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ADB:Sleidan, Johann

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Artikel „Sleidan, Johann“ von Hermann Baumgarten in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 34 (1892), S. 454–461, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sleidan,_Johann&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 01:42 Uhr UTC)
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Sleidan: Johann S. wurde 1506 oder 1508 zu Schleiden in der Eifel geboren, wo er auch mit Joh. Sturm den ersten Unterricht genoß. Sehr frühzeitig scheint er sich zur Fortsetzung seiner Studien nach Lüttich begeben zu haben. Nachdem er drei Jahre dort gewesen, erzählt sein ältester Biograph Beuther, sei er von seinen Eltern nach Köln geschickt worden. Als ein Kölner Drucker 1528 eine Sammlung griechischer Epigramme mit lateinischer Uebersetzung zum zweiten Male herausgab, erschienen darin über hundert Epigramme als von einem Sleidanus übersetzt, während es keinem Zweifel mehr unterliegt, daß sein Familienname Philippi war. Wann er sich von Köln nach Löwen begab, wo er, mit schwerer Noth ringend, dem Professor des Griechischen, Rescius, nahe trat, wann er von dem Grafen Dietrich von Manderscheid, der über Schleiden gebot, mit der Erziehung seines Sohnes Franz betraut wurde, wissen wir nicht. Im Frühling 1530 finden wir ihn wieder in Lüttich, von wo er an Rescius einen Brief richtete, in dem uns zum ersten Male seine geistige Physiognomie deutlich entgegen tritt. Während unter den deutschen Protestanten damals die Ansicht vorherrschte, Karl V. käme mit den versöhnlichsten Absichten ins Reich, spricht der fern stehende junge Schleidener mit größter Bestimmtheit die Ueberzeugung aus, der Autokrat, wie er den Kaiser nennt, stehe der neuen Kirche mit schroffer Feindseligkeit gegenüber. Da nun der größte Theil Deutschlands Rom den Rücken gekehrt habe, müsse daraus ein großer Kampf entstehen. An diese Prophezeiung knüpft er einen von schwärmerischer Bewunderung erfüllten Erguß über Melanchthon, der sicher über alle Gegner einen glänzenden Triumph erringen werde. – Im J. 1533 folgte S. seinem Landsmann Joh. Sturm nach Frankreich, wo er theils in Paris, theils in Orleans seine jetzt der Jurisprudenz gewidmeten Studien fortsetzte und den Grad eines Licentiaten der Rechte erwarb. Joh. Sturm war dem Erzbischof von Paris, Cardinal Jean du Bellay, nahe getreten, welcher ebenso wie sein älterer Bruder Wilhelm, Herr von Langey, es für seine Aufgabe hielt, möglichst intime Beziehungen zu den deutschen Protestanten zu pflegen und so in Deutschland selbst ein starkes Gegengewicht gegen die Macht des Kaisers zu schaffen. Sturm hatte seine geschickte Feder in den Dienst dieser Bestrebungen gestellt, welche ebenso dem protestantischen wie dem französischen Interesse zu entsprechen schienen. Als er Ende 1536 Frankreich verließ, um in Straßburg die Leitung des bald berühmten Gymnasiums zu übernehmen, empfahl er S. dem Cardinal zur Besorgung derselben Aufgabe, der nun in den nächsten Jahren namentlich den Straßburger Führern alles mittheilte, was jener Aufgabe förderlich sein konnte. Erst aus dem Jahre 1540 sind einige dieser Briefe, wenn auch nur in Uebersetzung, auf uns gekommen. Da sehen wir nun den jungen Gelehrten an dem Punkte thätig, an dem zu einem guten Theile das Schicksal des deutschen Protestantismus entschieden werden sollte. Die junge Kirche würde vom Kaiser zeitig unterdrückt worden sein, wenn ihm nicht die Feindschaft Frankreichs neben der Eifersucht der Curie fortwährend die Hände gefesselt hätte. Zu Ende der dreißiger Jahre schien es, als solle diese Feindschaft sich in Freundschaft verwandeln. Das Interesse der deutschen Protestanten forderte, eine solche Wendung um jeden Preis fern zu halten, welche ebenso von einer Partei am französischen Hofe bekämpft wurde. An der Spitze dieser Partei standen die [455] Brüder du Bellay. Sie konnten ihr Ziel nur erreichen, wenn der