ADB:Baumgarten, Hermann
*): Hermann B. wurde am 28. April 1825 zu Lesse bei Wolfenbüttel geboren im protestantischen Pfarrhause, in dem seit langer Zeit schon seine Vorfahren saßen. Sehr früh bereits verlor er seine Mutter und fiel der erste trübe Schatten auf sein kindliches Gemüth. Sein Vater scheint trotz des herzlichsten Verhältnisses einen tieferen Einfluß auf den Sohn nicht geübt zu haben. In Wolfenbüttel empfing er seine gymnasiale Erziehung, die eines freien, selbständigen Zuges nicht entbehrte, und bei der auch körperliche Ausbildung durch Turnen und Turnfahrten mit Liebe betrieben wurde. Einen nachhaltigen Eindruck hat ihm damals ein alter Burschenschafter gemacht, dem sich der Knabe vertrauensvoll anschloß und der auch in den Studienjahren noch auf ihn einwirkte, ein ungewöhnlich gebildeter und liebenswürdiger Mensch, den seine politische Ueberzeugung ins Gefängniß gebracht und dem sie jede weitere Laufbahn verschlossen hatte. Die ersten Keime einer oppositionellen Richtung mögen damals schon in ihm aufgegangen sein.
BaumgartenIm Frühjahr 1842 verließ er das Gymnasium und bezog die Universität Jena. Das philologische Studium, dem er sich widmete trotz seines ursprünglichen Vorsatzes Theologe zu werden, hat ihn damals kaum ernstlich angezogen. Er genoß zunächst mit vollen Zügen ein frohes, flottes Burschenleben und stand auch mit der Stoßklinge im Streite gegen die Corps wacker seinen Mann. Aber schon hier gerieth er in die Gedankenkreise des junghegel’schen Radicalismus, der an der Universität Halle besonders blühte und ihn zur Uebersiedelung [438] an die benachbarte Hochschule verlockte. In Halle war dann wohl der jugendliche Max Duncker der erste Lehrer, der mit seinem ausgesprochenen Bestreben, Charaktere zu bilden, sein innerstes Wesen berührte; aber mehr als alle historischen und philologischen Studien fesselte ihn die Philosophie: Hegel und Feuerbach hat er damals eifrig gelesen. Mit Schroffheit vertrat er auch im äußern Verkehr seine neu gewonnene wissenschaftliche Einsicht und sittliche Ueberzeugung, und in der Studentenschaft spielte er bald mit seinen langen, verstandesmäßig ausgesponnenen Reden eine leitende Rolle. Eben sie brachte ihn in böse Verwicklungen mit der Universitätsbehörde und führte seine Verweisung herbei. Eine körperliche und geistige Reaction trat nach diesem Schlage bei ihm ein, während er sich im Elternhause zu sammeln und wieder in die Studien zu vertiefen suchte. Sein Vorhaben, sie in Leipzig weiter zu führen, schlug fehl, weil er noch immer politischer Umtriebe verdächtig schien, und nur mit Mühe gelang es ihm, in Bonn im Herbst 1845 wieder zugelassen zu werden. Hier ist es Dahlmann vor allem gewesen mit seinen Vorlesungen über Politik und neuere deutsche Geschichte, der ihm einen unauslöschlichen Eindruck gemacht hat. Aber noch war er keineswegs im innerlichen Gleichgewicht, im Gegentheil, nach all der Aufregung und Ueberspannung brach jetzt eine schwere nervöse Krisis über ihn herein, von der er sich nur durch eine lange, sorgsame Cur auf dem Lande allmählich erholte und deren Spuren sich nie ganz aus seinem Leben verwischen ließen. In Göttingen konnte er dann endlich während des Jahres 1847 seine Studien ruhig vollenden und in Braunschweig im März 1848 sein Staatsexamen mit Auszeichnung absolviren in einem Augenblick, da auch dort schon die Wogen politischer Aufregung hoch gingen.
In ihm selber hatte sich der gährende Wein geklärt, er war ruhiger, maßvoller, positiver geworden. Sein geistiger Besitz war heiß und schwer erkämpft, war innerlich mit ihm verwachsen. Angelerntes, äußerlich Aufgenommenes war nicht dabei. Gervinus war nun sein politischer Führer geworden, dessen deutsche Litteraturgeschichte einst schon dem jungen Hallenser Studiosus gefallen hatte. Von seiner Losung, daß die Wissenschaft dem Leben dienen, daß der Gelehrte für die Bedürfnisse seiner Zeit, für die Entfaltung seines Volkes arbeiten müsse, von seinem lebendigen, warmen und besonnenen Patriotismus, wie Gervinus ihn in den Anfängen der revolutionären Bewegung als Herausgeber der Deutschen Zeitung bekundete, fühlte sich B. im Innersten getroffen. Daß der junge Probecandidat, obschon er so früh bereits die Bitternisse politischer Bethätigung kennen gelernt hatte, sich dem allgemeinen nationalen Zug und Drange nicht verschloß, daß er ihm mit regsten Sinnen folgte, war natürlich. Als Vertreter seines Turnvereins und des Vaterländischen Vereins zu Braunschweig fand er Gelegenheit, nicht bloß im engern Kreise seiner Heimath hervorzutreten, sondern auch die hoch strömende Fluth des politischen Lebens am Rhein und in Frankfurt durch persönlichen Augenschein kennen zu lernen. Die umsichtige und mannhafte Art, mit der er bald der radicalen Richtung entgegentrat, lenkte die Aufmerksamkeit so auf ihn, daß ihn der bekannte Braunschweiger Verleger Vieweg und andere maßgebende Männer gemäßigter Farbe im December 1848 in die Redaction der Deutschen Reichszeitung beriefen, um sie aus dem Fahrwasser radicalen Ueberschwangs wieder in das Bett ruhigerer liberaler Strömung zu lenken. Damit war auf lange Zeit hinaus die entschiedene Wendung des jungen Gelehrten zur Politik besiegelt.
Länger als drei Jahre, bis zum Frühjahr 1852, hat B. durch alle Stürme dieser bewegten Epoche die Zeitung mit sicherer Hand auf mittlerer [439] Linie geleitet. Mit besonderem Eifer war er bemüht, ihr die hervorragendsten Mitarbeiter aus dem kleindeutschen Lager zu gewinnen: Beseler, Droysen, Duncker, Gervinus, Haym, Rümelin, Waitz u. A., Männer, mit denen er auf wiederholten Reisen und Missionen auch persönlich bekannt wurde, während die Beiträge aus seiner eigenen Feder, wie es scheint, spärlicher flossen. Er trat mit aller Wärme für das preußische Kaiserthum ein, und früh schon betonte er eine seiner politischen Lieblingsideen: die Annäherung und Verschmelzung der Nord- und Süddeutschen. Sehr verschieden wirkte dann der Zusammenbruch der nationalen Hoffnungen, die schwere Enttäuschung der Reaction auf die Anhänger Preußens ein. Während die Einen an seiner deutschen Mission verzweifelten und ihm den Rücken kehrten, Andere still im Herzen an ihm festhielten, sich einer besseren Zukunft getrösteten und in intensiver wissenschaftlicher Arbeit ihren Halt fanden wie z. B. Droysen und Waitz, ließen sich Andere immer mehr in eine verbitterte Stimmung treiben und näherten sich der demokratischen Partei. Zu ihnen gehörten Gervinus und B., der einige Monate, im vertrauten Verkehr mit jenem in Heidelberg sich aufs engste an ihn angeschlossen hatte und mit voller Klarheit den „sehr dornenvollen Weg eines verständigen Radikalismus“, wie er es selbst nannte, zu beschreiten, Schulter an Schulter mit den Demokraten die siegreiche Reaction zu bekämpfen gewillt war. Indeß der scharfe, oppositionelle Zug, den die Reichszeitung anschlug, brachte ihn in Conflict nicht bloß mit den heimischen Behörden, auch mit dem Verleger selber, mit Vieweg, so daß er sich genöthigt sah, aus der Redaction auszuscheiden. Er folgte dem Zuge des Herzens und ging zu Gervinus, zugleich entschlossen, nunmehr im ruhigen Studium sich wieder zu sammeln und für die Zukunft erfolgreich vorzubereiten. Gervinus wies ihm sogleich eine große Aufgabe zu, eine Oesterreichische Geschichte für die Hirzel’sche Sammlung zu schreiben, ohne sich sonderlich um die Vorfragen zu kümmern, und B. übernahm sie in bereitwilligem Vertrauen. Im Herbst 1852 begann er in München daran zu arbeiten.
