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ADB:Weizsäcker, Julius

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Artikel „Weizsäcker, Julius“ von Ernst Bernheim in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 41 (1896), S. 637–645, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Weizs%C3%A4cker,_Julius&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 05:24 Uhr UTC)
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Band 41 (1896), S. 637–645 (Quelle).
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Weizsäcker: Julius Ludwig Friedrich W. ist am 13. Februar 1828 zu Oehringen im württembergischen Franken geboren, aus einer seit der Mitte des 17. Jahrhunderts in jener Gegend ansässigen ursprünglich niedersächsischen Familie, in deren zahlreichen Verzweigungen das Gewerbe des Ahnen, des Müllers zu Eckartsweiler, sich weithin forterbte. Mit Vorliebe verfolgte und pflegte unser W. die Familienzusammenhänge und hatte seine besondere Freude daran, wenn er an der Hand des nicht eben häufigen Namens oder sonstwie einen noch unbekannten Vetter aufspüren und als Verwandten identificiren konnte. Seine Erziehung war aber, wie die seines einzigen Bruders, des bekannten Professors der Theologie und Kanzlers an der Universität Tübingen, Karl v. W., vom theologischen Geiste des Vaterhauses bestimmt, in welchem nach dem frühen Tode des Vaters, Stiftspredigers Christian W., die Mutter, Sophie geb. Rößle, mit der sorglichen Tüchtigkeit einer echten deutschen Pfarrersfrau waltete. W. besuchte nächst den Lyceen in Oehringen und Tübingen das niedere theologische Seminar zu Urach und trat 1846 für die Dauer seiner Studienzeit in das „Stift“ zu Tübingen, jenes berühmte evangelische Seminar, durch das so viele bedeutende Gelehrte hindurchgegangen sind. Mit vielseitigem Eifer widmete er sich seiner theologischen und allgemeinen Ausbildung, doch trat unter der Anregung des geistvollen Christian Baur bald das historische Interesse in den Vordergrund. Nach Absolvirung des ersten theologischen [638] Examens im Herbst 1850 unternahm er mit Unterstützung eines Staatsstipendiums eine einjährige Studienreise, die ihn nach Paris, Wien und Berlin führte; an der letztgenannten Universität hörte er Vorlesungen bei Ranke und Wattenbach. Nach der Rückkehr im Frühjahr 1852 wurde er Repetent am niederen theologischen Seminar zu Blaubeuren, 1855 Repetent am Stift zu Tübingen, und hielt hier bereits Vorlesungen an der Universität aus dem Gebiete des Mittelalters und der neuesten Geschichte, sowie Uebungen über mittelalterliche Schriftsteller. Hatte er inzwischen noch gelegentlich als Vicar im praktischen Kirchendienst fungirt, so entschied er sich im Herbst 1859 durch seine Habilitation als Privatdocent der Geschichte in Tübingen endgiltig für die Universitätslaufbahn und die historischen Studien; den erforderlichen Doctorgrad hatte er am 27. August 1856 erworben.

Seine Dissertation und seine Habilitationsschrift behandelten Themata der fränkischen Kirchengeschichte des 9. Jahrhunderts: erstere erörterte unter dem Titel „Hincmar und Pseudo-Isidor“ (erschienen in der Zeitschrift für historische Theologie, 1858. Neue Folge, Bd. 22), die eigenthümliche, anscheinend widerspruchsvolle Haltung jenes Kirchenfürsten zu den damals auftauchenden Fälschungen des Kirchenrechts; die Habilitationsschrift (1859 selbständig erschienen) beleuchtete „den Kampf gegen den Chorepiskopat des fränkischen Reichs im 9. Jahrhundert“. Aus demselben Studienkreise stammen noch zwei bald darauf veröffentlichte Abhandlungen: „Das Dogma von der göttlichen Vorherbestimmung im 9. Jahrhundert“ (erschienen in den Jahrbüchern f. deutsche Theologie 1859, Bd. 4) und „Die pseudoisidorische Frage in ihrem gegenwärtigen Stande“ (in Sybel’s Historischer Zeitschrift 1860, Bd. 3). Jede dieser Abhandlungen ist in ihrer Art mustergültig: auf einem äußerst schwierigen Gebiet, das verworren dalag infolge mangelhafter Sichtung des Quellenmaterials, Complicirtheit der einschlagenden kirchenrechtlichen und dogmatischen Probleme, Zweideutigkeit der Motive, gelingt es W., völlige Klarheit zu gewinnen; Schritt für Schritt vorsichtig sondirend, dringt er durch alle Wirrnisse bis zur beherrschenden sicheren Höhe, wo sich der freie Einblick in den gesammten historischen Hergang ihm und dem Leser eröffnet. Es ist die ganze Eigenart Weizsäcker’s als Forscher, welche in diesen ersten Schriften hervortritt: im kleinsten Punkt die größte Kraft, und mit solcher Kraft vorwärts vom Kleinsten zum Größten, das ist das Grundprincip seines Forschens, das ihn so einzig zu jener Lebensarbeit befähigte, um derenwillen er bald aus den bisherigen Kreisen des Studiums herausgerissen wurde.

