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ADB:Hinkmar

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Artikel „Hinkmar, Erzbischof von Reims“ von Johannes Heller in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 12 (1880), S. 438–456, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Hinkmar&oldid=- (Version vom 18. Dezember 2024, 02:00 Uhr UTC)
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Hinkmar, Erzbischof von Reims von 845–882, von edler fränkischer Abkunft, wurde als Knabe dem Kloster St. Denis bei Paris und den dort lebenden Kanonikern zur Erziehung übergeben. Er selbst nennt den Abt Hilduin, der seit 814 etwa dem Kloster vorstand, als seinen vorzüglichsten Lehrer. Nach Empfang der kirchlichen Weihen kam er, vielleicht in Begleitung Hilduins, der vom Mai 819 ab als Erzkapellan Kaiser Ludwigs fungirte, an den königlichen Hof, um nach der Sitte der Zeit mit andern Jünglingen seine Einführung in die Staatsgeschäfte zu erhalten. Als in den Jahren 829 bis 832, in Folge von Hilduins eigenen Bestrebungen, St. Denis wieder die Mönchsregel des heil. Benedikt annehmen mußte, kehrte er zurück und legte auch seinerseits das strengere Gelübde ab, ohne aber, soviel wir wissen, bei der Reform eine maßgebende Stellung eingenommen oder sie gar auf Befehl des Kaisers ins Werk gesetzt zu haben. Das erste ist eine Behauptung Flodoards, die aus einem Mißverständniß oder einer absichtlichen Ausschmückung von Hinkmars [439] eigenen Worten entstanden ist. Die Beschäftigung Hinkmars mit den kirchlichen Disciplinen, der er sich während seines Aufenthaltes im Kloster ganz hingab – er wird als Hüter der heiligen Reliquien genannt – scheint 831 unterbrochen zu sein, als Hilduin in die Verschwörung Lothars verwickelt und in das sächsische Corvey verbannt wurde; wenigstens soll er nach der Angabe Flodoards seinem Abte dorthin gefolgt sein und durch seine Intervention die noch in demselben Jahre erfolgende Rückkehr Hilduins veranlaßt haben. Derselbe Geschichtschreiber versichert auch, daß bei der Empörung des J. 833 Hilduin seinen jugendlichen Freund vergeblich zur Theilnahme zu verleiten versucht habe: ein nachweislicher Irrthum, da Hilduin selbst jenem Aufstande fern blieb. Dagegen ist das richtig, daß H. sich unverbrüchlich zur Partei des alten Kaisers hielt und wol nicht ohne Einfluß bei ihm war. Acht Jahre, erzählt er selbst, habe er Ludwig als Vertrauensperson nahe gestanden und sei zum zweiten Male längere Zeit an den Hof gekommen und zwar zum persönlichen Dienst bei dem Kaiser, der ihn auch für staatliche und kirchliche Geschäfte verwandt habe. In der That finden wir ihn im J. 835 auf dem unten näher zu erwähnenden Diedenhofener Concil anwesend. Nach dem Tode des Monarchen (840) taucht er bald wieder auf dem politischen Schauplatze auf: Geburt, Sprache und persönliche Beziehungen wiesen ihn darauf hin, unter den neu gebildeten Reichen sich dem westfränkischen anzuschließen. Bereits im April 844 hat er sich den Dank Karls des Kahlen soweit verdient, daß dieser ihn durch eine Vergabung auszeichnete; im December desselben Jahres wohnte er der ersten größeren westfränkischen Synode zu Verneuil bei, die von entscheidender Bedeutung für die Consolidation des neuen Reiches und für Hinkmar’s eigenes Leben wurde.

Der ganze Bestand Westfranciens hing in diesem Augenblick doch wesentlich von den Entschlüssen ab, welche der Klerus fassen würde. Auf der langen Linie im Süden und Westen, durch die Einfälle der Normannen und durch die Empörungen der Vassallen in der Bretagne und in Aquitanien hatte Karl schwere Niederlagen erlitten: wenn jetzt auch noch von Innen sich ernste Gefahren erhoben und andere von Osten heraufzogen, so schien das junge Reich sie unmöglich ertragen zu können. Und solche Gefahren drohten nun in der That von der treulosen, aber geschickten Politik Kaiser Lothars. Da das Kaiserthum, wie er es übernommen, jeden weltlichen Einfluß auf die Angelegenheiten der fränkischen Theilreiche verloren hatte, so sollte ihm wenigstens ein kirchlicher Einfluß und damit die Möglichkeit gewahrt bleiben, sich trotzdem zu gelegener Zeit in die inneren Angelegenheiten der Nachbarstaaten einzumischen; gelang ihm das, so sah gerade Westfranken mit seinen unfertigen Zuständen einer unheilvollen Zukunft entgegen. Zwei Mittel hatte Lothar, durch die er sein Ziel erreichen wollte: den apostolischen Vicariat über alle Länder diesseit der Alpen, welchen der päpstliche Stuhl auf sein Andringen dem Drogo von Metz übertragen hatte, und die Besetzung der angesehensten westfränkischen Bisthümer mit lotharischen Parteigängern. Beides aber wandte damals die Geistlichkeit in Verneuil ab. Die Mehrzahl der Bischöfe war doch nicht gemeint, die sonst allerdings sehr wünschenswerthe Einheit der Kirche um den Preis der Unterwerfung unter einen Ihresgleichen, auf Kosten der eigenen Selbständigkeit, durchsetzen zu lassen. Auch die Unruhen und kriegerischen Verwicklungen, die aus einer Begünstigung des Lothringers folgen mußten, stellte man sich vor; das Land bedurfte dringend der Ruhe; so begegneten sich ihre friedlichen Intentionen mit denjenigen Karls des Kahlen. Die Folge davon war, daß man die Anerkennung des Drogo’schen Vicariats auf eine spätere Zeit vertagte, dagegen die schleunige Besetzung des vacanten Reimser Erzbisthums dem König anempfahl. Der Reimser Stuhl war seit der Diedenhofener Synode vom J. 835 verwaist. [440] Diese, von 43 Bischöfen besucht, hatte auf eine Klage Kaiser Ludwigs in regelrechtem Verfahren die Absetzung Ebo’s ausgesprochen, weil er in landesverrätherischer Weise an der Rebellion Lothars Theil genommen hatte. Eine Neubesetzung war dann, solange Ludwig lebte, unterblieben; aber sofort nach seinem Tode hatte Lothar, ungeachtet dessen daß Reims zum Reiche seines Bruders gehörte, seinen Günstling Ebo durch ein Edikt restituirt, das 20 Bischöfe unterfertigen mußten. Die jetzige Aufforderung der Prälaten, die zugleich das Erkenntniß involvirte, daß auch nach der Ueberzeugung der großen Mehrheit des Episcopats die erste Absetzung Ebo’s gerechtfertigt und die Wiedereinsetzung ungiltig gewesen sei, war daher ganz nach dem Sinne des Königs. Denn das hatte er keinen Augenblick ernstlich in Erwägung gezogen, Ebo, den alten Gegner seines Vaters, der im Bunde mit seinem feindlichen Bruder ihn selbst einst zum Mönch hatte machen wollen, im Besitze der wichtigsten Metropole seines Landes, welcher 10 Suffraganbisthümer unterstanden, zu belassen. Schon am 18. April 845 ward auf der Synode von Beauvais zur Wahl geschritten, aus welcher H. als der vom König und den versammelten Suffraganen mit Zustimmung des Reimser Volks Erkorene hervorging. Karl zeigte offen, daß ihm mit dieser Besetzung ein Herzenswunsch erfüllt war. Während sonst nur der Neugewählte einseitig dem Könige den Treueid leistete, garantirte jetzt auch der König dem Erzbischof durch Handschlag Schutz gegen jedwede Unbill. Die Dienste des Clerus aber versprach der Monarch dadurch zu erwiedern, daß er außer der Reimser auch der gesammten westfränkischen Kirche eine allgemeine Restitution der abhanden gekommenen Kirchengüter in Aussicht stellte. Das war der Preis für die Abweisung Lothars, den die Bischöfe schon 844 in Diedenhofen vorgezeichnet und jetzt in Beauvais wiederholt hatten.