Daß die alten politischen Triebe indeß nicht verwelkt waren, bewies er schon im nächsten Frühjahr, als sein verehrter Gönner wegen seiner „Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts“ des Hochverraths angeklagt worden war. Er eilte ihm persönlich und litterarisch zu Hülfe. Mit der anonym erschienenen Schrift „Gervinus und seine politischen Ueberzeugungen“ trat er aufs wärmste für ihn ein. Er wollte darin eine Würdigung des Verfassers und eine Auslegung seines Buches wie eine Rechtfertigung desselben geben. An der Hand der Werke und der Artikel in der Deutschen Zeitung suchte er den consequenten Zug im Leben und in der inneren Entwicklung von Gervinus darzulegen, wie er endlich naturgemäß zu seiner Bekehrung zum „Medeenkessel der Revolution“ und zu seiner Abkehr von der Monarchie gelangen mußte. Obschon die innere lebendige Antheilnahme Baumgarten’s unverkennbar ist, schlägt die Schrift doch durchweg den ruhigen Ton klarer belehrender Darlegung an. Allerdings von irgend einer kritischen Abweichung von Gervinus ist kaum etwas zu merken: der Schüler schwört noch auf seinen Meister. Und noch ein Anderes, Köstliches hatte ihm dieser Freundschaftsdienst gebracht. Im Hause des Geheimraths Fallenstein, eines alten Lützower Jägers, bei dem Gervinus wohnte, hatte er in der ältesten Tochter die Gefährtin fürs Leben gefunden. Alles wirkte zusammen, ihn froh und heiter zu stimmen. Willig gab er sich dem Zauber der seligen Stunden in der herrlichen Neckarlandschaft hin, die mit ihrem wunderbaren Reiz auch den kühlen kritischen Niedersachsen umsponnen hatte. Sein Leben trat, wie er [440] selber am Schluß seiner Lebenserinnerungen sagt, die er nur bis zu diesem Moment geführt hat, in eine neue glückliche Bahn ein.
Vorerst galt es nun, durch ernste, eifrige Arbeit für die junge Häuslichkeit, die er in München begründet hatte, zu sorgen. Da ein Versuch, in den braunschweigischen Schuldienst zurück zu gelangen, an dem Mißtrauen des Herzogs scheiterte, so wandte er sich ganz der Mitarbeit an Gervinus’ großem Werke, der Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts zu, für das er Stoff sammelte und verarbeitete. Es war ein eigenthümlich unklares Verhältniß, bei dem der volle Werth von Baumgarten’s Leistung kaum zur Geltung kam, nur zu verstehen aus den engen freundschaftlichen Banden, die Beide, Meister und Jünger, umschlossen, der Uebereinstimmung ihrer wissenschaftlichen und politischen Anschauungen und der selbstlosen, ideal gerichteten Art Baumgarten’s. Von Heinrich v. Sybel, der im Sommer 1856 von Marburg nach München berufen dort alsbald eine höchst einflußreiche Stellung sich geschaffen hatte, wurde B. allmählich aus diesen Banden gelöst. Sybel wies ihn nachdrücklich auf eigene selbständige Arbeit hin und erreichte es, daß B. statt der Oesterreichischen Geschichte nunmehr die Spanische Geschichte im 19. Jahrhundert, mit der er sich bereits im Interesse von Gervinus beschäftigt hatte, ins Auge faßte und alsbald ans Werk ging. Und weiter lenkte er ihn auch in die politischen Bahnen wieder zurück, die er vor 1850 gewandelt war, und brachte ihn wieder zu einer gerechteren Würdigung Preußens und seines deutschen Berufes. Beide sahen es bald als ihre wesentliche Aufgabe an, dafür in Süddeutschland und besonders in Baiern aufklärend zu wirken. Dem energischen Zuge Sybel’s folgte B. mit langsamerem, bedächtigerem Schritte. Das Jahr 1859 mit seinem Conflict zwischen Oesterreich und Frankreich, in dem jenes Deutschland in den Kampf um Italien fortreißen wollte, und in dem es dem Wiener Preßbureau gelang, in Süddeutschland eine außerordentliche nationale Begeisterung zu entfachen, rief Beide auf die Schanzen, nachdem freilich B., wenn auch nur kurz, sich auch ein wenig von dem allgemeinen Taumel hatte anstecken lassen. Es galt, die Gefahr abzuwenden, daß Oesterreich völlig festen Fuß im deutschen Süden fasse und Preußen, in dem die eben anbrechende Neue Aera dem Liberalismus frische Hoffnungen erweckte, ganz verdränge, daß mit dem Siege undeutscher Interessen zugleich die Reaction sich dauernd behaupte. Die Augsburger Allgemeine Zeitung, die Stimmführerin des österreichischen Anhanges, nahmen sie in ihren Artikeln und Flugschriften besonders aufs Korn, und für die Vertretung ihrer kleindeutschen Ansichten glückte es ihnen und ihren Freunden sogar, ein eigenes Organ in der Süddeutschen Zeitung zu schaffen, die unter der Redaction von Karl Brater im October 1859 zuerst erschien. Das war ein Mann ganz nach Baumgarten’s Herzen: „Klare, scharfe Kritik verband er mit hingebender Begeisterung, Nüchternheit des Verstandes mit enthusiastischem Patriotismus.“ Für dessen Blatt wie für die Preußischen Jahrbücher, die seit 1858 unter Haym’s Leitung herauskamen, setzte B. seine Feder in Bewegung, vor allem um die auseinandergehenden Stimmungen Nord- und Süddeutschlands auszugleichen. Er schwamm wieder ganz im publicistischen Fahrwasser wie zehn Jahre vorher, ohne doch darüber seine große wissenschaftliche Arbeit ganz zu vernachlässigen.