Drei ganz verschiedene Wege eröffneten sich um diese Zeit, da er in den Beginn der 30er Jahre getreten war, vor ihm, gleich als ob ihm ausdrücklich die Wahl gestellt werden sollte, welcher Richtung seines vielseitig begabten Geistes er folgen möchte. Von dem württembergischen Ministerium erhielt er den Antrag, in die Redaction des „Staatsanzeigers“ einzutreten, er lehnte denselben ab; im Sommer 1860 erging von Göttingen die Aufforderung an ihn, dort eine außerordentliche Professur für Kirchen- und Dogmengeschichte zu übernehmen, er lehnte auch diese vielverheißende Aussicht ab, und entschied sich für den Wirkungskreis, in den er kurz vorher eingetreten war. Der langgehegte Plan Ranke’s und Sybel’s, eine Sammlung und Herausgabe der deutschen Reichstagsacten der Vorzeit zu veranstalten, vollständiger und mit gründlicherer Kritik als die alten „Sammlungen der Reichsabschiede“, war durch König Maximilian von Baiern auf eine sichere finanzielle Grundlage gestellt und 1858 der neubegründeten Commission für deutsche Geschichts und Quellenforschung bei der kgl. Akademie der Wissenschaften zu München als eine ihrer Aufgaben zugewiesen worden. Heinrich v. Sybel erhielt die Oberleitung. Georg Voigt, [639] den man mit den Vorarbeiten betraut hatte, war durch seine Berufung nach Rostock dem Unternehmen bald entzogen, und nun wurde statt seiner auf Sybel’s Vorschlag W. dafür gewonnen (s. die ausführliche Vorgeschichte des Unternehmens in Bd. 1 der Reichstagsakten S. XLIX ff.). Er siedelte am 1. April 1860 nach München über, indem er dort zugleich als Privatdocent der Geschichte an der Universität recipirt wurde. Mit der ganzen frischen Kraft seines Wesens ergriff er die ungeheure Arbeit, deren Schwierigkeit und Tragweite sich eigentlich erst unter seinen Händen ganz ergab. Er begnügte sich nicht, das einigermaßen zu Tage liegende Material einiger Hauptarchive und Druckwerke an Actensammlungen, Copialbüchern u. dergl. heranzuziehen, sondern organisirte eine systematische Durchforschung der Litteratur und Archive, die irgend in Betracht kommen zu können schienen. Ueber 70 Archive wurden zunächst allmählich durchsucht, später noch immer weitere. W. besaß eine besondere Findigkeit im Aufspüren verborgener Quellenschätze, und es war seine größte Freude, eine neue wichtige Fundgrube entdeckt zu haben; er behandelte das als ein tiefes Redactionsgeheimniß, und man durfte es als ein Zeichen höchsten Vertrauens betrachten, wenn er mit Einem auch nur andeutungsweise davon sprach. Anfangs war die Ausbeute von 1356 bis zu Kaiser Maximilian auf höchstens zwei Quartbände veranschlagt, doch blieb dieser Voranschlag bald gänzlich hinter der unerwarteten Fülle des zusammengebrachten Stoffes zurück. Dies war z. Th. bewirkt durch eine Erweiterung und Vertiefung der Aufgabe, die bereits Voigt nach den ersten Vorarbeiten ins Auge gefaßt und in seinem Berichte vom Herbst 1859 (abgedruckt in Sybel’s Hist. Zeitschrift 1859, Heft 4, Beilagen S. 31 ff.) empfohlen hatte. Voigt hatte eingesehen, daß die nackte Zusammenstellung der eigentlichen Reichstagsschlüsse und -verhandlungen, namentlich in den Zeiten dürftiger Aufzeichnung derselben am Anfange der Epoche, ungenügend für die Zwecke historischer Erkenntniß bleiben müßte, wenn man nicht die daneben hergehenden Versammlungen der Kurfürsten, Fürsten