilde, sei nur auf diese Weise zu erziehen. Dazu gehöre freilich, daß die philosophischen Facultäten viel reicher und besser besetzt würden. – Man wird begreifen, daß die Schrift in weiten Kreisen Aufsehen, freilich auch starken Widerspruch erzeugte. Sie bewies, sagt C. Weizsäcker, umfassenden Blick, kühnes Anfassen und Gestalten. R. konnte jetzt nicht mehr übersehen werden. – Angemerkt sei gleich hier, daß sich R. nochmals 1881 öffentlich über die Gymnasialfrage (Reden u. Aufsätze III, 538–567) in ähnlicher Weise wie 1845 ausgesprochen hat. Er macht dabei sehr beachtenswerthe Vorschläge, wie die Ueberbürdung zu vermeiden wäre; er setzt auseinander, wie der heutige uniformirende Gymnasialbetrieb auf der [603] pädagogisch ungeheuerlichen Voraussetzung ruhe, man könne junge Leute täglich sechs Stunden zu unausgesetzter Aufmerksamkeit zwingen. Wenn man nicht in der Schule selbst in regelmäßigem Wechsel die Selbstthätigkeit und das Aufmerken miteinander verbinde, so sei Uebermüdung und Widerwille der Schüler nie zu beseitigen.
2. Auf der Höhe des Lebens. Politische und ministerielle Kämpfe 1845–62. Im August 1845 wurde R. zum Rector und ersten Lehrer der Lateinschule in dem kleinen Landstädtchen Nürtingen ernannt mit einem Einkommen von etwa 800 fl. Die Eltern jubeln, wünschen Verheirathung mit einer reichen Stuttgarterin, welchen Rath aber der Sohn nicht befolgt. Er geht resignirt in das Landstädtchen, aber entschlossen, seine Pflicht zu thun. Neben der Schulthätigkeit setzt er die Schriftstellerei fort, schreibt Artikel für Pauli’s Realencyklopädie der Alterthumswissenschaften über Domitian, Drusus, Galba, Galienus, einen Aufsatz über das „europäische Staatensystem“ in den Ergänzungsblättern der Allgemeinen Zeitung (1846), sowie einen solchen „Politische Fragmente“ für Schwegler’s Jahrbücher (1846), der von den politischen Fähigkeiten der deutschen Nation, von dem Irrthum, daß durch die Germanen neue große Ideen in die Geschichte gekommen seien, daß die Deutschen im Mittelalter ein tonangebendes Volk gewesen, u. s. w., handelt. Er liest alle möglichen neueren politischen Schriften, schreibt Freund Kern darüber und versichert, er werde mit jedem Tag politisch und kirchlich radicaler.
Ganz Deutschland wurde damals täglich erregter über die großen politischen Fragen der Zeit, die endlich nun Lösung finden mußten, über die preußische Verfassungsfrage, über die Pläne für die deutsche Einheit. Auch R. lebt und webt ganz in dieser politischen Erregung. Seine Gesundheit verschlechtert sich aber dabei wesentlich; er leidet an Trübsinn, Leere des Gemüths. Der Arzt curirt ihn, räth ihm vor allem zum Heirathen. Am 17. März 1847 schreibt er dem Freunde: „Jetzt bin ich glückseliger Bräutigam mit einem längst geliebten, liebenswürdigen Kinde, Marie Schmoller, Tochter des Cameralverwalters in Heilbronn; es gibt kein feineres, anmuthigeres und gemüthlicheres Mädchen. Ich war in den letzten Tagen seliger als je im Leben.“ In die Jubelaccorde der nächsten Briefe mischt sich aber immer wieder die ernste Sorge um die Zukunft des Vaterlandes. Am 7. Juni war die Hochzeit, am 1. Mai 1848 wurde der älteste Sohn geboren, nachdem der Vater eben zum Abgeordneten für die Nationalversammlung in Frankfurt im Bezirke Nürtingen-Kirchheim gewählt war. Die Wahl war erfolgt auf Grund der angesehenen Stellung, die sich R. in Nürtingen durch regelmäßige politische Vorträge seit Jahr und Tag geschaffen hatte. Am 2. Mai meldet er beides dem Freunde und setzt stolz bescheiden hinzu: „Wenn ich mich mit der Aufgabe vergleiche, die wir zu lösen haben, so komme ich mir sehr gering vor, wenn mit den Kollegen, so denke ich, ich sei so gut darin, als mancher andere mäßige Kopf auch.“ Dem Vater schreibt er: nicht heiter, sondern sehr ernst gesinnt gehe er der großen Verantwortlichkeit des schwersten Berufs entgegen.
Die Nachlebenden können sich kaum eine Vorstellung machen von der ungeheuren Erregung der damaligen Zeit; politischer Wahnwitz hatte Hunderttausende erfaßt; aber auch die Nüchternen waren gehoben; alle Kräfte erschienen verdoppelt. R. schildert später einmal, wie diese Bewegung ihm damals Schwingen verliehen habe. Große Hoffnungen und große Gefahren hatten daran gleichen Theil. Ob man in kurzer Zeit die Revolution, den Krieg, die Republik haben werde, ob Leben und Existenz der handelnden [604] Politiker bedroht sei, Niemand wußte es sicher. R. mahnt immer wieder von Frankfurt aus die Seinigen, sich nicht um sein Leben zu ängstigen; und doch war es nicht frei von ernsten Bedrohungen; einmal war es wesentlich seine Körperkraft, die bei einem Pöbelansturm gegen das Hotel der Fraction das große Thor zuhielt, bis es geschlossen und verrammelt war; ein ander Mal wurde sein Wagen, als er das Städtchen Oehringen verließ, vom Pöbel verfolgt, mit einem Steinhagel bedroht. Er war in Württemberg wegen seiner preußischen Gesinnung der bestgehaßte Mann. Als die badische Revolution ausgebrochen war, man gleiches für Württemberg fürchtete, berieth er brieflich mit den Seinen, ob er bei der Unmöglichkeit in die Heimath zurückzukehren, sich eine sparsame Schriftstellerexistenz in München, Brüssel oder Paris schaffen, Frau und Kind einstweilen beim Schwiegervater lassen könnte. Eine reichbezahlte Redacteurstelle in Stuttgart lehnte er ab, da sie ihn von seiner Ueberzeugung abgedrängt hätte.
Das Jahr 1848–49 ist für R. das Entscheidungsjahr geworden. Als ein nur in der Heimath bekannter 33jähriger junger Gymnasiallehrer war er nach Frankfurt gegangen; dort ist er eine allgemein beachtete politische Persönlichkeit, ein geschätztes Mitglied der „Gothaer“, ein Freund und Genosse der Dahlmann, Beseler, Droysen, Duncker, Haym, Laube u. s. w. geworden. Im Anfange zwar trat er gar nicht hervor; dem antreibenden Vater schreibt er bescheiden: es gebe zu viele Leute, die ihm an Einsicht, politischer Bildung, Begabung überlegen seien; von den 600 Mitgliedern könnten nur 20 eine führende Rolle spielen; die meisten, die redeten, thäten besser zu schweigen; die Theilnahme an der Versammlung sei schon an sich für ihn ein außerordentlicher Gewinn fürs ganze Leben. Aber mehr und mehr gewann er in der großen Versammlung von Talenten und Charakteren an Bedeutung, zunächst in Commissionen und in seiner Partei, dem Augsburger Hof (Centrum). Als Redner im Plenum ist er nur zwei Mal, in der Schulfrage und in der Erbkaiserfrage aufgetreten; er war kein flüssiger, stets schlagfertiger Debatter. Um so mehr wirkte er durch seine Dreieckscorrespondenz im Schwäbischen Merkur, wo er vom 28. Mai 1848 bis 28. Juni 1849 die Sache des liberalen Centrums, des engeren Bundes unter preußischer Führung, des äußeren Bundes mit Oesterreich mit so großer Sachkenntniß, so seltenem Muthe vertrat, daß er Mitte 1849 zu den wenigen großen Publicisten gerechnet wurde, die Deutschland damals besaß. Es gehörte seine ganze Energie dazu, die schwäbische Hauptzeitung damals bei der preußischen Fahne festzuhalten. Der Redacteur Weihenmeier ließ Ende 1848 auch Gegner zu Worte kommen, die R. sehr stark angriffen; er druckte Rümelin’s Correspondenz oft fünf bis sechs Tage nicht; er wollte die Mitte halten zwischen R. und der großdeutschen, preußenhassenden Demokratie. R. will mit ihm brechen, seine Dreiecksartikel der Allgemeinen Zeitung senden. Da gibt der Merkur wieder nach. Die von R. in der Nationalversammlung gewonnene Stellung zeigte sich darin, daß er einer der 30 Auserwählten, und zwar der Jüngste war, die eine Kaiserkrone nach Potsdam bringen sollten. Dort gab er Friedrich Wilhelm IV., der nichts von seinem Wahlort Nürtingen wußte, auf die Frage, wo denn dieser unbekannte Ort liege, die berühmt gewordene Antwort: „Auf dem Wege vom Hohenstaufen nach dem Hohenzollern.“
Seine Briefe von Berlin sind vor der Antwort des Königs hoffnungsvoll, nach ihr zerknirscht und tief traurig; er erzählt, wie am Abende die Prinzessin von Preußen – „die geistvollste und bedeutendste Frau, die ich bis jetzt gesehen habe; sie soll heftig geweint haben über die Antwort des Königs“ – [605] mit ihrem Gemahl die Deputation beschwor, nicht abzureisen; es sei nicht das letzte Wort des Königs.
In den Dreiecksartikeln sind so ziemlich alle großen politischen inneren und äußeren Fragen der Zeit mit seltener Objectivität und Sachkunde behandelt: die Grundrechte, die Schul- und Kirchenfrage, die Handelspolitik, das Recht der Revolution, die Rechte und die Macht der Nationalversammlung, das Verhältniß Deutschlands zu seinen großen Nachbarn, die Polenfrage und Anderes mehr. Im Mittelpunkte steht aber immer wieder die deutsche Verfassungsfrage, welche die demokratischen Ideologen ohne Rücksicht auf alle bestehenden Machtverhältnisse republikanisch und durch die Zertrümmerung Oesterreichs und Preußens, ohne eigenes Heer, ohne eigene Macht, mit einem unzuverlässigen Reichsverweser an der Spitze der Reichsregierung lösen wollten. Immer wieder weist R. seinen Gegnern nach, Oesterreich sei und bleibe ein großer mächtiger Staat, dessen sämmtliche Bewohner nach ihren Gefühlen und Interessen zusammenbleiben wollen und daher zum übrigen Deutschland nur im Verhältniß eines äußeren Bundes stehen können. Preußen möge man alle möglichen Sünden und Irrthümer vorwerfen, es sei doch der feste Machtmittelpunkt Deutschlands; es sei stärker als vorher aus der Revolution hervorgegangen, ihm müßten die andern Staaten in der Form der erblichen Monarchie der Hohenzollern an der Spitze Deutschlands sich unterordnen. Gerade auch Süddeutschland erhalte durch den Anschluß an ein geeintes Klein-Deutschland unter Preußen allein den nöthigen Schutz nach Außen; eine Trias, wobei Baiern an die Spitze der Süddeutschen träte, würde die süddeutschen Staaten nur zum Spielball Oesterreichs oder Frankreichs machen. Baden würde ohnedies eine solche Politik nicht mitmachen; der Zollverein wäre so bedroht. – In fünf meisterhaften Artikeln: „Unsere Lage“, faßte R. Anfang September 1849 im Merkur sein politisches Glaubensbekenntniß nochmals zusammen. Seine politische Glanzleistung bleibt, daß er 1848–49 fast allein in Süddeutschland und von allen Seiten darum geschmäht, im preußischen Erbkaiserthum die politische Zukunft Deutschlands erkannte.
Er war im August 1849 in seine Heimath, in sein Amt nach Nürtingen zurückgekehrt, nachdem er im Mai mit seinen Parteigenossen sein Mandat niedergelegt hatte, aber wegen der Aufregung in Württemberg noch sechs Wochen in Frankfurt geblieben war. Doch sollte seines Bleibens in Nürtingen auch nicht mehr lange sein. Er wurde im December 1849 als Nachfolger seines Freundes Märklin Professor am Obergymnasium in Heilbronn; er hatte da über Geschichte, Litteraturgeschichte, Alterthümer, Logik und Psychologie Unterricht zu geben, freute sich der ruhigen befriedigenden Wirksamkeit in der Heimath seiner Eltern und seiner Frau. In einer schönen Rede über Schiller’s politische Ansichten am Geburtstage des Königs im Gymnasium (27. September 1850, gedruckt) wies er nach, wie Schiller vom jugendlichen stürmischen Freiheitsidealisten nach und nach zum Vertreter der politischen Freiheit wurde, die mit Ordnung und schöner Menschlichkeit verbunden ist. – Auch die Heilbronner Thätigkeit ging rasch zu Ende. Im November 1850 wurde er nach dem Tode von Gustav Schwab und Prälat Klaiber als Referent für das humanistische Unterrichtswesen zunächst provisorisch in das Collegium des Oberstudienraths nach Stuttgart berufen; eine formelle Ernennung zum Professor am Stuttgarter Gymnasium unterbrach diese Thätigkeit nicht. Wohl aber hörte sie dadurch auf, daß er 1852 mit dem Titel eines Oberstudienraths in die neuerrichtete Stelle eines Ministerialraths im Cultusministerium eintrat, das der Minister v. Wächter-Spittler neben dem Auswärtigen Amte seit October 1849 bekleidete. R. war dieser Aenderung deshalb so froh, weil er dadurch von [606] der Reibung mit den zwei verrosteten eigensinnigen alten Herren im Studienrath, Roth und Knapp (dem Director des Collegiums), befreit wurde. Er mußte dann freilich bald einsehen, daß sie seine weitgehenden Gymnasialreformpläne, auch wenn sie nun vom Ministerium kamen, zu nichte zu machen verstanden. Er plante 1853/54 eine radicale Vereinfachung des Lehrplanes, eine Beschränkung der Realien, des Philosophieunterrichts, ein succesives Eintreten der Lehrfächer, eine Combination der Schul- und häuslichen Arbeitszeit und ähnliches. Rascher reiften seine Pläne über Reform der Volksschule, die Verbesserung der Lehrerbildung. Im J. 1854 machte R. eine Studienreise durch den größeren Theil Deutschlands, um Erfahrungen und Material über das Volksschulwesen zu sammeln. Seine Stellung im Ministerium konnte dadurch nur gehoben werden, daß er im J. 1855 als Abgeordneter in Ludwigsburg und im Februar 1856 zum Vicepräsidenten der Kammer gewählt und vom Könige bestätigt wurde.
Zwei Monate später erhielt R. die Stelle eines Departementchefs des Kirchen- und Schulwesens, die er bis zum April 1861 mit dem Range eines wirklichen Staatsraths bekleidete. Sein bisheriger Chef hatte im April 1856 statt des Cultus- das Justizministerium übernommen. R. wurde durch die Berufung zu dem hohen Amte überrascht; er bat sich einen Tag Bedenkzeit und eine Audienz beim Könige aus; auf dessen Erklärung, daß er an den unveräußerlichen Hoheitsrechten des Staates gegenüber der katholischen Kirche festhalte, andererseits aber ein versöhnliches und liberales Entgegenkommen gegen die berechtigten Ansprüche der württembergischen Katholiken erwünsche, nahm R. an, ohne über Rang, Titel und Gehalt weiter zu verhandeln oder etwas zu fordern; er bedang sich nur für den Fall seines Rücktritts die Stelle eines Ministerialraths oder Collegiumdirectors aus, „um nicht als Pensionär dem Staate zur Last zu fallen.“
Um die Verhandlungen mit der römischen Curie zum Abschluß zu bringen, wurde R. berufen; sie wurden sein Schicksal. Zunächst aber stand die Volksschulreform durch das von ihm persönlich verfaßte und nicht ohne Schwierigkeiten durch die Klippen der parlamentarischen Kämpfe durchgesetzte Gesetz vom 6. November 1858 im Vordergrunde seiner Thätigkeit; er nennt es damals das „Reifste und Beste, was er bis jetzt in seinem Leben zu Stande gebracht habe.“ Dabei galt es auch hierbei einen Kampf für Fortschritte, die im Moment für die große Menge unverständlich und unpopulär waren. Die württembergische Volksschule hatte sich auf Grund des Gesetzes von 1836 dahin entwickelt, daß sie gegenüber den Schülern die größte Lehrerzahl in Deutschland hatte, aber auch so ziemlich die schlechtbezahltesten; und was vielleicht noch schlimmer war, auf 100 ständige zählte man 79 unständige Lehrer; dadurch war die Laufbahn eine sehr schlechte geworden; eine genaue statistische Ermittelung ergab, daß bei billigem Avancement auf 100 ständige höchstens 25 unständige jüngere Lehrer kommen sollten. Wie war da in den schlechten, theuren Jahren zu helfen; weder Staat noch Gemeinde konnten rasch sehr viel größere Mittel aufbringen. R. griff muthig durch; er reducirte die Schulpflicht von acht auf sieben Jahre, was natürlich unpopulär war; die Schulstellen konnten so etwas vermindert werden; zugleich wurde die erlaubte Schülerzahl pro Lehrer etwas vermehrt, auf die Verhältnißzahl: 1:120–130, wie sie in den anderen deutschen Staaten mit guter Volksschule bestand. Damit konnte einerseits die Zahl der unständigen Lehrer erheblich vermindert werden, andererseits sollten sie theilweise durch die billigen weiblichen Lehrkräfte ersetzt werden, von denen ein großer Theil später heirathet, also nicht auf ständige höher bezahlte Stellen zu kommen braucht. Als Ersatz für die abgekürzte [607] Schulzeit wurde neben der bisherigen ziemlich werthlosen Sonntagsschule für die schulentlassenen Kinder die Winterabendschule geschaffen; ihr Besuch befreit von der Sonntagsschule; die Schulbehörde kann, wo sie errichtet wird, die männliche Jugend vom 14.–18. Jahre zum Besuche verpflichten. Aus dieser Winterschule ging später die obligatorische württembergische Fortbildungsschule hervor. Die bessere Dotirung aller ständigen Stellen und die sonstigen Maßnahmen schufen für die 4000 damaligen württembergischen Schullehrer eine wesentliche Verbesserung ihrer wirthschaftlichen Existenz und damit die Möglichkeit viel freudigeren Schaffens und auch erhöhter Bildung und Gesittung. Das Volksschulgesetz von 1836 wollte die Volksschule auf Kosten der Lehrer heben, schuf damit aber einen proletarischen Lehrerstand; R. wollte in erster Linie den Lehrerstand heben und dadurch die Volksschule; er hat zugleich dem weiblichen Geschlechte die Lehrerinnencarriere eröffnet und wurde durch die Winterabendschule der Hauptbegründer des späteren zwangsmäßigen so viel gerühmten württembergischen Fortbildungsunterrichts. Er erreichte Großes, weil er durch Reisen und Sammlung statistischen Materials sich ein zutreffendes Bild der Volksschule in allen deutschen Staaten gemacht, durch genaue Berechnung der thatsächlichen und der wünschenswerthen Carriere des Lehrerstandes fähig geworden war, den Finger an die wunden Stellen zu legen; und er verstand es, Besserung zu schaffen, ohne zugleich im Augenblick die Staats- und Gemeindefinanzen so stark zu beanspruchen, daß hierdurch die Reform gefährdet worden wäre.
