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ADB:Mohl, Moriz

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Artikel „Mohl, Moriz“ von Otto Trüdinger in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 52 (1906), S. 430–434, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Mohl,_Moriz&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 22:05 Uhr UTC)
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Band 52 (1906), S. 430–434 (Quelle).
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Mohl: Moriz M., welcher durch seine parlamentarische Thätigkeit wie auch durch sein nationalökonomisches Wissen weit über die Grenzen Württembergs bekannt geworden ist, wurde geboren am 9. Februar 1802 zu Stuttgart, ein Sohn des 1845 als Präsident des evangelischen Consistoriums in Stuttgart verstorbenen Benjamin Ferdinand Mohl und der dritte unter vier bedeutenden Brüdern (Robert 1799–1875, der Staatsrechtslehrer und Staatsmann, Julius 1800–1876, der weltberühmte Orientalist in Paris, Moriz, Hugo 1805–1872, der Botaniker in Tübingen). Durch seine Mutter Luise geb. Autenrieth, Schwester des späteren Kanzlers der Universität Tübingen, ist er ein Urenkel von Johann Jakob Moser, und jener zähe, rechthaberische Zug des berühmten Publicisten hat in Moriz M. seine tiefsten Spuren hinterlassen. M. durchlief das Gymnasium seiner Vaterstadt und studirte dann die Staatswissenschaften in Tübingen, die Landwirthschaft in Hohenheim und schrieb während seiner Studien eine akademische Preisschrift („Ueber die Mittel zur Förderung der Gewerbe in Württemberg“, 1828), welche im Keime die Gedanken seines Lebens enthält. Noch sehr jung, trat er in den vaterländischen Staatsdienst ein und erhielt als Assessor bei der Oberzollverwaltung den [431] wichtigen Auftrag, als selbständiger Unterhändler Württemberg bei den Verhandlungen Norddeutschlands mit den süddeutschen Staaten über den Abschluß des Zollvereins in Berlin zu vertreten. Bei dieser Sendung hatte M. aber wenig Glück; denn die Verhandlungen zerschlugen sich in jenem ersten Stadium, und zwar wesentlich durch seine Schuld. „Es kam hier“, schreibt Robert Mohl in seinen Lebenserinnerungen, „da er zum ersten Male selbständig handelte, eine Urtheils- und eine Charakterschwäche meines Bruders zur Erscheinung, welche ihm sein ganzes Leben nachgegangen ist und ihm die bittersten Kränkungen zugezogen hat, nämlich ein zu stark hervortretender Localpatriotismus, der ihn einer billigen Beurtheilung der allgemeinen Verhältnisse und der ebenfalls berechtigten Interessen Anderer beraubt, sodann eine sittliche Ueberschätzung seiner eigenen Anschauungen, welche ihn jeden Gegner ohne weiteres als einen Schurken betrachten und als solchen behandeln läßt.“ In die Heimath zurückgekehrt, verblieb M. zunächst im württembergischen Finanzdienst; 1841 wurde er zum Obersteuerrath beim kgl. Steuercollegium befördert, 1844 als Finanzrath zu der damaligen Finanzkammer Reutlingen versetzt, um kurze Zeit darauf auf seine frühere Stelle in Stuttgart zurückberufen zu werden. Zwischenhinein (1835–1841) war er sechs Jahre auf Reisen, hauptsächlich in Frankreich gewesen, welche er für die heimische Industrie in zweifacher Weise nutzbar machte: einmal durch den Ankauf einer Auswahl von französischen Gewerbeerzeugnissen, welche den Grundstock zu dem heute so bedeutenden Musterlager des Landesgewerbemuseums in Stuttgart bilden, und sodann durch Verarbeitung der Ergebnisse der Reise zu einem 1845 erschienenen umfassenden Werk „Aus den gewerbswissenschaftlichen Ergebnissen einer Reise nach Frankreich“. Er verlangte darin, um der damals noch so wenig entwickelten Gewerbethätigkeit Württembergs aufzuhelfen, dreierlei: gewerbliche