und Städte, die Instructionen und Berichte der Gesandten und dergleichen berücksichtigte, wenn man nicht die Bedeutung der Reichtagsverhandlungen durch die politischen Zusammenhänge im allgemeinen und einzelnen illustrirte; auch wollte Voigt durch orientirende Einleitungen, kritische Sichtung des Materials, Fingerzeige geschichtlicher und sprachlicher Natur die Benutzung der Acten erleichtert wissen. Diese Gesichtspunkte, die so echt historisch waren, hielt W. durchaus fest (vgl. die Vorrede zu Bd. 1 der RTA., S. LIX). Dem inneren historischen Zusammenhang zu Liebe griff er wol auch statt des ursprünglich geplanten Ausgangspunktes, des Jahres 1356, auf den Beginn der Regierung Wenzel’s zurück. Das Werk ist so viel mehr geworden, als man erwartet hatte: nämlich die urkundlich gesicherte Grundlage der ganzen Reichsgeschichte jener Zeit, die bis dahin selbst in den Hauptzügen dunkel und verworren war. Noch in einer andern Hinsicht sollte die Edition eine bedeutende Tragweite gewinnen, und zwar durch Weizsäcker’s eigenste Initiative. Es waren bis dahin allgemeine Grundsätze historischer Edition nur auf dem Gebiete der lateinischen Quellen des Mittelalters ausgebildet worden, doch fehlte es an solchen durchaus für das Gebiet deutscher Acten und Urkunden. W. hat da nun mit der größten Umsicht Regeln herausgearbeitet, nach denen er von Anfang an einheitlich verfuhr und seine Mitarbeiter verfahren ließ, jene Regeln, die er in der Vorrede zum 1. Bande, S. LX–LXXXIV ausführlich entwickelt hat und die wegen ihrer praktischen, sachgemäßen Art die Richtschnur für alle ähnlichen Editionen geworden sind. Zudem war es sein Ehrgeiz, den Text so zu gestalten, daß er auch den wissenschaftlichen Zwecken der Philologen genügen möchte, und er erstrebte das durch die peinlich sorgfältigste Behandlung der sprachlichen Eigenheiten jedes einzelnen Stückes. Welche Noth und Mühe [640] machte er sich um die vielfach so zweifelhafte Vocalisation, wie manches Mal wurde ein Stück wegen eines einzigen verfänglichen Zeichens über dem u von neuem collationirt, der Intention des Schreibers nachgespürt! Diese Genauigkeit, die z. Th. über die nächstliegenden historischen Zwecke hinausging, ist W. allerdings wenig gedankt worden, am wenigsten von denen, um derenwillen er sich dazu verpflichtet hielt; denn die Germanisten haben es bisher durchweg versäumt, dieses reiche Quellenmaterial zur Erkenntniß der deutschen Prosa jener Zeit auszubeuten. In besonders praktischer Weise ward von Anfang an dafür gesorgt, daß man sich über den Stand der Arbeiten hinsichtlich jedes einzelnen Stückes jederzeit sofort orientiren könnte: ein alphabetisches Zettelverzeichniß über das handschriftliche Material und ein solches über die gedruckte Litteratur dienten dazu, außerdem wurden alle Acten und Quellendaten in einem chronologischen Zettelrepertorium regestirt, das allmählich zu ca. 30 000 Blättern angewachsen ist; alle diese Zettel wurden in handlichen leicht aufzuklappenden Pappkästen in Octavformat aufbewahrt und konnten leicht auf die Reisen mitgenommen werden; die Acten wurden entsprechend in Quartkästen geführt. Aus der geschilderten Anlage und Art des Werkes begreift sich, daß es nicht rasch fortschreiten konnte, und man darf sich vielmehr wundern, daß bereits 1868 der erste Band erschienen ist.