Wie R. die Entwicklung der Volksschule im Auge behielt, wie ihn immer wieder ihre geringen Leistungen bekümmerten, sehen wir in dem Aufsatz von 1868 über das Object des Schulzwanges (zuerst in der Tüb. Zeitschr. für Staatswissenschaft 1869, dann Reden und Aufsätze II, 473 mit einem Zusatz von 1881). R. macht da den Vorschlag, an die Stelle des Zwanges für die Kinder, sieben bis acht Jahre in der Schule ohne jede Garantie eines bestimmt zu erreichenden Zieles zu sitzen, den Zwang zu stellen, in einer Prüfung ein bestimmtes erreichbares Ziel nachzuweisen und die begabten Kinder, die das Ziel ein bis zwei Jahre früher erreichen, dann durch die Fortbildungsschule, durch körperliche Uebungen, durch Erlernung von allerlei Arbeiten und Fertigkeiten, durch Arbeit in der Land- und Hauswirthschaft während dieser ersparten Zeit zu beschäftigen. Er glaubt, daß hierdurch in Lehrern und Schülern ein größerer Eifer, ein regerer Geist entstünde, eine unendlich bessere Entwicklung des ganzen Volksschulwesens geschaffen würde.
Bei dem andern großen Werke seiner Ministerzeit war er nicht so glücklich, das Schiff direct in den Hafen zu bringen, wenn er auch später sich sagen konnte, daß das Kirchengesetz vom 30. Januar 1862 materiell sein Werk sei, und daß er hierdurch seinem Heimathstaate für ein Menschenalter den kirchlichen Frieden geschaffen habe. Um seine Thätigkeit auf diesem Gebiete zu verstehen, ist auch hier ein kurzer Blick rückwärts nöthig.
Seit die katholische Kirche im Mittelalter als politische Weltmacht sich ausgebildet hatte, schwankte das Verhältniß zwischen ihr und dem Staate. Der Staatsgewalt wohnte immer wieder die Tendenz inne, die Kirche unter ihre Gewalt zu bringen oder gar sie zur Staatsanstalt zu machen; die Kirche, welche Jahrhunderte hindurch mit ihrer großen Organisation das Abendland und seine Könige geleitet, zu einer Cultureinheit, fast zu einem Riesenstaate zusammengefaßt hatte, behielt umgekehrt die Tendenz, sich von dieser Vormundschaft zu befreien und ihrerseits den Staat zu beherrschen. Und als nach ihrer Entartung, nach der sie bekämpfenden Reformation, die katholische Kirche im Tridentinum das kanonische Recht aufs schroffste zusammengefaßt, in den [608] Jesuiten ihre streitbarste Truppe erhalten, in der Gegenreformation wieder weite Gebiete zurückerobert hatte, gelang ihr in den katholischen Staaten nochmals eine weitgehende Beeinflussung, ja Beherrschung der Staatsgewalt, der Bildungsanstalten, der ganzen Gesellschaft. Aber im 18. Jahrhundert setzten naturgemäß wieder, und noch stärker als im 16. Jahrhundert, die mit der geistigen Entwicklung wachsenden Gegenbewegungen ein: was die Reformation und die Renaissance schüchtern begonnen hatte, vollendete jetzt die Philosophie, die Naturerkenntniß, das moderne Denken überhaupt. Die gallikanische Kirche besann sich auf ihre alten Freiheiten; der Weihbischof Hontheim (Febronius)[WS 1] wollte 1763 den deutschen Episcopat von Rom befreien; der Papst und fast alle Staaten hoben den Jesuitenorden auf; Joseph II. begründete ein einseitiges schroffes Staatskirchenthum, und diese Tendenzen (der Josephinismus) waren bis 1840–48 in vielen Ländern im Vordringen, trotz aller päpstlichen und bischöflichen Proteste. Es ist verständlich, daß man 1780 bis 1840 so vielfach an das baldige Ende der katholischen Kirche glaubte, wie z. B. Niebuhr und in gewissem Sinne Ranke. Aber diese Erwartung war verfrüht. Es erhob sich mit der Romantik und der Wiederbelebung des religiösen Lebens seit 1815 im französischen, deutschen und englischen Katholicismus eine natürliche Reaction, die theilweise durchaus innerlich und religiös, theilweise aber auch rein kirchenpolitisch im Sinne verstärkter Herrschaft der Bischöfe über ihre Diöcesen und des Papstes über die Bischöfe war und ihren Höhepunkt im österreichischen Concordat von 1855 und in der Unfehlbarkeitserklärung des Papstes (1870) erlebte. So fiel auch der württembergische Kirchenstreit 1848–62 in die Epoche des gewaltigen, aufs neue erregten weltgeschichtlichen Kampfes zweier naturgemäß sich bekämpfenden Weltanschauungen. Und die katholische Kirche hatte durch die Demokratie und ihr Schlagwort der freien Kirche gerade seit 1848 eine neue schneidige Hülfswaffe bekommen.
Altwürttemberg hatte bis 1803 keine Katholiken gehabt, vom paritätischen Staate überhaupt nichts gewußt: kein Katholik konnte Beamter oder Gemeindebürger werden; der Pietismus und die lutherische Orthodoxie beherrschte dieses Ländchen der Schreiber-, der Pfarrer- und der Prälatenregierung ausschließlich; nannte man es doch in der nicht württembergischen Litteratur „das protestantische Spanien“. Als es von 1803 an zu seinen 700000 Seelen 500000 Katholiken hinzu bekam, hauptsächlich schlecht verwaltete geistliche Gebiete, die mit dem Eintritt in den württembergischen Staat ihre ganze politische und kirchliche Verfassung verlieren mußten, da war es selbstverständlich, daß der aufgeklärte Despotismus König Friedrich’s dort die weltliche Verwaltung wie die Schule und die Kirche reformirte, und zwar so ganz im Sinne des Josephinismus, daß es z. B. 1817 gelang, einzelne gemischte Gemeinden sogar zu einer gemeinsamen Feier der Reformation zu bringen. Ein nur vom König abhängiger katholischer Kirchenrath übte das Jus circa sacra im denkbar weitesten Sinne aus; das Staatspatronat für alle kirchlichen Aemter wurde in Anspruch genommen (1803–1806); die Bildung der Geistlichen wurde rein nach dem Vorbilde der vortrefflichen protestantischen in Staatsanstalten und ganz auf Staatskosten geordnet; das Kirchenvermögen ganz oder fast ganz dem Staate unterstellt. Nachdem aber die Absicht, in der Bundesacte eine deutsche Nationalkirche mit möglichst selbständigen Bischöfen zu garantiren, gescheitert war, setzte bald eine gewisse Schwenkung ein; die württembergische Verfassung vom 25. September 1819 sucht zwar dem Könige sein oberhoheitliches Schutzrecht über die Kirche weitgehend zu sichern; aber sie wagt die absolute Bevormundung derselben wie bisher doch nicht beizubehalten; ihre Väter setzten eine Convention mit dem Papste über die Grenzen der Staats- und Kirchengewalt voraus; die [609] inneren Angelegenheiten der katholischen Kirche wurden dem Landesbischof und dem Domcapitel überwiesen (§ 71 u. § 78). Ueber das neue württembergische Bisthum Rottenburg, die Bischofswahl und ähnliches einigte sich die Regierung mit dem Papst; die Bullen vom 16. August 1821 und 14. Mai 1828 enthalten das Resultat. Da man sich aber im übrigen zunächst nicht verständigen konnte, so erließen die Regierungen der oberrheinischen Kirchenprovinz am 30. Januar 1830 eine Verordnung, betreffend die Ausübung des Schutz- und Aufsichtsrechts über die katholischen Landeskirchen, fast noch ganz in Josephinischem Sinne, ohne Rücksicht auf die württembergischen Verfassungsbestimmungen (§ 71 u. § 78). Der Papst forderte die Bischöfe auf, alles zu thun, diese einseitige Verfügung zurückzuweisen. Aber zunächst ertrug die katholische Bevölkerung und der josephinisch geschulte Clerus das, woran sie seit 1803 gewöhnt waren.
Erst als die belgische Verfassung 1831 die volle Kirchenfreiheit verkündet hatte, als 1848–50 die deutschen Grundrechte, die Reichsverfassung, die preußische Verfassung, die österreichischen Kaisererlasse von 1849 und 1851 dem katholischen Verlangen nach Freiheit von staatlicher Vormundschaft die rechtliche Sanktion gegeben hatten, erschien es auch in Württemberg unmöglich, ganz die alte polizeiliche Bevormundung der katholischen Kirche aufrecht zu erhalten; man verlangte endlich dringend die längst versprochene Autonomie der Kirche in ihren inneren Angelegenheiten. Die Regierungen der oberrheinischen Kirchenprovinz hoben (im März 1853) das k. Placet für rein kirchliche Erlasse auf, beschränkten es auf gemischte Gegenstände. Der württembergischen Regierung gelang am 16. Januar 1854 eine vermittelnde Convention mit ihrem Bischof; sie erhielt aber leider nicht die Genehmigung des Papstes. König Wilhelm, ein alter Voltairianer, ohne jede Neigung für Jesuiten- und Pfaffenregiment, im übrigen modern und liberal, sah ein, daß der alte Zustand nicht zu halten sei; er wollte einen billigen Frieden mit seinen neuen katholischen Unterthanen, wollte nicht diese schwierige Frage ungelöst seinem Sohne hinterlassen. Er sandte am 22. Februar 1856 den Freiherrn v. Ow als außerordentlichen Vertreter nach Rom, um an Stelle der mit dem Bischof geschlossenen Convention im ganzen auf ähnlicher, die Staatshoheitsrechte möglichst umfangreich rettender Grundlage eine Vereinbarung zu Stande zu bringen. Zwei Monate darauf übernahm R., wie wir sahen, das Ministerium; am 12. December 1856 konnte er dem Könige schon einen sehr umfassenden Bericht über die wahrscheinlich gelingende Convention vorlegen; sie kam am 8. April 1857 zum Abschluß. Am 15. April 1858 wurde sie im Staatsanzeiger publicirt und dem ständischen Ausschuß zur Kenntniß mitgetheilt. Die Kammer der Abgeordneten übergab sie (28. Mai 1858) der staatsrechtlichen Commission, die sie nun zwei Jahre lang berieth, einen eingehenden Mehr- und Minderheitsbericht erstattete; die Majorität hatte Anerkennung der Convention und Erbittung einer Gesetzesvorlage beschlossen (5. Februar 1860). R. hatte unterdessen alle die schwierigen Verhandlungen mit dem Bischof, die auf Grund der Convention das geistliche Erziehungswesen, das Disciplinarverfahren, die Verwaltung des Kirchenvermögens u. s. w. neu ordnen sollten, geführt und legte am 26. Februar 1861 der Kammer das Gesetz, das die der ständischen Zustimmungen bedürftigen Punkte regelte, mit sehr eingehenden Motiven vor. Diese umfangreiche, musterhaft objective große Arbeit, welche bereits zeigte, wie die ganze Convention sich nun in ihrer praktischen Detailausführung ausnähme, war leider erst wenige Tage, ehe der Präsident der Kammer, Römer, den Commissionsbericht über die Convention [610] auf die Tagesordnung gesetzt hatte, in die Hände ihrer Mitglieder gelangt. R. hatte gehofft, daß mit seiner Vorlage der ihm feindliche Minderheitsantrag ins Wasser falle; einiges, was in dem Bericht berechtigter Weise getadelt war, hat er in seinem Gesetzentwurfe bereits berücksichtigt; die unrichtigen Ausführungen und Mißverständnisse des Berichtes hatte er widerlegt; er hoffte, daß seine Motive gelesen werden, eine Beruhigung der Gegner erzeugen würden, daß sein Gesetzesentwurf dann mit zahlreichen Aenderungen an die erste Kammer gehe, welche mit ihrer katholischen Majorität das meiste Geänderte ablehnen werde; zuletzt werde auf der mittleren Linie eine Verständigung möglich werden. (Brief an Kern vom 18. April 1860.) Statt dessen mußte er erleben, daß sogar die Mehrheit der Commission dem von außen kommenden Drucke wich, ebenfalls die Convention verwarf und vor dem Eingehen auf die Gesetzesvorlage die Erklärung der Staatsregierung forderte, daß die Vorlage nicht in Ausführung der Convention, sondern wie jede andere erfolge, die später durch König und Stände wieder zu ändern sei.
Die Regierung konnte nicht hindern, daß zunächst nur der Commissionsbericht ohne die Regierungsvorlage berathen wurde (12.–16. März 1861), was um so ungünstiger war, als die Regierungsmotive kaum von jemand gelesen, geschweige denn studirt waren; die Debatte drehte sich naturgemäß neben der Erörterung des Berichts über die formelle Seite der Convention auch um den Inhalt des neu zu begründenden Kirchenrechts. Der Antrag der Minderheit der Commission, welcher die Unverbindlichkeit der Convention aussprach, wurde endlich nach fünftägiger heftiger Debatte mit 63 (meist protestantischen) gegen 27 (meist katholischen Stimmen) angenommen. Vergeblich betonte die Regierung, daß ein solcher Beschluß, ehe ein Bericht der staatsrechtlichen Commission über den Gesetzesentwurf vorliege, eigentlich gegen den Geist der Verfassung sei. Vergeblich forderte Minister v. Linden, der ablehnende Kammerbeschluß müsse der Kammer der Standesherren mitgetheilt werden. Die Leidenschaften waren zu erregt. „Es rast der See und will ein Opfer haben.“ R. war das Opfer.
Der materielle Inhalt der Convention mit Rom, sowie die Gesetzesvorlage waren natürlich für die strengen und leidenschaftlichen Protestanten in der Kammer und für die aufgeregte Stimmung im Lande zuletzt die Ursache der Abstimmung vom 16. März 1861; man wollte im Grunde der katholischen Kirche nicht die vorgeschlagene Befreiung vom Polizeistaate gönnen; man sah in der Convention die unmittelbar bevorstehende oder drohende Pfaffen- und Jesuitenherrschaft; man wollte in Wahrheit nicht den paritätischen Staat. Hatte doch der Führer der Pietisten, O. Waechter, offen gesagt: „Will unser Staat nicht ein heidnischer, ein gottloser sein, so muß er sich einen christlichen nennen lassen, und wenn christlich, so ist er (bei aller Zulassung der Katholiken) ein evangelischer.“ Aber diese protestantischen Fanatiker hatten doch nur mit zahlreichen kirchlich Indifferenten die Majorität gegen R. gebildet; diese Majorität wollte die Form der Convention verurtheilen, weil sie in ihr ein Attentat auf die staatlichen Hoheitsrechte, eine ewige Bindung des Staates durch einen Vertrag mit dem Papst sah; deshalb hatte sie geglaubt – ohne materielle Prüfung der Convention und der Gesetzesvorlage im einzelnen – die erstere verurtheilen zu können und zu müssen.
Was den Inhalt der Convention und ihrer kirchenrechtlichen Folgen betrifft, so ist er ein Jahr später (30. Januar 1862) glatt in Gesetzesform angenommen worden, obwohl es sich damals, wie ein Jahr vorher, um ein Aufgeben des Josephinismus, um gewisse Concessionen an Papst und Bischöfe, an das kanonische Recht, um Anerkennung der im Moment gültigen katholischen [611] Kirchendisciplin, um eine rechtliche Einführung der Autonomie der württembergischen katholischen Kirche in ihren inneren Angelegenheiten, um eine gewisse Einschränkung der staatlichen Aufsicht handelte. Die materielle Hauptfrage war nur, ob das, was in der Convention stand, die für Württemberg angezeigten Concessionen an die katholische Kirche überschritt, ob diese Concessionen die nothwendigen und für Württemberg zulässigen Vorbedingungen des kirchlichen Friedens, die nothwendigen Consequenzen des Verfassungszustandes, wie er seit 1848–50 lag, waren. Und das wird man bei ganz objectiver historischer Beurtheilung doch wohl bejahen müssen.