Bildung, Aufhebung des Zunftwesens, genügenden Zollschutz. Auf seiner Reise erwarb sich M. jene Vertrautheit mit dem wirklichen industriellen Leben, jene Gewöhnung an sorgfältigste Calculation der Kostensätze, jene sichere Werthung der Productionsbedingungen, wodurch seine Aufsätze in List’s Zollvereinsblatt und nicht minder viele seiner späteren Arbeiten eine so nachhaltige Wirkung hatten. Für die philosophische Construction der Volkswirthschaft war M. von dieser Zeit an verloren. Aber der Zusammenhang der wirklichen Welt, die sich doch am schärfsten in Ziffern und Zahlen ausspricht, die Wirkung der wägbaren wie der unwägbaren Kräfte, die enge Verbindung der kleinsten Arbeitszellen mit dem großen Organismus der Natur war ihm so klar und stets gegenwärtig geworden wie Wenigen. In den 1840er Jahren entwickelte sich M. zu einem eifrigen Tagesschriftsteller in der heimischen und benachbarten Presse. Er behandelte vorzugsweise wirthschaftliche Tagesfragen und hat in mancher Hinsicht verdienstlich gewirkt, so durch seine Agitation gegen Staatspapiergeld, Bankgründungen und sonstige Speculationsprojecte, obschon nicht zu verkennen ist, daß er sich hiebei zu sehr in die Rolle des volkswirthschaftlichen Moralpredigers hineinsteigerte, wodurch er oft seiner eigenen Sache schadete. 1845 ernannte ihn die staatswissenschaftliche Facultät der Universität Tübingen zum Dr. hon. c. 1848 betheiligte er sich an dem deutschen Vorparlament in Frankfurt a. M. und trat gleichzeitig ganz aus dem Staatsdienste aus, um sich voll der freien und unabhängigen Thätigkeit eines Volksvertreters widmen zu können. In der Nationalversammlung in Frankfurt, wo er im allgemeinen zur gemäßigten Linken zählte, erwies er sich als ein eifriges Mitglied. Im volkswirthschaftlichen Ausschuß war er mit Erfolg besonders für Beseitigung des Zunftwesens thätig; in der Verfassungsfrage [432] leitete ihn das Vorurtheil gegen Preußen und er galt hier als einer der entschiedensten Wortführer der großdeutschen Sache. Mit dem Jahre 1849 beginnt Mohl’s Wirksamkeit in der württembergischen Abgeordnetenkammer, ohne Zweifel die umfassendste und eingreifendste seines Lebens und beinahe bis an sein Lebensende reichend, vielfach von Erfolgen und von Verdiensten begleitet, aber allerdings auch nicht frei von Einseitigkeiten und Uebertreibungen, welche sein Auftreten mitunter als Hemmschuh erscheinen ließen. Als Abgeordneter gehörte er keiner Partei an, er war immer seine eigene Partei, unabhängig nach oben, aber auch vollständig unabhängig gegen unten. Strömungen der öffentlichen Meinung oder die Anschauungen und Interessen einzelner Classen, z. B. gerade derer, welche bei der Wahl den Ausschlag geben, vermochten auf sein Verhalten nie einen Einfluß zu üben. Gegen die Schlagwörter des Tags war er mißtrauisch, er bildete sich vielmehr immer seine eigene selbständige Meinung. Unbedingter Freimuth war seine Grundeigenschaft und anders als nach seiner vollen Ueberzeugung hat er niemals gesprochen und gehandelt. Frei war M. besonders in Fragen der Cultur und, wenn auch in vielem der schroffste Oppositionsmann, doch wieder die festeste Stütze der Regierung, sobald es sich um Forderungen für Bildungs- und wissenschaftliche Zwecke handelte. Sein Hauptarbeitsfeld war Nationalökonomie, Statistik, Finanzwissenschaft. Unzählig ist die Summe seiner überaus gründlichen parlamentarischen Commissionsberichte auf diesen wichtigen und weitverzweigten Gebieten, und eifrig betheiligte er sich an den Debatten im Plenum der Abgeordnetenkammer; noch als 75jähriger hielt er eine sechsstündige Rede im Interesse der Gewerbe gegen eine neue Steuervorlage. Am ersprießlichsten war seine Thätigkeit da, wo er auf dem gewerblichen Gebiete