Schmalkaldische Bund mit König Franz in feste Verbindung trat, worüber die ganzen dreißiger Jahre her, aber immer vergeblich war verhandelt worden. Jetzt, im J. 1540, mußte die Entscheidung fallen und S. war es beschieden, darin hervorragende Thätigkeit zu üben. Mit unermüdlichem Eifer legte er seinen Straßburger Freunden ans Herz, nie sei der Moment, Frankreich zu gewinnen, so günstig, aber auch so dringend gewesen wie jetzt; sie würden dadurch aber nicht nur sich selbst für immer vor dem bösen Willen des Kaisers sichern, sondern auch den Glaubensgenossen in Frankreich Duldung gewinnen. Zweimal wurde er in dieser Angelegenheit nach Deutschland geschickt, um auf den Tagen von Hagenau und Regensburg das gemeinsame Interesse des deutschen und des französischen Protestantismus zu vertreten. Aber alle seine Bemühungen sollten daran scheitern, daß Landgraf Philipp, bisher der wärmste Vertreter der französischen Freundschaft, gerade jetzt, um sich vor den Folgen seiner unseligen Doppelheirath zu sichern, einen Pact mit dem Kaiser schloß, welcher ihm den Weg nach Frankreich verlegte und zugleich die gesammte Action des Schmalkaldischen Bundes lähmte. Damit war über die Politik der Brüder du Bellay entschieden, obwohl es bald zu neuem Kriege zwischen Franz I. und Karl V. kam. Damit war aber auch der Thätigkeit Sleidan’s das Fundament entzogen. Seine Stellung in Paris mußte ihm umsomehr verleidet sein, als er bei dem zweimaligen Besuche Deutschlands die Einsicht gewonnen hatte, daß eine wahrhaft gesunde und fruchtbare Thätigkeit für ihn nur in der Heimath möglich sei.

Hatte er bisher von Paris aus für die ihm über alles am Herzen liegende protestantische Sache zu wirken gesucht, so trat er nun, gleich nach seiner ersten deutschen Reise, in den großen Kampf auf deutschem Boden selbst ein. Als er im Januar 1541 zum zweiten Male in Straßburg erschien, brachte er einen „Bescheidenen historischen unschmählichen Bericht“ an alle Stände des Reichs von des Papstthums Auf- und Abnehmen mit, der dann auch in demselben Jahre gedruckt, häufig wiederholt und sogar unter verhüllendem Titel ins italienische übersetzt wurde. Der Erfolg war so groß, daß sich S. aufgefordert fühlte, der Mahnung an die Stände eine solche an den Kaiser folgen zu lassen, worin er demselben klar zu machen suchte, daß „der jetzige Religionshandel nicht menschlich, sondern Gottes Werk und Wunderthat seie“, und daß der Kaiser durch den dem Papste geleisteten Eid zu nichts verpflichtet werde. Diese zweite Schrift erschien aber erst 1544 im Druck, worauf er dann bald beide in lateinischer Uebersetzung in Straßburg mit seinem Namen herausgab („Joannis Sleidani orationes duae, una ad Carolum Quintum Caesarem, altera ad Germaniae Principes omneis ac ordines Imperii“), während er die deutschen Texte zuerst anonym, dann mit dem verstellten Namen: Baptista Lasdenus publicirt hatte. Die an den Kaiser gerichtete Rede gab er sich die Mühe auch französisch zu schreiben, da er wohl wußte, daß Karl V. eigentlich nur französisch oder spanisch geschriebenes lese. Ob diese französische Fassung an den kaiserlichen Hof gelangt ist, wissen wir nicht; jedenfalls ist sie niemals gedruckt worden. Während er sich so mitten in die deutsche Bewegung hinein stellte, sollte es doch länger währen, bis er in Deutschland einen festen Wohnsitz gewann. Vermuthlich ging er im Sommer 1542 auf die Nachricht vom Tode seines Vaters in die Heimath; im J. 1543 finden wir ihn noch einmal in Paris; erst im Frühling 1544 ließ er sich dauernd in Straßburg nieder. Während dieser Jahre stand er als politischer Correspondent in französischem, oder wohl richtiger in Cardinal du Bellay’s Dienste, dem er jetzt in derselben Tendenz aus Deutschland schrieb, in welcher er früher aus Paris nach Deutschland geschrieben hatte. Längst aber war er mit etwas ganz anderem beschäftigt. Im Sommer 1537 hatte er einen [456] Auszug aus Froissard’s berühmtem Werke in lateinischer Bearbeitung publicirt, eine