Inzwischen hatte sich das Leben Weizsäcker’s in mehrfacher Hinsicht umgestaltet. Es fiel in diesen Zeitraum das höchste Glück und das tiefste Unglück seines Lebens: die Vermählung mit einer ausgezeichneten Frau, Agnes Rindfleisch, im Herbst 1860, und ihr Tod nach nur fünfjähriger Ehe. Eine Tochter und zwei Söhne ließ sie dem Gatten als ein Vermächtniß zurück, das er treulich hütete, in seltener Weise unterstützt von einer befreundeten Dame, die Haushalt und Erziehung der Kinder bis zuletzt leitete. W. hat den Verlust innerlich nie ganz verwunden, wenn auch seine Schaffenskraft und die mittheilsame Frische seines Wesens anscheinend nicht darunter litten. Der schwere Schlag traf ihn in Erlangen, wohin er im Frühling 1863 als ordentlicher Professor berufen worden war und wo er namentlich Vorlesungen über die Geschichte des Alterthums zu halten hatte. Der Herbst 1867 führte ihn als Ordinarius in sein Heimathland, nach Tübingen zurück. Hier bewegten sich seine Vorlesungen wesentlich auf dem Gebiete der Neuzeit, und er scheute sich nicht, die edle politische Erregung, die ihn in dieser Wendezeit unserer deutschen Geschichte erfüllte, im Hörsaal manchmal durchklingen zu lassen, freimüthig doch maßvoll, wie es seinem Charakter auch als Politiker entsprach. Er stand auf der Seite derjenigen, die in der Zusammenfassung Deutschlands unter preußischer Hegemonie das einzige Heil unseres Vaterlandes erblickten und betheiligte sich lebhaft in Versammlungen und in der Presse an der Agitation für diese Ansicht. Während des Krieges verfaßte er auch im Namen Gleichgesinnter eine Denkschrift, welche die Annexion von Elsaß-Lothringen, und zwar in ihrer entschiedensten Form, der Einverleibung in den preußischen Staat, befürwortete und deren sachkundiger, durchschlagender Gedankengang in maßgebenden Kreisen nicht ohne Wirkung gewesen ist. W. kannte die elsässischen Verhältnisse eingehend durch wiederholten längeren Aufenthalt in Straßburg, dieser fast unerschöpflichen Fundgrube für die Reichstagsacten, und er hatte gut freundschaftliche Beziehungen zu den dem Deutschthum noch am wenigsten verlorenen Kreisen der protestantischen Altelsässer gewonnen. Es war daher einer der glücklichsten Griffe des ersten Organisators der neuen deutschen Universität in Straßburg, des Freiherrn v. Roggenbach, Weizsäcker’s Berufung dorthin zu empfehlen: kaum Einer konnte so geeignet für eine Professur dort sein, wie W. wegen seiner eben erwähnten persönlichen Beziehungen, wegen seiner Vorliebe für das Land und dessen historische Schätze, [641] wegen seines tiefen Interesses am Emporblühen Straßburgs als erneuter Vorhut deutscher Bildung und wegen der Energie, die er einsetzte, um auf dem ihm zustehenden Gebiete nachdrücklich dafür zu wirken. Im Frühjahr 1872 siedelte W. nach Straßburg über.

Wer jene ersten Semester der neuen Wilhelms-Universität miterlebt hat, diese frische Begeisterung der Arbeit gewissermaßen zu Ehren des Vaterlandes, dieses Gefühl der Verantwortlichkeit, das Docenten und Studenten vom ersten bis zum letzten erfüllte, der wird immer daran zurückdenken als an ein besonderes Glück seines Lebens. Und namentlich war es eine Freude, hier gemeinsam mit einem Lehrer wie W. zu arbeiten. Es lag bei der Eröffnung der Universität noch alles im Ungewissen. Der Verfasser dieses Artikels, der sich als erster zur Theilnahme an Weizsäcker’s historischen Uebungen meldete, wurde von diesem aufgefordert, mit ihm die künftige Stätte der Studien, das alte Schloß am Domplatz, anzusehen. Auf dem Schloßplatz, der noch voll von Trümmern lag, trafen wir den Freiherrn v. Roggenbach, und dieser führte uns zu den für die historischen Fächer bestimmten Hörräumen. Als wir die Thür des zukünftigen Seminars öffneten, stießen wir auf mehrere Frauen, die sich mit größtem Eifer der Reinigung des Zimmers befleißigten. „Ob die Universität überhaupt schon zu Stande kommt, weiß ich nicht“, bemerkte W., „aber wenn Sie auch der einzige Theilnehmer bleiben sollten, ich werde mit Ihnen Seminar halten“. Und in diesem Geiste handelte W. Die bekanntlich bei der Belagerung verbrannte Landesbibliothek – W. hatte s. Z. vergeblich die Rettung der