Und schon öffnete sich ihm ein größerer Wirkungskreiss. Max Duncker, der seine Tübinger Professur niedergelegt hatte, um als Vertrauensmann des Ministeriums Auerswald-Schwerin die oberste Leitung des preußischen Preßwesens zu übernehmen, berief B. im Herbst 1859 zur Unterstützung gleichfalls nach Berlin in sein litterarisches Bureau, ohne ihm allerdings eine gesicherte Stellung bieten zu können. Es gehörte schon eine „weitgetriebene patriotische [441] Schwärmerei“ dazu, wie B. es bald selbst bezeichnete, um sich über alle Ungewißheit der Zukunft hinwegzusetzen und auf gebundenen Wegen an der Lösung von Aufgaben mitzuarbeiten, deren Möglichkeiten er selber nur ahnte und deren Durchführung er nicht beeinflussen konnte. Ein Jahr lang hat er tapfer ausgehalten und sich bemüht, trotz aller Unklarheiten und Schwankungen der Neuen Aera das deutsche Banner der preußischen Politik hochzuhalten, auf dem Berliner Pflaster, das ihm vordem gar nicht gefallen hatte, sich einzuleben. Aber die Mißerfolge des Ministeriums in der äußeren und inneren Politik, die schiefe Stellung der liberalen Partei zur Militärreorganisation, die Unwürdigkeit seiner eigenen Position, in der er sich „als Null fühlte und als geistiger Proletarier verachtet“, die Rücksicht auf seine wachsende Familie, das Alles machte ihn mürbe und bewog ihn, den wiederholten Ruf auf den Lehrstuhl der Geschichte und Litteratur an der Technischen Hochschule zu Karlsruhe, den ihm Gervinus verschafft und den er ein Jahr vorher abgelehnt hatte, anzunehmen. Er blieb noch ein halbes Jahr für sich in Berlin, um als Einleitung seines größeren Werkes eine „Geschichte Spaniens zur Zeit der französischen Revolution“ zu vollenden, für die ihm das preußische Staatsarchiv in seinen Madrider Gesandtschaftsberichten werthvolle Ausbeute lieferte. Daneben verfolgte er mit leidenschaftlicher Antheilnahme die weitere Entwicklung der preußischen Verhältnisse, denn Politik war noch immer seine Lebensluft, ohne freilich irgendwie größeres Vertrauen dazu gewinnen zu können. Er war im Gegentheil ganz trostlos über dies Ministerium, „das unfähig, ohne Kopf und Einsicht nur für die nächste Stunde sorge“, über die Zukunft Preußens, „in dem unter der Regierung Friedrich Wilhelm’s IV. alle politischen Gaben ganz verwahrlost seien“, über die Berliner mit Intelligenz überladene Atmosphäre, „in der man nur discutire und zum Handeln zu müde sei“. Hier müßte, fügte er prophetisch hinzu, „ein großes Genie oder ein gewaltiger Tyrann aufstehn“. Mit tiefer politischer Enttäuschung schlossen Baumgarten’s Lehr- und Wanderjahre, als er im Frühling 1861 sein neues Amt in Karlsruhe antrat.
Mit begreiflichem Zagen betrat der 36jährige Professor zum ersten Male das Katheder, aber sehr rasch verstand er sich an der Technischen Hochschule eine ausgezeichnete Position zu verschaffen und einen großen Hörerkreis zu gewinnen. Er las zunächst in einer fünfsemestrigen Vorlesung Weltgeschichte, dann später noch deutsche Litteraturgeschichte und über das Zeitalter der Befreiungskriege. Er wollte dabei, wie er es selbst bezeichnete, seinem Auditorium „Respect vor den moralischen Mächten und Achtung vor der Vergangenheit einflößen“, die Geschichte sollte zu einer Quelle nicht nur der wissenschaftlichen, sondern auch der sittlichen Bildung werden. Daß er sein Ziel wirklich erreichte, dafür liegen zahlreiche glaubwürdige Zeugnisse seiner Hörer vor, die zugleich bekunden, wie dankbar sie ihm für die Anfänge ihrer politischen Erziehung waren. Das bewies auch sein steigender Lehrerfolg: im Frühjahr 1864 erhielt er den Auftrag, auch der Großherzogin und der jungen Prinzessin Wilhelm Vorträge über Weltgeschichte zu halten. Auch die ihm ferner liegende Aufgabe der Litteraturgeschichte griff er mit größtem Eifer an. Er vertiefte sich in die Schätze der deutschen Litteratur und bekannte, „er habe lange an Nichts eine solche Freude gehabt, wie an den althochdeutschen Trümmern, an Beowulf und Edda, und er könne sich der Zeit nicht entsinnen, wo er in vierzehn Tagen so viel gelernt habe“. Er hielt es dabei für zweckmäßig, „den jungen Leuten weniger tiefsinnige Betrachtungen in Gervinus’scher Art vorzutragen, als sie die alten Dichtungen selbst kennen und verstehen zu lehren“. Wie er sich dann selbständig in unsere zweite große Litteraturblüthe [442] im 18. Jahrhundert versenkte und ihrer Auffassung neue Seiten abgewann, das bewiesen seine Aufsätze über Lessing und Herder. Das waren für ihn „jene herrlichsten Studien, an denen er sich zwei Jahre hindurch erquicken durfte“, ehe er sich wieder seinem großen Werke, der Spanischen Geschichte, zuwandte.
Eben sie gewann in Karlsruhe ihre Gestaltung und Vollendung. Nacheinander erschienen in den Jahren 1865, 1868 und 1871 die drei Bände der „Geschichte Spaniens vom Ausbruch der französischen Revolution bis auf unsre Tage“, zu der jener 1861 ausgegebene Band die Einleitung bildete. Leicht ist ihm diese Arbeit nicht geworden. Nicht bloß, daß er mit äußeren Hindernissen schwer zu ringen hatte wie mit dem Mangel einer guten Bibliothek, wofür dann die Anstalten in Darmstadt und München einspringen mußten. Auch die Benutzung der Archive war ihm außerordentlich erschwert, fast versagt. In Spanien selber wie in Frankreich blieben sie ihm verschlossen. In Turin, Florenz und Neapel fand er nicht, was er suchte, es war zuletzt wiederum das Berliner Staatsarchiv, wo sich im Frühjahr 1866 eine Hauptquelle ihm noch öffnete. Im großen und ganzen mußte er sich darauf beschränken, die schon gedruckten Quellenpublicationen, vor allem die englischen Staatspapiere, die umfangreiche Memoiren- und Flugschriftenlitteratur, die spanische Tagespresse und die Acten der Cortes auszubeuten. Auf einer achtwöchigen Reise durch Spanien im Frühjahr 1868, die ihn bis nach Andalusien führte, konnte er auch aus den persönlichen Mittheilungen noch lebender Zeitgenossen schöpfen. Immer war und blieb es jedenfalls ein höchst spröder Stoff, den er zu meistern hatte, und diese Geschichte Spaniens, die er bis zum Jahre 1840 wenigstens in breiter Darstellung führte, war zudem so unerquicklich wie möglich, mit Ausnahme der heroischen Periode der Jahre 1808 bis 1814. Schwer genug hat B. daran getragen. Er fand nicht ohne Grund, daß er eigentlich mit einem „unhistorischen Stoff“ ringe, daß „diese Geschichte nicht einen Entwicklungsproceß, sondern ein Chaos darstelle“. Der Odem aber, der sie durchwehte, war ihm widerwärtig. Er klagte über diese „gräuliche Arbeit, im Schlamm der katholischen Monarchie waten zu müssen, der pestilenzialische Gestank, den diese Ferdinand, Don Carlos, ihre Beichtväter und Kammerdiener verbreiteten, falle ihm auf die Nerven“. Um so bewundernswerther ist es, wie B. bei aller Schärfe des Urtheils sich nie zur Ungerechtigkeit hat hinreißen lassen, wie er den schwierigen Stoff in klarer, lebendiger, eindrucksvoller Darstellung zusammengefaßt hat, die das spanische Detail ebensowohl wie die großen Zusammenhänge der europäischen Politik herauszuheben wußte. Gewiß, die wirthschaftlichen, die gesellschaftlichen und socialen Zustände treten darin etwas zurück, um so sicherer sind dafür die Momente der politischen, der staatlichen und geistigen Entwicklung erfaßt.