recht unbedeutende Erstlingsarbeit, an der für uns nur das Vorwort merkwürdig ist. Wenn, sagt er da, für Männer, die mit der Verwaltung großer politischer Geschäfte betraut sind, keine Wissenschaft größeren Werth hat als die Geschichte, so verdienten unter allen historischen Stoffen besonders die der jüngsten Vergangenheit angehörenden Beherzigung, zumal wenn diese Vergangenheit von so hervorragender Bedeutung sei, wie eben jetzt. „Denn“, ruft er mit lebhafter Bewegung, „hat es je ein Jahrhundert gegeben, in welchem sich so mannigfaltige und so wunderbare Begebenheiten in der kürzesten Spanne Zeit zusammengedrängt haben? Wie gewaltige Umgestaltungen sowohl der politischen als der kirchlichen Verhältnisse haben wir erlebt!“ Im Zusammenhange mit diesem Gedanken hatte er seine beiden ersten selbständigen Schriften abgefaßt, welche zwar keine eigentliche Darstellung der jüngsten Begebenheiten enthielten, aber durchweg mit historischen Auseinandersetzungen auf die Gegenwart zu wirken suchten. Das waren indessen doch nur Nebendinge, von der lebhaften Theilnahme an dem großen Kampfe und vielleicht von dem Wunsche eingegeben, sich dadurch den deutschen Protestanten bekannt zu machen. Denn seit dem Jahre 1539 beschäftigte ihn der Plan, die Geschichte eben dieser seiner merkwürdigen Zeit zu schreiben, für welche er schon damals zu sammeln begann. Das, was in dieser Zeit auf religiösem Gebiete geschehen war, erschien ihm wirklich, wie er dem Kaiser zurief, als Gotteswerk und Wunderthat, und seine frischeste Manneskraft ersehnte nichts heißer, als dieses wunderbare Werk in würdiger Darstellung zu schildern. Wenn er im Sommer 1544 die beiden Reden mit seinem Namen veröffentlichte, so meinte er wohl sich dadurch gewissermaßen als Historiker der Reformation zu legitimiren. Demselben Zwecke diente eine Bearbeitung der Memoiren Comines’, deren ausführliches Vorwort den beiden Häuptern des Schmalkaldischen Bundes, dem Kurfürsten von Sachsen und dem Landgrafen von Hessen, dringend an Herz legte, sie möchten dafür sorgen, daß, wie Comines ein Bild seiner Zeit geschaffen habe, ihrer so viel größeren Epoche ein würdiges Denkmal errichtet werde. „An Euch“, rief er ihnen zu, „ist es recht eigentlich dafür zu sorgen, daß Alle erfahren, was seit vielen Jahren mit Euch verhandelt ist und darin die unaussprechliche Weisheit und Macht Gottes verehren lernen.“ Ein solches Denkmal könne nicht von einem Privatmanne mit seinen beschränkten Mitteln hergestellt werden, sondern sie und ihre Bundesgenossen müßten dafür das authentische Material liefern. Also um eine so zu sagen officielle Darstellung der Zeitgeschichte handelte es sich. Bucer und Jacob Sturm hatten sich längst für diesen Gedanken erwärmt und zunächst den Landgrafen für seine Ausführung zu gewinnen gestrebt. Derselbe war denn auch nach einigem Besinnen darauf eingegangen; aber was von ihm und Straßburg angeregt wurde, pflegte ja fast immer am sächsischen Hofe auf argwöhnische Bedenken zu stoßen. Zuletzt meinten die Straßburger, wenn der Kurfürst nicht in Bewegung zu bringen sei, könne ja der Landgraf mit Augsburg, Ulm und Straßburg allein das Werk unternehmen. Aber schließlich gelang es doch dem unermüdlichen Eifer und dem hohen Ansehen Jacob Sturm’s, im Sommer 1545 auf dem Wormser Reichstage die Bundesgenossen dahin zu bringen, daß sie S. in ihren Dienst nahmen. Zunächst jedoch nicht als Geschichtschreiber. Vielmehr mußte er sich an erster Stelle verpflichten, in den Angelegenheiten des Bundes als Botschafter sowohl in deutschen als fremden Landen, sodann als Dollmetscher bei der Uebersetzung von Actenstücken zu dienen. „Zudem“, heißt es darauf in der Bestallung, „hat auch bemelter S. auf sich genommen und bewilligt, den Anfang des ganzen Handels der Religion, wie der bei unseren Zeiten angehoben und wie weit der gebracht worden sei, auch was sich dieser Ding halb allenthalben [457] zugetragen, in eine Chronik zu ziehen und zu beschreiben, in welchem wir ihn auch mit Berichten der Händel und anderem, so zu solchem Werk gehören will, versehen und informiren lassen sollen und wollen. Doch soll er solche Chronik, sie sei denn zuvor durch uns oder unsere dazu Verordnete besichtiget und also ohne unsere Bewilligung nicht publiciren noch ausgehen lassen.“

