Zum Inhalt springen

ADB:Hanssen, Georg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Hanssen, Georg“ von Georg Friedrich Knapp in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 771–773, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Hanssen,_Georg&oldid=- (Version vom 18. Dezember 2024, 07:11 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Hagen, August
Band 55 (1910), S. 771–773 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Georg Hanssen in der Wikipedia
Georg Hanssen in Wikidata
GND-Nummer 116461039
Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|55|771|773|Hanssen, Georg|Georg Friedrich Knapp|ADB:Hanssen, Georg}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=116461039}}    

Hanssen *): Georg H., geboren am 31. Mai 1809 in Hamburg, † am 19. December 1894 als Professor der Nationalökonomie in Göttingen; Deutschlands bedeutendster Forscher auf dem Gebiete der Agrargeschichte. Hanssen’s Vater stammte aus dem Dorfe Satrup auf der Halbinsel Sundewitt; der Großvater war dort noch Bauer gewesen; daher die durchaus schleswig-holsteinische Empfindung der Familie. Der Austritt aus dem Bauernstande vollzog sich dadurch, daß Hanssen’s Vater die Kaufmannschaft erlernte und später in Hamburg ein kleines Wechselgeschäft betrieb, wobei aber kein Erfolg erreicht wurde. Die Familie gerieth sogar in Noth, und Georg H., der im 10. Lebensjahre seine Mutter verlor, verlebte eine freudlose Jugend, früh genöthigt, durch Privatstunden an jüngere Mitschüler einiges Geld zu verdienen und die Unterstützung eines wohlhabenden Jugendfreundes Palm anzunehmen. Das Johanneum, ein Gymnasium in Hamburg, wurde im Frühjahr 1827 absolvirt, und er begann die Studienzeit in Heidelberg, wo die Jurisprudenz wenig Eindruck machte, wohl aber ein enger Anschluß an den Nationalökonomen Rau stattfand. Als wegen eines Streites zwischen der Studentenschaft und dem Senat unter vielen Anderen auch H. relegirt wurde, setzte er seine Studien in Weinheim fort und wurde auch hierbei durch Rau gefördert. Dann begab er sich nach Ellwangen in Württemberg, wo Herr Walz auf dem „Schweizerhof“ ihm Gelegenheit bot, die Landwirthschaft aus der Nähe zu beobachten.

Der Uebergang zur Universität Kiel fand im October 1829 statt, wo der Etatsrath Niemann Vorlesungen über Statistik der Herzogthümer hielt. [772] Im Sommer 1830 folgen kleine Studienreisen in den Herzogthümern, wobei ein Schullehrer Rixen in Clausdorf entdeckt wurde, der die Zeit bäuerlicher Leibeigenschaft im östlichen Holstein noch erlebt hatte: dieser gab also die erste Anregung zu den Studien, die H. abschloß in dem Werk „Aufhebung der Leibeigenschaft in Schleswig und Holstein“, das in St. Petersburg 1861 erschienen ist. Die Promotion zum Doctor der Philosophie fand am 13. Mai 1831 statt. Dann wurde er Ostern 1833 als „doctor legens“ an der Universität Kiel auf drei Jahre angestellt, aber schon vor Ablauf dieser Zeit, im Herbst 1834, als Kammersecretär in der deutschen Abtheilung des Generalzollkammer- und Commerz-Collegiums nach Kopenhagen berufen, wo er drei Jahre lang blieb. Von da wurde er im Herbst 1837 als ordentlicher Professor nach Kiel zurückberufen; von Ostern 1842 bis Ostern 1848 war er Professor in Leipzig; von Ostern 1848 bis Michaelis 1860 Professor in Göttingen; vom Herbst 1860 bis Ostern 1869 Professor in Berlin; von Ostern 1869 bis zum Lebensende war er zum zweiten Male in Göttingen als Professor der Nationalökonomie angestellt.

H. hat sehr früh, schon in seiner Doctordissertation, darauf hingewirkt, daß die Landwirthschaft auf den Universitäten gelehrt werden solle – er selbst hat niemals über Technik der Landwirthschaft gelesen –, und es gelang ihm, bei seinem ersten Wirken in Göttingen, dies durchzusetzen. Ebenso war es sein Gedanke, daß die Berliner Professur für Statistik zu trennen sei von der Vorstandschaft des kgl. preuß. Statistischen Bureaus: daher empfahl er für dies Bureau den Dr. Ernst Engel, während er selber die Stellung an der Universität übernahm und nur einige Betheiligung am Statistischen Seminar, das Engel begründete, sich vorbehielt. Auf diese Weise ist H. auch Lehrer derjenigen geworden, welche dies Seminar besuchten, was damals von sehr vielen jungen Gelehrten geschah, die später in wichtige Lehrstellungen eingerückt sind. Er selber legte diesem Unterricht, der in freierer Art stattfand, mehr Gewicht bei als dem Kathedervortrag, und wohl mit Recht; denn auf dem Katheder hinderte ihn die absolut sachliche Behandlung einigermaßen, indem er sich von den Einzelheiten nicht frei zu machen verstand. Er war überhaupt nicht eigentlich beredt. Hingegen stand ihm für den schriftlichen Ausdruck eine große Bestimmtheit und Schärfe zur Verfügung, worin wohl eine Nachwirkung des vortrefflichen Schulunterrichtes zu erkennen ist. –

In diesem so schlicht verlaufenen Leben war vor allem merkwürdig: die harte Jugend, die Neigung zur Autopsie, die Gleichgültigkeit gegen Lehrmeinungen, die männliche Vertretung gewonnener Ueberzeugungen und ein geradezu kindliches Gottvertrauen.