B. gehört durchaus, wie völlig zutreffend von Marcks bemerkt worden ist, zu jener Gruppe der politischen Historiker in Deutschland, deren Wesen H. v. Sybel vordem in einer Marburger Universitätsrede vor allem in der „veränderten Stellung des Autors zum Staate“ gefunden und scharf umrissen hatte, die das enge „Bündniß zwischen Geschichte und Politik“ und den „gesteigerten Fortschritt in dem Bewußtsein der Nation“ repräsentirten, die von einem gemäßigten nationalen und sittlichen Standpunkt den Lauf der Dinge betrachteten. Sein ganzer bisheriger Entwicklungsgang hatte ihn mit Naturnothwendigkeit zu dieser Gruppe geführt, in der die meisten, wie Duncker, Droysen, Häusser, Treitschke u. A. ihm mehr oder minder nahe standen, keiner mehr wie ihr Wortführer H. v. Sybel. So sollte auch seine Spanische Geschichte eine große politische Lehre und Wahrheit predigen, sie sollte „mit [443] schneidender auch den Stumpfsinnigsten berührender Energie die Wirkungen des exklusiv katholischen Staates darlegen“. Daß diese Quintessenz seines Werkes so Wenigen einging, daß sie kaum beachtet wurde, das verdroß B. in besonderem Maße, obschon er sich andererseits über die Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistung von berufener Seite nicht beklagen konnte. Sybel insbesondere that alles Mögliche, um das Werk bekannt zu machen, und ihm hatte B. den philosophischen Ehrendoctor der Bonner Hochschule zu verdanken, eine Auszeichnung, der viel später auch der theologische Ehrendoctor von Halle folgen sollte.
Immerhin versteht man vollkommen, wenn B. nach der Vollendung der Arbeit befreit aufathmete, nunmehr, wie er sich ausdrückte, „in deutscher Vergangenheit jubelte“ und frohe Pläne schmiedete, die deutschen Zustände vor der Revolution insbesondere am Oberrhein zu schildern. Eine reife Frucht dieser neuen Studien war sein 1872 veröffentlichter Aufsatz: „Herder und Georg Müller“, der dem alternden Dichter in liebevollem Verstehen gerecht zu werden suchte, aber nach competentem Urtheil im Feuer der Rede vielleicht ein wenig zu hell malte. Neun Jahre früher hatte er seiner Spanischen Geschichte einen ähnlich gerichteten biographischen Essay über Don Gaspar Melchor de Jovellanos vorausgeschickt, den hervorragenden spanischen Nationalökonomen und Staatsmann der Revolutionszeit, an dessen Geistesfreiheit und Charakterreinheit er sich begeistert hatte. Das war, abgesehen von einigen kleinen Beiträgen zu Sybel’s Historischer Zeitschrift, der er seit ihrer Entstehung im Jahre 1859 die gleiche Theilnahme zuwandte wie den Preußischen Jahrbüchern, und einigen Artikeln für diese, im großen und ganzen die wissenschaftliche Ernte der Karlsruher Jahre.
Mindestens ebenso reich war ihr politischer Fruchtertrag, mochte er auch vielleicht äußerlich nicht so stattlich sich ausnehmen. B. war zu einer glücklichen Stunde in den badischen Staatsdienst getreten, als nach dem bekannten Ostererlaß des Großherzogs von 1860 eine Fluthwelle großer liberaler Reformen sich über das Land ergoß. Er gerieth sofort mitten in den politischen Strom durch seinen Schwager, den Ministerialrath Jolly, der ihn mit dem Minister Freiherrn v. Roggenbach und später auch mit dem alten Vorkämpfer deutscher Einheit und Freiheit, Karl Mathy, in enge Verbindung brachte. Mit Jolly schloß er, wie er selbst erzählt, „die innige Gemeinschaft, in der sie elf Jahre lang alle öffentlichen und privaten Interessen theilten“, und mit Roggenbach besprach er vor allem die deutschen Angelegenheiten, Beide in dem Sinne, daß für eine deutsche Bundesreform, einen deutschen Bundesstaat mit einem starken Preußen an der Spitze unermüdlich alle Hebel angesetzt werden müßten, und daß Baden die ehrenvolle Rolle zufalle, dabei die erste Hand anzulegen. Man gewinnt wohl den Eindruck, daß Beide sich dabei über die Kräfte Badens einigermaßen getäuscht haben, immer aber wird ihr idealistischer Schwung und die Stärke ihrer nationalen Zuversicht bewundernswerth bleiben. Gelegentlich wandelte B. wohl auch einmal die Vorstellung an, daß sein und seiner Freunde Ringen unter einem ganz unpolitischen Volke fruchtlos sei, aber mannhaft kämpfte er sie wie seine noch ernsteren Zweifel an Preußens Mission nieder. Seine Verbindung mit der Süddeutschen Zeitung wurde enger denn je. Es galt nicht nur mit Artikeln und Correspondenzen sie zu versorgen, sondern auch ihre Actien an den Mann zu bringen; daneben setzte er aber auch für andere Zeitungen noch seine Feder in Bewegung.
Von der Bedeutung der Presse, von ihrem Einfluß, den sie auf die Bekämpfung des Particularismus und auf die politische Erziehung der Nation haben solle, hatte er damals eine sehr hohe Vorstellung. Die Publicistik [444] sollte, wie er ausführte, „die Brücke schlagen von unserer wissenschaftlichen und menschlichen Bildung zur bürgerlichen“. Sie sollte „die deutsche Intelligenz repräsentiren und sich zu einer geistigen Autorität für die Nation erheben“. Deswegen begrüßte er es aufs wärmste, daß sich die „Süddeutsche Zeitung“ mit der „Zeit“ in Frankfurt vereinigte und dorthin ihre Redaction verlegte, und daß sich damit eine sich jährlich wiederholende Pfingstversammlung gleichgesinnter Abgeordneter aus den deutschen Kammern verband. Die Zurückhaltung der Preußen dabei beklagte er sehr, wie denn überhaupt die Wendung der preußischen Geschicke nach dem Ende der Neuen Aera, das Ministerium Bismarck und der Conflict mit dem Abgeordnetenhause, ihn aufs schwerste bekümmerte und zuweilen zu leidenschaftlichem Zorne reizte. Es war für ihn kein Zweifel, daß „dies infame Regiment eines ruchlosen Spielers an der Spitze des Staates“ sobald als möglich gestürzt werden müsse, und er stimmte dafür, daß man dagegen auch die populären Kräfte in volle Bewegung setze. Sybel, mit dem er über diese Fragen in stetem Briefwechsel stand, war im Grunde gleicher Ansicht, urtheilte aber viel kühler und hatte namentlich eine lebendigere und richtigere Vorstellung von den Machtmitteln der preußischen Regierung.