R. hat die Verhandlungen mit Rom nie als Römling, nie als Freund der katholischen Kirche oder gar der Jesuiten geführt; es war in ihm kein Tropfen jenes romantisch-künstlerischen Blutes, das vom Katholicismus sich angezogen fühlt, keine Spur jener conservativen Revolutionsangst, die hinter dem Ultramontanismus Deckung sucht; die Restauration des katholischen kirchlichen Lebens in den 50er Jahren erschien ihm nur als eine vorübergehende Strömung. Er sagte mal in jenen Jahren: „Das Gothaerthum (zu dem er sich bekannte) und der Katholicismus sind die stärksten politischen Gegensätze; er vertraute sicher auf den endlichen Sieg „der geborenen und geschworenen Feinde der katholischen Hierarchie, d. h. auf die liberalen Ideen der modernen Zeit, das parlamentarische Leben“, „auf den Sieg des gebildeten Mittelstandes“. Er hat 1856–57 nur als Staatsmann das concedirt, was er der württembergischen Verfassung, dem paritätischen Staate, den großen politischen Aenderungen seit 1848 für entsprechend hielt. Ob er dabei, ob der württembergische Unterhändler in Rom, Freiherr v. Ow dabei zäh und verschlagen genug unterhandelte, entzieht sich meiner Beurtheilung. Aber im ganzen hat R. entfernt nicht zugestanden, was andere Staaten, vor allem Oesterreich, damals einräumten. Er hat den wohlthätigen Einfluß der bisherigen württembergischen Staatseinmischung in die katholische Kirche für die höhere Bildung des Clerus und für den confessionellen Frieden voll und ganz erkannt und war bemüht, davon so viel als möglich zu erhalten. Er hat es in den wichtigsten Fragen dahin gebracht, daß die Dinge in der Hauptsache materiell beim Alten blieben, und der Kirche mehr formale als materielle Concessionen gemacht wurden. Es blieb durch die Convention und die an sie sich schließenden Verhandlungen erhalten: der ganze staatliche Charakter der Bildungsanstalten für den Clerus, die staatliche Besetzung der meisten Stellen durch das überwiegende kgl. Patronat, das Recht des Staates, mißfällige Persönlichkeiten vom bischöflichen Stuhle und vom Domcapitel fern zu halten; ferner das Recht des Staates, von der bischöflichen Stellenbesetzung alle dem Staate politisch oder bürgerlich ungeeignet scheinenden Personen fern zu halten, das Recht des Staates, jede Ordenszulassung und jeden Erwerb der todten Hand durch Versagen der Genehmigung durch die Behörden zu hindern; es blieb das Placet, wie es 1853 geordnet war, für alle gemischten Angelegenheiten; für alle kirchlichen Erlasse war gleichzeitige Anzeige bei der Regierung vereinbart. Das Wichtigste war zuletzt, daß das Versprechen der Kirchendotation so gefaßt wurde, daß es ad calendas graecas vertagt war, die finanzielle Abhängigkeit der katholischen Kirche von der Regierung bestehen blieb. – R. hatte daher ganz Recht, in seiner Hauptrede zum Schlusse zu betonen, daß er die staatlichen Hoheitsrechte gewahrt habe. Er sagte: „Wer einst nach mir die Actenfascikel studiren wird, wird mir das Zeugniß nicht versagen, daß ich die Rechte der Regierung mit Sorgfalt und Entschiedenheit zu wahren gesucht habe. Man wird mir das Zeugniß geben müssen, daß ich in dieser Sache nichts anderes gewollt habe, als eine außerordentlich schwierige und noch in [612] keinem Lande befriedigend gelöste Frage so zu regeln, wie ich es, wenn auch vielleicht nicht vor dem Urtheile in dieser hohen Kammer, so doch vor allen denjenigen verantworten kann, welche die Motive der Regierung mit Billigkeit und Unbefangenheit prüfen werden.“
Aber gerade diese Motive kannte weder das Land noch die Kammer. R. konnte noch 1880 sagen, er sei nicht sicher, ob sein mühsames Werk (die Motive) auch noch irgend ein Mensch durchgelesen habe. Dagegen hatte von 1859/61 die Agitation der sich bedroht glaubenden Protestanten den weitesten Spielraum gehabt. Die tollsten Gerüchte wurden verbreitet und geglaubt, z. B. daß der König katholisch sei oder es werde, daß unlautere Einflüsse stattgehabt hätten. Das Unsinnigste wurde geschrieben und geglaubt. „Das Land Württemberg sei für ewige Zeiten an den Papst verkauft; der Papst habe nun auch die Herrschaft über die Protestanten; er könne das protestantische Kirchengut an sich ziehen und es mit dem Patrimonium Petri vereinigen.“ Das angeblich bisher bestehende (?) Episcopalsystem sei nun durch das Papalsystem ersetzt. Und anderes mehr. Selbst Rümelin’s maßvolle Gegner in der Kammer gaben zu, daß das meiste, was geredet und geschrieben werde, Unsinn sei. Aber die Verdächtigung war denen, die R. stürzen wollten, bequem. Und der Wahnwitz erreichte auch in der Kammer selbst ihren Höhepunkt, als Moritz Mohl R. die Worte zuschleuderte: Wenn er derartiges in England gethan hätte, so würde ihm der Kopf vor die Füße gelegt werden. Um künftig solche Minister fern zu halten, schlage er ein Gesetz vor, das jeden eintretenden Minister zu einem staatsrechtlichen Examen verpflichte.
Einen Haupttheil der Schuld an der Erregung trug die Thatsache, daß das österreichische Concordat von 1855 fast in ganz Deutschland mit der württembergischen Convention für gleichlautend gehalten wurde. Vergeblich stellte R. der Kammer vor, daß es in allen wichtigen Punkten ungefähr das Gegentheil des württembergischen enthalte. Heute weiß jeder Geschichtskundige, daß die reactionäre österreichische Regierung von 1852–55 die Einräumung der weitgehendsten Rechte an die Kirche für das einzige Heilmittel gegen die Revolution und gegen die centrifugalen Tendenzen seiner Völker hielt, daß es sich damit an Stelle Frankreichs wieder den ersten Platz im Vatican sichern wollte, daß es im Concordat, d. h. im Bunde mit dem Papste die Rettung gegen die italienischen Aufstände und Einheitsbestrebungen sah. Auch die gleichzeitigen Kämpfe um die badische Convention mit Rom hatten ungünstig gewirkt. Der erhebliche Unterschied, daß die badische Regierung in Rom nicht, wie die württembergische, die ständische Zustimmung zu den nothwendigen gesetzgeberischen Aenderungen vorbehalten hatte, wurde ganz übersehen. Man bemerkte auch nicht den großen Unterschied, daß in Baden fast nur Katholiken, in Württemberg nur Protestanten die Convention bekämpften.
Müssen wir so behaupten, daß die Angriffe auf den Inhalt der Convention und auf Rümelin’s Gesetzesentwurf maßlos übertrieben, in der Hauptsache falsche waren, daß die Kammermajorität ihre freie Besinnung und Entschließung durch eine blinde confessionelle Hetze von Außen verloren hatte, so liegt die formelle Rechtsfrage schwieriger: war der Weg der Convention als Grundlage bestimmter Aenderungen der bestehenden Gesetzgebung, sowie der königlichen und Ministerialverordnungen der richtige? R. hat selbst in seinen Staatsanzeigerartikeln vom Juni 1857 anerkannt, daß eine Vereinbarung zwischen zwei obersten Gewalten, die sich beide ein ausschließliches souveränes Gesetzgebungsrecht beilegen, eigentlich nicht möglich, nur denkbar sei, „wenn sich Formen finden ließen, welche die Verschiedenheit der beiderseitigen Grundanschauungen nicht zum Ausdruck kommen lassen.“ Jedenfalls aber hatte er [613] erkannt, daß es in der damaligen Lage der Dinge nur zwei Wege gebe: entweder eine einseitige Staatsgesetzgebung, die dann mit Sicherheit für Jahre einen Kampf zwischen Staat und Kirche erzeuge, oder eine Gesetzgebung nach vorhergehender Vereinbarung, die einen Friedenszustand zur Folge habe. Er sagte sich einfach, wo im Leben große feindliche Mächte bestehen, von denen keine die andere ohne weiteres zwingen kann, da sind infolge realer Nothwendigkeit Friedensverhandlungen unter irgendwelcher Form nöthig, wie auch die beiderseitigen juristischen Consequenzmacher das ablehnen mögen. Er konnte sich jedenfalls darauf berufen, daß seit vielen Jahrhunderten Staat und Kirche immer wieder solche Vereinbarungen geschlossen haben; er hatte zugleich den festen Rechtsboden in Württemberg für sich: der Reichsdeputationshauptschluß hatte Württemberg die neuen katholischen Lande eingeräumt unter der Bedingung einer Convention mit Rom; die Väter der württembergischen Verfassung hatten eine solche als selbstverständlich vorausgesetzt, die württembergische Regierung eine solche 1821 und 1827 geschlossen und die entsprechenden Bullen des Papstes anerkannt. R. konnte also 1856 bei seinem Eintritt ins Ministerium sich nur fragen, ob die Machtvertheilung zwischen Rom und Württemberg augenblicklich so sei, daß eine einseitige Staatsgesetzgebung, die eben wahrscheinlich für Jahre den kirchlichen Unfrieden, die Sistirung des Gottesdienstes und der Stellenbesetzung involvire, aussichtsvoller sei als eine Gesetzgebung, die auf Grund einer die Standpunkte vermittelnden Convention den Frieden garantiere. Preußen wagte mit den Maigesetzen den ersteren Weg und mußte zuletzt in wichtigen Punkten doch wieder nachgeben. Und wie viel größer war Preußens Macht für einen solchen Kampf. Den preußischen Culturkampf hat R. stets verurtheilt; freilich noch mehr die vorher 1850–73 erfolgte Preisgebung der Staatshoheitsrechte durch Preußen. In dem Verlaufe des preußischen Culturkampfes sah R. später eine schlagende Bestätigung, daß er 1856–61 Recht gehabt habe. Und er sah in der Rechtfertigungsschrift, die sein Nachfolger Golther für sein Vorgehen 1874 schrieb, deshalb eine gänzliche Verdrehung der historischen Zusammenhänge, weil Golther sich den Anschein gab, durch sein Gesetz und die Verwerfung der Convention zum Frieden gekommen zu sein. R. weist ihm nach, daß noch am 16. März der König von Württemberg dem Papste telegraphirte, die Ablehnung der Convention bedeute für ihn nicht Befreiung von der Bindung an deren materiellen Inhalt, daß ähnlich die Regierung am 13. Juni an Antonelli schrieb; er zeigt, daß der materielle Inhalt des Gesetzes von 1862 überall der Convention entspreche. Und der Schluß ist klar: obwohl Rom gegen das Gesetz von 1862 formell protestirte, so fügte es sich doch nur deshalb ohne zu viel Schwierigkeit in dasselbe, weil es ihm materiell in der Hauptsache gab, was vorher in der Convention ausgemacht war. Und mit Recht schließt R.: „Nicht die formelle Verwerfung der Convention, sondern ihre nachträgliche materielle Ausführung durch Golther selbst garantierte Württemberg den kirchlichen Frieden für ein Menschenalter, während im übrigen Deutschland der Culturkampf tobte.“ Er protestirt mit Recht energisch gegen Golther’s Unterstellung, daß Württemberg drei Epochen der Behandlung der katholischen Kirche durchgemacht habe: 1. die des Staatskirchenthums; 2. die der Beugung der Staatsgewalt unter die Kirche in der Zeit von Rümelin’s Ministerium; 3. die des gemischten Systems (unter Golther). Jeder Unbefangene, der heute Rümelin’s und Golther’s Gesetzentwurf und die beiderseitigen Motive durchliest, wird zugeben, daß auch Golther wesentlich auf dem Boden der Convention steht, daß viele der wichtigsten Paragraphen in seinem und Rümelin’s Gesetzentwurf wörtlich gleichlauten, auch die Tendenz der Motive häufig dieselbe ist, daß aber natürlich Golther [614] sich nicht auf die Convention, sondern auf die Verfassungsparagraphen beruft, als deren Ausführung er sein Gesetz hinstellen will. Nach den Debatten im März 1861 war es natürlich, daß man vom Juni bis December desselben Jahres die materielle Uebereinstimmung mit der Convention nicht betonte. Wie sehr sie in den Hauptsachen vorhanden ist, gibt auch das amtliche Werk „Das Königreich Württemberg“ II, 2, IV (1884), S. 252, zu. Auch der behauptete Unterschied, daß die Convention Württemberg für ewige Zeiten gebunden hätte, ein Gesetz aber stets wieder durch Regierung und Stände änderbar sei, war insofern hinfällig geworden, als R. bei den Debatten (12.–16. März) erklärt hatte, die Regierung fühle sich natürlich gebunden, die durch den Inhalt der Convention jetzt nöthigen Vorlagen möglichst durchzubringen, nehme aber nicht an, daß ein so zu Stande gekommenes Gesetz eine andere rechtliche Natur habe als andere Gesetze, daher unter späteren ganz anderen Verhältnissen durch ein anderes Gesetz auch wieder ein anderer Rechtszustand geschaffen werden könne. Golther’s Darstellung, daß die Epoche Rümelin’s eine Zeit der Schwäche und der Bethörung durch Rom gewesen, daß sein starker Gesetzesarm dagegen dem Lande den Frieden gebracht hätte, ist eine Schatten- und Lichtvertheilung, die der historischen Wahrheit gröblich ins Gesicht schlägt.
Dabei soll aber nicht verschwiegen werden, daß Rümelin’s Niederlage in der Kammer nicht ohne seine Schuld insofern war, als er offenbar damals die parlamentarisch-taktische Geschicklichkeit nicht besaß, wie sie eben nur Folge einer langen parlamentarischen Thätigkeit sein kann. Bei richtigerer Einschätzung der wachsenden Widerstände hätte er die Bekanntmachung der Convention und die Gesetzesvorlage in relativ engere zeitliche Verbindung bringen müssen; er hätte es zu einer mehrjährigen Berathung der staatsrechtlichen Commission nicht kommen lassen dürfen; noch im Mai 1860 bei Ausgabe des Berichts der Commission hätte er wahrscheinlich gesiegt. Noch zuletzt hätte die Regierung die Niederlage wahrscheinlich nicht erlebt, wenn sie beim Kammerpräsidium die gleichzeitige Berathung des Commissionsberichts und der Regierungsvorlage hätte durchsetzen können. Bei der Debatte war die Vertheidigung Rümelin’s sehr würdig, aber nicht schneidig genug, fast resignirt; sein College v. Linden secundirte ihm gewandt, aber nicht energisch genug; der Justizminister war gar nicht da. Ueber die inneren Ursachen von all dem kann man ohne Acteneinsicht nicht urtheilen. Die Verzögerung der Regierungsvorlage hat wohl eine wesentliche Ursache mit darin gehabt, daß R. vorher alle die Verhandlungen mit dem Bischof über die Einrichtung der Erziehungsanstalten, die Ausführung der Disciplinarbestimmungen und ähnliches zu einem guten Ende gebracht haben wollte; er glaubte wohl, damit die Convention vor Mißverständnissen und falscher Auslegung zu bewahren.
R. war am Abend des 16. März 1861 entschlossen, beim Könige seine Entlassung zu erbitten. Er hatte schon vorher dem Freunde geschrieben: er thue es gerne, seine ökonomische Zukunft sei ja gesichert. Es war klar, daß der nun sich eröffnende Weg, unter Aufhebung der Convention ihren materiellen Inhalt in ein selbständiges Gesetz zu gießen, leichter von einem anderen Minister durchzuführen war. R. sah, daß den anderen Ministern sein Abgang die veränderte Stellung erleichtere; er hat allerdings später von ihnen – mit Ausnahme Wächter’s – besonders von Linden’s heimliche Wege gehender Diplomatie nicht ohne Bitterkeit gesprochen. Er hatte auch sonst das Gefühl, daß, so wenig man ihm an seiner ganzen Amtsführung etwas anhaben könne, er an sich weite Schichten gegen sich habe – den Adel, weil er stets den bürgerlichen Standpunkt vertrete, die Juristen; weil sie die [615] obersten Stellen für sich haben wollen, einem ehemaligen Gymnasiallehrer nicht die Leitung eines Ministeriums zutrauen. Er sehnte sich nach der Hetze der letzten Jahre momentan nach Ruhe und schriftstellerischer Thätigkeit, obwohl er sich der Erkenntniß nicht verschloß, daß er von Natur zum Staatsmanne bestimmt sei. Und leicht kam er nach seinem Rücktritt doch nicht zur Ruhe, trotz energischer Hinwendung zu neuer, ganz anderer Arbeit. „Das Grübeln in schlaflosen Nächten – schreibt er dem Freunde – höre nicht auf; Zorn wechsele mit Verachtung, Reue und Beschämung mit Resignation.“ Er läßt seine Stimmung in dem Distichon ausklingen:
Si bene vivere vis, ne quae sunt acta revolves,
Dona prehende horae, mitte futura Deo.