Die Sammlung für dieses Werk hatte er, wie gesagt, bereits vor sechs Jahren begonnen; im Mai konnte er als Probe einige Capitel nach Worms senden. In den Briefen, welche er damals an Jakob Sturm richtete, sieht man, wie seine Seele für die Ausarbeitung „einer so heiligen und herrlichen Geschichte“ glüht, die er mit Gottes Hilfe so behandeln werde, daß er ihrer aller Erwartung zu genügen hoffe. „Du glaubst nicht“, schreibt er ein anderes Mal, „wie sehr mich diese Arbeit erfreut, die freilich großen Fleiß und viele Mühe erfordert, mich aber, da ich durch einen gewissen Zug meiner Natur dazu neige, wunderbar beglückt.“ Wenn nur die Verbündeten Wort halten, ihm ihre Archive öffnen, „so wage ich Euch zu verheißen, diese Geschichte wird so herrlich sein, daß sie keiner anderen irgend einer Zeit nachsteht, was wenigstens die Thatsachen selbst angeht.“ Aber alsbald sollte die so eifrig begonnene Arbeit ins Stocken gerathen. Die Schmalkaldener beschlossen in Worms zwischen den Königen von Frankreich und England, unter denen der Krieg fortdauerte, auch nachdem Karl V. sich im September 1544 aus demselben herausgezogen hatte, eine Friedensvermittelung zu versuchen, damit der Kaiser die Hände gegen sie nicht völlig frei habe. Nun hatte S. in seinen Briefen an Jakob Sturm bewiesen, daß er über die Weltlage, namentlich über die Beziehungen Frankreichs zum Kaiser, besser unterrichtet sei, als vielleicht irgend jemand unter den Verbündeten, und er hatte nicht nur Kenntnisse, sondern ebenso scharfes Urtheil bewiesen. An solchen Männern war im damaligen Deutschland kein Ueberfluß, und so beschloß man denn in Worms, S. an der Sendung nach England theilnehmen zu lassen. Seinem Gönner Jakob Sturm mochte es erwünscht scheinen, daß der Geschichtschreiber der Reformation, nachdem er die Niederlande, Frankreich und Deutschland kennen gelernt, nun auch mit englischen Personen und Zuständen vertraut werde. Das war ja in der That sehr förderlich. Der Besuch Englands wurde aber für S. nicht nur eine äußerliche, rasch vorübergehende Begegnung, sondern der Anfang einer nie mehr unterbrochenen Verbindung. Sein Blick umfaßte von jetzt an das ganze westliche Europa. Dazu suchte er auch König Heinrich und seine Staatsmänner für das ihm übertragene Geschichtswerk zu gewinnen. So wäre denn diese Fahrt nach England in jeder Beziehung segensreich gewesen, wenn nur nicht die Dinge in Deutschland eine so verhängnißvolle Wendung genommen hätten. Ehe S. seine Reise in die hessischen und sächsischen Archive hatte antreten können, zertrümmerte der Schmalkaldische Krieg den Boden, auf dem er stand. Der Bund, in dessen Dienste er getreten war, wurde zersprengt, die beiden Häupter desselben schmachteten in Gefangenschaft, auch Straßburg mußte sich dem mächtigen Sieger beugen: die ganze protestantische Welt lag am Boden. Daß dem für eine Weile allmächtigen Kaiser Sleidan’s Geschichtswerk im höchsten Grade widerwärtig sein, daß er deshalb nirgends an seinen Druck werde denken können, verstand sich von selbst. Ja so vollkommen verdüstert war der Blick in die Zukunft, daß man nicht einmal an eine Besserung zu hoffen wagte. S. und seinen Straßburger Freunden schien es zwecklos an einem Werke zu arbeiten, das vielleicht nie das Licht erblicken könne, und das sich ohne den Zugang zu irgend welchen Archiven gar nicht fördern ließ. Die hessischen und sächsischen Archive waren jetzt selbstverständlich geschlossen: durfte es Straßburg wagen, einem Manne, welcher den Kaiserlichen ganz besonders verhaßt war, seine [458] geheimen Sachen zu öffnen? Der kühne Flug der letzten Decennien hatte zu kläglicher Niederlage geführt; jetzt galt es sehr vorsichtig und ängstlich sein.