Bezeichnend aber war es andererseits für den unverwüstlichen Glauben Baumgarten’s an Preußenss Stern, daß er, als die schleswig-holsteinische Frage Ende 1863 brennend wurde, abweichend von der Meinung seiner Parteigenossen es für die Hauptsache hielt, daß Preußen nur einmal activ werde, daß es nicht passiv bleibe wie seit 50 Jahren, daß es den Krieg mit Energie gegen Dänemark führe. Ob Execution oder Occupation, war ihm zunächst Nebensache. Und noch charakteristischer und bedeutsamer wurde seine Stellungnahme im Frühjahr 1866, als die Auseinandersetzung Oesterreichs und Preußens vor der Thür stand. Da setzte er sich mit voller Kraft für „das Land seiner Hoffnungen“ ein. Mit eindringlichen Tönen wandte er sich in der Flugschrift „Partei oder Vaterland?“ an die norddeutschen Liberalen, um sie aus ihrer Verstimmung und Verblendung zur That, zur Anerkennung der Thatsache emporzureißen, daß Bismarck in Wahrheit doch Preußens Sache führe und die Lösung der deutschen Frage am richtigen Punkt angreife, daß der Liberalismus sich auf seine Seite gegen das Haus Habsburg und den Particularismus der deutschen Fürsten stellen müsse. Nicht scharf genug konnte er den Kriegsabscheu und das Friedensgeheul seiner preußischen Parteigenossen brandmarken, das dem Gegner nur Stärke und Vertrauen gebe, ins eigene Lager aber Schwäche und Verwirrung bringe. „Ich stelle“, schrieb er damals, „ein kleines Agitationsbureau vor, das nach Norden und Osten wirkt“. Und dann, als die Würfel des Kriegs gefallen und sein Vertrauen auf Preußens Kraft die wunderbarste Bestätigung erhalten hatte, da griff er das gleiche Thema noch einmal, aber viel tiefer und umfassender auf, da schlug er noch einmal den gleichen Ton, aber diesmal viel voller und brausender an, in seiner großen Abhandlung „Der deutsche Liberalismus, eine Selbstkritik“, die im Herbst 1866 erschien und unter seinen publicistischen Leistungen vornan steht. Niemand merkt ihr an, welche Gedanken und Skrupel diese Schrift ihrem Verfasser gemacht, wie er (nach seinem Zeugniß) wohl dreißig Mal das Manuscript revidirt hat, so einheitlich und geschlossen, so aus einem Wurf und Guß baut sie sich auf. In diesem Spiegel, den B. seiner Partei vorhält, entwirft er in großen packenden Zügen ein Bild davon, wie traurig und verzerrt sich seit den Tagen der Reformation die deutsche Politik gestaltet habe, wie seitdem der Particularismus ihre Signatur geworden und das Gegentheil aller politischen Denk- und Gefühlsweise das charakteristische Merkmal der deutschen [445] Art, wie zu vier Malen seitdem der Versuch und der Ansatz gemacht worden sei zu wahrhaft deutscher Politik, immer von Preußen, und wie sich dazu in den letzten fünfzig Jahren der Liberalismus verhalten, wie er sich in eine ungesunde und unfruchtbare Opposition gegen die Staatsgewalten habe treiben lassen. Keins der belastenden, aber auch keins der entschuldigenden Momente wird dabei vergessen, u. a. darauf hingewiesen, wie der Adel bei uns, der wie in England und Italien die staatsmännische Führung hätte übernehmen sollen, versagt habe. Besonders ausführlich wird dann die Entwicklung der letzten sechs Jahre in Preußen wie in Baden geschildert, um von neuem an den Lehren der jüngsten Vergangenheit eindringlich zu zeigen, welche Schwächen der Liberalismus offenbart, welche Fehler er begangen habe, um ihn zur bewußten Ein- und Umkehr, zur Mitarbeit an den Aufgaben des deutschen Staats und der deutschen Politik zu bewegen, mit einem Wort, um ihn regierungsfähig zu machen. Historische Betrachtung wie politische Mahnung sind in dieser Schrift aufs engste und feinste verknüpft und sind beide gleich wirkungsvoll gestaltet. Eine Fülle feinsinniger Bemerkungen ist darin verstreut, wie z. B. über die politische Veranlagung der Deutschen, über den Einfluß der wissenschaftlichen Methode auf die politische Praxis, über Parteiregiment und Parteiführung, über Wege und Ziele einer gesunden Politik überhaupt. Kurz, die Schrift ist nicht nur als Zeitdocument von hervorragender Bedeutung, sondern darf vielleicht dauernden Werth beanspruchen.
B. selber war in gehobenster Stimmung. „Ich bin so glücklich, wie ich nie gedacht hatte, werden zu können“, schrieb er im August 1866 an Sybel. An der Mainlinie nahm er keinen Anstoß, wenn nur die Thüre für den Süden offen bliebe, und auch späterhin hatte er an dem hitzigen Drängen in den Norddeutschen Bund keine Freude. Immerhin litt auch er in dieser Zeit des Wartens, und seine politische Stimmung schwankte bisweilen, so unerschütterlich auch sein nationales Credo blieb. Dann kam der Krieg von 1870, und der herrliche Glanz seiner Siege erfüllte auch seine Seele, „hob ihn auf den Gipfel seines Daseins“.
Seine Feder blieb nicht müßig bei dem großen Streit. Er schrieb beim Anbruch der Entscheidung seine markige, schlicht ernste „Kriegspredigt“, und dann in den Tagen zwischen der Wörther Schlacht und dem Triumph von Sedan entwarf er seine Abhandlung „Wie wir wieder ein Volk geworden sind“, in der er die actuelle Frage der deutschen Einheit noch einmal auf die breite historische Basis stellte, die gesammte deutsche Entwicklung seit dem dreißigjährigen Kriege vom politischen Standpunkte aus beleuchtete, darlegte, wie die staatbildende Macht Preußens und die geistbildende Macht der deutschen Litteratur zunächst ihre gesonderten Wege gegangen, aber schon bei der Wiedergeburt Preußens durch die sittliche Kraft des Freiherrn vom Stein zusammengeführt worden seien. Wieder werden die deutschen Geschicke seit 1815 wie vordem in der Selbstkritik des Liberalismus ausführlich geschildert, nur daß jetzt das Positive mehr hervorgehoben wird, während dort das Negative betont wurde. „Im Stillen keimte die Saat der Einheit, die unsichtbar zu dem herrlichen Baum emporgewachsen ist, der mit seinen Wurzeln im Innersten der deutschen Herzen befestigt jetzt seine Zweige über alles deutsche Land erstreckt.“ Ein Abglanz der großen Zeit liegt hell auf diesen in vollem Strom dahinfließenden, im besten Sinne des Wortes populär gehaltenen Ausführungen, und ergreifend bricht zuweilen die gehobene Stimmung des Augenblicks hindurch. Es war das Schluß- und Meisterstück der Baumgarten’schen politischen Publicistik.
Eifrig nahm er natürlich auch Theil in der Presse wie im freundschaftlichen [446] Briefwechsel an den Erörterungen über die großen Probleme der deutschen Politik, über das deutsche Kaiserthum und die Wiedergewinnung der alten verlorenen deutschen Grenzlande. Durch Jolly, der seit 1866 Minister und später Ministerpräsident war, war er jederzeit aufs beste unterrichtet. An der inneren badischen Politik hatte er allerdings seit langem schon den Geschmack verloren. Der seit 1865 entfachte Kirchen- und Schulstreit im Lande hatte durchaus nicht seinen Beifall und mit Roggenbach schien ihm „zugleich der Geist und die Poesie aus dem Staat geschwunden“. Hatte er früher wohl schon über den Mangel an geistiger Anregung in Karlsruhe geklagt, über diese „πόλις ἄμουσος καὶ ἀγράμματος“, so verschärfte sich allmählich diese Empfindung, als zwei Aussichten, eine Professur an einer Universität zu erlangen, in Kiel und in Königsberg, allerdings zum größten Theil durch sein ablehnendes Verhalten sich zerschlagen hatten, und seine Sehnsucht, nach Göttingen zu kommen, sich nicht erfüllte. Er begann seine Amtsthätigkeit an der technischen Hochschule möglichst „trist und unbefriedigend“ zu finden. Man versteht daher, daß ihm der Ruf Roggenbach’s an die neu gegründete Universität Straßburg willkommen war, mit so großen Zweifeln und Bedenken er auch dies, wie er meinte, überstürzte Unternehmen begleitete.