So war H. glücklich Erzbischof geworden und des königlichen Schutzes sicher, aber seine Lage blieb eine höchst gefährdete. Er war im Gegensatz zu Lothar erhoben worden; die Folgen dieses Gegensatzes machten sich sofort in empfindlicher Weise für ihn geltend. Denn Lothar war doch keineswegs gewillt, das Spiel so leichten Kaufes verloren zu geben. Er erwirkte vom Papste Sergius II. die Anberaumung eines allgemeinen lothringisch-gallischen Concils auf den 19. April 846 in Trier; hier auf lotharischem Gebiete, unter dem Einfluß der kaiserlichen Macht, sollte in Gegenwart von päpstlichen Legaten Ebo’s Angelegenheit noch einmal untersucht werden. Wie das Ergebniß ausfallen würde, konnte nicht zweifelhaft sein. Aber im letzten Augenblicke reute den Papst sein gegebenes Wort, da er schon früher die Restitution des Verurtheilten verweigert hatte. Seine Legaten erschienen nicht, dafür aber H., der für sich selbst zu wirken verstand. Es war ein ungemeiner Erfolg, den seine Geschicklichkeit davon trug, daß die Synode die Berathung über Ebo auf eine Zusammenkunft nach Paris vertagte. Denn hier, wo vorwiegend westfränkische Prälaten erschienen, im Machtgebiete Karls, war H. in offenbarem Uebergewicht. In bündigem Contumacialverfahren wurde nochmals das Verdikt über Ebo gesprochen und übereinstimmende Berichte des Königs und des Episcopats nach Rom geschickt. Aber diese Berichte hatten doch sehr wenig Wirkung. Der Papst stand ganz im Banne des Kaisers. Wollte H. etwas erreichen – und noch nicht einmal seine Anerkennung hatte die Curie ausgesprochen – so mußte er sich mit Lothar vertragen. Darum näherte er sich theils direct theils durch Vermittelung der Kaiserin Irmingard dem letztern und beide Parteien fanden nun unerwartete schnell die Berührungspunkte und ihre gemeinsamen Interessen heraus.