für Fortschritte eintreten konnte; die freisinnige württembergische Gewerbeordnung von 1862, welche alle Zunftschranken beseitigte, hat ihm außerordentlich viel zu verdanken. Ein weiteres Verdienst Mohl’s ist, daß er als der treueste Verbündete der forstlichen Sachverständigen den Schutz und die Pflege der Waldungen, deren klimatologische Bedeutung im Haushalte der Natur er mit überzeugender Wärme darzustellen wußte, gegen Uebergriffe, von welcher Seite sie kommen mochten, streitbar vertheidigte. Mit besonderer Vorliebe aber behandelte er das Eisenbahnwesen. Seine Thätigkeit als Referent der Abgeordnetenkammer in Eisenbahnsachen fiel in die Zeit der Entwicklung des württembergischen Eisenbahnwesens; wo er konnte, suchte er den Eisenbahnbau zu fördern, und er stellte sich in der Kammer als getreuer Kämpe stets dem Minister der Verkehrsanstalten zur Seite, wenn es galt, Angriffe gegen die Rentabilität der Eisenbahnen abzuwehren und eine einseitige Beurtheilung lediglich vom pekuniären Standpunkte zurückzuweisen. Dabei war M. ein entschiedener, ja schroffer Verfechter des Staatsbahnsystems. Mit anderen hat er das Verdienst, das Project eines Privatbahnsystems, das in der ersten Zeit des württembergischen Eisenbahnbaus eine gefährliche Gestalt anzunehmen begonnen hatte, vom Lande ferngehalten zu haben. Aber wie in so manchem anderem, schadete er auch hier der ursprünglich so richtigen Wirksamkeit durch seine schroffe Haltung und durch Uebertreibung. Denn seine principielle Gegnerschaft gegen Privatbahnen dehnte er auch auf alle Nebenbahnen aus, ohne Rücksicht darauf, ob das Land auf diese Weise auf einem wichtigen volkswirthschaftlichen Felde zurückbleibe. Mohl’s parlamentarische Thätigkeit blieb nicht auf Württemberg beschränkt. 1868 wurde er in das Deutsche Zollparlament gewählt, wo er die seiner Meinung nach grundfalsche Handelspolitik Preußens bekämpfte, freilich mit geringem Erfolge, und 1871–73 ließ er sich in den Deutschen Reichstag wählen, obwol er in leidenschaftlicher Weise [433] mit Wort und Schrift (so in den Flugschriften „Mahnruf zur Bewahrung Süddeutschlands vor den äußersten Gefahren“ 1867, und „Für die Erhaltung der süddeutschen Saaten“ 1870) den Eintritt Württembergs in das Deutsche Reich zu hintertreiben gesucht hatte. Während der kurzen Zeit als Reichtstagsabgeordneter zeigte er sich als ein ausgesprochener Particularist; er wehrte sich gegen Uebertragung der Reichsgesetze, selbst der so liberalen Gewerbeordnung auf Württemberg, gegen jedes Streben, die Post einheitlich zu gestalten, gegen die Münzreform, da er statt der Mark den Franken wollte, am heftigsten aber gegen die Ausdehnung der Reichszuständigkeit auf das bürgerliche Recht und gegen die Errichtung des Reichseisenbahnamtes. Neben der Thätigkeit als Volksvertreter setzte er eifrig auch die schriftstellerische Arbeit fort. Von seinen Schriften sind, außer den bereits erwähnten, namentlich zu „nennen: „Ueber ein deutsches Handelsgesetzbuch“ 1857, „Bankmanöver“ 1858, „Ueber ein Bundesgericht“ 1860, „Die Pest öffentlicher Leihhäuser“ 1866, „Auszug aus dem Berichte der volkswirthschaftlichen Commission der württembergischen Kammer der Abgeordneten über den französisch-preußischen Handelsvertrag“ 1863, „Ein Wort zur agrarischen Frage“ 1875, „Zur agrarischen Frage“ 1876, „Ueber den Entwurf eines Reichseisenbahngesetzes und dessen Unzulänglichkeit“ 1874. „Bemerkungen zu dem vorläufigen Entwurfe eines Reichseisenbahngesetzes vom 5. April 1875“ 1875, „Die Frage von Reichseisenbahnen“ 1876, „Denkschrift für eine Reichstabakregie“ 1878, „Zur deutschen Finanzlage“ 1878, „Zur Lösung der deutschen Finanzlage“ 1878, „Eine Privatenquete über Gewerbefreiheit und Hausirhandel“ 1882, „Vier