handschriftlichen Vorräthe derselben zu veranlassen gesucht – stand noch in den ersten Anfängen ihrer Wiederherstellung, und es fehlte daher an den nothwendigsten Studienmitteln, als das historische Seminar mit seinen acht Mitgliedern, die sich überraschender Weise zusammengefunden hatten, an die Arbeit gehen sollte. W. wußte sich und uns zu helfen. Er entwarf eine Reihe von Forschungsaufgaben, zu denen die erforderlichen Bücher in seiner Privatbibliothek vorhanden waren, und stellte letztere ein für alle mal den Seminarmitgliedern zur Verfügung, so daß sie zu jeder Tageszeit ohne weiteres an dem bereitgestellten Tische in Weizsäcker’s eigenem Arbeitszimmer Platz nehmen und studiren konnten. Zugleich erwirkte er aber als Ersatz und zur Ergänzung für die voraussichtlich noch lange nicht einigermaßen vollständige öffentliche Bibliothek gemeinsam mit dem Collegen Baumgarten einen Fonds zur Anschaffung einer gesonderten Seminarbibliothek, und erlangte einen geeigneten Raum im Universitätsgebäude, worin die Bücher aufgestellt wurden und welcher zugleich als Arbeitszimmer den Studenten jederzeit zugänglich war, entsprechend, wie er in der betr. Eingabe an die Regierung sagte, einem naturwissenschaftlichen Laboratorium. Er wurde damit der Schöpfer einer ungemein praktischen Einrichtung, die er hernach auch in Göttingen eingeleitet, in Berlin durchgeführt hat, und die allmählich an den meisten Universitäten in ähnlicher Weise nachgebildet worden ist. Den Schwerpunkt seiner Vorlesungen und Uebungen verlegte W. hier in Straßburg neben Baumgarten, der die neuere und neueste Geschichte vertrat, vorwiegend auf das Gebiet des Mittelalters; auch für die Ausbildung der Studenten in den Hülfswissenschaften der Paläographie, Diplomatik, Chronologie, die er schon in München betrieben hatte, sorgte er. Nachhaltig wirkte er außerhalb seiner Berufsthätigkeit speciell für die Erforschung der mittelalterlich-elsässischen Geschichte, indem er die Herausgabe eines Straßburger Urkundenbuches anregte und mit Unterstützung von Land, Stadt und Regierung so glücklich zu fördern wußte, daß schon 1879 ein erster Band (von Wiegand bearbeitet) erscheinen konnte; drei Bände Urkunden sind seitdem gefolgt, dazu auf Anregung Baumgarten’s noch zwei Bände Briefe und Acten zur politischen Geschichte Straßburgs in den Jahren 1517–1555. [642] Die Edition der Reichstagsacten gedieh inzwischen so weit, daß im J. 1874 der zweite, 1877 der dritte Band der Regierungszeit Wenzel’s herauskam.

Der hervorragende Name, den sich W. als Forscher und Lehrer erworben, führte nach der Uebersiedelung Georg Waitz’ von Göttingen nach Berlin im Frühjahr 1876 zu seiner Berufung an jene gewissermaßen classische Stätte methodischer Geschichtsstudien. Nicht ohne Bedenken ernster Bescheidenheit nahm W. diesen ehrenvollen Ruf an; auch gehörte er zu den Naturen, die sich mit ihrem ganzen Wesen einwurzeln und heimisch fühlen, wo sie einmal die Stätte ihres Wirkens gefunden haben; der Abschied von Straßburg wurde ihm sehr schwer. Und schwer wurde es ihm zuerst in Göttingen sich in die Menschen und Verhältnisse einzuleben. Man kann Göttingen wol die specifisch norddeutscheste Universität nennen; besonders herrschte damals noch ein starker Zug von hannöverschem Sonderbewußtsein vor, und W. war bei seinen erwähnten politischen Anschauungen doch von Herzen und Wesen echt süddeutsch im besten Sinne des Wortes. Ihm fehlte der vertraute Ton der Heimath und er fühlte, daß man seine unbefangene Art sich zu geben oft mißverstand und nicht sympathisch begrüßte. Erst allmählich fand er sich und wurde gefunden. Eine reiche, befriedigende Lehrthätigkeit eröffnete sich ihm auch hier; in Waitz’ Fußstapfen tretend erweiterte er das ohnedies ungewöhnlich umfangreiche Gebiet seiner Vorlesungen noch durch französische, deutsche, allgemeine Verfassungsgeschichte; der Besuch der Uebungen stand dem, wie er zu Waitz’ Zeit war, kaum nach, und obwol wegen der allmählich sich geltend machenden Ueberfüllung der akademischen Carriere die Zahl derer, die sich rein wissenschaftlich ausbilden wollten, stark abnahm, ging doch immer eine Reihe tüchtiger Arbeiten aus dem Seminar hervor.