Die Erwägungen Lothars sind leicht zu durchschauen. Ebo war, da die Curie von ihm nichts wissen wollte, doch nicht zu halten: so mochte der Kaiser nachgeben und ihn fallen lassen. Dafür eröffneten sich ihm ganz neue Perspectiven. [441] Man hat es immer bezweifelt, bis es jetzt durch die Auffindung der betreffenden Briefe außer Frage gestellt ist: H., noch getragen von dem Vertrauen der westfränkischen Geistlichkeit, war bereit dieselben Tendenzen, im Gegensatz zu denen er hoch gekommen war, zu seinen eigenen zu machen! Der junge und begabte Erzbischof glaubte seinem Ehrgeiz am meisten Genüge zu thun, wenn er die Rolle übernahm, die Lothar früher Ebo, dann Drogo zugedacht hatte: den apostolischen Vicariat über die Länder diesseit der Alpen. Daneben schienen freilich auch für seine Kirche die bedeutendsten, für den Augenblick noch unberechenbaren Vortheile daraus folgen zu können, da Aussicht war, daß die Würde, wenn sie erst einmal in Reims war, dort auch in Zukunft bleiben würde: Reims wurde Primatialsitz in Gallien! Gedanken, die H. nicht gerade zuerst gehabt, sondern schon vorgefunden, aber dann doch erst recht gepflegt und lange Zeit hindurch zum Kern seines Denkens und Trachtens gemacht hat. Mit viel Eifer und Energie verfolgte der Kaiser die neuen Pläne. Gleich nachdem der Tod des Papstes Sergius und die Thronbesteigung Leos IV. am lotharischen Hofe bekannt geworden war, also Anfang des J. 847, theilte Lothar der Curie seine vollständige Aussöhnung mit dem Erzbischof mit und bat zugleich um die Verleihung des bisher noch nicht ertheilten Palliums. Schon jetzt deutete er darauf hin, ein wie vortrefflicher und gehorsamer Diener sein neuer Schützling dem Papste sein könnte: auch das persönliche Erscheinen desselben in Rom stellte er in Aussicht. So erhielt H., der seinerseits Boten sandte und auf kaiserlichen Wunsch die schon vorher an Sergius abgegangenen Akten des Pariser Concils jetzt auch für Leo beifügte, das gewünschte Pallium. Ueber den Fortgang der Verhandlungen sind wir nur durch das endliche Resultat unterrichtet. Einige Zeit nachher, jedoch spätestens 851, folgte das zweite Pallium zum täglichen Gebrauche nach, das, von den Päpsten selbst getragen, sonst nur an Legaten und Vicare gegeben wurde. In einem besonderen Schreiben weist der Papst den Erzbischof darauf hin, eine wie hohe Ehre er ihm mit diesen Insignien erweise, die ihn über alle anderen Metropoliten erhöhten. Gegenüber dem Kaiser aber entschuldigte sich Leo, daß er dem Pallium nicht gleich, wie Lothar gebeten, den Vicariat selbst beigefügt habe: der noch lebende Drogo habe ihn einmal erhalten und er könne ihm nicht genommen werden. Das ist der Höhepunkt der Freundschaft zwischen H. und Lothar. Bedenkt man, daß der Kaiser auch das säcularisirte Reimser Kirchengut, soweit es in Lothringen lag, restituirte, so muß man gestehen, daß er die Freundschaft des Erzbischofs theuer erkauft hat. Denn dieser war doch nun nahe am Ziele; seine Metropole war vor den andern ausgezeichnet; er selbst trug den Schmuck des römischen Bischofs; nur noch ein Schritt und er gewann auch bestimmte rechtliche, patriarchalische Oberbefugnisse über die übrigen Erzbischöfe. Was war es nun aber, was H. dafür dem Kaiser zurückgab? Thatsächliches nichts, aber gewiß Aussichten für die Zukunft, die viel verlockendes gehabt haben müssen; Versprechungen, von deren Ehrlichkeit Lothar, nach seinem Eifer zu schließen, überzeugt gewesen zu sein scheint, die aber unzweifelhaft nur auf Kosten Karls des Kahlen realisirt werden konnten. Es wäre heimlicher Verrath gewesen, an diesem, seinem Landesherrn, verübt, wenn H. wirklich schon jetzt der eigentliche Leiter der westfränkischen Politik gewesen wäre, wie man wol, aus den späteren Jahren auf diese früheren schließend, mit Unrecht behauptet hat. Alle Angaben sprechen dafür, daß seine Stellung gerade die entgegengesetzte war. Seitdem Karl die dem Erzbischof persönlich und dem Episcopat ins Gemein gemachten Versprechungen nicht gehalten und sich schon 847 in Epernay, gerade als der Clerus noch einmal auf Erfüllung seiner Forderungen bestand, wieder der antikirchlichen Laienaristokratie in die Arme geworfen hatte, stand H. ihm kühl und [442] abwartend gegenüber. Was sollte ihn denn ermuthigen, sich für Karl in die Bresche zu werfen? Freilich alle seine Antecedentien und persönlichen Bedürfnisse zogen ihn zum westfränkischen Volke hin; aber die Reiche waren doch nicht so endgiltig getheilt, daß es unmöglich schien, daß nicht noch einmal eine Vereinigung, z. B. Galliens und Lothringens, vorgenommen werden konnte. Ueberdies gehörte er durch sein Suffraganbisthum Cambrai auch zu letzterem und empfand die Auseinanderreißung seines Sprengels schmerzlich. Nun stand es aber mit dem westfränkischen Reiche so schlecht wie möglich, jeden Augenblick konnte der Zusammensturz erfolgen, und obenein beherrschten die verhaßten großen Vassallen und ihre Grundsätze den König. Lothar dagegen war offenbar im Vortheil und in der Aggressive, bei der Curie einflußreich, den Bestrebungen des Erzbischofs und seiner Kirche geneigt. H. war fest entschlossen, nur den zu begünstigen, dem die Zukunft gehörte und von dem ein Eingehen auf seine persönlichen Pläne zu erwarten war. Nichts lag ihm sein Leben lang ferner, als sich für diesen oder jenen weltlichen Machthaber aufopfern zu wollen oder auch nur dessen Ideen gelehrig anzunehmen und zu den eigenen zu machen. Höher als der Staat stand ihm die Kirche, deren Leitung ihm oblag. Von dem Selbstgefühl dieser Stellung nahm er den Maßstab für seine Handlungen. Er lobt einmal das Wort des Papstes Gelasius an Kaiser Anastasius: nie solle der Regent Bischöfen gegenüber auf seinem Kopfe bestehen, sondern sich allezeit ihrem Willen beugen. Die Wünsche des eigenen Herzens erkannte er allein als entscheidend an; darnach war die Politik der Könige und Staaten zu formen. Vor einem radicalen und gewaltthätigen Mittel schreckte er nicht zurück, Bedenken und Scrupel kannte er doch nur in sehr beschränktem Maße. Das Gute nahm er, woher es auch kommen mochte, einerlei ob von Freund oder Feind, oder ob es auf Trug und Fälschung sich stützte oder auf altes unbezweifelt echtes Recht. Nichts war ihm lieber, als die Angebote des einen als Pressionsmittel gegenüber dem andern zu gebrauchen und die Noth zur rechten Stunde auszubeuten.

Es scheint doch naturgemäß, dass eine solche Politik mehr Enttäuschungen im Gefolge hat, als irgend eine andere; wenigstens war es bei H. der Fall. Die kaiserliche Partei mußte sehr bald begreifen, dass der Erzbischof nur an sich dachte und im Uebrigen der Entwicklung der Dinge nicht vorzugreifen wünschte. Um ihn aus der Gunst bei Lothar zu verdrängen, brauchte sich nur jemand zu finden, der den Argwohn weckte und wach hielt; dieser Aufgabe unterzog sich die lothringische Geistlichkeit, der die Begünstigung des Westfranken nicht lieb sein konnte, besonders wenn er die Befugnisse eines Primas in Anspruch nahm. Während die ältere Generation wie Hetti von Trier und Amolo von Lyon ihm noch befreundet war, gehören ihre Nachfolger Thoutgaud und Remigius zu seinen erbittertsten Feinden. Sie wurden in ihren Angriffen dadurch begünstigt, dass auch Hinkmars Stellung zum westfränkischen Episcopat keine so ungetrübte blieb wie zu Anfang. Gewiß haben hier seine primatialen Ambitionen und seine politische Haltung mitgewirkt; aber auch dogmatische Streitigkeiten, die in jener Zeit leicht den Charakter von persönlichen Gegensätzen annahmen, kamen hinzu. Diese letzteren dienten dann zuerst dazu, seine vielfachen Widersacher zum gemeinsamen Kampfe gegen ihn zu reizen.