Im Frühjahr 1872 siedelte er nach der Hauptstadt des Reichslandes über und mit der ihm eigenen Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit begann er sofort, sich in die neue Aufgabe einzuleben. Mangelte es auch nicht an Enttäuschungen und Reibungen auf dem ungewohnten Pflaster, er gab sich doch dem frischen, zuversichtlichen Geist, der die neue Schöpfung beseelte, willig hin. Er lobte „den liebenswürdigen Ton im Lehrkörper und das Fehlen des alten akademischen Zopfs“. Rasch gewann er unter seinen meist jüngeren Amtsgenossen Ansehen und Vertrauen, nach vier Jahren bereits betrauten sie ihn mit der Würde des Rectorats. Mit feinem Verständniß und nachdrücklicher Energie wußte er jederzeit die Interessen der Universität zu vertreten und besonders bei der dringlichen Frage des Neubaus eines Collegienhauses entfaltete er aufs glücklichste diese seine Gaben. Als er im Mai 1877 in Gegenwart des Kaisers den Jahresbericht über sein Rectoratsjahr erstatten durfte, hatte Jedermann die Empfindung, wie vortrefflich das Gedeihen der jungen Hochschule in seiner Hand geborgen gewesen war.
Dem anders gearteten Lehrbetrieb der Universität war er mit ähnlichem Zagen gegenübergetreten wie einst dem Karlsruher Katheder, aber auch in ihm fand er sich rasch zurecht, nur daß die Ausarbeitung seiner Vorlesungen, in denen er die ganze neuere Geschichte vom Ende des 15. Jahrhunderts bis zum 19. umfaßte, ihn einige Jahre hindurch größeren wissenschaftlichen Arbeiten und Veröffentlichungen entzog. Vor sehr wenigen Hörern mußte er beginnen, bald stieg ihre Zahl recht beträchtlich, um erst am Ende seiner Wirksamkeit wieder zu sinken, als sich anderen Disciplinen die akademische Gunst zuwandte. Zu den Kathederkönigen gehörte er nicht und zählte er sich selber nicht. Sein historischer Vortrag riß nicht durch stürmische Beredsamkeit fort, noch suchte er zu blenden, aber er fesselte den Hörer leise und sicher mit unlöslichen Banden durch die Klarheit der Anschauung und des Ausdrucks, durch die Sicherheit und Ruhe des Urtheils, durch die wohlthuende Wärme menschlichen und patriotischen Fühlens, durch den Ernst sittlicher Empfindung. Er wollte überzeugen, nicht überreden. Aeußerst selten sprach er im Colleg frei, er las fast immer, aber mit vollendeter Kunst des Vortrags. Nach wie vor bekannte er sich zu dem bildenden Geschichtsunterricht im Herder’schen Sinne.
Eine völlig neue Aufgabe stellte ihm der Unterricht im Historischen Seminar; auch ihr wußte er bald gerecht zu werden, obschon sie mit besonderen Schwierigkeiten [447] verknüpft war, da seminaristisches Arbeiten auf dem Gebiet der neueren Geschichte damals noch wenig bekannt und geübt, und die seit langem ausgebaute Methode der mittelalterlichen Forschung ihm gar nicht sympathisch war. Er sah in der letzteren eine „kümmerliche Mikrologie der Buchstabenkritik“ und eine Anbetung des Details, er bedauerte, daß ihr so viele begabte Köpfe opferten. Er dachte gering von der gelehrten Kärrnerarbeit, die um ihrer selbst willen zufrieden ist, und[WS 1] er durfte davon gering denken, denn unter seinen Augen gewannen auch die einfachen Dinge stets Ansehen und Bedeutung. Zeigte er sich auch vielleicht auf dem ungewohnten, kaum bestellten Felde nicht als „Meister pädagogischer Kunst“, jedenfalls verstand er seine Seminarübungen anziehend, praktisch und fruchtbar zu gestalten. So war er wohl der erste Lehrer, der Schrifttafeln des 16. Jahrhundertes zur Einführung in die reformationsgeschichtliche Forschung heranzog. Und was die Hauptsache war, er achtete die Individualität und die Selbständigkeit seiner Schüler. Ihre originale freie Entwicklung dünkte ihm ungleich höher als die Dressur und der Ruhm einer Schule. Lieber ließ er den Suchenden auf langen Irrwegen die Wahrheit finden, als daß er mit leitender starker Hand ihm sofort den richtigen Pfad gezeigt und ihn an die Unselbständigkeit gewöhnt hätte. Durch Wort und That wies er seinen Schülern zwei hohe Ziele: eigen erworbene wissenschaftliche Einsicht und den Muth der Wahrhaftigkeit. Mit seinen speciellen Fachgenossen, Weizsäcker insbesondere, verstand er sich vortrefflich. Es war ein „ehrliches und neidloses Zusammenwirken“, das auch auf die gemeinsamen Schüler von bestem Einfluß war.
Hatte B. im Beginn seiner Straßburger Wirksamkeit gefürchtet, er werde den Rest seiner kräftigen Jahre über einer undankbaren Aufgabe verlieren, er werde die ungestörte wissenschaftliche Thätigkeit, die ihm am Herzen lag, sobald nicht finden, so verschwand diese Besorgniß schon nach wenigen Semestern und er begann immer mehr mit dem Straßburger Boden zu verwachsen, als sich ihm hier ein neues reiches Arbeitsfeld öffnete. Mit glücklicher Treffsicherheit erwählte er sich dafür die große Vergangenheit Straßburgs im Zeitalter der Reformation, da diese Stadt dank ihrem religiösen und geistigen Leben weit über das Maß ihrer Machtmittel und der natürlichen Verhältnisse erhoben schien, da sie „ein eigenthümlicher Mittelpunkt für die protestantische Welt nicht nur Deutschlands, sondern Europas“ wurde und in ihr eine Reihe hervorragender Männer wirkte, die mit verständnißvoller Theilnahme an den bewegenden Fragen der Zeit die besten Mannes- und Bürgertugenden vereinigten. Diese Studien fanden nicht nur eine Resonanz in der entschieden protestantischen Gesinnung Baumgarten’s, sie waren auch von der politischen Erwägung beeinflußt, daß „die protestantische Empfindung vor der Hand die einzige sei, welche Straßburg zu uns ziehe, daß man sie daher betonen und beleben müsse“.