Als K. W. Nitzsch dahingeschieden war, galt W. als dessen würdigster Nachfolger auf dem Lehrstuhl in Berlin, und er folgte dem Rufe dorthin im Herbste 1881. Wie völlig er auch dort in jeder Beziehung seine Stellung ausfüllte, wie sehr sein Wirkungskreis sich vergrößerte, doch darf man es vielleicht als eine für ihn nicht glückliche Fügung betrachten, daß er an diese große Universität versetzt wurde. Bei der peinlichen Gewissenhaftigkeit, mit der er nicht nur die Studien seiner Schüler leitete und ihre Arbeiten controllirte, sondern auch die mehr geschäftlichen Obliegenheiten erfüllte, litt er dauernd unter einer Ueberbürdung, die selbst für seine eiserne Constitution und Arbeitskraft zu groß werden mußte. Dabei quälte es ihn mehr und mehr, daß er nicht die Zeit gewann, ein darstellendes Werk, das er beabsichtigte und zu dem er so geeignet war wie nur Einer, die Geschichte König Ruprecht’s, über die Vorarbeiten hinauszubringen. Denn auch der Edition der Reichstagsacten widmete er sich nach wie vor mit ganzer Hingabe und der ihm eigenen Gewissenhaftigkeit. Er hatte sich aus dem Kreise seiner Schüler allmählich eine Reihe bestgeschulter Mitarbeiter gewonnen – ich nenne als die längest und meist betheiligten Kluckhohn, Menzel, Schäffler, Kerler, Ebrard, Quidde, Friedensburg und darf auch mich als Mitarbeiter an den drei Ruprecht-Bänden nennen –, welche ihm mit eben solcher unbedingten Hingabe an das Werk zur Seite standen, wie sie ihn selbst beseelte. Mancher hätte solchen Gehülfen alle wesentliche Arbeit überlassen und mit gutem Gewissen überlassen dürfen, aber W. behielt sich selber stets sein redliches Theil eigenster Arbeit vor und hielt es zudem nie anders, als daß jedes Stück, jede Erläuterung und Note vor der endgültigen Feststellung des Textes durch seine Hand gehen mußte, ja während der Drucklegung las er selbst eine Correctur jedes Bogens mit dem genauesten Eingehen auf den einzelnen Buchstaben. Sogar als er sich mit großer Ueberwindung entschlossen hatte, zur schnelleren Förderung des Werkes dem bewährten trefflichen Freunde Kerler die Edition der Sigmund-Acten selbständig zu übertragen, behielt er sich wenigstens die Revision [643] bei Feststellung des Manuscriptes und Druckes vor. Dabei war er aber fern von unfreier Bevormundung seiner Mitarbeiter: auf jede Ansicht, jeden Vorschlag derselben im großen und kleinen ging er mit unbefangenster Bereitwilligkeit ein und freute sich anerkennend jeder so gewonnenen Verbesserung. Der erste Band der Regierung Sigmund’s erschien 1878, der zweite und der dritte 1883 bezw. 1887; inzwischen waren die Acten unter König Ruprecht in drei starken Bänden, 1882, 1885, 1888 vollendet worden, weit hinausgehend über die ursprünglich in Aussicht genommene Zusammenfassung in einem Bande, namentlich weil die italienische Politik nebst dem Verhältniß zur Curie, sowie die Gegenbewegungen der Luxemburger und der deutschen Fürsten eingehend berücksichtigt waren. Heinrich v. Sybel blieb nominell immer Oberleiter des Unternehmens und wurde als solcher von W. mit größter Regelmäßigkeit in der Vorrede jedes Bandes aufgeführt, doch hat er seit 1862 thatsächlich durchaus keinen Antheil an den Arbeiten genommen. Von den eindringenden Vor- und Nebenuntersuchungen hat W. nur wenig zu eigenen Publicationen verwerthet. Ich führe sie hier an: Der Straßburger Faszikel von 1431, ein Beitrag zur Geschichte der Reichstagsverhandlungen in der Hussitenzeit (in den Forschungen z. deutschen Geschichte 1875, Bd. 15); Der rheinische Bund von 1254 (selbständig erschienen 1879), nebst einem Nachtrag betitelt: Zum rheinischen Bund von 1254 (in der Archivalischen Zeitschrift 1879, Bd. 4); Geschichtliche Entwicklung der Idee einer allgemeinen Reichssteuer in Deutschlands Vergangenheit (akademische Festrede am Geburtstage des Kaisers und Königs den 22. März 1882 in Berlin); Der Pfalzgraf als Richter über den König (in den Abhandlungen der kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 1886, Bd. 33); Zu den Verträgen Karls IV. mit den Wittelsbachern zu Eltville im Jahre 1349 (eine kleine Notiz in den Mittheilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 1887, Bd. 8); Die Urkunden der Approbation König Ruprechts (in den Abhandlungen der kgl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1888); Rense als Wahlort (ebenda 1890); Der Versuch eines Nationalkonzils in Speier den 11. November 1524 (in Sybel’s Hist. Zeitschrift 1890, N. F. Bd. 28); Zur Absetzung König Wenzel’s (in der Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1890, Bd. 3, Heft 1); Die Vorgeschichte der Thronrevolution von 1400 in officiöser Darstellung (ebenda 1892, Bd. 7, Heft 1); die letzten vier Aufsätze sind aus dem Nachlasse veröffentlicht. Im Verhältniß zu Weizsäcker’s umfangreichen Studien sind dies in der That wenige selbständige Productionen, er steckte eben lieber alles in die Einleitungen und Noten der Reichstagsacten, des Werkes, dem er sein Lebensinteresse widmete, man kann fast sagen: opferte. Nach Erledigung der laufenden Tagesarbeiten saß er meist bis tief in die Nacht, vielmehr bis in die Morgenstunden über der Bearbeitung der Acten und er gönnte sich jahraus jahrein kaum auf Zureden der Seinen dann und wann eine freie Stunde, eine meist allzu knapp bemessene Ferienerholung. Die langjährige Ueberanstrengung mußte allmählich selbst einen so urkräftigen Organismus wie den seinigen zerrütten. Es machten sich zunehmend die Spuren eines Leidens geltend – wie sich später herausstellte, einer chronischen Nierenerkrankung –, das nach vorübergehender Besserung während eines wiederholten Curaufenthaltes in Kissingen am 3. September 1889 zu seinem Tode führte.