Gottschalk, früher Mönch in Fulda, dann im Kloster Orbais im Sprengel von Soissons, war durch fleißiges Studium zu der Erkenntniß geführt, daß die Kirche zwar eine Uebereinstimmung ihrer Dogmen mit den Grundsätzen Augustins, ihres angesehensten Lehrers, behaupte, aber gerade seine Ansicht von der Prädestination des Menschen zum Guten und Bösen keineswegs in ihre Praxis aufgenommen habe. Darum suchte er, überhaupt unzufrieden mit den kirchlichen Zuständen, ein leidenschaftlicher, unruhiger Geist, die bessere Einsicht, [443] der er sich bewußt war, durch seine Predigt zu verbreiten. Das dauerte solange, bis Raban von Mainz ihn in seiner Provinz verhaften, von einer Synode verurtheilen und nach empfangener Züchtigung dem Reimser Amtsbruder, in dessen Erzdiöcese Orbais lag, zuschicken ließ. H. will sich ohne Erfolg um seine Bekehrung bemüht haben; sicher ist nur, daß er ihn von Neuem, im Frühjahre 849, vor ein Synodalgericht zu Quierzy stellte. Da man sich hier unter Hinkmars eigenem Vorsitz gerade mit Maßregeln gegen die Chorbischöfe beschäftigte, fiel Gottschalk zunächst diesen Tendenzen zum Opfer: er wurde in unbilliger Weise seiner durch den Reimser Chorbischof Richbold empfangenen Priesterwürde für verlustig erklärt und dann seiner Irrlehren halber in klösterliche Haft nach Hautvilliers gebracht. Damit hatte H. von Anfang an eine entschieden feindliche Haltung gegen ein Dogma genommen, das ihm mit Recht, bei dem rohen Culturzustande seiner Zeit, Moral und religiöses Leben zu gefährden und noch größeren Schaden allen hierarchischen Institutionen zu bringen schien, indem es die Einzelnen auf einen intimen Verkehr mit Gott anwies und das Priesterthum in seiner Mittlerrolle zurückdrängte. Aber andererseits hatte Gottschalk Recht, wenn er die Uebereinstimmung seiner Lehre mit der Augustinischen behauptete, und darum fehlte es ihm nicht an Vertheidigern seiner Sache. Bischof Prudentius von Troyes, Abt Servatus Lupus von Ferrieres, der Mönch Ratramnus von Corbie, erhoben sich gegen H. und für ihn. Vergeblich forderte H. Beistand von Raban; was er in Mainz nicht erhielt, gewährte ihm dann in einem Sendschreiben gegen Gottschalk der befreundete Amolo von Lyon und gleichzeitig im selben Sinne der Lyoner Magister Florus. Auch der Hofphilosoph Karls des Kahlen, der freisinnige Scotus Erigena, verfaßte auf Hinkmars Bitte eine besondere Schrift gegen die prädestinatianischen Ansichten: H. nimmt eben Hilfe wo er sie findet, selbst von einem ihm so unsympathisch denkenden Manne wie Scotus. Dieses Mal aber zu seinem eigenen Schaden! Denn des Scotus Schrift fachte das glimmende Feuer zur hellen Flamme an. Im Namen der Provinz von Sens wies Prudentius in ihr 77, die Lyoner Kirche – hier war Amolo unterdeß gestorben – sogar 106 gefährliche Irrthümer nach. H. stand in Gefahr als Mitschuldiger dieser Heterodoxien beklagt zu werden. Und das geschah in der That und wiederum von Lyon aus. Hier hatte Remigius, ein eifriger Parteigänger Lothars, den erzbischöflichen Stuhl eingenommen, der nun offenbar nicht allein aus dogmatisch-kirchlichem Interesse eine erbitterte Polemik gegen H. eröffnete. Seine Ansichten wurden als falsch, das ganze Verfahren gegen Gottschalk als ein im höchsten Grade ungerechtes hingestellt. Ob die einzelnen Streitschriften von Remigius selbst herrührten oder in seinem Auftrage etwa von Ebo von Grenoble, dem Neffen des Reimser Ebo, geschrieben waren, thut nichts zur Sache. Denn hinter der Lyoner Kirche stand kein Geringerer als Kaiser Lothar; auf der ganzen Linie hatte dieser um das J. 852 den heftigen Kampf gegen den früher so begünstigten Metropoliten eröffnet.

Der Gottschalk’sche Handel war nur eine Phase in diesem Kampfe und für H. nicht die gefährlichste, weil die Curie sich grundsätzlich von Lehrstreitigkeiten fern hielt. Von viel größerer Bedeutung war es, daß der Kaiser der alten Frage nach der Rechtmäßigkeit von Ebo’s Absetzung, die gerade neu angeregt wurde, bereitwilligst secundirte. Ein bestimmter Kreis von Leuten, die Kleriker, welche von Ebo nach seiner Restitution ordinirt und von H. später suspendirt waren, waren stets bereit jene Controverse wieder aufzunehmen. Ihre Frage aber gewann einen ganz anderen Charakter, wenn es ihnen gelang, die allgemeinen Interessen der Kirche mit den kleinen persönlichen Vortheilen, die sie erstrebten, in Verbindung zu setzen; wenn es ihnen glückte das, wonach der ganze Zug der Zeit ging, die Emancipation [444] der Kirche von der staatlichen Gewalt, als auch in ihrem besonderen Falle gefährdet hinzustellen. Das ist der Gedankengang, in welchem aus dem Kreise dieser Leute heraus die Fabrication der pseudo-isidorischen Dekretalen unternommen wurde. Locale Verhältnisse gaben den Anstoß zu codificiren, was die Kirche, seitdem die staatliche Macht so furchtbar heruntergekommen war, mit aller Energie erstrebte: die Freiheit der Synoden vom königlichen Einfluß und die Freiheit des Klerus von der weltlichen Gerichtsbarkeit in allen Fragen des Criminalrechts. Das waren Grundsätze, zu denen sich jetzt jeder Geistliche, auch H., bekannte, die nur noch mit dem Schimmer des ehrwürdigen Alters umkleidet werden mußten, um sie dem Staate gegenüber mit mehr Erfolg anwenden zu können. Dabei mochten dann die kleinen privaten Interessen unbeachtet mit durchschlüpfen, auch die Lieblingshoffnungen, die man in Reims auf den Primat setzte, gerne geschont werden, zumal da die Metropolitanrechte durch den unbedingten Instanzenzug nach Rom, der eingerichtet werden mußte, um die Appellation an das Hofgericht zu vermeiden, wesentliche Einbuße erlitten. Mit dieser Waffe ausgerüstet scheinen die Kleriker ihre Agitation gegen H. im Stillen geführt zu haben, so daß der Erzbischof es für das beste hielt, ihren Umtrieben durch einen Synodalbeschluß ein Ende zu machen. Je eher das geschah, desto besser; denn so lange die alten Bischöfe lebten, die 846 das Urtheil in Paris bestätigt hatten, war er des Spruches sicher. Im April 853 mußten die Kleriker, von H. gezwungen, auf dem Concil von Soissons erscheinen. H. trat seinem Freunde Pardulus von Laon den Vorsitz ab und wählte sich die Erzbischöfe von Sens und Tours zu Richtern, denen die Kleriker Prudentius von Troyes, den Gegner Hinkmars aus dem Prädestinationsstreite, zugesellten. Im Verhör beriefen sich die Letzteren darauf, daß die Exceptio spolii in dem Verfahren gegen Ebo nicht gewahrt sei: ein pseudo-isidorischer Grundsatz, das Ideal aller hohen und niederen Geistlichen. Trotzdem fiel der Spruch zu Gunsten Hinkmars aus. Wenn man auch im Herzen den Klägern beistimmte: man konnte nicht zurück, ohne sich selbst zu verurtheilen. Sofort appellirten die Kleriker nach Rom: wieder ein Act, wie ihn die falschen Dekretalen erlaubten, aber das ältere kirchliche Recht nicht gestattete. Doch wie gegen den Grundsatz der Spolienbelassung bei einer Klage, hörte man auch hiergegen keinen Widerspruch; im Gegentheil, auch H. wandte sich um Bestätigung der Synodalbeschlüsse nach Rom. Merkwürdig, wie man hier anders dachte als im J. 846, theils weil man viel unbedingter unter dem Einflusse des Kaisers stand, theils auch, weil die Emancipationsideen allmählich Gemeingut geworden waren, ohne daß man ihre Codification gerade schon kannte. Es klingt wie Hohn auf die Freiheit der römischen Kirche, wenn Leo Hinkmars Gesuch abschlägt, weil es nicht vom Kaiser unterstützt worden sei! Dem waren einige andere Gründe hinzugefügt, die an Pseudo-Isidor anklingen und wol durch die Kleriker nach Rom gebracht waren: die Synodalbeschlüsse könnten nicht bestätigt werden, weil eben nur die Beschlüsse, nicht die Acten vollständig eingeschickt seien, weil die Kleriker appellirt hätten, weil kein päpstlicher Legat zugegen gewesen sei. Diesem Absagebrief folgte bald die That. Bischof Petrus von Spoleto ward als Legat abgeordnet, um die Sache noch einmal auf einer Synode untersuchen zu lassen; H. aber erhielt den Befehl, daß, wenn die Angelegenheit auch dann nicht zu Ende käme, er die Kleriker nicht hindern solle, nach Rom zu ziehen, damit hier das Endurtheil gesprochen werde, zu dem er selbst sich einzufinden habe. Der Ton Leo’s ist eben so herausfordernd, wie die Zumuthung an einen fränkischen Bischof, vor dem römischen Tribunal sein Recht zu nehmen, unerhört.