Mit zweien jener Männer beschäftigte er sich alsbald näher, mit Jakob Sturm, dem großen Staatsmann, und Johann Sleidan, dem Geschichtschreiber der Reformation. Die besondere Bedeutung des erstern für die gesammte Entwicklung der reformatorischen Bewegung, seine vermittelnde Rolle in derselben, suchte er in seiner Rectoratsrede ans Licht zu stellen, den zweiten wollte er nicht nur als Verfasser der Commentarien gegen eine unbillige Kritik in Schutz nehmen, er hoffte auch die wenig bekannten Lebensumstände und die Verbindungen des merkwürdigen Mannes gründlich aufhellen zu können. Aber eine sehr ausgedehnte und intensive Nachforschung nach seinem lückenhaften und zerstreuen Briefwechsel, die B. viel Mühe und Zeit kostete, ergab schließlich ein verhältnißmäßig dürftiges Resultat. „Der Mensch, den er suchte, war nicht zum Vorschein gekommen“, sondern wesentlich nur der Historiker, wie er selber bekannte. [448] Die eigenthümliche Stellung, welche der elsässische Humanismus zur Reform des geistigen und religiösen Lebens eingenommen, hob er scharf und treffend im Anschluß an eine Besprechung des Ch. Schmidt’schen Buches hervor, das diesen Vorwurf behandelte. Die gelegentlichen äußeren Eindrücke aber, die er bei diesen seinen Studien gewonnen hatte, faßte er in dem Aufsatz „Archive und Bibliotheken in Frankreich und Deutschland“ zusammen, in dem er für deren Pflege und Verwerthung eine Reihe wohl erwogener Vorschläge machte, eine Fülle von Anregungen und neuen Ideen ausstreute und daneben eine Würdigung unserer alten deutschen Reichsstädte in ihrer Bedeutung für das Leben unserer Nation gab, wie sie feiner und eindringlicher niemals gezeichnet worden ist. Um die bisher kaum geahnte Machtstellung Straßburgs gewissermaßen actenmäßig zu belegen, nahm er im Anschluß an das Straßburger Urkundenbuch die Publication der politischen Korrespondenz Straßburgs während der Reformationszeit in die Hand, und die seitdem von mehreren seiner Schüler herausgegebenen Bände haben evident bewiesen, wie scharf und richtig er gesehen hatte. Mit besonderer Freude hatte er aus ähnlichen Gründen die Berufung Sybel’s an die Spitze der preußischen Archivverwaltung begrüßt, und frühzeitig schon legte er ihm die Veröffentlichung des politischen Briefwechsels des Landgrafen Philipp von Hessen wie der deutschen Reichstagsacten unter Karl V. ans Herz, Wünsche, die dann zum großen Theil später in Erfüllung gehen sollten, während die von ihm gleichfalls begehrte Publication der Correspondenz des Kaisers noch immer ein Desiderium der Forschung ist. Auch der französischen Reformationsgeschichte wandte er seine Aufmerksamkeit zu und das Resultat seiner Studien war hier eine große kritische Untersuchung über die Bartholomäusnacht, in der er gegen den fanatischen Uebereifer der hugenottischen Epigonen namentlich auf Grund der Berichte der spanischen Gesandten in Paris nachwies, daß die Blutthat nicht ein längst vorbedachtes und geplantes Werk gewesen sei.
Den Schluß und die Krone seiner reformationsgeschichtlichen Arbeiten bildete seine groß angelegte „Geschichte Karl’s V.“, die zu vollenden ihm freilich nicht mehr vergönnt war. Auch bei ihr stand ihm sein maßgebendes Princip vor Augen, die Wissenschaft und das Leben zugleich zu fördern. Er hoffte, daß dereinst vor der vollen geschichtlichen Erkenntniß die confessionellen Leidenschaften des Tages verstummen würden, wie er es im Vorwort zum dritten und letzten Bande ausführte: „Wenn wir sehen, daß die Entwicklung unseres Volkes in jener Zeit nicht durch das Verdienst oder die Schuld irgend eines Menschen, sondern durch übermächtige Verhältnisse, durch die gesammte Weltlage und die besonderen deutschen Zustände, durch das Zusammenwirken der allerverschiedensten Kräfte und Richtungen bestimmt worden ist, so werden wir uns bescheiden, daß es nicht anders gehen konnte, als es gegangen ist, und aufhören, uns mit leidenschaftlichen Anklagen das Herz erleichtern zu wollen.“ In diesem Sinne ist Baumgarten’s ganze Darstellung gehalten. Ob in ihr sich mehr Ranke’sche Art offenbart mit ihrer Freude an der geschichtlichen Erscheinung an sich, wie Marcks will, darf dahingestellt bleiben. Karl V., „der Schicksalsmann der modernen Welt in ihrer Geburtsstunde“, erscheint als der Politiker, der das Unmögliche immer von neuem wieder versucht, die christliche Universalmonarchie wiederherzustellen. Alle die Mächte und Tendenzen, die ihm dabei in den Weg treten, die ihn nach allen Seiten hin in Anspruch nehmen und abziehen: der Papst, der französische König, der Türke, die territoriale Entwicklung und die religiöse Bewegung Deutschlands, die nationale Erhebung Spaniens, dann die stete Geldnoth des Kaisers, die kaum zu überwindende ungeheure Raumweite seines Reichs – dies Alles wird in seinen Wirkungen und Wechselbeziehungen uns lebendig vor die Augen gestellt. [449] Man wird nicht leugnen können, daß die Schwierigkeiten einer so ungemein verwickelten Darstellung nicht immer glatt überwunden sind, und daß der Erdenrest der kritischen Forschung noch hier und da an ihr haftet und sie belastet; aber der gewaltige Fortschritt, der hier in der tiefern Erkenntniß der Persönlichkeit Karl’s und der großen treibenden Kräfte der Zeit geleistet ist, ist unverkennbar. Namentlich ist auch das Verhältniß des Kaisers zum deutschen Protestantismus und dessen politische Entwicklung in entscheidenden Punkten aufgehellt worden. Mit vollem Rechte hatte B. von vornherein davon Abstand genommen, das gesammte urkundliche Material heranziehen zu wollen; das hätte sein Unternehmen bei dem derzeitigen Stande der Quellenpublication illusorisch gemacht und in den Anfängen scheitern lassen. Er beschränkte sich im großen und ganzen auf die gedruckten Quellen, unter denen er die englischen Calendars bevorzugte, während er vor der Bewältigung des „wüsten, von den Spaniern neuerdings aufgehäuften Materials“ schließlich zurückschrak; aber vielfach hat er daneben auch seine Actenausbeute aus den Archiven von Wien, Brüssel, Marburg u. s. w. zu verwerthen gewußt. Angesichts seiner unvollständigen und lückenhaften Quellen betonte er mit Recht die Ehrenpflicht des Reichs, die Monumenta Germaniae auch auf das 16. und 17. Jahrhundert auszudehnen, bis zur Epoche des Aufsteigens der brandenburgisch-preußischen Macht. Daß seine Geschichte Karl’s V. kein populäres Werk geworden ist, daran lag die Schuld weniger an B. als an dem ganzen Stoff und der Person des Helden. Er selber hat hart unter den Schwierigkeiten und den Enttäuschungen dieser Arbeit gelitten und wohl manchmal der Empfindung Ausdruck gegeben, daß er sich damit einer unzweifelhaft höchst anziehenden, aber innerlich nicht recht befriedigenden Aufgabe unterzogen habe, ähnlich wie er in seiner Jugend die spanische Geschichte in Angriff genommen. Und in der That wird man es fast als ein tragisches Verhängniß ansehen dürfen, daß dieser auf die verständnißvolle Würdigung unserer nationalen Vergangenheit so fein und sicher gestimmte Geist sich nicht seine Lebensaufgabe aus der deutschen Geschichte wählte und seine Kraft an einem fremdartigen Stoffe maß.