Wir wissen wenig von dem, was S. in diesen bösen Zeiten trieb. Im Januar 1547 hatte er eine Schrift ausgearbeitet, durch welche der Papst vor der erdrückenden Macht des Kaisers gewarnt werden und welche Cardinal du Bellay, ohne ihren Ursprung zu verrathen, in die Hände des Papstes spielen sollte. Daneben scheint er seine classischen Studien eifrig aufgenommen, wie so mancher vor ihm bei Plato und Aristoteles, Cäsar und Cicero Trost für sein von einer traurigen Gegenwart bedrücktes Gemüth gesucht zu haben. Seine Feder ruhte auch jetzt nicht: er vollendete die Bearbeitung der Comines’schen Memoiren, übersetzte ein französisches Werk über die französische Monarchie ins Lateinische und schrieb über Plato’s Lehre vom Staat und den Gesetzen. Alle diese drei Werke benutzte er, um in England womöglich den Boden zu finden, der ihm die Fortsetzung seines großen Geschichtswerkes gestatte: er widmete sie dem jungen König Eduard, dem Protector Herzog von Somerset und dem Minister Paget. Eben damals hatten Bucer und Fagius, welche sich dem Interim auch in der gemilderten Form, die Straßburg erreicht, nicht fügen mochten, in England eine Zuflucht gefunden: wie natürlich, daß jetzt auch S. dahin seine Blicke richtete! In der That erreichte es der rührende Eifer Bucer’s, daß König Eduard die Unterstützung des Werkes auf sich nahm. Wenn aber S. dafür die jährliche Pension von 200 Kronen verheißen wurde, so hat er, soviel wir wissen, nie etwas davon bekommen. Ebensowenig scheint er durch Mittheilung von Actenstücken gefördert worden zu sein.

Inzwischen wurde ihm wieder eine wichtige Sendung übertragen. Der Kaiser hatte bekanntlich den Protestanten die Beschickung des von ihm mit so großem Eifer betriebenen Concils auferlegt. Da meinte nun Straßburg, es sei von großer Wichtigkeit, daß die Protestanten sich vorher über ein gemeinsames Vorgehen verständigten und dann in Trient als festgeschlossener Körper aufträten. Es bemühte sich nach Kräften im Süden wie im Norden seine Glaubensgenossen für dieses einzig richtige Verfahren zu gewinnen. Aber die Angst vor dem Kaiser und die allgemeine Entmuthigung war so groß, daß die Bemühungen der edlen Stadt zu keinem Resultate führten. Trotzdem glaubte sie ihrerseits nicht passiv bleiben zu sollen. Nachdem sie wenigstens mit Herzog Christoph von Württemberg eine leidliche Verständigung erzielt und von einigen kleineren schwäbischen Reichsstädten Vollmacht erlangt hatte, sandte sie im November 1551 S. nach Trient, um den später zu schickenden Theologen den Weg zu bereiten. So weilte denn unser Geschichtschreiber den Winter 1551 auf 1552 an dem merkwürdigen Orte, von dem später die Restauration des Katholicismus ausgehen sollte. In häufigen Verhandlungen mit den kaiserlichen Gesandten und hohen Würdenträgern der katholischen Kirche that er bedeutsame Blicke in eine ihm bis dahin doch ziemlich fremd gebliebene oder wieder gewordene Welt. So nahe an Italien konnte er es sich nicht versagen, da die Geschäfte es gestatteten, im Februar 1552 einen freilich nur kurzen Abstecher nach Venedig zu machen. Als er von da nach Trient zurückgekehrt war, zog vom Norden das Wetter herauf, welches der Macht des Kaisers den schwersten Stoß versetzen sollte. Der eben noch Allgewaltige mußte vor Kurfürst Moritz fliehen, nachdem das Concil gleich bei den ersten Anzeichen des Sturms auseinander gestoben war.