Der Rücktritt Rümelin’s raubte der württembergischen Staatsleitung einen der fähigsten Köpfe, der unabhängigsten Charaktere, der geistig hochstehendsten Männer, die im 19. Jahrhundert dort auf Ministerstühlen saßen. Ihn aber gab diese Katastrophe dem Familienleben, der wissenschaftlichen Thätigkeit zurück; er hat so in seinen späteren Lebensjahren unendlich mehr Lebensglück erfahren, als wenn er Minister geblieben wäre. Und daß er umsonst fünf Jahre an einer großen weltgeschichtlichen Frage in activer entscheidender Stellung mitgearbeitet hätte, das glaubte er selbst nicht, wie wir aus der stolz-bescheidenen Abhandlung von 1880 „zur katholischen Kirchenfrage“ (R. u. A. II, 205–27) sehen.
Ich möchte zusammenfassend seine Stellung so charakterisiren: die Zeit der Reformation hatte die europäischen Staaten in rein katholische und rein protestantische geschieden; die Confessionen standen sich fast überall bis 1789 mit Haß und ohne Verständniß gegenüber. Nur vorübergehend oder schüchtern wurden in Frankreich im 17. Jahrhundert, in Brandenburg-Preußen seit dem Großen Kurfürsten Versuche der gegenseitigen Duldung, des paritätischen Staates gemacht. Die rationalistische, antikirchliche Aufklärung hatte nur die obersten Schichten von Kirche, Gesellschaft und Staat 1750–1850 erfaßt, hatte in Deutschland ein polizeiliches Staatskirchenthum geschaffen, das als Druck des Protestantismus auf den Katholicismus erschien. Es handelte sich nun im 19. Jahrhundert ernstlich darum, das unendlich schwierige Problem paritätischer Staaten mit gegenseitiger, wirklicher Duldung und Gleichberechtigung der Confessionen durchzuführen und so das noch wichtigere künftige Problem einer Annäherung der Confessionen vorzubereiten. Niemand hat mehr als R. betont, daß entscheidend hierfür der innere Fortschritt der Kirchen, die geistige und wissenschaftliche Hebung der leitenden Geister in jeder der Confessionen sei. Er betonte, daß Jesuiten und Ultramontane billig und duldsam zu machen, nicht Sache des Staates, sondern der historischen Entwicklung sei. Aber bei der natürlichen Unduldsamkeit aller kirchlichen Gemeinschaften und bei der Unmöglichkeit, heute schon in Deutschland ohne großen Schaden und ohne erhebliche Gefahren Staat und Kirche ganz zu trennen, erinnerte R. ebenso energisch daran, daß seit zwei Jahrhunderten der Kampf für Duldsamkeit von den staatlichen Gewalten ausgegangen sei. So mußte nach seiner Ueberzeugung auch heute durch eine versöhnende Staatsgesetzgebung die Reibung zwischen den Confessionen und das Verhältniß der Staatsaufsichtsgewalt zur Kirche geordnet werden; gegenüber der katholischen Kirche, die nun einmal im Papst ihren obersten Vertreter habe, müsse aber eine vorhergehende Verständigung mit Rom die Grundlage der Gesetzgebung bilden; nur so habe man Aussicht, das Gesetz ohne Kampf durchzuführen. Es will mir scheinen, R. habe damit besser als die meisten andern mit dieser großen Frage befaßten deutschen Staatsmänner, auch richtiger als Falk in Preußen den rechten Weg beschritten, d. h. den Weg der Versöhnung, der [616] Vermittelung, der gegenseitigen Anerkennung und Duldung. Es will mir scheinen, es sei der Weg, den schon Melanchthon und Cardinal Contarini[WS 2] einst wandeln wollten, der Weg den Leibnitz sowie die größesten Geister der Aufklärung und unserer Tage im Auge hatten und haben. Daß die kleineren in confessioneller Enge und in Partei- und Tagesinteressen verharrenden Geister damals und heute diesen Weg nicht verstanden, ist natürlich. Alle großen Männer leben der Zukunft, werden fast immer von der superklugen Gegenwart verkannt. –
3. Die späteren Lebensjahre 1861–89; wissenschaftliche und akademische Thätigkeit. Am 5. April 1861 war R. auf sein Ansuchen in den Ruhestand versetzt. Bald darauf starb der bisherige Leiter des württembergischen statistisch-topographischen Bureaus, Staatsminister v. Herdegen, und R. erklärte sich bereit, diese Stelle als Ehrenamt zu übernehmen; er war schon als Rath des Cultusministeriums Mitglied desselben gewesen, sein realistischer Sinn hatte ihn stets auf die Statistik hingewiesen; er ergriff sofort eine Reihe wichtiger statistischer Einzelfragen und begann sie zu bearbeiten. Er theilte die folgenden Jahre bis Anfang 1867 zwischen solche und litterarische Arbeiten. Seine Familie hatte sich vergrößert; ein zweiter Sohn Max war ihm am 15. Februar 1861, eine Tochter Marie am 4. November 1862 geboren worden. Er lebte in glücklich behaglichen, geistig angeregten Kreisen in Stuttgart, zuletzt im selben Hause mit dem Dichter Moritz Hartmann, zeitweise zwei bis drei Mal wöchentlich des Abends in gemeinsamem Familienzusammensein discutirend, sich an dieser so ganz anderen, antischwäbischen Art erfreuend.
Da reifte anfangs 1867 aber doch der Entschluß in ihm, sich noch eine andere Existenz zu begründen, das akademische Katheder in München oder Heidelberg als 52jähriger zu betreten. Die Aussicht in Stuttgart als Pensionär und zweiter „Memminger“ (Landesstatistiker) zu altern und zu sterben erscheint ihm zu traurig; wenn er noch eine neue Bahn einschlagen wolle, sei keine Zeit zu verlieren. Er schreibt ganz unter dem Eindrucke der großen Ereignisse von 1866, die ihn als preußisch Gesinnten mit Freude und Begeisterung erfüllen: „Der Staat Württemberg interessirt mich nicht mehr, obwohl ich seine Entwickelung in Zahlen verfolgen muß. Alle meine Wünsche und Hoffnungen gehören dem preußischen Staate und seiner Entwickelung; wenn ich jünger wäre, würde ich dort eine Stellung suchen.“ R. machte eine Eingabe an den König, er möge ihm gestatten, seine Pension ohne Abzug im Auslande verzehren zu dürfen. Darauf bat man ihn, seine Kraft dem Inlande und Tübingen zuzuwenden; es wurde ihm ein Lehrauftrag für Statistik und vergleichende Staatenkunde angeboten, mit der Erlaubniß, zugleich philosophische Vorlesungen zu halten; der Tübinger Senat hieß ihn freudig willkommen. Im Herbst 1867 siedelte er in die Musenstadt am Neckar über und ist da bis zu seinem Tode geblieben. Die Hauptvorlesungen, die er nun bis zum Sommer 1888 mit steigendem Beifall meist je dreistündig hielt, waren: Sociale Statistik, Politische Statistik oder vergleichende Staatenkunde, Rechtsphilosophie; zwei Mal las er auch Psychologische Untersuchungen. Studirende aller Facultäten nebst älteren Herren füllten sein Auditorium; es war etwas Anderes als alle sonstigen Vorlesungen, was man hier hörte: die ausgereifte Erfahrung eines Staatsmannes, eines großen realistischen Beobachters, eines ganz selbständigen, eigenartigen Denkers.
Das Jahr 1870 war für R. eine Zeit großer, allgemeinerer und persönlicher Schicksale. Sein ältester Sohn Gustav rückte mit der deutschen Armee [617] bis gegen Paris vor; er schrieb ihm: „Gott sei mit Dir und den deutschen Waffen“. Sein Schwager L. Schmoller stand wochenlang in den Trancheen vor Belfort in Wasser und Sumpf, fast dem Tode dadurch erliegend. Nach der Kaiserproclamation in Versailles waren die Hoffnungen seines Lebens erfüllt; er schreibt dem Freunde: „Seit gestern gehören wir also zum Deutschen Reiche und haben einen Kaiser. Nachdem dies erreicht ist, habe ich das Gefühl, ich werde den Rest meines Lebens weniger für Politik, noch mehr für Philosophie und Contemplation leben.“ Und doch führte ihn die Erledigung der Stellung eines Kanzlers der Universität und die Uebertragung dieses Amtes an ihn wieder der laufenden Tagespolitik in die Arme. Die Tübinger Würde eines Kanzlers gleicht in Manchem der preußischen Curatorenstellung; aber sie bedeutet mehr; der Kanzler wohnt allen Senatssitzungen an, er ist oder sollte sein einer der angesehensten Lehrer der Universität. Seine jährlichen Reden bei der Preisvertheilung sind die großen wissenschaftlichen Feste der Universität. Der Kanzler vertrat damals auch noch die Universität in der zweiten Kammer. R. kehrte so von allen Parteien geehrt und anerkannt in den Stuttgarter Halbmondsaal zurück; er nahm 1870–89 an allen Berathungen über den Etat, die Schul- und Kirchenfragen, die Universität, an allen Finanz- und volkswirthschaftlichen Fragen regen Antheil, oft als Berichterstatter, stellte viele meist angenommene Anträge, war ein gern gehörter Redner, eines der angesehensten Mitglieder des Hauses. Die Thätigkeit in Stuttgart, die hier empfangenen Anregungen, das regelmäßige Wiedersehen seiner alten Freunde, des Kriegsministers Wagner, des Prälaten Gerok, des Justizministers Faber, der Gebrüder Klumpp war für R. eine angenehme Unterbrechung der stillen Tübinger akademischen und wissenschaftlichen Thätigkeit.
Da ich aus unten anzuführenden Ursachen seine im übrigen sehr bedeutsame Kanzlerthätigkeit nicht würdigen kann, und die Darlegung seiner Kammerthätigkeit uns in zersplitternde heterogene Einzelheiten hineinführte, so bleibt mir hier nur die Würdigung seiner wissenschaftlichen und schriftstellerischen Thätigkeit übrig. Wir betrachten je im Zusammenhang die einzelnen Gruppen seiner Schriften aus dieser Zeit (1861–89). Eine Auswahl hat er zuerst 1875 unter dem Titel „Reden und Aufsätze“ veröffentlicht; eine neue Folge erschien 1881; eine dritte 1894 nach seinem Tode. Diese drei Bände haben ihn erst den weitesten Kreisen als einen der ersten Schriftsteller, Stilisten und Philosophen Deutschlands gezeigt, haben erst seinen Namen populär gemacht. Wir gliedern die Schriften nach ihrem Inhalt in a) litterarische und politisch-historische, b) statistische, c) philosophische.
a) Litterarische und politisch-historische Schriften einschl. der biographischen. Das ganze Leben Rümelin’s von der Jugend bis ins Greisenalter ist in erster Linie erfüllt von der Beschäftigung mit den großen Dichtern und Schriftstellern. Es ist erstaunlich, wie viel er selbst als Minister Neues und Altes gelesen, durchdacht, dem Freunde eingehend über seine Eindrücke berichtet hat. Seine Briefe über Goethe und Shakespeare sind fast kleine Abhandlungen. Daneben berichtet er über Macaulay, Ranke, Guizot, Mommsen, Renan, Niebuhr’s Lebensnachrichten, Pertz, das Leben Stein’s, Strauß, Schopenhauer. Die Muße von 1861 an gab den Anstoß zu seiner Schrift über Shakespeare.
In einem Briefe an Kern vom 15. Juli 1853 erzählt er, wie in seinem Freundeskreise alle großen Dichter nach den württembergischen Examensnummern geordnet worden seien, daß nur Goethe, Homer und Shakespeare I a, Sophokles und Schiller I b bekommen hätten, und fügt dann bei: „Seit ich angefangen habe, mich von dem Drucke, den der Name Shakespeare auf mich ausgeübt hat, wie alle Autorität als solche, zu emancipiren, habe ich eine viel größere Freude [618] an ihm als vorher, lese viel in ihm. Ich bin aber so frei, manches bis jetzt Respectirte gering zu schätzen, erfreue mich aber um so mehr an anderem, besonders an der Fülle lyrischen Schmuckes, prächtiger Gedanken und Bilder und an der hohen Lebensweisheit.“ Vieles sei zu schlecht motivirt, aus Unwahrscheinlichkeit mache sich Shakespeare gar nichts. Am 20. December 1862 schreibt er dann: „Ich bringe meine Marotten und Paradoxien über Shakespeare zu Papier“. Sie erschienen erst 1864–65 im „Morgenblatt für gebildete Leser“ (November 1864 bis Februar 1865) als „Shakespearestudien eines Realisten“ und nachdem sie ebenso viel starken Widerspruch wie auch Zustimmung gefunden hatten, 1865 in erster, 1874 in zweiter Auflage unter Rümelin’s Namen als selbständiges Buch (Cotta, 8°, 315 S.).
Das Buch geht von ernsten, historischen Studien über das England und die Bühne der Zeit, das Publicum und die Person Shakespeare’s aus, kritisirt dann die wichtigeren Dramen und schließt mit einem Lebensbild des Dichters und einer Zusammenfassung seiner Lebensansichten. Das Schlußcapitel vergleicht Shakespeare mit Schiller und Goethe und erörtert den deutschen Shakespearecultus. Das Ganze ist ein Protest des gesunden Menschenverstandes und der naiven Kunstfreude des Laien gegen die verhegelte Shakespearebeurtheilung F. Th. Vischer’s, gegen die philosophisch construirten Verherrlichungen von Gervinus, Ulrici und Anderen, ein Protest gegen die Ueberschätzung der historischen Dramen, „die überhaupt wenige, nie Jemand zum zweiten Male, lesen“. Die Shakespeare-Gelehrten und -Philologen waren etwa gerade so außer sich über den „dilettantischen“ Ketzer wie einige Jahre vorher die schwäbischen Pietisten über den angeblich römischen Concordatsmacher. Aber Tausende von wirklichen Shakespeareverehrern athmeten auf, daß endlich mal eine natürliche, tendenzfreie Würdigung des Dichters ihnen die Augen geöffnet und ermöglicht hatte, das Große, Schöne, wahrhaft Poetische an ihm ganz zu genießen, ohne in die Schnürstiefeln der Hegelei eingespannt zu werden und ohne an die Maßlosigkeiten stubengelehrter Philologen, an unnatürliche Zumuthungen glauben, eine geistige Verrenkung erdulden zu müssen. R. schließt das Vorwort der zweiten Auflage seines Buches mit dem Worte, daß alle schulmeisterlichen Abkanzlungen daran nichts ändern werden, daß die „Dilettanten“, zu denen er auch gerechnet werde, und wozu er sich selbst zähle, d. h. die gebildeten Liebhaber und nicht die Zunftphilologen und -philosophen das letzte Wort über die großen Dichter haben werden. – Die Shakespearestudien des „Realisten“ waren eine muthige, befreiende That gegen eine verschrobene, verzopfte Schulgelehrsamkeit. Auch die Gegner geben heute den großen Werth dieser „Studien“ zu. Ich erlebte an meinem eigenen Tische, wie Ulrici, einer der von Rümelin Meistgeschmähten, den anwesenden R. liebenswürdig und begeistert feierte.
Vielleicht ebenso viel wie mit Shakespeare hat sich R. mit Goethe beschäftigt, aber doch nie über ihn so ausführlich gehandelt wie über Shakespeare. Wohl aber hat er in späteren Jahren seine Gedanken über Lessing zu einer Studie zusammengefaßt (R. u. A. II, 514–538). Auch hier ist der Zweck, aus Zeit- und Charakterschilderung, Lebenslauf und Bildungselementen die Grenzen der Wirksamkeit des großen Kritikers darzulegen und eine richtige realistische Einschätzung Lessing’s neben der neidlosen Verehrung für ihn herbeizuführen.
Fast gleichzeitig mit den „Shakespearestudien“ schrieb R. (1862) die Biographie von Justinus Kerner, des schwäbischen Dichters, des treuen Freundes seines Elternhauses. Auch hierbei gab ihm der realistische Trieb die Feder in die Hand. Aus der genauen persönlichen Kenntniß und dem Studium des umfangreichen Nachlasses heraus wollte er dem väterlichen Freunde, über den bisher viele, aber wesentlich Fernstehende geschrieben hatten, ein lebenswarmes [619] Denkmal setzen. Es erschien zuerst in der Beilage zur Allgemeinen Zeitung (12.–18. Juni 1862), später im Bd. III der „Reden und Aufsätze“. Es ist ein Meisterstück von psychologischer Analyse und Charakterschilderung. Wir sehen den schwäbischen Dichter und Arzt in seinem Hause am Fuße der Weibertreue in Weinsberg seines Amtes menschlich edel walten und die Dichter aus ganz Deutschland bei sich bewirthen, den unerforschlichen Geheimnissen des Seelenlebens und der Geisterwelt congenial und doch wesentlich als Arzt und Naturforscher nachgehen. Ein ebenbürtiges Seitenstück hierzu sind die bereits erwähnten Erinnerungen an den großen Naturforscher R. Mayer, den Jugendfreund Rümelin’s (1878 und 1880, zuerst in der Allgem. Zeitung, 30. April bis 2. Mai 1878, dann R. u. A. Bd. II). Dieselbe Art der Behandlung, dieselben Vorzüge zeichnen dieses Lebensbild des unglücklichen, zuletzt umnachteten Gelehrten aus.