Daß es wirklich auf die Vernichtung Hinkmars abgesehen war, zeigt der dritte Punkt, in dem Lothar den Erzbischof angreifen ließ. H. hatte einen [445] kaiserlichen Vassallen Fulkrich wegen Ehebruchs mit vollem Rechte excommunicirt. Es ist wol gesagt, das habe den Samen der Zwietracht zwischen Metropoliten und Kaiser gesäet, aber dabei ist nicht beachtet worden, daß Fulkrich schon im Mai 847 von der kirchlichen Gemeinschaft ausgeschlossen war, ohne daß dem Kaiser eingefallen wäre, dieses Vassallen halber sich mit dem Erzbischof zu überwerfen. Jetzt aber wandte sich Fulkrich mit kaiserlicher Unterstützung an den Papst und dieser ereiferte sich für dessen Sache in harten Ausbrüchen gegen H. Als nun aber H., um auch dem Kaiser zu zeigen, wie weit seine Macht reiche, wegen des Verkehrs mit Fulkrich über ihn den Bann aussprach, so kannte der päpstliche Zorn keine Grenzen mehr. Durch ein Rundschreiben der Curie ward allen gallischen Bischöfen das Unerhörte mitgetheilt, daß H. sich an dem Gesalbten des Herrn vergriffen habe. Mit offenen Worten wurde ausgesprochen, daß er in unrechtmäßiger, freveler Weise den Reimser Stuhl occupirt habe.

Der Spruch in Rom stand jetzt bevor: die Absetzung war schon im Voraus angekündigt.

Wenn es dann doch nicht dazu kam, so haben Einflüsse der verschiedensten Art zusammengewirkt. Zunächst wol vermittelte der westfränkische Episcopat, eine Vermittelung, der H. sich später dankend erinnert. Die angesehensten Mitglieder desselben mußten bei dem Falle ihres Genossen die härtesten Censuren für sich selbst gewärtigen, weil sie einen neuen Bischof ordinirt hatten, während der rechtmäßige noch lebte. Dann mag man den Einfluß Karls des Kahlen erwähnen. Freilich, so lange der König mit dem Laienadel zu regieren suchte, hatte H. ihm ferne gestanden und sein eigenes Eingehen auf Lothars Ideen wird ihm in den Augen des Königs auch nicht genützt haben. Ja so weit war die Entfremdung gekommen, daß Karl der Kahle, da seine Beziehungen zum Kaiser unter der Vermittlung Ludwigs des Deutschen sich friedlicher gestaltet hatten, die Absicht zeigte und wol auch kurze Zeit zur Ausführung brachte, mit dem Bruder gegen den Erzbischof zu gehen. H. rächte sich, indem er den Bann, mit welchem er den Kaiser belegte, mit auf Karl ausdehnte. Doch unmöglich konnte eine solche Constellation irgendwie Bestand haben. So lange Hinkmars Feindschaft mit dem einen dauerte, war er der stärkste und beste Bundesgenosse für den andern. Dazu wurde Karl bei dem kläglichen Zustande seines Reiches immer dringender auf die Unterstützung der Geistlichkeit in seiner inneren Politik hingewiesen. So erfolgte denn die Aussöhnung beider sehr schnell. Vom Frühjahr 853 ab hatte Karl sein Bündniß mit der Laienaristokratie aufgegeben, an dessen Stelle das Bündniß mit dem Episcopat trat; H. aber übernahm die Leitung der westfränkischen Politik. Dafür schenkte Karl ihm seinen Beistand in Soissons und viel deutlicher bald nachher auf der Synode in Quierzy, wo er die Hinkmar’schen Sätze gegen die Prädestination mit seinem königlichen Ansehen deckte. In solchem Schutze konnte H. immerhin dem Papste und dem Kaiser die Stirne bieten, auch auf die Vermittelung seines Königs bei Lothar rechnen, sobald sich ein günstiger Zeitpunkt darbot; der kam über Erwarten schnell, denn Lothars Sterne waren längst im Sinken; derselbe Monarch, welcher zwölf Jahre lang allen seinen Witz aufgewandt hatte, um seinem Bruder Fallen zu legen, mußte sich jetzt sehr dringend um dessen aufrichtige Freundschaft und die seines ersten Rathgebers bewerben. Noch Anfang Januar 855 hatte er seine Einwilligung zur Synode von Valence gegeben, die ihre Spitze gegen H. kehrte, seinen Sätzen über die Prädestination ihre eigenen entgegenstellte. Bald darauf, im Frühjahre, erkrankte er schwer und sah sein Ende nahen. Lag es nicht in seinem Interesse, den westfränkischen König sich versöhnt zurückzulassen, um nicht die Succession seiner Söhne zu gefährden? Hatte er nicht Grund, für sein Seelenheil zu sorgen, da immer noch die Excommunication auf ihm lastete? Vom Krankenlager aus [446] setzte er sich mit H. in Verbindung, der ihn bereitwilligst absolvirte, nachdem er das Bekenntniß seiner Reue und das Gelöbniß, beim Papste für ihn wirken zu wollen, erhalten hatte. In einem Schreiben, das in Hinkmar’schen Ausdrücken abgefaßt ist, mußte der Kaiser die Ansprüche desselben auf den Primat der Curie dringend empfehlen, das Ausbleiben des Metropoliten in Rom mit den Staatsgeschäften desselben entschuldigen, auch um die Beilegung der Ebo’schen Angelegenheit und die Bestätigung der Synodalbeschlüsse bitten. Derselbe Petrus von Spoleto, der als Mandatar gegen H. in Gallien erschienen war, empfing den Brief, um ihn nach Rom zu überbringen. Unterwegs aber traf er auf Boten der Curie, die von dem im Juli erfolgten Ableben Leo’s berichteten. Am Michaelistage folgte der Kaiser dem Papste im Tode nach. Neue Männer betraten den Schauplatz, die nicht die Kraft hatten und nicht geneigt waren, den Streit fortzusetzen. Das lotharische Reich zerfiel in drei Theile und blieb keine Macht mehr, mit deren Widerstand H. zu rechnen hatte; Papst Benedict III. aber bestätigte die Soissoner Beschlüsse: allerdings unter dem Vorbehalte, daß sich alles so verhalte, wie H. ausgeführt habe. So ging H. gekräftigt aus dem Kampfe hervor. An Erfüllung primatialer Hoffnungen war allerdings für den Augenblick nicht zu denken; aber dafür konnte er darangehen, die Vertrauensstellung, die ihm Karl der Kahle bei der Leitung des westfränkischen Staates eingeräumt hatte, in seiner Weise auszufüllen.