Damit hatte denn auch Sleidan’s Lage eine wesentliche Aenderung erfahren. Der Einbruch König Heinrich II. in Lothringen und das Elsaß hatte überdies Straßburg den Anlaß gegeben, den des Französischen mächtigen S. zur Verhandlung mit dem Könige zuzuziehen, und da nach dem Ueberfalle von Metz die französische Macht nahe gerückt war, ließ sich voraussehen, daß die Stadt [459] auch in Zukunft der Dienste dieses Mannes öfter bedürfen würde. So beschloß denn der Rath, S. in seine Dienste zu nehmen. Endlich hatte er so wieder festen Boden unter den Füßen und nun gestattete ja auch die Lage des Reichs, zu dem einst mit so großer Begeisterung begonnenen Werke zurückzukehren. Trotz der vielfachen Störungen jener vierziger Jahre hatte er doch im October 1547 die vier ersten Bücher vollendet gehabt. Jetzt im October 1552, da eben über seine Anstellung im Dienste Straßburgs war entschieden worden, nahm er die fünf Jahre lang unterbrochene Arbeit wieder auf. Freilich unter wie veränderten Verhältnissen! An Reisen in die hessischen und sächsischen Archive konnte er mit seinen bescheidenen Mitteln nicht denken, wenn er auch hätte hoffen dürfen, daß man ihn in dieselben zulassen würde. Denn noch immer waren die deutschen Protestanten ängstlich bedacht dem Kaiser, dessen Macht sich ja auch mehr als einmal von neuem aufzurichten schien, ja keinen Anstoß zu geben. So sah sich S. wesentlich auf die ihm in Straßburg zur Verfügung stehenden Quellen angewiesen, neben den reichen Sammlungen, welche er früher in günstigerer Zeit angelegt hatte. Das Wichtigste war für ihn aber, daß Jacob Sturm, der seit 1526 die Schicksale des deutschen Protestantismus so innig wie wenige getheilt und zu einem erheblichen Grade mit bestimmt hatte und natürlich über einen reichen Schatz von Actenstücken aller Art verfügte, ihm jederzeit alles, was er wußte und hatte, zur Verfügung stellte. Mit Leib und Seele war er jetzt bei der Arbeit. Im März 1553 hatte seine Erzählung bereits das Jahr 1536, drei Monate später das Jahr 1540 erreicht. Am 13. September schrieb er Calvin: „Ich stehe jetzt bei dem Kriege des Kaisers gegen die Unsrigen“. Und am 2. April 1554: „Ich habe das ganze Werk vollendet und bis auf diese Zeit herabgeführt.“ Man meint da die rüstigste von seltener Gunst beflügelte Thätigkeit zu erblicken: in Wahrheit übte sie ein von schwerem Unglück Niedergebeugter.