Wer W. lediglich als den Forscher und Herausgeber der Reichstagsacten kennt, hat nur eine sehr unvollständige Vorstellung von seiner Persönlichkeit und deren Bedeutung. Er war zunächst auch ein hervorragender Lehrer. Sein Verdienst um die Organisation der historischen Seminare habe ich bereits erwähnt; auf diesem fruchtbarsten Felde des akademischen Unterrichtes wirkte er am intensivsten. Er hatte das Talent, die eingelieferten Arbeiten der Schüler so zu [644] kritisiren, daß der ganze Kreis mit Nutzen folgen konnte; noch lehrreicher und anziehender war es, wenn er einzelne Probleme, zuweilen auf Grund von Referaten, gemeinsam untersuchen ließ, immer bestrebt, durch Vorlegen des Quellenmaterials, wenn nicht anders, in autographischer Vervielfältigung, jedem Hörer die unmittelbare Theilnahme zu ermöglichen. Zudem widmete er sich auch dem Einzelnen bei seinen Arbeiten privatim mit nie ermüdender Geduld. Eine beträchtliche Zahl vortrefflicher Untersuchungen ist daher aus seinen Seminaren hervorgegangen und viele von seinen Schülern erwuchsen ihm zu Mitarbeitern, zu Freunden. Gänzlich fern lag es ihm dabei, seine Art den Schülern aufzuprägen und irgend etwas wie eine Clique zu bilden, denn als rechter Lehrer von Herzen und Beruf hatte er stets die humanste Achtung vor der Individualität eines Jeden. Die frische Unmittelbarkeit seines Wesens sprach sich auch in seinen Vorlesungen aus. W. war von Hause aus ein geborener Redner, nicht ein Schönredner: alles Phrasenhafte, Pathetische war ihm unsympathisch, klar und concret, zuweilen fast nüchtern, erfaßte und schilderte er Personen und Verhältnisse, oft mit drastischer Anschaulichkeit und mit dem kernigen Humor, der ihm eigen war, in lebhaftem, frei quellendem Vortrag. Vollauf besaß er die Gabe harmonisch abgerundeter, populär gefälliger Darstellung, und er bewährte sie auch in mancherlei Einzelvorträgen, die er gern im kleinen Kreise clubartiger Abendgesellschaften oder in größeren Vereinen an den verschiedenen Stätten seines Wirkens hielt; leider hat er von diesen handschriftlich z. Th. noch vorliegenden Leistungen, obwol sie auf sorgfältigster wissenschaftlicher Vorbereitung beruhten, nichts veröffentlicht außer der vorhin angeführten Festrede in Berlin, die er von Amtswegen drucken zu lassen hatte *). Man muß diese Seite seines Talentes hervorheben, weil manche, die ein oder das andere Colleg Weizsäcker’s besonders in seiner späteren Zeit gehört haben, wol die Meinung gewinnen konnten, es fehle ihm daran: er liebte es aber nur, und zwar je länger je mehr, die fortgehende Erzählung durch kritische Erörterung der einzelnen Punkte zu unterbrechen oder z. Th. zu ersetzen. In den Jahren seines politischen Auftretens stand ihm schriftlich wie mündlich die gedrungene Kraft eines volksthümlich wirksamen Ausdruckes zu Gebote. Unvergeßlich z. B. ist allen, die zugegen waren, die hinreißende Rede, welche er im Juli 1870 vor einer Volksversammlung in Tübingen hielt, um eine Resolution zu Gunsten des Beitrittes Württembergs zum Kriege zu empfehlen. Und wer seine improvisirten Toaste bei akademischen Festlichkeiten gehört hat, wird nicht leicht einen Redner kennen gelernt haben, der mit so unmittelbar zündendem Humor die Menge zu stürmischem Jubel hinzureißen wußte, und zwar nie in banalem Geiste, vielmehr so, daß er, unvermerkt zum Ernst übergehend, die Hörer stets auf eine ideale Höhe führte, wo sich der lachende Jubel zu edelster Begeisterung verklärte. Nicht selten widerfuhr es W. freilich