Sein letztes großes Werk, dessen Bände sich in den Jahren 1885/86, 88 und 92 folgten, begleitete eine Reihe kleinerer Arbeiten, die mehr oder minder damit im Zusammenhang standen und von denen hier nur die gedankenreichen Abhandlungen „Karl V. und die deutsche Reformation“ und „Römische Triumphe“ genannt werden mögen, weil er in ihnen seine Begabung wieder voll bewährte, geschichtliche Erkenntniß dem Leben der Gegenwart fruchtbar zu machen. Diesem Ziele dienten auch die beiden wissenschaftlichen Fehden, in die er noch vor Inangriffnahme seines Karl V. 1882/83 verwickelt wurde, einmal sein mannhaftes Auftreten gegen Janssen’s tendenziöse Verhimmelung des christlichen Mittelalters und Verunglimpfung der reformatorischen Bewegung, und sodann seine Kritik von Treitschke’s deutscher Geschichte, in der er sich vor allem gegen eine übertriebene Verherrlichung Preußens und eine ungerecht harte Beurtheilung der deutschen Kleinstaaten wandte. Gewiß konnte man darüber streiten, ob Treitschke dabei immer das richtige Maß gehalten, aber gegenüber dem grandiosen Wurf seines Werkes, dem fortreißenden Schwung und der glänzenden Pracht seiner Darstellung, dem echten Feuer seiner nationalen Empfindung durften die Ausstände nicht so scharf betont werden, wie es von B. geschah. Mit einem Thiers durfte Treitschke nicht auf eine Stufe gestellt werden. Diese Polemik mit einem alten politischen Gesinnungsgenossen, die weitere Kreise zog und auch einen Bruch mit Sybel’s historischer Zeitschrift herbeiführte, hat zu ihrem Theil zu der Verbitterung beigetragen, die bis zu [450] einem gewissen Grade Baumgarten’s Lebensabend trübte; aber sie entsprang, wie nie verkannt werden darf, doch im letzten Grunde seinem unbeirrbaren Wahrheitsdrang und seiner ganzen Auffassung des nationalen Lebens und der Zeitumstände überhaupt.
War schon seine Freude an der Entwicklung der elsässischen Dinge sehr kurz gewesen und durch die romantische Episode der Manteuffel’schen Statthalterschaft wie durch das bureaukratische Regiment der deutschen Verwaltung ins Gegentheil verkehrt worden, war er wie fast alle Eingewanderte durch das schwankende Verhalten der elsässischen Bevölkerung allmählich schwer enttäuscht worden, so lastete doch noch viel härter auf ihm die höchst bedrohliche Richtung, die nach seiner Meinung unsere nationale Entwicklung überhaupt genommen hatte. Ueberall sah er die Gedanken, für die er selber einst gefochten hatte, nun, da ihnen der Sieg gewonnen war, ins Uebermäßige und Ungesunde wachsen, die nationale und die einheitliche Idee sowohl wie den Monarchismus, überall schienen ihm die idealen Mächte der Bildung und der Sittlichkeit zurückzutreten und an Boden zu verlieren. Mit den allerschwersten Bedenken verfolgte er die wachsende Popularität des Bismarck’schen Regiments, seine Wendung in der Wirthschaftspolitik, sein Vorgehen und seinen Rückzug im Culturkampf. Er war nur noch geneigt, ihm den Ruhm des größten Diplomaten im 19. Jahrhundert zu lassen, im übrigen befürchtete er, daß seine herrische, rücksichtslose Art, seine „cäsarische Demagogie“ und der „Fluch des allgemeinen directen Stimmrechts“, das er gegeben, uns „dem Schicksal der Romanen anheimfallen lassen werde, zwischen Extremen hin- und hergeschleudert zu werden“. Man hat nach erklärenden Gründen für diese Stellungnahme Baumgarten’s gesucht, den Gegensatz des Idealisten gegen den großen Realisten betont, die Unbefriedigung seiner verehrungsbedürftigen, hingebenden Seele, die den Heroencultus gebraucht habe, sein Stehenbleiben in der allgemeinen Wandlung, die sich rings um ihn vollzogen. Man wird indeß, wie mir scheint, nicht übersehen dürfen, daß B. mit Bismarck’s Politik eigentlich nur in den Höhepunkten ihrer schöpferischen Leistung 1866 und 1870 einverstanden war, daß er aber sonst sich fast immer kritisch mißbilligend oder ablehnend zu ihr verhielt. Dem Manne des stolzen Maßhaltens, des bedächtigen Abwägens, des bewußt sich Einordnens war der alles überragende gewaltige Mensch der That im Grunde wohl nicht sympathisch. Es ist bezeichnend, daß er zuletzt an ihm vor allem seine unbedingte Furchtlosigkeit rühmte, einen Zug, der seiner eigenen Wahrheitsliebe entsprach.
Man wird indeß sich hüten müssen, in diesem Zuge verbitterter Kritik bei B. die allgemeine Signatur seines Lebensabends sehen zu wollen. Wie gern weilte er im Kreise der Münchener historischen Commission, der er seit 1880 angehörte, wie eifrig nahm er an ihren Plänen und Aufgaben theil! So lange es seine Kräfte ihm erlaubten – und sie erlahmten doch erst in den allerletzten Jahren, nachdem er im Frühjahr 1890 bei der Altersgrenze seine Professur niedergelegt hatte – war er rüstig und andauernd bei der Arbeit. Er wagte sich noch an eine Biographie Jolly’s und hatte eben die Einleitung fertiggestellt, als ihn der Tod am 19. Juni 1893 erreichte. Er schaute auch bis zuletzt hell und mannhaft ins Leben, und nie verlor er die köstliche Gabe, sich an seinen großen und kleinen Freuden erfrischen und erbauen zu können, wie er auch bis zu seinem Ende stets die tröstliche Fähigkeit behielt, mit wahrer, innerlicher Theilnahme dem Ergehen und dem Wirken Anderer zu folgen. Es war doch ein gesegnetes Leben, das er auf seinem ruhigen, schattigen Landsitz vor den Thoren Straßburgs führte, inmitten seiner Familie, die mannichfaches, herbes Leid nur um so inniger an ihn geschlossen hatte, und seiner treu ergebenen Freunde. Wer in diesen Kreis mit seiner einfachen [451] Lebenshaltung trat, der glaubte einen Hauch jener classischen Zeit zu spüren, da allein die Pflege der geistigen Güter das Erbtheil unseres Volks gewesen. Und unvergeßlich blieb ihm die kleine, gedrungene Gestalt des Hausherrn in ihrem unverkennbaren Typus des deutschen Professors, mit dem mächtigen Kopf, den fein geschnittenen Zügen des bartlosen Gesichts, den klaren Augen, „die hinter der Brille hervorschauten, lebendig, scharf und gütig zugleich, mit seiner anheimelnden Sprechweise, die nord- und süddeutsche Elemente verband, der zarter Empfindungen und geistiger Interessen voll, mitzutheilen und anzuregen verstand wie kaum ein Anderer. Seine wahre Natur hat er selber am treffendsten mit seinen Worten gekennzeichnet, die seinem alten Lehrer und Freunde Duncker galten: ein Mensch, in dem Wissenschaft und Leben durchaus eins war, den die Wissenschaft unwiderstehlich auf sittliche Bethätigung hindrängte und dem diese Bethätigung aus dem tiefsten Grunde des Erkennens keimte, ein Mann, in dem uns das innerste und beste Wesen des Geschlechts entgegentritt, welches durch seine Arbeit die Herstellung des Deutschen Reiches vorbereitet hat.
- Historische und politische Aufsätze und Reden von H. Baumgarten, mit einer biographischen Einleitung von Erich Marcks und einem Bildniß des Verfassers, 1894. Darin p. CXXXV–CXLI ein chronologisches Verzeichniß der von B. veröffentlichten Schriften, zusammengestellt von C. Varrentrapp.
[437] *) Zu Bd. XLVI, S. 260.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: nnd