Im März 1546 hatte er sich mit Jola v. Niedbruck, Tochter des Johann v. Niedbruck, eines natürlichen Bruders des Grafen von Nassau, vermählt, die ihm dann drei Töchter schenkte. Schon nach siebenjähriger Verbindung wurde ihm die innig geliebte Frau entrissen, deren Tod ihm nicht nur schweres Herzeleid, sondern auch eine Last von Sorgen für die unmündigen Kinder brachte. Und wenige Monate nach diesem Verluste traf ihn ein anderer nicht viel weniger empfindlicher Schlag. Im August 1553 wurde Jakob Sturm vom Fieber befallen, das am 30. October seinem kostbaren, namentlich auch für S. unersetzlichen Leben ein Ende machte. Das sind die Umstände, unter denen S. seine berühmten „Commentare über den Stand der Religion und des Staats unter Kaiser Karl V.“ geschrieben hat. Geschrieben, aber noch keineswegs vollendet und zum Drucke gebracht. Während des Sommers 1554 war er unablässig beschäftigt, einzelne Lücken auszufüllen, Unsicherheiten zu beseitigen, das Ganze zu revidiren. Schon dabei trat ihm das Bedenken entgegen, ob es nicht besser sei, die Veröffentlichung des Werkes auf günstigere Zeit zu verschieben. Verger bemühte sich im Sinne Herzog Christoph’s von Württemberg in dieser Richtung; wenigstens suchte er in dem Buche zu beseitigen, was der Angst der Zeit gewagt erschien. S. hätte es gerne dem Herzoge gewidmet, das aber hielt dieser für viel zu gefährlich. Trotz allem begann im October der Druck. Da er aber fast vollendet war, wurde der Straßburger Rath bestürmt, das Erscheinen des Werkes nicht zu gestatten. Wir müssen es als ein besonderes Glück betrachten, daß es dann doch im April 1555 die Officin des Wendelin Rihel verlassen durfte. Jetzt erst erfuhr S., was Ungunst der Zeit bedeute. Allerdings gingen ihm von Vielen, deren Urtheil nicht durch politische Rücksichten verbogen war, lebhafte Zustimmungen zu; aber die Mächtigen, nicht nur unter den Katholiken, [460] sondern auch unter den Protestanten, fanden es sehr ärgerlich, daß die Ereignisse einer Zeit, welche so manchen grellen Wechsel der Schicksale und der Ueberzeugungen gesehen hatte, vor aller Welt und für alle Zeit actenmäßig fixirt seien. Von den verschiedensten Seiten gingen ihm Nachrichten zu, welche ihn Schlimmes fürchten ließen. „Das ist“, jammerte er, „der Lohn für so große Mühen! Ich kann nicht mehr vor heftigem Schmerz.“ Freilich war der buchhändlerische Erfolg ein glänzender die tausend Exemplare der im April erschienenen Folioausgabe waren im Juli vergriffen; aber der arme Verfasser suchte umsonst nach einer sicheren Existenz: das Buch, welches seinen Namen durch die Jahrhunderte tragen sollte, hatte ihm jede Aussicht zerstört. Nach einem Jahre schrieb ihm ein im Dienste Maximilian’s stehender Verwandter, er dürfe nicht hoffen, bei einem Fürsten Anstellung zu finden, denn sein Buch habe so viel Haß erregt, daß es für ihn vielleicht nicht sicher sei, Straßburg zu verlassen. Weshalb er den Wunsch hegte, Straßburg zu verlassen, wissen wir nicht.

Es ist hier nicht der Ort, in die neuerdings mehrfach angestellte Erörterung über den Werth von Sleidan’s Commentaren einzutreten. Natürlich hat der heutige Forscher die Pflicht zu fragen, wie weit er Sleidan’s Berichten folgen dürfe; aber die Beantwortung dieser kritischen Frage hat nichts zu thun mit der Bedeutung des Buchs. Nicht unsere Weisheit hat über etwas zu entscheiden, was die Jahrhunderte festgestellt haben. Bis gegen das Ende des 18. Jahrh. sind Sleidan’s Commentare die von Allen in allen Völkern gleichmäßig benützte Hauptquelle über die Reformationszeit gewesen. Die moderne Zeit kennt kein historisches Werk, das sich so lange einer so großen Autorität erfreut und aus dem so viele Geschlechter geschichtliche Kenntniß geschöpft hätten. Dieser Thatsache gegenüber kommt es kaum in Betracht, welchen Werth das Buch