Neben Shakespeare, Kerner und der Statistik beschäftigte R. sich in der ersten Zeit nach seiner Ministerentlassung und dann öfter auch später mit der württembergischen Verfassungsgeschichte; zunächst interessirte ihn jenes Schreiber- und Pfarrerregiment, das 1806–19 um das gute alte Recht gekämpft hatte, dessen Geist ihm noch in seinen ministeriellen Kämpfen gegenüber gestanden hatte. Im Jahrgang 1864 der Württembergischen Jahrbücher erschien die classische Studie „Altwürttemberg im Spiegel fremder Beobachtung“, wovon die zwei wichtigsten Abschnitte im zweiten Bande der „Reden und Aufsätze“ (1881) wieder abgedruckt sind. Daran knüpfen sich direct an: die zwei Reden „König Friedrich von Württemberg und seine Beziehungen zur Landesuniversität“ (1882) und die „Entstehungsgeschichte der Tübinger Universitätsverfassung“ (1883) (Beide in Bd. III d. R. u. A.). Auch die Festrede beim Universitätsjubiläum 1877 (Bd. II d. R. u. A.), welche das Jubiläum von 1777 schildert, gehört in diesen Zusammenhang, sowie die unvergleichlich schöne Studie über den schwäbischen Volkscharakter, welche 1883 für das Sammelwerk „Königreich Württemberg“ geschrieben wurde (jetzt Bd. III d. R. u. A.).
Die württembergische Geschichte von 1500–1819 war bisher wesentlich nur von Theologen oder landschaftlichen Consulenten geschrieben worden, die mit dem engsten Horizont die Privatmoral der Herzöge, die freilich nur als große Patrimonialherren möglichst viel aus dem Kammergut für ihre Vergnügungen herauspreßten, schulmeisterten. R. kam darauf, zu fragen, was sagen die fremden Reisenden, Keyßler, Pöllnitz, Nicolai, Meiners und Andere über das Altwürttemberg des 16.–18. Jahrhunderts und findet ihr Urtheil ebenso lehrreich wie begründet; er kommt auf sie und eigene Studien gestützt zu dem Resultate, daß der ganze kirchlich gefärbte Staat Herzog Christoph’s mit der Nebenregierung des ständischen Ausschusses (von zwei Prälaten und sechs Ortsbürgermeistern) zwar im 16. Jahrhundert eine That des Fortschritts, in seiner Versteinerung von 1568–1803 aber geistige, wirthschaftliche, culturelle Stagnation bedeutete, alle großen Württemberger von Kepler bis Schiller, Schelling und Hegel aus dem Lande trieb; Württemberg erfuhr infolge seines guten alten Rechts nie den Segen des aufgeklärten Despotismus, bis Friedrich II., der Schüler Friedrich des Großen, ins Land kam und die altwürttembergische Verfassung mit Recht beseitigte. Die Schilderung Rümelin’s, wie der ganze geistige, sociale und wirthschaftliche Zustand des Landes zwei Jahrhunderte lang von dem Prälaten- und Schreiberregiment beherrscht und bedingt ist, darf billig zu den Perlen deutscher Geschichtschreibung gerechnet werden. Die beiden Reden von 1882 und 1883 sind werthvolle Beiträge zur deutschen Universitätsgeschichte, glänzende Widerlegungen der unwahren Legenden, die Häusser und Treitschke ohne eigene Quellenstudien über das Regiment des zwar despotischen [620] aber gebildeten und staatsklugen Fürsten und Reformators, König Friedrich’s, nacherzählt haben. R. führt den Nachweis, daß die volle Autonomie und das freie Wahlrecht der Lehrer, wie sie im 18. Jahrhundert bestanden, der Universität mehr geschadet als genützt habe; daß die Verwandlung der Universität in eine Staatsanstalt zunächst unter den zwei bedeutenden Curatoren Spittler und Wangenheim in der Hauptsache Fortschritt, Vergrößerung, Verwandlung der überwiegenden Theologenschule in eine wahre Universität bedeutet habe. Er zeigt, daß trotz der nicht fehlenden ernsten Kämpfe zwischen Regierung und Universität 1816–31 über die Universitätsverfassung, der Friedensschluß zwischen beiden und die neue Universitätsverfassung vom 18. April 1831 der Hochschule das richtige Maaß akademischer Freiheit zurückgab. – Die Arbeit über den schwäbischen Volkscharakter gehört zum geistvollsten, was R. geschrieben hat. Sie beginnt mit einer geographisch-natürlichen und historisch-politischen Schilderung des Landes; darauf baut sie den Versuch auf, das geistige Wesen, die traditionellen Eigenschaften der Schwaben zu schildern: die Abneigung gegen jede Autorität, die knorrige Entfaltung der Individualität, das harte Ringen in engen Verhältnissen, das nach innen gekehrte reiche Traum- und Gefühlsleben, die Verachtung alles äußeren Scheins und anderes mehr; das kirchliche, gesellige, geistige Leben im Schwabenlande, die Eigenart seiner großen Männer wird uns lebendig vor Augen geführt.
Die beiden Reden über die Berechtigung der Fremdwörter 1886 und die neuere deutsche Prosa 1887 (R. u. A. III, 179–247, erstere auch selbständig in drei Auflagen) gehören dem Grenzgebiete der Sprachwissenschaft und der Geschichte an. Die erstere geht von einer Polemik gegen die deutschen Sprachreiniger aus; sie zeigt, daß wir hauptsächlich in Wissenschaft und Technik etwa 90000 meist internationale Fremdwörter gebrauchen, die unentbehrlich sind; sie führt dann an der Hand der Geschichte der deutschen Sprache im 18. und 19. Jahrhundert aus, daß wir in unserer gewöhnlichen Sprache etwa 216000 Worte – etwa noch einmal so viel wie die Franzosen – haben. Er erklärt dann aus dem Wesen der deutschen Sprache, der deutschen Wortbildung einerseits den Reichthum, andererseits das Bedürfniß zahlreicher Lehnworte aus anderen antiken und modernen Sprachen. Er weist nach, daß die Ersetzung der Lehnworte durch deutsche die Sprache ärmer mache; das reine deutsche Wort deckt sich fast niemals ganz mit dem Lehnwort, gibt meist nur eine Seite der Bedeutung des Lehnwortes. R. gibt zu, daß man mit Recht überflüssige Fremdworte meide, er verlangt aber, daß man es nicht übertreibe. Der reichere Wortschatz ist zugleich ein Schatz von Vorstellungen und Begriffen, er ruht auf der Thatsache, daß unsere ganze Bildung auf der lateinischen und griechischen Sprache sich aufbaut. Die Feinheit unseres Stilgefühls sei durch die Sprachreiniger bedroht.
Die zweite Rede über die neuere deutsche Prosa geht von der Frage aus, ob die heutige deutsche Prosa wohl auch eine so kurze Zeit der Blüthe haben werde, wie einst die griechische und römische. Die Antwort darauf giebt R. durch eine geistvolle Vergleichung der politischen und Sprachgeschichte der antiken und modernen Völker, die das Problem überraschend aufklärt. Er kommt zu dem Resultat, daß die modernen Sprachen der heutigen europäischen Culturvölker in ihrem Zusammenhang mit der geschichtlichen Existenz derselben eine ganz andere Garantie der Dauer haben. Er schildert dann, wie die deutsche Prosa erst von 1750–1850 zu ihrer Höhe gelangt sei, und wie sie von da an nicht gesunken, sondern sich weiter ausgebildet, eine Reihe neuer Blüthen getrieben, neue Gebiete erobert habe. Die Charakterisirung der Prosa unserer großen Dichter und [621] Schriftsteller von 1750 bis zur Gegenwart gehört zum Besten, was R. geschrieben hat.
Die Erörterungen über die Eintheilung der Universalgeschichte (R. u. A. I, 387–395) und über den Begriff einer Generation (das. I, 285–304) erwähne ich zum Schlusse dieser ganzen Gruppe von Rümelin’s Schriften. Die erstere zeigt, wie eigentlich die neuere Geschichte nicht 1517, sondern 1789 beginne, wie die 1200–1500 entstandene Staaten-, Wirthschafts- und Culturwelt in ihren Grundzügen bis ins 18. Jahrhundert dauere. Die zweite geht von dem statistisch-biologischen und historischen Begriff der Generation aus, um zu zeigen, wie bedeutsam die Aneinanderreihung der Generationen psychologisch, historisch und sonst wirke. Die Auseinandersetzung hat sofort auch auf die Geschichtsauffassung gewirkt, wie wir aus O. Lorenz daran anknüpfenden Erörterungen sehen; er handelt in seinem bekannten Buche die „Geschichtswissenschaft in Hauptrichtungen und Aufgaben“ (1886–1891) im ersten (S. 279–291) und im zweiten Bande (S. 143–278) von diesem Thema.
b) Statistik. Ein erheblicher Theil von Rümelin’s Thätigkeit, zumal 1861–71, aber auch noch später war der Statistik gewidmet. Es war dies 1861–67 zunächst amtliche Pflicht; aber es war stets zugleich innere Neigung: das reale Leben, wo es ging, zahlenmäßig zu erfassen, die von der Statistik gelieferten Zahlen kritisch zu untersuchen, ihnen den stummen Mund zu öffnen, mit ihrer Hülfe psychologische, politische, wirthschaftliche Entwicklungsreihen zu erklären, befriedigte seinen Intellekt ganz besonders. Dabei ging er vom Allgemeinsten aus und kam auf das Speciellste.
Zunächst suchte er sich und der Welt in der Abhandlung zur Theorie der Statistik (zuerst in der Zeitschr. f. d. g. Staatsw., 1863, dann R. u. A. I, 208 mit einem Zusatz von 1874) Rechenschaft darüber zu geben, was Statistik sei. Der Aufsatz gilt heute wohl allgemein als das Beste, was über das Wesen der Statistik gesagt wurde; ihr Vorzug ruht auf der philosophisch-logischen Bildung des Verfassers, er liegt in der Einreihung der statistischen Methode in das System der wissenschaftlichen Methoden überhaupt. R. zeigt, daß man heute ganz allgemein mit dem Worte „statistisch“ die methodische Beobachtung und Zählung von Merkmalen menschlicher oder anderer Gruppen von Erscheinungen und deren wissenschaftliche Verwerthung versteht, daß die Statistik so eine methodologische Hülfswissenschaft für eine Reihe empirischer Wissenschaften sei. Er giebt zu, daß ihr Name ursprünglich „Staatenkunde“ bezeichnet habe; er will aber die heutige Staatenkunde, die Demographie, als eine besondere Wissenschaft neben der Statistik anerkannt wissen.
Seine statistischen Specialarbeiten begann R. als Chef des württemberg. statistischen Bureaus mit den Abhandlungen „über die Vertheilung des landwirthschaftlich benutzten Grundeigenthums in Württemberg“ und über „die Statistik eines altwürttembergischen Dorfes vor 70 Jahren und jetzt“ (beide, Württ. Jahrb. 1860 u. 1861). Die erste zeigt in musterhafter Weise, wie man aus einer schlechten Erhebung durch kritische Prüfung, durch bodenständige Sachkenntniß, durch Heranziehung aller denkbaren Hülfsmittel der Erkenntniß doch ein wahrheitsgetreues Bild der thatsächlichen Bodenvertheilung geben kann; die Uebertreibung all der Schriftsteller, die vorher auf Grund dieser Statistik und der Nothstände von 1845–55 ein schiefes Bild von der württembergischen proletarischen Zwergwirthschaft gegeben hatten, werden auf ihr rechtes Maaß zurückgeführt. Der weitaus größere Theil der bäuerlichen Wirthschaft des Landes zeigt sich im Lichte gesunder Entwicklung und Wohlhabenheit. – Die andere Arbeit über Kornwestheim entwickelt mit Hülfe einer ausführlichen amtlichen Beschreibung von 1787 und der neuesten Nachrichten die großen [622] historisch-wirthschaftlichen Wandlungen eines württembergischen Normaldorfes, zeigt, daß von 1787–1860 die Zustände sich geändert haben, wie sonst nicht in Jahrhunderten und zwar überwiegend zum Bessern.
Von 1861–71 sind fast in jedem Jahrgange der Württembergischen Jahrbücher eine oder zwei statistische Arbeiten von R., hauptsächlich über Bevölkerung, Volkszählung etc. Nur Weniges aus diesen Arbeiten ist in seine „Reden und Aufsätze“ übergegangen, z. B. der sehr schöne, eine Summe statistischer, landläufiger Irrthümer zerstörende Aufsatz „Stadt und Land“ (I, 333). In der 1863 von dem statistischen Bureau herausgegebenen Beschreibung des Königreichs Württemberg (eine Wiederholung des von Memminger schon 1823 gemachten ähnlichen, 1841 nach dessen Tode neubearbeiteten Versuchs) hat R. neben der Leitung des Ganzen die Bearbeitung der Bevölkerungsstatistik, dann die Beiträge zur Culturstatistik, die Ermittlung über das Volksvermögen und das Volkseinkommen nebst einigen anderen Abschnitten übernommen. Und als dieses schöne Werk 1884 nochmals in sehr erweiterter Gestalt herausgegeben wurde, hat er dieselben Gegenstände bearbeitet und die hierfür geschriebene Bevölkerungsstatistik Württembergs auch als besonderes kleines Buch erscheinen lassen. Ebenso hat R., so lange er lebte in Schönberg’s Handbuch der politischen Oekonomie die Abschnitte „Bevölkerungslehre“ und „Statistik“ bearbeitet (1882 ff.). Im ersten und zweiten Bande seiner „Reden und Aufsätze“ hat R. ferner in zwei Aufsätzen „Ueber die Malthus’schen Lehren“ und „Zur Uebervölkerungsfrage“ (zuerst Beilage zur Allg. Zeitung, 24. bis 30. Januar 1878 unter dem Titel: „Unbehagliche Zeitbetrachtungen“) die Summe seiner bevölkerungsstatistischen Studien gezogen. Endlich ist zu erwähnen, daß R. 1869 und 1871 Mitglied der Commission war, welche in Berlin die weitere Ausbildung der deutschen Statistik berieth. Er war, so sehr er hinter manchen anderen Mitgliedern in technischen Erhebungsfragen zurückstand, doch bald eines ihrer maßgebendsten Mitglieder, war hauptsächlich Referent in der Untercommission, welche die Gründung einer Reichsbehörde für die deutsche Statistik zu berathen hatte (s. Statistik des Deutschen Reichs I, 264 ff.).
Die württembergische Statistik stand, als R. ihre Leitung übernahm, im Ganzen hinter der der übrigen Mittelstaaten, zumal der bairischen und sächsischen zurück. Ihr Lenker von 1850–61 war der Finanzminister a. D. v. Herdegen, der es ohne Universitätsstudien vom Schreiber bis zum Minister gebracht hatte, selbst nichts Statistisches leistete, erhebliche Kräfte nicht heranzuziehen verstand. R. machte rasch die württembergische Landesstatistik zu einer der angesehensten; auch neue Arten der Erhebungen nach neuen Methoden hat R. veranlaßt, so z. B. setzte er die erste genaue Alterszählung in Deutschland durch; aber hauptsächlich wirkte er dadurch, daß er selbst jahrelang das herkömmlich erhobene Material meisterhaft bearbeitete, auch weitere brauchbare Bearbeiter heranzog. Er sah den größten Uebelstand der deutschen und auswärtigen amtlichen Statistik in der Häufung und Publikation der Erhebungen, ohne daß die, welche die Zahlen erhoben, oder auch andere, die dazu fähig seien, sie so bearbeiteten, daß man sie verstehe, daß sie wissenschaftlich und praktisch nutzbar werden. Er hat gegen diesen Mißstand besonders auch auf den Berliner Conferenzen 1869–71 ernste Mahnworte gerichtet.
Im Ganzen sah es 1800–1870 mit der Besetzung der statistischen Aemter nicht allzu gut aus. Der deutsche Zollverein hatte überhaupt nur ein Rechenbureau statt eines statistischen Amtes. Preußen hatte nur in J. G. Hofmann eine Kraft ersten Ranges an der Spitze. In den meisten Staaten besorgten höhere Beamte im Nebenamte die Leitung, oder solche, die bald andere Stellen erstrebten. Als man in Sachsen und Preußen den geistvollen Technologen [623] E. Engel, der sich ganz an den belgischen Physiker Quetelet[WS 3] anschloß, an die Spitze stellte, regte sein ruheloser, optimistischer Geist viel Gutes an; aber es fehlte ihm wie seinem Meister die staatswissenschaftliche Fachbildung, die ruhige Objectivität, die historisch-philosophische Bildung. R. besaß die erstere auch nicht von Haus aus; aber er hatte als Politiker und Minister sich schon vielfach derselben bemächtigt; er trat als Staatsmann, Psychologe, Philosoph, Historiker an alle gesellschaftlichen Probleme heran; er hatte sich, wie seine Briefe und Aufzeichnungen von 1848–61 bezeugen, aufs eingehendste mit finanziellen und volkswirthschaftlichen Fragen beschäftigt; er kannte als praktischer Mann den Beamtenapparat, der das statistische Urmaterial lieferte; er wußte diesen richtig einzuschätzen; er kannte die Grenzen des damals Möglichen. Er wußte wie kein anderer der damaligen deutschen statistischen Beamten scharfsinnig, großzügig die statistischen Erhebungen zu verwerthen. Sein 1871 in Berlin gemachter und in der Subcommission allgemein gebilligter Vorschlag, das preußische statistische Bureau in Provinzialbureaus aufzulösen, die eine ähnliche Landes- und Volkskunde wie die der Mittelstaaten zur Bearbeitung ihrer Erhebungen heranbrächten, wurde natürlich von Engel bekämpft, kam nicht zur Ausführung. Der Vorschlag spiegelt aber das Urtheil wieder, das man in den anderen deutschen Staaten über die damalige preußische Statistik hatte; ein Urtheil, in das wohl auch die Räthe Engel’s theilweise einstimmten, die in den Conferenzen häufig die Hauptgegner ihres Directors waren, wie ich aus persönlicher Theilnahme bezeugen kann.