Hier traten die Sorgen der inneren Politik zunächst in den Vordergrund; es galt ein unheilvoll zerrüttetes Gemeinwesen vor gänzlichem Zerfall zu retten. Und mit welcher Liebe erfaßte er nun diese Aufgabe, das Leben des eigenen Volkes nach seinen Grundsätzen zu organisiren, mit seinen Ideen zu durchdringen! In doppelter Richtung bewegten sich seine Gedanken: Tendenzen altkarolingischer Verwaltung trafen in ihm zusammen mit den Bestrebungen des modernen kirchlichen Geistes, Erfahrungen und Kenntnisse, die er noch am Hofe Ludwigs des Frommen gesammelt, sollten in Uebereinstimmung gesetzt werden mit überspannten hierarchischen Ueberzeugungen. Wenn es ihm nun in der That gelang, beide in merkwürdiger Weise mit einander zu verschmelzen, so verdankte er das seiner glücklichen Anlage für praktische staatsmännische Thätigkeit. Schärfer als irgend einer der Zeitgenossen erkannte er die wunden Punkte des damaligen Staatslebens, besser als irgend ein anderer wußte er die Maßregeln zu ihrer Heilung ausfindig zu machen. Seine Denk- und Ermahnungsschreiben zeigen durch formale und fachliche Uebereinstimmungen mit den Beschlüssen der Synoden und Reichstage, in welcher Richtung sein Einfluß sich bewegte und wie weit er ging. Der Unterdrückung des Volkes, sowol des freien wie des abhängigen, und der Schwächung der königlichen Macht entgegenzuwirken, hielt er für die dringendste Aufgabe. Volks- und Königsinteresse waren ihm identisch und standen beide in Opposition zu den Bestrebungen der großen Vassallen und Senioren, die ihre Besitzungen immer mehr arrondirten, ihre Amtsbezirke im eigenen Interesse ausnutzten. Ihnen ganz besonders galt sein Haß. Wie oft hat er nicht verlangt, daß nur einsichtigen, gerechten, unbestechlichen, nicht in schnödem Eigennutz arbeitenden Grafen die Gaue anvertraut, ebenso gesinnte Schultheiße über die königlichen Pfalzen und Güter gesetzt werden sollten. Ungern sah er, wenn den großen Grundbesitzern ihre Territorien durch Vergabungen vergrößert wurden. Die Verbindung des Königs mit den Freien wollte er aufrecht erhalten; für die Verbesserung des Looses der Abhängigen befahl er zu sorgen, die Cultur in Wald und Feld zu fördern, über die Frohnden fleißig zu wachen. So würden die Erträge des Staates wesentlich vermehrt und das Volk trotzdem weniger belastet. Dann höre es auf, daß der Hof nicht leben könne und wieder andern zur Last falle; gerade hier an der Spitze solle alles wohlgeordnet, der königliche Haushalt eine Musterwirthschaft [447] sein, wie es zu Karls des Großen Zeit war; jetzt aber gäben die Großen des königlichen Gefolges das schlechteste Beispiel. Um das alles zu erreichen, verlangte er als erste Vorbedingung ein geordnetes Controlsystem, das – und hier setzt nun die Thätigkeit der Kirche ein – bei der Unzuverlässigkeit der Optimaten in den Händen der Geistlichkeit ruhen soll. Diese hat das Land zu bereisen, die Ueberschreitungen der Beamten zur königlichen Kenntniß zu bringen, das Volk zu vertreten. Und wie es in seinem Wesen lag, immer auf die vornehmste Schwierigkeit zuerst loszugehen, so wurde diese Idee sofort ausgeführt, auf der Synode von Verberie 853. Das ganze Reich ward in 12 Distrikte eingetheilt und 11 davon der Oberaufsicht eines Bischofs unterstellt; H. selbst nahm einen, der 10 Gaue umfaßte, als Missaticum. War so schon die Kirche über den Staat gehoben, so kam hinzu, daß sie auch in ihren eigenen Angelegenheiten die liebevollste Berücksichtigung fand: das Kirchengut sollte geschützt, säcularisirtes zurückgebracht, oder, wo es nicht ging, die Zinsen von den Präcarien wenigstens regulirt und auf ihre Einlieferung gesehen werden. Die Immunitäten sollten ausgedehnt werden, möglichst so, daß auch die an Vassallen geliehenen Güter mit einbegriffen würden. Für kirchliche und königliche Güter aber sollten statistische Verzeichnisse nach verschiedenen Gesichtspunkten hin angelegt werden; H. ging mit gutem Beispiel voran und veranlaßte die Aufzeichnung der Polyptychon von St. Remi in Reims.