bei solchen Gelegenheiten infolge seiner völligen Unkenntniß der Dinge hinter den Coulissen, daß er ganz ahnungslos irgend eine Wendung gebrauchte, welche Eingeweihten als eine boshafte Anspielung auf bestimmte delicate Verhältnisse erschien, und dergleichen wurde ihm manchmal von denen, die sich getroffen meinten, sehr verübelt. Aber wer ihn kannte, wußte, was er davon zu halten hatte, und freute sich der lauteren Seele: nie hat einem Menschen etwas ferner gelegen als W. derartige versteckte Bosheit. Freimüthige Offenheit war der Grundzug seines Charakters, er gab sich in seinem Wesen unmittelbar so wie er war, und darin lag ein so eigener Zauber seiner Persönlichkeit namentlich auch für die akademische Jugend. Er hatte [645] Freude daran, seine Schüler gesellig um sich zu sehen und in der behaglich zwanglosen Art, die selbst den Befangensten frei machte, mit ihnen zu verkehren. Ueberall wußte er auch einen Kreis gleichgesinnter Collegen und Freunde um sich zu vereinen oder sich einem solchen anzuschließen, der zu einem frischen Trunk und Wort, gewöhnlich an einem bestimmten Tage der Woche, zusammenkam. An die Münchener Zeit dachte W. in dieser Hinsicht besonders gern zurück, an die froh angeregte Gesellschaft der Gelehrten und Künstler, in der er dort verkehrte. Denn er lebte nach dem Worte, das eigentlich das Motto jedes Historikers sein sollte: „nil humani a me alienum puto“. Auch künstlerische Anlagen, die ihm gegeben waren, hat er nicht versäumt auszubilden. Er zeichnete vortrefflich und nahm manche anmuthige Skizze von den Gegenden und Bauten auf, die er bei seinen Archivreisen zu Gesicht bekam; die romantische Schönheit der abgelegenen alten Reichsstadt Rothenburg an der Tauber hat er gewissermaßen zuerst entdeckt und bekannt gemacht. Nicht minder stand ihm der poetische Ausdruck zu Gebote, und einige, die seiner Jugend nahe standen, wissen von formvollendeten Gedichten, die er verfaßt; aber er hat nichts davon an die Oeffentlichkeit gelangen lassen. Kein Zweifel, daß das Ideal seiner Individualität war, sich in der Geschichtsdarstellung großen Stils schöpferisch zu bethätigen. Sich so ganz auszuleben war ihm nicht vergönnt: er beschränkte seine reiche vielseitige Natur in die Grenzen der von ihm erwählten strengen Lebensaufgabe. Und so ist Weizsäcker’s Gedächtniß denkwürdig nicht nur wegen seiner wissenschaftlichen Leistungen sondern auch wegen seines Charakters, der in seiner aufopfernden Pflichttreue und Lauterkeit als ein Vorbild jedes Gelehrten und jedes Mannes gelten darf.

August Kluckhohn, Erinnerungen an Julius W., in den Beilagen zur Allgemeinen Zeitung 1890, Nr. 121, 126, 128. – L. Quidde, Julius W., in der Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1889, Band 2, Heft 2. – H. v. Sybel, Julius W., in der Historischen Zeitschrift 1890, N. F. Bd. 28. – L. Weiland, Julius W., in den Abhandlungen der kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 1889/90, Bd. 36. – (G. Egelhaaf,) Professor Dr. Julius W., im Abendblatt des Schwäbischen Merkur 1889, Nr. 216. – (T. Klett,) Julius W., in der Sonntagsbeilage der Schwäb. Kronik 1889, Nr. 267. – Aufzeichnungen und Familienpapiere durch den ältesten Sohn Weizsäcker’s, Amtsrichter Hugo Weizsäcker in Oranienburg. – Eigene Erinnerungen.

[644] *) Wie umfassend der Gesichtskreis Weizsäcker’s war, zeigen auch die Artikel von ihm in der Realencyklopädie für protest. Theologie und Kirche von Band 7 (1880) an, s. das Verzeichniß daselbst in Bd. 18, S. 747.