Der Aufsatz Rümelin’s über Malthus, dem er principiell zustimmt, dessen Lehren er aber auf eine viel höhere psychologische und historische Stufe der Begründung erhebt, gehört zum Besten, was über das Bevölkerungsproblem geschrieben wurde; es treten hier die großen Conflicte des individuellen und gesellschaftlichen Lebens als die letzten nothwendigen Ursachen dieses fast wichtigsten historischen Processes in den Vordergrund. Die zweite der obengenannten principiellen Abhandlungen ist wohl etwas zu pessimistisch gefärbt; sie hält die 1875–90 in Deutschland vorhandenen wirthschaftlichen Stockungen wesentlich für die Folgen der deutschen Uebervölkerung. Die ungünstigen Symptome, die gerade damals in der württembergischen Bevölkerungsstatistik zu beobachten waren (rasches Anwachsen der Ehen, der Geburten, große Kindersterblichkeit, Auswanderung, Mißverhältniß zwischen männlicher und weiblicher Bevölkerung, die R. schön und objectiv in seiner Bevölkerungsstatistik von 1884 dargestellt hatte), veranlaßten ihn wohl zu der Annahme, daß in ihnen, d. h. in der Bevölkerungszunahme an sich, die Hauptursache der unbehaglichen Zustände zu finden sei. Hätte er den Wiederaufschwung der deutschen Volkswirthschaft 1888–92, 1895–1901, 1903–07 auch noch mit erlebt und gesehen, wie in diesen Epochen die deutsche Bevölkerung ebenso oder noch rascher wuchs als 1870–80, so würde er wahrscheinlich auch für seine Zeit die Uebervölkerung nicht so sehr als die primäre Ursache der Stagnation, sondern mehr nur für ein Symptom einer schwierigen Uebergangszeit betrachtet haben.
c) Philosophie, Psychologie. Wie wir oben schon sahen, hatte sich R. schon in den 40er Jahren von Hegel’s Bann befreit. Immer aber war es ihm noch 1862 eine besondere Freude, in einem Vorlesungsmanuscript von E. Zeller zu sehen, wie ganz auch er sich von Hegel ab zu Kant hingewendet hatte. Die philosophische Lectüre war in den Jahren der Politik 1845–61 zurückgetreten. Nur 1852 finde ich, daß ihm Trendelenburg’s logische Untersuchungen und Waitz’s Psychologie einen großen Eindruck machten. Auch mit Herbart beschäftigte er sich damals und bemerkte: „Auf dem von Herbartianern eingeschlagenen Wege, die Psychologie als Naturwissenschaft zu behandeln, ist [624] eine Regeneration der philosophischen Studien denkbar“. Seine Weltanschauung hatte sich zu einem Goethe’schen Optimismus abgeklärt, aber nicht ohne das Gefühl, daß eigentlich nur die Sonntagskinder Ruhe in diesem Optimismus finden, und er betont, daß auch bei ihm stets zeitweise wieder der Pessimismus die Oberhand gewinne.
Da lernte er in den Tagen seiner schwersten politischen Kämpfe (1860–61) Schopenhauer kennen. Er nennt das bekannte Buch „Die Welt als Wille und Vorstellung“ das interessanteste und geistvollste Buch, das ihm je vorgekommen sei, es bleibe in den höchsten metaphysischen Erörterungen deutsch, klar, und schön; den Hegel-Schelling’schen Gallimathias könne man nachher nicht mehr lesen; er werde aus seiner Lectüre bleibende Frucht und Veränderung vieler Ansichten schöpfen. Aber seinen Pessimismus, seine Weltnegation lehnt er ebenso ab, wie er in ihm die Richtung auf die positiven Zwecke des individuellen und socialen Lebens vermißt. Dagegen habe Schopenhauer ihn gelehrt, daß man als Optimist zu der großen Masse der Erscheinungen die Augen zudrücken müsse, daß die Mehrzahl der Menschen, vor allem die Alten, die Armen und Elenden, die Aerzte und Geistlichen, die Staatsmänner, die das Massenelend täglich vor sich sehen, Pessimisten sein müßten, wie Jesus, Sokrates, Solon, Zeno, Seneca, Augustin etc. es gewesen. „Mir, schreibt er, sind beide Lebensanschauungen geläufig, die eine Goethische von Jugend auf, als die durch mein Naturell und meinen Bildungsgang nahegelegte, die andere als die Frucht eigener und ernster Selbst- und Weltbetrachtung. Es ist mir, wie wenn ich eine rosenfarbene und eine graue Brille hätte, bald durch die eine, bald durch die andere blickte. Ihre Verschmelzung zur Einheit, will mir noch nicht recht gelingen. Wohl aber wird es mir leichter als früher, mich innerlich von der Außenwelt loszumachen, so daß sie mir wie eine Scheinwelt, wie ein Traum gegenübersteht.“ Dazu sei ihm Schopenhauer behülflich gewesen.
In der schriftstellerischen, glücklichen Arbeit der folgenden Jahre rückt ihm nun Schopenhauer und der Pessimismus wieder ferner, wie er das z. B. 1865 dem Freunde berichtet. Wir sehen ihn hauptsächlich von 1867 an in Tübingen mit Aristoteles und den Sophisten, mit Spinoza und Leibnitz, mit Herbart und Lotze, mit J. St. Mill und Darwin beschäftigt. Er will darauf verzichten, die letzten Räthsel der Welt zu lösen, das Unerforschliche der Weltpläne zu ergründen; auch nicht mehr die Zweifel über die zwei Weltanschauungen des Optimismus und Pessimismus beschäftigen ihn in erster Linie, sondern praktisch psychologische Fragen. Schon 1862 hatte er dem Freunde mitgetheilt, er möchte ihm ein Programm seiner psychologischen Studien schicken; es sei aber noch nicht ganz reif. Es reifte vor allem in den letzten Tübinger zwanzig Jahren seines Lebens; in seinen jährlichen Reden zur Preisvertheilung legte er die Frucht dieser Studien nieder. Die wichtigsten derselben sind: die über die Lehren von den Seelenvermögen 1873, über das Rechtsgefühl 1874, über den Zusammenhang der sittlichen und intellectuellen Bildung 1875, über das Wesen der Gewohnheit 1879, über die Idee der Gerechtigkeit 1880, über die Temperamente 1881, über die Lehre vom Gewissen 1884, über die Arten und Stufen der Intelligenz 1885.
Eine selten scharfe, nie ruhende Beobachtung der Menschen und das Studium aller großen Dichter der verschiedensten Zeitalter bildet die Grundlage für Rümelin’s psychologische und socialphilosophische Studien. Das gelehrte Rüstzeug, über das er für seine Aufgaben verfügt, ist seine große Sprach- und Litteraturkenntniß; er verfolgt die Sprach- und Begriffsbildung der einschlägigen Worte und kommt so zu einer Art sprachgeschichtlicher Erkenntniß, wie in den Jahrtausenden der bekannten Geschichte, bei Juden, Griechen, Römern und [625] anderen Völkern die stufenweise wachsende Erkenntniß an die Wortbildung und an die Begriffserweiterung der einzelnen Worte sich anknüpfte, wie alle unsere modernen Begriffe Niederschläge der älteren Geistesgeschichte enthalten. Ich versuche das Wichtigste aus den erwähnten Reden kurz zusammenzufassen.
R. geht von der Frage aus: wie schildern wir Menschen; er antwortet, indem wir die Art und die Stufen ihres Intellects, ihr Temperament, d. h. die Art ihrer Erregbarkeit und Lebenswärme, ihre Empfänglichkeit für Lust- und Unlustgefühle und das Maaß ihrer Concentration, endlich indem wir die Art und Stärke ihres Willens, d. h. ihre Triebe schildern. Hauptsächlich diese Triebe und damit den menschlichen Willen zu erkennen, erscheint ihm als seine Hauptaufgabe. Im Willen und in dessen Elementen sieht er mit Schopenhauer das Centrum der Seele. Schon 1853 protestirt er einmal dagegen, daß man den moralischen Charakter des Menschen aus philosophischem Studium und aufgenommener Theorie erkläre; er entspringe aus der Art, wie die animalischen Triebe und die Anlagen höherer Ordnung bei ihm gemischt seien. Die Lust- und Schmerzgefühle sind ihm das Letzte, in dem auch das Gute und Sittliche wurzele. Er gibt Spinoza recht, daß der Mensch gut nenne, was ihn freue; er fügt nur bei, das sittlich Gute sei das, was die höchste Gattung unserer Triebreize befriedige.
Die Annahme von verschiedenen, nicht aufeinander zurückführbaren Trieben, die sich an unsere Gefühle anknüpfen, ist ihm eine Hypothese, die besser zum Ziele führe, als die Ableitung der psychischen Erscheinungen aus Begriffen wie Seele, Geist, Selbstbewußtsein, Vernunft. Er gibt nirgends eine erschöpfende Triebtafel; die Erforschung der einzelnen Triebe ist ihm die erst zu lösende Aufgabe; er betont nur von Anfang an, daß es animalische, gesellige, geistige Triebe gebe, die alle durch den Intellekt auf bestimmte Ziele hingeführt, durch die begleitenden Gefühle zum Bewußtsein kommen, die letzten Entscheidungen über den Werth der Güter des Lebens geben. Erziehung, Gesellschaft, Moral, Religion, Erkenntniß der Wahrheit wurzeln zuletzt in Trieben und Gefühlen. Die Einsicht in das Wesen der Triebe ist der Schlüssel zum Verständniß der einzelnen Menschenseele, wie der Geschichte unseres Geschlechts. Aus dem Gegensatz der animalischen und der humanen Triebe entspringen alle Conflicte. Sie zu schlichten, vermöge nur der oberste, ordnende Trieb, aus dem das Schöne und[WS 4] Gute, die Sittlichkeit und das Gewissen, das Recht und die Gerechtigkeit hervorgehen.
Ob das Wissen die Menschen bessere, darüber haben die ersten Denker immer gestritten. R. antwortet auf die Frage: nie macht das Wissen an sich gut und tugendhaft, nur die Leitung und Läuterung der animalischen durch die humanen Triebe bringt Fortschritt. Jeder Trieb hat seine Berechtigung, muß Befriedigung finden. Aber er muß in das Ganze individueller und socialer Lebenszwecke richtig eingefügt werden durch Erziehung, durch Vorbild, durch Lehre, durch Autorität, durch Sitte, durch Recht. In jedem einzelnen Fall des Handelns ist die Selbstüberwindung, d. h. der Sieg der höheren über die niedrigen Triebe, die freie That des Individuums, wobei die unwissende Magd den größesten Gelehrten beschämen kann. R. nimmt dabei eine Unveränderlichkeit der Triebe an, die mir mit dem Princip der Entwicklung und des historischen Fortschrittes im Widerspruch zu stehen scheint. Die fortschreitende Gesittung der Menschheit scheint mir auf der wachsenden Verstärkung der höheren Triebe zu beruhen.
Die Untersuchung über die Voraussetzungen des Strafrechts, wobei R. auf die Seite der Indeterministen tritt, hat ihre Spitze in der Betonung, [626] daß das Gewissen bei allen Menschen gleich sei, daß das Bewußtsein der Wahlfreiheit im menschlichen Handeln vorhanden sei und die entscheidende Rolle spiele. Ich kann ihm hier nicht folgen, stehe auf dem Standpunkt, wie ihn A. Merkel gegen R. formuliert hat. Es will mir scheinen, daß in der acht Jahre jüngeren Rede über das Gewissen das Problem etwas anders und richtiger formulirt sei. Die sprachgeschichtliche und die psychologische Forschung ist hier besonders anziehend. Aehnlich in der grundlegenden Rede über die Idee der Gerechtigkeit. Hier wird uns gezeigt, wie bei den Juden ein theologischer, bei den Griechen ein ethischer, bei den Römern ein juristischer Gerechtigkeitsbegriff entstand, – wie zuerst Aristoteles das innere Wesen und die Merkmale aller Gerechtigkeit in der Gleichheit und Proportionalität der gesellschaftlichen Beziehungen erkannte. Aus diesen Elementen ging unter dem Einfluß der Vorstellung einer gerechten Gottesgewalt dann der metaphysische Gerechtigkeitsbegriff hervor, als eine Idee, ein normativer Gedanke, ein höchster sittlicher Maßstab, den wir auf Menschenschicksal, Weltgeschichte und jenseitiges Leben anwenden. R. zeigt dann, auf welches Maaß der Gerechtigkeit sich Staat, Regierung und Rechtsprechung einschränken müssen; es gibt nach ihm einerseits eine realistische Gerechtigkeit männlicher Art, die nicht sowohl befehlen und hofmeistern als bestehendes Recht anerkennen will, die Specialtugend des Richters und aller Obrigkeit; andererseits die ideale – die weibliche, wie R. sie nennt – Gerechtigkeit, die auf dem Rechtsgefühl beruht, reformiren will, den Maßstab für alles positive Recht bildet, aber auch zu Luftgebilden sich verirren kann. Beide Arten der Gerechtigkeit sind neben einander nöthig, müssen sich ergänzen. „Nur die Verbindung von idealem Rechtssinn und Achtung des positiven Rechts kann das Wohl und den Fortschritt der Gesellschaft begründen.“
In den zwei Reden über die Temperamente und über die Arten und Stufen der Intelligenz zeigt sich Rümelin’s Methode psychologisch-praktischer Beobachtung und Detailuntersuchung ganz besonders fruchtbar. Der veralteten Eintheilung aller Menschen in sanguinische, phlegmatische, cholerische und melancholische durch Galen[WS 5] setzt R. die Zahl von 400 bekannten Adjectiven gegenüber, welche Arten und Grade des Temperaments bezeichnen. Bei der wissenschaftlichen Beschreibung der Temperamente will er drei Classen von Erscheinungen in dem Verhalten des Ichs zu dem, was in ihm vorgeht, unterscheiden. „Die erste betrifft die allgemeinen Erregbarkeitsgrade, das Maß der Kraft, Intensität und Lebenswärme aller psychischen Funktionen; die zweite das davon verschiedene Maß der Empfänglichkeit für Lust- und Unlustgefühle; die dritte das Maß und die Grade der inneren Sammlung oder Concentration“. Das führt er dann meisterhaft, mit glücklichen Beispielen aus und erörtert zum Schluß die allgemeine Bedeutung der Temperamente und die einzelner großer Männer. Er sagt: der Werth und die Tüchtigkeit eines Menschen wird in erster Linie durch die Ziele seines Wollens, die Ordnung seines Trieblebens bestimmt, in zweiter durch seine intellectuelle Anlage, sowie die erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten, erst in dritter Linie kommt das Temperament in Betracht; ob Gefühls- oder Verstandesmensch, kann der Mensch das Ideal einer hochstehenden Persönlichkeit erfüllen. Aber der individuelle und ästhetische Reiz jedes Menschen liegt in dem individuellen Temperament; der Charakter erhält durch dieses sein Colorit; das Temperament bestimmt Schicksal und Lebensglück. Sein Temperament kann Niemand frei bestimmen und ändern, aber jeder kann es durch Zucht und Disciplin meistern und gestalten.
Die Rede über die Intelligenz geht ähnlich von einer Unterscheidung [627] der Formen und Abstufungen des Denkens aus und gelangt so zu einer geistvollen Charakterisirung der verschiedenen Begabungen, der Rolle der Phantasie, der Bedeutung der Wort- und Begriffsbildung, der Art, wie die wissenschaftlichen Genies zu ihren Entdeckungen kommen, wie die Wissenschaften verschieden getrieben werden können. Die Rede über die Arbeitstheilung in der Wissenschaft 1877 (R. u. A. II, 89) bildet gewissermaßen Ergänzungen zu diesen Ausführungen.
Die Rede über den Begriff der Gesellschaft und einer Gesellschaftslehre 1888 (R. u. A. III, 248) enthält eine Auseinandersetzung des Gesellschaftsbegriffs mit Rümelin’s Trieblehre. Als Gesellschaftslehre will R. die Lehre von den Massen- und Wechselwirkungen freier Individualkräfte einer zusammenlebenden und im Verkehr stehenden Menschenmenge gelten lassen. Er wünscht eine Untersuchung der Gesellschaft auf psychologischer Grundlage, die zu allen Staatswissenschaften die grundlegende Einheit bilden soll.
Die letzte, nicht mehr gehaltene Rede über den Zufall (1889, R. u. A. III, 278) ist wie die beiden älteren über den Begriff eines socialen Gesetzes (1867, R. u. A. I, 1) und über Gesetze in der Geschichte (1878, das. II, 118) auch wesentlich philosophischen Inhalts. In der über sociale Gesetze kommt R. zu dem Resultat, daß, wir am besten echte Gesetze nur da annehmen, wo wir meßbare Wirkungen von physischen, organischen und psychischen Kräften festgestellt haben, daß die Statistiker oft bloße Regelmäßigkeiten Gesetze nennen, daß auch die Naturwissenschaften nur wenige wirkliche Gesetze kennen, daß die Volkswirthschaftslehre nur unter der Hypothese der Wirkung bestimmter rein wirthschaftlicher Triebe Gesetze aufstellen könne. Davon nimmt R. in der Rede über Gesetze der Geschichte Einiges zurück: die psychischen Erscheinungen zeigen uns keine feste Meßbarkeit. Die Willensfreiheit gestatte nicht, an eine Nothwendigkeit der Völkergeschicke zu glauben. Aller große Fortschritt hänge an den genialen Individuen, in deren Schicksal der Zufall eine große Rolle spiele; was wir Gesetze der Geschichte nennen, seien unsichere Annahmen, die einen Kern von Wahrheit, gewisse Kausalzusammenhänge enthielten, aber keine unfehlbare Verknüpfung von Ursache und Wirkung; Geistes- und Naturwissenschaften seien unvergleichlich. Daß es einen sittlichen Fortschritt der Menschheit, einen Sieg des Geistes über die Natur gebe, sei mehr ein sittliches Postulat als eine beweisbare Wahrheit. – R. zeigt sich hier als der Vorläufer jener neuesten Geschichtsphilosophie, wie sie z. B. Rickert vorträgt, deren Auftreten ein natürlicher Rückschlag gegen Buckle und ähnliche Leute ist, die mir aber doch die unendliche Schwierigkeit des Findens und Begreifens historischer Gesetze, die große Unfertigkeit unseres historischen Wissens mit der vollständigen Unmöglichkeit solcher Gesetze zu verwechseln scheint.