Solche Tendenzen konnten nur entstehen, indem die Kirche sich ihrer höheren Cultur in allen wirthschaftlichen Fragen voll bewußt war; solche Tendenzen konnten aber auch nicht ohne erbitterten Widerspruch derer bleiben, die zwar roh und sehr barbarisch, aber doch an Herrschsucht der Kirche nicht nachstanden, und die vor allem nicht gewillt waren, sich freiwillig aus der leitenden Stellung im Staatswesen verdrängen zu lassen – der weltlichen Optimaten. Allgemeine Unzufriedenheit machte sich geltend; bis in die königliche Familie drangen die Gegensätze; die Entschiedeneren suchten bei Ludwig dem Deutschen Hilfe. Aber dadurch wurde der westfränkische König und seine Geistlichkeit zu noch engerem Aneinanderschluß gebracht. 857 schwur H. mit vielen andern Karl dem Kahlen Treue und empfing seinen Gegenschwur. Und H., der die Seele von allem war, ging auch allen durch die That voran. 857 schützte er die Picardie gegen die Normannen; zu demselben Zweck gab er die Reimser Kirchenschätze her; viel mehr noch leistete er mit der Feder oder als Vermittler und Gesandter. Alles das konnte nicht hindern, daß Ludwig endlich 858 der Aufforderung der Rebellen Folge leistete, in das westfränkische Reich einbrach, die Krongüter besetzte, einen Reichstag nach Attigny berief. Karl war nach Burgund geflohen und sein Reich schien verloren: nur der Klerus widerstand unter Hinkmars Führung, der die Aufständischen excommunicirte und sein berühmtes Manifest erließ: an Ludwig gerichtet, um das Nichterscheinen der Bischöfe in Attigny zu begründen und gegen die Eroberung zu protestiren, freilich so gemäßigt, daß im Falle des definitiven Sieges Ludwigs eine Annäherung an ihn noch möglich war; – zugleich an Karl geschickt, weil auseinandergesetzt war, was der Episcopat von einem König verlangte, den er unterstützen sollte. Wie hätte H. widerstehen mögen, die äußerste Noth seines Herrn nicht auszunutzen, da es im Interesse der Kirche geschah? Derselbe Mann, der eben noch dem König wie ein Vassall geschworen, stellte jetzt den Satz auf, daß kein Geistlicher einem Weltlichen sich durch einen Treueid binden dürfe. Im Uebrigen aber verfuhr er doch ganz loyal. Sein und seiner Amtsbrüder Widerstand war es – wol neben dem Aufstande des gemeinen Volkes gegen die Optimaten – was Ludwig zum Rückzug trieb. Er selbst war es auch, der in den nächsten Jahren die Friedensverhandlungen führte, die 860 in Coblenz zum Abschluß kamen. Die aufständischen Großen durften heimkehren und empfingen ihre Alode [448] zurück: entzogen blieben ihnen die Beneficien. Eine ganz wesentliche Schwächung ihrer Macht und Stärkung des königlichen Ansehens! Dem musste natürlich in Hinkmars Augen ein gesteigertes Ansehen des Episcopats entsprechen. Hatte er das schon im Manifest von Quierzy zum Ausdruck gebracht, so war es auch von Karl auf der Synode von Savonnieres 859 anerkannt. In den überschwänglichsten Ausdrücken spricht der König von der Stellung und dem Beruf der Bischöfe: Organe Gottes nennt er sie, deren Gericht er sich gehorsam unterwerfe, nicht nur bei kirchlichen Censuren, auch wenn es seine Absetzung gelte.

Aber neben diesem gesteigerten Ansehen des Episcopats hatte doch auch die ganze Existenz Westfrankens sich lebenskräftiger gestaltet; die einfache Folge dieser Consolidation im Innern war, daß das Reich zum ersten Male begann, eine active äußere Politik zu haben. Und wieder war es H., der dieser Politik, wenn nicht gerade die Ziele steckte, doch ihr das große Gepräge und den kirchlichen Zuschnitt gab, sie als Vertreterin der hohen Principien von Recht und Moral hinstellte, ihr dadurch den Erfolg sicherte. Karl der Kahle schaute wol selbst schon verlangend nach Lothringen hinüber, seitdem das Reich Lothars I. in drei Stücke zerrissen war; H. hatte ihn jedenfalls in seinem Gelüst bestärkt, da es sein eigenes Verlangen war, dies Land mit Westfrancien zu vereinigen, um seine Provinz aus der Verzettelung in zwei Kirchen unter das Scepter eines Königs zu bringen. Karl mag selbständig erkannt haben, wie vortheilhaft es sei, wenn Lothar dem II. keine neue Heirath gestattet werde, nachdem Thietberga kinderlos geblieben war; H. fing den Kampf zur passenden Stunde an und führte ihn durch, indem er gegen die Vergewaltigung der unglücklichen Königin und gegen die Ehe Lothars mit der Kebse Waldrada protestirte. Politische Rücksichten waren für ihn in erster Linie maßgebend: damit soll nicht gesagt werden, daß sie es allein waren. Er dachte streng in allen Fragen der Sittlichkeit; lebte selbst wie ein Ascet; Fleisch und, wie man sagte, auch Wein pflegte er nicht zu sich zu nehmen; im Allgemeinen hätte er nie davon gelassen, auf Bewahrung von Zucht und Gesittung zu achten: nur wenn große Angelegenheiten auf dem Spiele standen, glaubte er auch einmal darüber hinwegsehen zu dürfen. Dieses Mal war es sein gutes Glück, daß beides so zu einander stimmte. Aber er that doch auch nichts dagegen, bis die Sache reif war. 857 war Thietberga zum ersten Male verstoßen; in allen Webstuben, sagt er selbst, erzählten sich die Frauen davon; was man auf der Aachener Synode im Februar 860 vorhatte, wußte er sehr wohl, hielt sich aber wegen Unpäßlichkeit entfernt, ohne seine Meinung offen ausgesprochen zu haben. Erst als die Entscheidung in Aachen gefallen, trat er mit seiner Protestschrift hervor, alle Könige und alle Christen über die Schändlichkeit belehrend.

Die günstige Position Hinkmars ward noch gemehrt, als Thietberga hilfeflehend zu Karl floh und hier Unterkommen fand, während Lothar dem ehebrecherischen Weib des Grafen Boso, der Engeltrud, Schutz gewährte, Judith, die Tochter Karls, die von Balduin von Flandern entführt und von H. excommunicirt war, bei sich aufnahm, das Bisthum Cambrai in unkanonischer Weise seinem Günstling Hilduin verlieh. Ueberall erschien Karl im Lichte der Tugend und auf dem Wege, den die Kirchengesetze vorschrieben, Lothar II. als der Beförderer von Sünde und Verworfenheit. Als dann durch Vermittlung Ludwigs des Deutschen eine scheinbare Aussöhnung Karls mit seinem Neffen stattfand, 862 in Savonnieres, und der Letztere alle Beschwerden, die eine Hinkmar’sche Schrift ihm vorwarf, abzustellen versprach, so war erst recht offenbar geworden, wer die gerechte Sache vertrat.