Sein liebstes Forschungsgebiet war die Dorfverfassung und insbesondere die Gemengelage der Aecker auf der Flur. Dazu hatte ihn früh ein Däne, Olufsen, angeregt, dessen Ergebnisse er mitgetheilt und dann weitergeführt hat. Von hier aus wagte er, die sonderbare Agrarverfassung der Gehöferschaften im Regierungsbezirk Trier zu schildern. Es sind dies Bauernschaften an der Saar, die noch in Mitten des 19. Jahrhunderts periodisch ihre Aecker und sogar ihre Feldgärten neu vertheilten, freilich nur im Umkreise der Berechtigten. Für den Landwirth Schwerz war dies nur eine Seltsamkeit gewesen. H. schilderte die Sache aus dem Vollen, sodaß man sie begriff und vernünftig fand.

Ein anderes seiner Themata war die Frage nach dem ältesten System des landwirthschaftlichen Betriebes. Man glaubte früher, dieses älteste System sei die Dreifelderwirthschaft, was aber schon Roscher mit Recht bezweifelte. H. zeigte nun den richtigen Weg: es war die wilde Feldgraswirthschaft. Regellos wurde ein Fleck Landes aus der Weide herausgenommen und, so [773] lange es ging, mit Getreide bestellt. War das Land erschöpft, so fiel es wieder in die Weide zurück und anderswo wurde ein neuer „Schlag“ für den Getreidebau abgesondert. H. wußte dies dergestalt aus der Natur der Sache zu begründen, daß er alle die endlose Auslegerei alter Schriftsteller siegreich zur Seite schob. Dieser kühne und glückliche Versuch, aus reiner Sachkenntniß heraus zu sagen: „so muß es gewesen sein“, trägt ganz und gar den Stempel seines Geistes.

Endlich hat H. unstreitig das meiste gethan, um die Natur des Rittergutes unserer Ostseeländer zu erschließen. Wie dieser Großbetrieb anwuchs durch „Legen“ von Bauerngütern; wie die übrig bleibenden Bauern zu immer steigenden Frondiensten für den Gutsherrn genöthigt wurden – das haben wir von ihm gelernt. Und nicht minder dies: die Befreiung des Bauern aus der sogenannten Leibeigenschaft konnte nur geschehen bei tiefgreifender Aenderung der Wirthschaft. Im östlichen Holstein sind damals die Gutsbetriebe meistens zerschlagen und bäuerlichen Pächtern zugetheilt worden, die nun allerdings frei sein konnten. Dabei haben auch die landwirthschaftlichen Betriebssysteme sich mannichfach verändert, und so hängt diese ganze Neuordnung aufs engste mit den Fragen zusammen, die für H. stets im Vordergrunde standen: er zeigte mit Vorliebe die Bedingungen auf, durch welche die Wandlungen in der Landwirthschaft herbeigeführt werden. Natürlich sind hier nur die gesellschaftlichen, nicht die naturwissenschaftlichen Bedingungen gemeint, die auf die Technik der Landwirthschaft zurückwirken.

H. stammte aus einer Zeit, in der es auf deutschem Boden noch keine Socialpolitik gab. Die großen Gegensätze der gesellschaftlichen Classen schlummerten in seiner Jugend noch. Er schrieb zunächst nur die Geschichte der Wirthschaft, aber indem er dies that, ebnete er einer jüngeren Generation den Weg. Seine Schüler, die der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstammen, haben die socialwissenschaftliche Auffassung der Geschichte des Ritterguts hinzugefügt. Der Meister hat sie dazu nicht aufgefordert und nicht angeleitet; aber ohne ihn, das heißt, ohne seine grundlegenden, gedankenreichen Schriften wäre das nie unternommen worden. –

Es sind handschriftliche Lebenserinnerungen im Besitze der Familie, worin in rührender Schlichtheit der ganze Lebenslauf geschildert wird: 136 Seiten in Folio, eingetheilt in 10 Abschnitte (A bis K); am Schlusse steht das Datum: Juli 1888. Aus dieser Quelle stammt der – oben theilweis benutzte – Nachruf, den der Unterzeichnete, ein früherer Zuhörer Hanssen’s, auf der Versammlung des Vereins für Socialpolitik in Wien am 27. September 1909 vorgetragen hat; vollständig wird er in Band 132 der Schriften des genannten Vereins, Leipzig 1910 erscheinen. Das Original der Lebenserinnerungen ist der Gesellschaft für schleswig-holsteinische Landesgeschichte in Kiel zur Veröffentlichung empfohlen. – Persönliche Erinnerungen finden sich aufgezeichnet in G. F. Knapp, Grundherrschaft und Rittergut, Leipzig 1897, S. 151. Ein Verzeichniß der älteren Schriften Hanssen’s brachten die Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Neue Folge, Bd. I (Jena 1880), S. 362; wozu noch seine letzte Schrift kommt: Agrarhistorische Abhandlungen, Bd. I, Leipzig 1880, und Bd. II, Leipzig 1884 bei Salomon Hirzel.

[771] *) Zu Bd. XLIX, S. 768.