Die Rede über den Zufall weist zunächst die philosophische Beanstandung der Vorstellung des Zufalls auf Grund des Kausalitätsbegriffs, dann die theologische auf Grund der allgegenwärtigen Gottesleitung zurück. Auch wer das Kausalitätsgesetz im weitesten Sinne anerkenne, müsse zugeben, daß in vielen Gebieten gewisse von einander unabhängige Kausalreihen in einem zufälligen Kreuzungspunkt sich berühren, und das so der Zufall die Natur, das Welt- und Menschenschicksal bestimme. Mit einer ergreifenden Würdigung der rationalen und irrationalen Elemente alles Menschengeschicks schließen diese letzten Worte des Kanzlers.
An dem Tage – am 6. November 1888 –, da R. sie hatte halten sollen, ruhte er bereits in der kühlen Erde. Er war der längst ihn bedrohenden Zuckerkrankheit am 28. October, 74 Jahre alt, erlegen. Die unermüdliche Fürsorge seiner Gattin hatte das Schicksal um Jahre hinaus geschoben, aber [628] nicht abwenden können. Bis wenige Tage vor seinem Tode hatte er in gewohnter Weise gelebt und gearbeitet. Als am 23. October der Arzt erklärte, er müsse sich legen, schrieb er seinem Freunde, dem Kriegsminister Wagner, er leide an einem schmerzlichen Blasenkatarrh, werde seine Rede nicht halten, nicht zum Landtag kommen können; er tröste sich mit der Hoffnung auf bessere Tage, gedenke, daß es ihm bis jetzt nicht schlecht in der Welt gegangen sei, besonders, wenn er sich mit ihm, seinem alten und getreuen Freund vergleiche, dürfe er nicht raisonniren. Die letzten Worte, die er schrieb, waren: „Leben Sie wohl, und behalten Sie mich lieb, bis wir uns wieder sehen: wo? wie? wann?“
4. Charakter, Persönlichkeit, letzte Ueberzeugungen. Aus dem Jahre 1845 schildert Sigwart R. als Stuttgarter stellvertretenden Gymnasiallehrer: „ein junger Mann, mit mächtigem Haupte, blassem, ausdrucksvollem Gesichte, mit dunklem Haar, mit sicherem und vornehmem Auftreten erklärte uns Ciceros Briefe nicht als Exempel der Grammatik und Stilistik, sondern um die Menschen, ihre Zeit, ihre Beziehungen, die Verkehrsformen der damaligen Welt lebendig werden zu lassen.“ – Hnr. Laube nennt ihn 1848 einen Kernschwaben von der edelsten Sorte. „Ruhig und mild, geläutert durch jegliche Bildung, fest im Wissen und Wollen, war er eine der festesten Stützen des Augsburger Hofes und des abwägenden Centrums. Da war nie der leiseste Zug von persönlicher Absicht, von irgend einer Nebenabsicht, da war Alles lauteres Metall eines deutschen Abgeordneten. Er suchte die Wahrheit aufmerksam und kundig, wenn er sprach, er stimmte für sie, wenn er sie erkannt zu haben glaubte, sie mochte noch so ungünstig für ihn erscheinen in der aufgewühlten Heimath am Neckar.“ Ein anderer Kenner sagt von seiner Thätigkeit damals: „der Jüngsten einer, aber zugleich einer der Besonnensten“. Als R. 1867 Stuttgart verließ, besang ihn sein Freund Gerok in einer Nachbildung der Goethe’schen Verse über Schiller:
„Sagt, Freunde, kann man Ihn denn ziehen lassen,
Den unser Kreis mit Stolz den Seinen nennt?
Doch seht, da sitzt er, trutzig und gelassen,
Mit seinem Phlegma, das Ihr an ihm kennt,
Gewohnt von je, daß in olymp’scher Ruhe
Er Ungemeines denke, rede, thue.
Denn Ungemeines hat er oft geleistet.
Nicht unseres Gleichen ging er seine Bahn,
Und was sein Kopf zu wollen sich erdreistet,
Das hat er stets, trotz Freund und Feind, gethan.
Reales hat er mit Ideen durchgeistet,
Und sah Ideen als Realist sich an,
So wußt’ er in entlegensten Bezirken
Mit gleichem Glanze schöpferisch zu wirken.
So ist er stolz als Staatsmann hingeschritten,
Vom Zorne der Parteien nie geschreckt.“
Im Kreise der Freunde, bei gutem Stoff und heiterem Redespiele habe man
„Seinem Munde, wie wortkarg er begonnen,
Manch tiefe Wahrheit glücklich abgewonnen.
Denn er war unser, wie bequem gesellig
Den hohen Mann der gute Tag gezeigt
Wie bald sein Scherz, anschließend, wohlgefällig,
Zur Wechselrede heiter sich geneigt,
Wie bald sein Trotz, bärbeißig, widerbellig
Den Gegner wuchtig in den Staub gebeugt,
Das haben wir in sechzehn schönen Jahren
An diesem Tische leidend mit erfahren.“
[629] Aus meiner eigenen Erinnerung möchte ich zunächst das Aeußere der Erscheinung so schildern. R. machte auch noch im Alter den Eindruck der selbstbewußten, in sich gefestigten, unbeugsamen Kraft. Auf breitem Körper hob sich der ausdrucksvolle Kopf mit hochgewölbter, fast olympischer Stirne, breiter Adlernase, die klugen und doch gütigen blauen Augen sahen hell in die Welt hinein; der kurz geschnittene weiße Bart und weiße dichte Locken umrahmten das Gesicht. Man konnte zweifeln, ob die derbe Gestalt und der vergeistigte Kopf mehr den dem Leben und seinen Freuden zugewandten Realisten oder den im vollen Gleichgewicht befindlichen Idealisten zeigten. Seine Bewegungen waren langsam und abgemessen, fast lässig und bequem.
Aber sein Wille war stets stark und muthig, wie seine Körperkraft voll und groß. Er kannte keine Furcht; er hatte immer den Muth, mit seiner Ueberzeugung allein zu stehen und sehr oft das Bedürfniß, sie Anderen derb ins Gesicht zu sagen. Er schreibt einmal: „es ist ein Widerspruch in mir, ich gehöre vielleicht zu den ruhigsten Leuten und doch juckt es mich zuweilen, das, was klar und fest vor mir steht, gegen verworrenes und böswilliges Geschwätz mit einem gewissen Schneid und Heftigkeit herauszustoßen. Dann bin ich wieder zufrieden und der Sturm, der darüber entsteht, läuft nach wenigen Tagen wie kaltes Wasser an mir ab. Es reut mich nicht einmal“. Freilich waren solche Abschlachtungen nicht häufig, und R. klagt geradezu darüber, daß er in der Regel an Bequemlichkeit leide, die zu einem scheußlichen Untereinander seiner Papiere auf dem Schreibtisch führe, die ihn Schwierigkeiten nicht überwinden lasse; er brauche besondere Aufforderung und Anregung oder den Druck großer Situationen, um Erhebliches zu schaffen; er meint, es sei gut, daß er nicht bequem von seinem Gelde leben könne, er würde sonst ein lässiger Mann des Genießens und Stilllebens geworden sein. Er liebte als derber Schwabe eine gute Küche, ein feines Glas Wein; stundenlanges Plaudern mit geistvollen Freunden war ihm der höchste Genuß. Er schreibt einmal: „Ich habe ein mit den Jahren bis zur Lästigkeit steigendes Bedürfniß des Denkens, Meditirens und Disputirens. Am liebsten würde ich jeden Tag mit gescheidten und geistreichen Männern über hohe und wissenschaftliche Fragen reden und käme nie zu einem Ende. Und doch liegt meine Fähigkeit weit mehr auf dem Felde des öffentlichen Dienstes als auf dem der Wissenschaft und hoher Erkenntniß“. Ein ander Mal sagt er: „Es fehlt mir der Trieb nach Bereicherung der Anschauung, aber nicht der nach Bereicherung der Erkenntniß und des Urtheils“. Bis in sein hohes Alter blieb er, wie er selbst sagt, ein Suchender, er wundert sich, wie frühe die meisten Menschen sich fertig fühlen. Er schreibt dem Freunde einmal, dieser sei ein liebenswürdiger dichtender, alle Menschen gewinnender, aber seit lange fertiger Jüngling, er selbst gewinne die Menschen nie, wie jener, durch seine bloße Person, er bleibe ein unfertiger Mann.
Sein kräftiges Triebleben beschränkt sich frühe auf Freundschaft, Familienglück und Arbeit. Nach Geld und Gut hat er nie getrachtet; seine Lage blieb immer eine bescheidene, wenn auch nach und nach eine behagliche. Für Geld zu schreiben verachtete er, obwohl er in den Jahren 1840–50 Einiges so zu seinem kleinen Gehalte zuverdienen mußte. Er sagte mal: „mit Schriftstellern verdient man nicht so viel, als mit Misttragen, aber es ist gut, daß es so ist. Sonst würde noch mehr unnöthig geschrieben“. Auf Reisen die Welt kennen zu lernen, hat er nur in jungen Jahren gesucht. Später waren ihm selbst Badereisen bis Karlsbad lästig.
Natürliche Anlagen und eigenthümliche Lebensschicksale haben zusammen darauf gewirkt, daß R. seine großen geistigen Kräfte nicht in einem Specialberuf concentrirte. Er war einer unserer größesten deutschen Prosaisten und [630] Schriftsteller, aber er hat nie ein größeres Buch über einen speciellen Gegenstand geschrieben; er war einer der glücklichsten akademischen Lehrer, aber kein Fachgelehrter; er war einer der bedeutendsten Politiker Deutschlands, aber er war nur kurz Minister und nie Berufsparlamentarier mit bestimmten praktischen Zielen. Es genügte ihm, ein gebildeter Mensch von universalen Tendenzen, ein Liebhaber der Weisheit, der Litteratur, ein Virtuose des tiefsten und scharfsinnigsten Denkens zu sein.
Und doch, wie sein Vater über seine zerstreuten Studien klagte, so hat er es selbst oft gethan. „Mein größtes Leiden, schreibt er 1862, ist eigentlich, daß meine Neigungen und Triebe zu vielfältig und unharmonisch sind, daß mich die verschiedensten Dinge, praktische und theoretische Ziele gleichmäßig anziehen und beschäftigen, daß es mir ungemein schwer wird, mich zu concentriren.“ Noch früher, im J. 1842, hatte er dem Freunde geklagt, daß die mancherlei guten Seiten seiner Natur durch Mangel an Energie, angeborene Bequemlichkeit und Veränderlichkeit so verdorben seien, daß er es niemals zu etwas Ordentlichem werde bringen können. Und wie weit hat er es doch gebracht, durch unablässige Selbstzucht, durch Bekämpfung seiner Träumereien, wie er sie nennt, durch sein Goethe’sches Lebensideal, durch sein Streben nach Objectivität, durch seine Concentration auf die höchsten und letzten Fragen der Menschheit. Er wurde damit kein Fachmensch; die hat er stets über die Achsel angesehen, weil sie seinem Lebensideal widersprachen. Schon der Gegensatz, in dem er und seine Freunde zu dem Strauß-Vischer’schen Kreise stand, geht darauf zurück; sie sind ja viel gelehrter und geistreicher als wir, schreibt er mal dem Freunde, aber auch bornirter. In der Rede über die Arbeitstheilung in der Wissenschaft (1877, R. u. A. II, 87) erkennt er deren Nutzen und Nothwendigkeit voll an, aber er betont auch ihre Gefahren und Schattenseiten; „die Methode wird Alles, der Geist wenig; die Mittelmäßigkeit mit guter Methode wird sich dem Talente ohne sie überlegen zeigen“. „Die Wissenschaft ist nur noch in den Bibliotheken, nicht mehr in den Köpfen der Menschen vereinigt.“ Die Meister der Wissenschaft schreiben ihre Bücher nur noch für sich unter einander, nicht für die Gebildeten; die Belehrung der Masse bleibt den Schulbuchverfassern überlassen. Die Wissenschaft einerseits wird immer specialisirter, der Unterricht der Jugend andererseits wird immer encyklopädischer, vielseitiger. Es muß da, nach Rümelin’s Ueberzeugung, eine Umkehr erfolgen. Nach einer Zeit der Kärrner werden ja wohl auch die Könige in der Wissenschaft wieder kommen. Den heutigen jungen Historikern, die sich von Anfang an auf ein möglichst kleines Gebiet werfen, auf ihm Quellenstudien machen, denen aber nun zur Beurtheilung alle Lebenserfahrung, alle Kenntniß der eigenen Zeit, alle staatsmännischen Anschauungen fehlen, könne er nur das größeste Mißtrauen entgegenbringen, wenn sie ihre historischen Arbeiten für die einzig berechtigten halten, auch über die Gegenwart von oben herab urtheilen. All den heutigen, in den engen Horizont einer Fachwissenschaft sich einschließenden Specialisten setzt R. das Ideal seiner Jugend, das Ideal der großen deutschen Litteraturepoche entgegen, in der er noch selbst wurzelte. Goethe erschien ihm als der Repräsentant dieser Zeit, als der Prophet eines neuen Lebensideals. Er sagt einmal von ihm: „er hat eine neue Weltanschauung in sich zu Fleisch und Blut werden lassen, welche nicht der Gegenwart, sondern der Zukunft angehört. Von ihm muß man lernen, die einzelnen Menschen und Dinge auf sich wirken zu lassen“. Ein ander mal: nur, wenn man so wie Goethe Alles auf sich wirken lasse, komme man zu vollendeter Objectivität. Darin liege die Quintessenz der Goethe’schen Weisheit; er ist ihm der universellste Denker, der mit unglaublicher [631] Frische die Schärfe des Urtheils bis ins höchste Lebensalter sich bewahrte. Immer wieder kehrt R. zu Goethe zurück. Alle seine Altersbetrachtungen knüpfen an ihn an. So schreibt er 1883 dem Freunde über die geistigen Vorzüge des Alters das Citat: „am Ende des Lebens gehen dem gefaßten Geiste Gedanken auf, bisher undenkbar; sie sind wie selige Dämonen, die sich auf den Gipfeln der Vergangenheit glänzend niederlassen“.
R. hat in der That mit Goethe viele verwandte Charakterzüge: den großen freien Weitblick über Welt und Menschen, die Schärfe des Urtheils, die Sicherheit der Beobachtung und der logischen Schlüsse, eine reiche Phantasie, ein edles Gemüth. Nur ist Rümelin’s ganzer Sinn auf Staat und Gesellschaft, sowie auf ihre Entwicklung gerichtet. Was er handelnd, schriftstellernd, urtheilend auf diesem Gebiete geleistet hat, bildet den Höhepunkt seines Lebens. Ich möchte sagen, das Urtheil Rümelin’s über die großen Männer und die großen Fragen seiner Zeit fand immer das Richtige; seine politischen Prophezeiungen trafen überraschend ein. Auf diesem Gebiete gehört er zu den führenden Geistern seines Zeitalters.
Nicht bloß in Frankfurt sah er, auf welchem Wege allein Deutschland zu helfen sei, welches Maaß von demokratisch-constitutionellen Forderungen erfüllbar sei; auch in der Folgezeit sehen wir ihn stets auf der Höhe der richtigen Erkenntniß. Kaum hat Napoleon III. in Paris seine Stellung befestigt, so schreibt er im December 1851 an den Freund: „Wenn er sich behauptet, wird er Krieg machen, mit Oesterreich in Italien anbinden; dann kann Preußen zum zweiten Male in Deutschland Gesetze dictiren, wird aber freilich zum zweiten Male die Gelegenheit verpassen. Wie genau ist das 1859 eingetroffen. Er fragt dabei den Freund, ob er den schönen Vers kenne, der neulich am Standbilde des großen Königs angeheftet gewesen sei:
Großer Friedrich steig’ hernieder, führe deine Preußen wieder,
Laß in diesen schweren Zeiten, lieber Friedrich Wilhelm reiten.