für die heutigen Gelehrten besitzt, unter denen wohl nur wenige sein mögen, mit deren Werken man sich nach drei Jahrhunderten beschäftigen wird. Wer aber in der von S. geschilderten Zeit arbeitet, wird auch heute noch nicht ungestraft seine Lectüre vernachlässigen. Denn es ist doch bewundernswerth, welche Fülle authentischer Information dieses unter so schwerer Ungunst entstandene Buch bietet. Und noch erstaunlicher, wie dieser von dem großen Kampfe seiner Zeit im Innersten bewegte und ihn leidenschaftlich mitkämpfende Mann den Pulsschlag seines Herzens so bezwungen hat, daß man es mit kältester Thatsächlichkeit, mit trockenster Actenmäßigkeit meint zu thun zu haben. Er hatte sich einst in den Verhandlungen mit den Häuptern des Schmalkaldischen Bundes dagegen verwahrt, daß man sein Werk als Chronik bezeichne, es sollte Geschichte sein. Uns erscheint es in seiner starren chronologischen Eintheilung, in seiner von einem Actenstücke zum anderen fortschreitenden Steifheit recht sehr als Chronik. Der warme Hauch der Geschichte scheint uns darin fast ganz zu fehlen. War Sleidan’s ursprüngliche Absicht eine andere gewesen? Jedenfalls hatte das Buch zugleich in lateinischer und deutscher Bearbeitung erscheinen sollen. Nun aber erregte es im lateinischen Gewande so gefährlichen Staub, daß S. nicht nur nicht daran dachte, es deutsch herauszugeben (was wir sehr bedauern müssen, da er ein vortreffliches Deutsch schrieb), sondern auch deutsche Uebersetzungen Anderer mit äußerster Anstrengung zu hindern suchte. Auch das gelang ihm nicht, wodurch dann die Sorgen seines allmählich krankhaft gereizten Gemüths noch vermehrt wurden.

Trotz alledem sollte er noch ein Buch vollenden, aus dem viele Geschlechter nicht nur deutscher, sondern auch englischer, holländischer und französischer Protestanten bis zu dem zweiten Könige von Preußen Geschichte gelernt haben. Ranke hat dem im Juni 1556 bei den Gebrüdern Rihel erschienenen Buche [461] „Ueber die vier großen Monarchien“ nachgerühmt, es möge wenig Compendien geringen Umfangs von so gründlicher Arbeit geben. Der protestantischen Welt erschien es anderthalb Jahrhunderte hindurch unübertrefflich. Wie man die Commentare in zahlreichen Bearbeitungen bis auf die Gegenwart fortgeführt hatte, so erschien auch dieses Büchelchen als „Neu vermehrter Sleidanus“ in immer erweiterten Ausgaben, bis es zuletzt als ein Wälzer von 1088 Seiten die Leser bedrückte. Und nicht nur die Protestanten Deutschlands, Englands, Frankreichs und Hollands, sogar die Jesuiten gingen in die Schule Sleidan’s; sie hatten seinem Buche nichts an die Seite zu stellen. – S. hat von diesem unvergleichlichen Erfolge nichts ahnen können. Bereits im August erkrankte er am Fieber; am 31. October 1556 wurde er von einem Leben befreit, dessen letzte Jahre ihm fast nichts gebracht hatten, als Kummer und Sorgen.

Von der unermeßlichen Litteratur über S. kann hier nur das Wichtigste verzeichnet werden. Die „Reden an Kaiser und Reich von Johannes Sleidanus“ hat Ed. Böhmer in der Bibliothek des litterarischen Vereins, Tüb. 1879 mit bibliographischer Vollständigkeit herausgegeben. „Joannis Sleidani de statu religionis et reipublicae Carolo quinto Caesare commentarii“ werden heute nur in der sorgfältigen Ausgabe von Karl am Ende (Frankfurt bei Varrentrapp 1786, 3 Bde.) gelesen. Die ärmlichen Trümmer seiner Correspondenz habe ich in „Sleidans Briefwechsel“, Straßburg 1881 gesammelt und leider in den seitdem verflossenen zehn Jahren nicht ein einziges Stück zu seiner Vervollständigung erhalten. Ueber Sleidan’s Leben verbreitete zuerst die verdienstliche Schrift Theod. Paurs „Joh. Sleidan’s Commentare über die Regierungszeit Carls V.“ helleres Licht, das ich dann in meiner Schrift „Ueber Sleidan’s Leben und Briefwechsel“, Straßburg 1878, zu verstärken suchte.