Eingaben für die Sicherstellung der württembergischen Staatsbahnen“ 1886. In wirthschaftspolitischer Hinsicht war M. ein ausgesprochener, ja sogar extremer Schutzzöllner. Seine ersten Studien in der Nationalökonomie waren in die Zeit gefallen, als die Lehre von der Nothwendigkeit eines Schutzzolles für neue Industrien und angehende Industriestaaten als unbedingt wahr galt, und er eignete sich dieselbe ganz natürlich an. Hierbei blieb er denn nun aber 50 Jahre lang stehen, ohne eine Modification zuzulassen, ohne die Beweisführung für Freihandel irgendwie zu beachten. Die unermeßlichen, vielleicht von keinem anderen Zeitgenossen erreichten Kenntnisse, welche er im Gewerbewesen, im Zollfach, in der Handelsstatistik besaß, dienten ihm lediglich dazu, die für das Protectionssystem sprechenden Thatsachen aufzuführen und geltend zu machen und seine mit vollem Recht erworbene Autorität im Gebiete dieser Thatsachen für die von ihm festgehaltene Theorie zu verwerthen. War M. ein entschiedener Gegner der freieren Handelspolitik des deutschen Zollvereins in den 1860er Jahren gewesen, so bereitete ihm darum die durch Fürst Bismarck herbeigeführte Umkehr der deutschen Zollpolitik zu gemäßigtem Schutz der Industrie im J. 1879 eine um so größere Genugthuung; auch die neue Steuerpolitik, besonders auf dem Gebiete der Branntweinbesteuerung, befriedigten ihn, der ein erklärter Anhänger des Tabak- und Branntweinmonopols war, sehr. Seit dem Umschwung der deutschen Zollpolitik hat sich denn auch der frühere Particularist und Großdeutsche mit dem Gang der Ereignisse im Deutschen Reiche mehr und mehr ausgesöhnt und der Entwicklung des gesammten öffentlichen Lebens in Deutschland zuletzt freudig und dankbar zugestimmt. M. war es vergönnt, bis in ein hohes Alter zu wirken. Seine zähe Kraft war bewundernswerth; noch als Greis konnte er einen beschwerlichen Wahlfeldzug bestehen. Erst mit dem Jahre 1887 nahmen seine Kräfte rasch ab, sodaß er genöthigt war, das Mandat für den Oberamtsbezirk Aalen, der ihm während 4 Decennien mit rühmlicher Pietät treu geblieben war – [434] gewiß ein Unicum in der parlamentarischen Geschichte – seinen Wählern zurückzugeben. Bald darauf, am 18. Februar 1888, ist er im Alter von 86 Jahren in Stuttgart verschieden.

Moriz M. war einer der eigenartigsten Männer, die der an Originalen fruchtbare schwäbische Boden je getragen hat. Wie die Persönlichkeit Mohl’s widerspruchsvoll war, so muß auch das Urtheil über ihn zwiespältig lauten. Erstaunlich war seine Gelehrsamkeit, bemerkenswerth sein Scharfsinn, eisern und unermüdlich sein Fleiß. Andererseits mangelte es ihm an dem richtigen Maaßhalten, und zu diesem Mangel, der ihn völlig blind macht gegen die gleichen und selbst stärkeren Ansprüche Dritter, gesellte sich eine zu starke Einbildung seiner intellectuellen Ueberlegenheit, welche ihn häufig zu einer ungerechten und verkehrten Beurtheilung der Andersdenkenden veranlaßte, und ein unbezwingbarer Eigensinn, der ihn in manchem auf eine falsche Bahn drängte und ihm das Verständniß für eine neue Zeit unmöglich machte. Die Achtung und den Dank der Nachwelt aber hat er sich verdient durch die unerschütterliche Ueberzeugungstreue, die unbeugsame Ehrenhaftigkeit, den selbstlosen Eifer und die uneigennützige Hingabe, womit er als einer der besten seiner Zeit sein ganzes Leben lang einzig und allein seinem Vaterland zu dienen bestrebt war.

Vgl. Moriz Mohl, Schwäbische Kronik, 1888, Nr. 44. – Moriz Mohl als Handelspolitiker von Dr. Alexander Peez, Allgemeine Zeitung 1888, Nr. 77. – Lebenserinnerungen von Robert v. Mohl (Stuttgart u. Leipzig 1902), I, 21, 30, 38–45, 168; II, 37. – Albert Schäffle, Aus meinem Leben (Berlin 1905) I, 64, 68–69, 104, 105.