Nach dem Frieden von Villa-franca ist er sehr unglücklich: Napoleon wird später über Preußen herfallen und dann wird Oesterreich neutral bleiben; Preußen sollte einsehen, daß es nicht mit Noten, sondern mit Schlachten den engeren Bund herstellen kann. Als der Freund ihn im Herbst 1858 fragt, ob er mit den preußischen Gothaern noch einen gemeinsamen politischen Boden habe, antwortete er: „Er sei derselben Meinung wie Max Duncker, gegen Haym habe er geleugnet, daß die Bildung des Ministeriums im Sinne der jedesmaligen Kammermehrheit auf deutsche Verhältnisse anwendbar sei. Das Wesen des Constitutionalismus liege darin, daß die Handlungen der monarchischen Gewalt einer Verantwortung unterliegen, daß von dem gegebenen Rechtszustand ohne Zustimmung der Volksvertretung nichts alterirt werden könne, sowie daß durch die öffentliche Discussion die Kronen genöthigt seien, zu ihren Rathgebern nur Männer von Talent und Charakter zu wählen.“ Das ist gerade das, was von 1858 bis heute sich als die für Deutschland passendste Verfassungsform herausgebildet hat. – Als Bismarck den Verfassungsconflict begonnen, schreibt er im November 1863, ob er die Sache hinausführen werde, sei er besorgt; aber in dem Kampfe um ein selbständiges, wenn auch in bestimmten wichtigen Punkten durch die Kammern limitirtes Königthum stünden seine Sympathien auf Seiten der Krone. Er war dann glücklich, 1869–71 Bismarck persönlich zu sehen und zu sprechen; er hat ihm 1875 seinen ersten Band „Reden und Aufsätze“ mit der Bemerkung übersendet, daß er als Altersgenosse ihm vielleicht noch dankbarer sei, als andere Bewunderer; denn am Abend des Lebens seien ihm seine Wünsche und Bestrebungen wider alles Hoffen durch ihn erfüllt worden.
[632] Den strategischen Gedanken, daß Süddeutschland gegen eine französische Invasion am wirksamsten dadurch geschützt werde, daß Preußen am Mittelrhein eine starke und drohende Haltung einnehme, weil damit der Kriegsschauplatz zwischen den mittleren Rhein und die Maas zu liegen komme (R. u. A. I, 184), hat R. schon in der Paulskirche als Grund für das preußische Erbkaiserthum angeführt und er erlebte die Genugthuung, daß Moltke in dem Memoire über den Aufmarsch der deutschen Armeen vom Winter 1868 und 1869 dem König Wilhelm dieselbe Auffassung vorgetragen hat. Als die 1866 und 1870 für Süddeutschland drohenden Gefahren von 1861–62 an am Horizont sich zeigten, schreibt R. in der Cotta’schen Vierteljahrsschrift 1862 (4. Heft S. 201) den Aufsatz: „Die Aufgabe der Staaten des südwestlichen Deutschlands“: er verlangt, daß sie bei der drohenden Gefahr das preußische Militärsystem bei sich einführen, damit eine Kriegsstärke von 300000 Mann erreichen und einen engeren vaterländischen, dem Rheinbunde und seinen Tendenzen entgegengesetzten Bund schließen, um in den kommenden Katastrophen gemeinsam handeln zu können. Er räth das, was dann 1866 bis 1870 freilich in etwas anderer Weise durch die diplomatische Kunst Bismarck’s, nicht durch den freien Entschluß dieser Staaten geschah.
Bei all diesen politischen Urtheilen, Vorschlägen und Prophezeiungen Rümelin’s wird man unwillkürlich an das Wort erinnert: „Mit dem Genius ist die Geschichte immer im Bunde.“
Neben den großen politischen haben R. stets die letzten Fragen der Religion beschäftigt. Das Charakteristische für ihn ist, daß er mehr und mehr vom Pantheismus und Materialismus abrückt, aber ein ebenso entschiedener Gegner der heutigen christlichen Dogmen bleibt, auf eine Verjüngung des Protestantismus hofft. Er schreibt bei der Confirmation seines ältesten Sohnes im Mai 1862: „Bei mir ist metaphysisches und religiöses Interesse im Wachsen begriffen; aber ich finde mich auch immer durch die Predigten unserer Geistlichen und die meisten Cultusformen zum Widerspruch provocirt. Sie reden so sicher und absprechend von ihren Kanzelbrüstungen herunter und glauben mit einiger modernen Sauce, in der sie das alte Dogma zurichten, schon alles gethan zu haben. Die Kirche erscheint mir als das verehrungswürdigste Institut und unentbehrlicher als der Staat selbst. Vor der Gestalt Jesu will ich meine Knie jeder Zeit und in jedem Sinne beugen; meine Sündhaftigkeit und Schwachheit zu bekennen, fällt mir nicht im Mindesten schwer. Und doch finde ich von da keine Brücke zu der Kirche, wie sie ist, und ihrem Dogma. Auf der anderen Seite wendet sich mir die Skepsis ebenso entschieden gegen Pantheismus und Hegelei; und so wirst du am Ende ganz Recht haben, wenn du sagst: ich wisse selbst nicht, was ich wolle. Das Leben, ohne es für ein Gut zu halten, mit Weisheit zu tragen, so gut es geht, am meisten durch geistige Arbeit und geistigen Genuß zu schmücken, das ist demnach ungefähr die Summe meiner Weisheit.“
Es liegen uns, wohl hauptsächlich aus der Zeit von 1867–75, zahlreiche handschriftliche Aufzeichnungen Rümelin’s und die zwei Aufsätze: „Wider den neuen Glauben“ und „Wider die Formeln des alten Glaubens“ (R. u. A. I, 405–454) vor, in denen er versucht hat, sich über seine Stellung zu Kirche und Religion ganz klar zu werden.
Der „neue Glaube“ von Strauß regte Rümelin’s stärksten Widerspruch an. Er führe die Menschheit in eine Sandwüste als dauernden Aufenthalt, wenn er sage: „Christen sind wir nicht mehr; Religion brauchen wir nicht; die Welt erklären wir für die Welt, indem wir ihr Titel und Rang des Universums verleihen; unser Leben ordnen wir von dem Standpunkte eines wohlhabenden, [633] gelehrten und kunstsinnigen Deutschen aus dem Bismarck’schen Zeitalter, und all dies zusammen nennen wir dann den neuen Glauben.“ Es gebe keine größere Verkennung der menschlichen Natur, als die religiösen Bedürfnisse für Selbsttäuschung zu halten, und die Descendenzlehre, den Kampf ums Dasein, d. h. Erscheinungen und Theorien über gewisse biologische irdische Vorkommnisse für eine befriedigende Lösung des Welträthsels zu halten. Die Religion entspringe nicht sowohl einem Gefühle der schlechthinigen Abhängigkeit, wie Schleiermacher wolle, als dem Gefühle der unbedingten Zugehörigkeit des Menschen zu dem Plane des Weltalls. Die höchsten Erkenntniß- und sittlichen Triebe des Menschen führten zur Religion, zur Gottesvorstellung hin. Unsere Vernunfttriebe könnten keine bloßen Täuschungen sein, unser Verlangen nach Wahrheit, Tugend und Gottesgabe seien Stimmen und Spuren höherer und höchster Daseinsformen. Alle Religion sei nur psychologisch zu begreifen, entspringe in jenem metaphysischen Trieb, den die großen Religionsstifter stärker als andere Menschen hatten. Da hänge auch alle Sittlichkeit, alles Recht, der Trieb des Mitgefühls, der Liebe als der Grundpfeiler aller Ethik. „Wir fühlen uns gedrungen, die Liebe als ein Weltprincip zu betrachten, welches die Idee einer Ordnung in dem Reiche der selbstbewußten Seelen zu verwirklichen bestimmt ist, sie auf ein allwaltendes, selbst fühlendes und liebendes Wesen zurückzuleiten, das uns in dem Drange des Mitgefühls ein Pfand und Siegel unserer ebenbildlichen Abkunft und höheren Bestimmung ins Herz gelegt.“ Gewiß nur Wünsche, Glaubenssätze, Hoffnungen, ohne die aber der Mensch nicht leben und nicht denken könne.
Wie stehen dazu die heutigen Kirchen? Sie sind etwas gänzlich anderes als die Religion. „Nur Religion, nicht Kirche ist ein Begriff von ewiger und nothwendiger Berechtigung.“ Die Kirche ist eine historische Erscheinung; der Katholicismus will eigentlich keine Kirche bilden, sondern Staat sein und werden. Die Römer und die Griechen, der Islam und der Buddhismus hatten keine Kirche; recht verstanden will auch der Protestantismus keine haben. Religion setzt alle äußere und innere Erfahrung in eine enge Beziehung zum Höchsten; das Gottesgefühl durchleuchtet alles; Staat, Gesellschaft, Recht und Sitte, Familie und Wirthschaft, Ehe und Familie werden nicht von der Religion beherrscht, sondern folgen ihrer eigenen Natur; aber die Religion begleitet, vergeistigt alle diese Gebiete; nicht die Religion schafft das Gute, das entsteht durch die sittlichen Triebreize. Aber die Religion durchdringt und erhebt alle guten Handlungen auf eine höhere Stufe.
Was R. über die katholische Kirche sagt, haben wir oben erwähnt. Ueber den Protestantismus haben wir noch seine Ueberzeugungen hier nachzutragen. Man kann nicht höher über ihn denken, als es R. thut. „Der deutsche Protestantismus ist in der That das Salz der Erde, das kostbarste Gute, die erste unter den geistig-sittlichen Mächten der Gegenwart.“ Er denkt dabei hauptsächlich an den protestantisch-germanischen Mittelstand in Amerika, England, Norddeutschland. „Der Protestantismus ist noch im Wachsthum begriffen, an Zahl und Bedeutung auch in Deutschland. Auf ihm ruhen die Hoffnungen einer nationalen Entwicklung.“ Der verheirathete Pastorenstand, theilweise aus den niederen Ständen sich ergänzend, mit Staatsmitteln erzogen, ist ein demokratisches Institut, vermehrt den gebildeten Mittelstand (1853). Aber er und der ganze Protestantismus ist von der gefährlichen Krisis bedroht, die in der Kluft zwischen der Wissenschaft und dem Dogma liegt. Schon auf die Jugenderziehung muß „der Bruch zwischen Kirchenglauben und Zeitbildung einen lähmenden Einfluß haben und ihr jeden wahren Erfolg entziehen. Dem metaphysischen und idealen Bedürfniß der Jugend muß eine Nahrung, eine klare [634] verständliche Antwort gegeben werden. Das Alterthum verwies auf das Vaterland, die Kirche bisher aufs Jenseits. Jetzt heißt’s: mache dein Examen gut. Das gibt kein ideales Lebensziel. Die Schüler werden blasirt, abgemattet, verwirrt und gehen nüchtern auf die Hochschule und ins Leben“ (1862).
Der Protestantismus war gesund und kräftig, so lange er in engster Fühlung im Bunde mit der Philosophie und der ganzen Wissenschaft stand. Daß die protestantischen Staaten vom 16.–19. Jahrhundert die führenden in der ganzen Cultur waren, beruhte auf der Fühlung und freien Wechselwirkung der Theologie mit allen anderen idealen und humanen Bestrebungen. Seit das böse Wort von der Umkehr der Wissenschaft erschallte, seit die Theologie von der übrigen Wissenschaft sich loslöste, hat sie ihre Kraft verloren. Sie kann sie nicht wiedergewinnen durch eine Wiederbelebung von Dogmen, an die man nicht mehr glaubt, nicht durch Beseitigung des landesherrlichen Kirchenregiments, auch nicht allein und ausschließlich durch Synodalverfassung, Kirchenälteste, Laienberathungen und kirchliche Majoritäten. Ueber dieses Thema hatte R. schon 1845 die anonyme Broschüre geschrieben: „Die Repräsentation der protestantischen Kirche in Württemberg.“ Jetzt, 1870–75, sprach er sich in ähnlichem Sinne aus. Nur indem die Theologie wieder Fühlung mit der ganzen Wissenschaft erhält, nur aus den theologischen Facultäten und den Consistorien heraus kann die Besserung kommen, – durch einen neuen Geist, einen neuen Glauben. Wie er sich diesen denkt, formulirt er an einer Stelle seiner Aufzeichnung folgendermaßen: „Die Lehre von der Gottheit Christi, von seinen Wunderwerken, seinem stellvertretenden Opfertod, von der Inspiration, von der Erbsünde, von der Trinität, vom Abendmahl u. s. w., kurz nicht die untergeordneten und nebensächlichen Punkte, sondern die Haupt- und Fundamentalsätze von dem, was bisher Christenthum genannt wurde, sind dem Untergange verfallen und nie wieder herzustellen. Als einziger positiver Glaubensrest, wiewohl nicht in genauer Formulirung, sondern in vagen und verschwommenen Umrissen läßt sich etwa für das evangelische Volk Deutschlands außer dem allgemeinen Bedürfniß nach religiöser Erhebung und Lebensrichtung der Glaube an einen lebendigen persönlichen Gott, die Zurückführung der sittlichen Grundideen auf seinen Willen, die Anerkennung der Person Jesu als eines idealen Vorbildes wahrer Frömmigkeit und die Neigung zum Glauben an irgend eine Art und Form persönlicher Fortdauer nach dem Tode bezeichnen.“ Das war der Glaube, an dem R. selbst festhielt; wie diese Sätze zu formulieren, zu einem System zu verbinden, wie sie zum Glaubensbekenntniß des deutschen Volkes werden könnten, darüber wagte freilich auch er keine bestimmten Erwartungen auszusprechen.
Aber dieser Glaube beruhigte und beglückte ihn. Er war in den letzten Jahren seines Lebens, obwohl auch ihm Schweres nicht erspart wurde, stets von dem Gefühl vollendeter Harmonie getragen. Als er 1874 dem Freunde zum ersten Mal von einer gewissen Gedächtnißabnahme als Zeichen des Alters spricht, fügt er bei: „Er könne mit Goethe sagen: mir bleibt genug, mir bleibt Idee und Liebe. Wenn ich auf meine Vergangenheit und Gegenwart blicke, so überwiegt das Gefühl einer sehr demüthigen Dankbarkeit, und wenn es Sitte wäre und ich die Mittel hätte, so würde ich dem Allwaltenden eine Hekatombe von Sühneopfern und eine Hekatombe von Dankopfern darbringen.“ Im Kreise seiner Kinder erlebte er nur Freude: seine beiden Söhne, Gustav und Max, wurden Professoren des römischen und deutschen bürgerlichen Rechts; seine ihm ähnliche kluge Tochter Marie heirathete den Professor der Botanik Schwarz; er erlebte noch die Geburt von Enkeln; seine ihn so treulich pflegende [635] Gattin überlebte ihn. Mit deren Geschwistern verband ihn das innigste Verhältniß. Als sein Schwiegervater starb (1865), schrieb er: „Er gehörte zu den herrlichsten Menschen, die mir im Leben vorgekommen sind.“ Als ihm 1873 sein jüngster Schwager Georg, Bankdirector in Darmstadt, allzufrüh entrissen wurde, schrieb er: „Ich kenne keinen so liebenswürdigen, herzensguten, edlen und in allen Dingen tüchtigen Menschen und werde seinen Verlust nie verwinden.“ Er setzte ihm in der Familienchronik ein Denkmal, das des Druckes werth wäre.
Von Orden aller Art geschmückt, mit dem württembergischen Personaladel versehen, von seinem Könige zur Excellenz ernannt, in ganz Deutschland bekannt und geehrt – so hat er sein reiches Leben beschlossen. Tausenden von Schülern und Lesern ist er eine Stütze, eine Freude, ein Tröster gewesen. Für mich war er der Führer durchs Leben, das Vorbild, das mir immer vorschwebte. Wenn diese Blätter deshalb mit Pietät und Dankbarkeit geschrieben sind, so werden doch Alle, die ihn noch persönlich kannten, zugeben, daß sie die Wahrheit enthalten.
- Die Schriften Rümelin’s sind soweit angegeben, wie sie mir zugänglich waren. Ueber ihn haben wir die Gedächtnißrede von Professor Ch. Sigwart vom 6. November 1889 (R. u. A. III), einen Nekrolog seines Freundes und Nachfolgers als Kanzler, des Theologen Weizsäcker (Sonntagsbeilage der Schwäb. Chronik, 28. December 1889); endlich eine Serie Artikel in der Nationalztg. 1895, 9.–13. Juli, von Dr. Max Cornicelius. – Mich unterstützten die Erinnerungen 42jähriger Familiengemeinschaft, zahlreiche Briefe Rümelin’s an Familie und Freunde und mancherlei Aufzeichnungen von ihm selbst. – Die Benützung der Acten des Königl. Württemb. Cultusministeriums aus seiner Minister- und Kanzlerzeit, die ich nachsuchte, wurde mir abgeschlagen. Erst auf Grund dieser Acten hätte eine vollständige Biographie geschrieben werden können. Die Zeit seiner Ministerthätigkeit konnte einigermaßen auch auf Grund des gedruckten Materials hergestellt werden; für das Verständniß seines Schulgesetzes war mir ein eingehender Brief des kgl. württ. Ministerialdirectors H. Habermaas eine wesentliche Hülfe. Seine Kanzlerthätigkeit und Universitätsverwaltung von 1870–89 konnte ich aber nicht wagen ohne die Acten darzustellen. Es bleibt eine sehr bedauerliche Lücke. Für die meisten großen Fragen der Universitätsverfassung, für die ganze deutsche Universitätsgeschichte wäre die Darstellung dieser amtlichen Thätigkeit von erheblichem Werthe gewesen, wie ich aus der Erinnerung von all dem, was er mir darüber erzählte, bezeugen kann. Zu einer Darstellung aber reichten meine verblaßten Erinnerungen nicht aus.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Trebonius
- ↑ Gasparo Contarini (1483-1542), venezianischer Diplomat; seit 1535 Kardinal, war er 1541 Vertreter des Heiligen Stuhls beim Regensburger Gespräch mit Melanchthon.
- ↑ Lambert Adolphe Jacques Quetelet (1796-1874), belgischer Astronom und Statistiker.
- ↑ Vorlage: „und und“
- ↑ Galenos von Pergamon deutsch: Galēn, auch Galienus (129/131-um 200), griechischer Arzt und Anatom.