Auf diesem Höhepunkte seines Ansehens trat nun die Versuchung an ihn heran, sein politisches Uebergewicht auch auf dem kirchlichen Gebiet auszunutzen.

[449] Noch immer schwebte der Prädestinationsstreit! Auf die Sätze der Synode von Valence 855 hatte H. mit seiner ersten Schrift über die Prädestination geantwortet, von der nur die Widmung an Karl den Kahlen erhalten ist. Die Gegenpartei hatte ihre Ansicht nochmals 859 in Langres und Savonnieres vorgetragen und manches heftige Wort war von hüben und drüben gefallen. Da benutzte H. den günstigen Moment im J. 860. Der Ehehandel Lothars II. stand im Vordergrunde; H. hatte sich noch nicht erklärt; alles kam darauf an, ihn nicht zu reizen, ihn günstig zu stimmen. Es war eine Concession der Lothringer auf der Synode von Tousy, wenn sie gestatteten, daß H. den Synodalbrief abfaßte und darin seine Ansicht über die Prädestination gemäß den Sätzen von Quierzy entwickelte. Das war die letzte officielle Erklärung in dieser Streitfrage; unter dem Gewicht der großen politischen Conjuncturen hatte H. gesiegt. 863 ließ er seine zweite große noch erhaltene Schrift „De praedestinatione“ folgen und drückte der abendländischen Kirche in einer ihrer wichtigsten Lehren den Stempel seines Geistes auf; der aber bedeutete Erstarkung des priesterlichen Einflusses nach allen Richtungen hin. Wie die Kirche schon das staatliche und wirthschaftliche Leben beherrschte, so sollte sie auch das Denken und Sinnen des einzelnen Individuums ganz umfassen, es in unbezwingliche Fesseln schlagen, selbst auf Kosten von Vernunft und geistiger Freiheit. Mit vollem Bedacht berechnete er darnach den Standpunkt, den er in jeder der vielen Controversen nahm, welche die Gemüther der damaligen Menschen in so ungewöhnlicher Art durchschütterten. Sein Werk über die Dreieinigkeit (c. 866), ebenfalls gegen Gottschalk gerichtet, der ihn beschuldigt hatte, daß er die reale Existenz Christi als einer eigenen Persönlichkeit geläugnet habe (Sabellianismus), ist nur hohles Wortgeschwätz. Aber von welcher Bedeutung war es nicht, daß er sich gegen die symbolische Auffassung des Abendmahlsacramentes, die damals die gebräuchlichere war, und für Paschasius Radbertus erklärte, welcher die wirkliche Verwandlung des Brotes und Weines in den natürlichen Leib Christi behauptete; daß er sich für die übernatürliche Geburt Christi und die Jungfernschaft der Maria entschied; daß er nur eine einzige Auslegung der heiligen Schrift, nämlich die von der Kirche angenommene, für erlaubt erklärte; daß er die Bilderverehrung begünstigte; daß er für die Beibehaltung der Gottesurtheile wirkte, auf deren Abschaffung schon die Reichsgesetzgebung bedacht genommen hatte! Ueberall stellte er sich der seit dem Anfange des Jahrhunderts so mächtigen freisinnigen Strömung, wie sie Agobard, Raban, Scotus u. a. vertraten, entgegen; überall kämpfte er für das Uebernatürliche, Wunderbare, Mystische, wol wissend, daß dadurch die Bedeutung des geistlichen Amtes in den Augen einer rohen und dem Sinnlichen zugeneigten Menge gewinne. Keiner hat mehr dazu beigetragen als er, in diesem entscheidenden Wendepunkt der Culturentwicklung, daß an die Stelle lebhafter und befreiender Debatte ein indifferenter und schweigender Autoritätsglaube trat, daß die Kirche jenen katholisch-orthodoxen Charakter annahm, den sie das ganze Mittelalter hindurch bewahrt hat.

Politische Combinationen und gewaltthätigen Zwang in Sachen des Glaubens auszunützen, schien ihm sein gutes Recht. Am bittersten hatte das Gottschalk erfahren, der im Gefängniß schmachtete, obgleich so viele Kirchen für seine Auffassung eingetreten waren und selbst Papst Nikolaus I. sich sympathisch geäußert haben soll. Wie viel gefährlicher mußte es sein, einem Manne seines Charakters entgegenzutreten, wenn es sich um die realen Machtverhältnisse der Kirche und seiner eigenen Würde handelte! Und doch gab es eine ganze Partei, die dies nicht fürchtete, sondern mit offenem Visier zum Kampfe drängte: dies hing mit der jüngsten Emancipationsentwickelung der Kirche auf das innigste zusammen. Jene Tendenzen auf Befreiung von der staatlichen Gewalt, welche der Klerus [450] als sein natürliches Recht verfolgte, waren in der pseudo-isidorischen Codification in der Weise zum Ausdruck gekommen, daß die oberste Instanz für Bestätigung der Synoden und Appellation von ihnen, welche bisher die Könige in Anspruch genommen hatten, dem entfernten römischen Stuhl gegeben wurden. Dadurch war ein Zwiespalt in die Kirche getragen; denn während über die Emancipation der gesammte Episcopat gleich dachte, wollten doch die Metropoliten sie gerade um den Preis einer unmittelbaren Unterordnung unter Rom nicht geschehen lassen, da diese eine viel unbedingtere werden mußte als die frühere unter den Staat und ihre eigenen Oberbefugnisse über die Suffragane wesentlich beeinträchtigte. Es lag aber in der Natur der Dinge, daß die Bischöfe, je weniger Widerstand der Staat der Neuerung entgegensetzte, desto begieriger nun nach ihrer weiteren Befreiung vom metropolitanen Joche griffen. Wiederum war es H., der sich entschloß, die Sache zum Austrag zu bringen; wie die dogmatischen Gegensätze glaubte er wol, auch den Ungehorsam der Suffragane durch seinen politischen Einfluß im günstigen Moment niederschmettern zu können. So erklärt es sich vielleicht, daß er den eigenmächtigsten derselben, den Bischof Rothad von Soissons, erst drei Jahre nachdem es geschehen war, wegen der eigenmächtigen Absetzung eines beim Ehebruch ertappten Priesters und wegen der Weigerung ihn wieder einzusetzen, durch eine Provinzialsynode (861) von der bischöflichen Gemeinschaft ausschließen ließ. Trotzdem erschien Rothad 862 auf der Synode von Pistes, wo nun ein erneutes Verfahren gegen ihn eingeleitet wurde. Aber noch vor dem Urtheilsspruche appellirte der Angeklagte nach Rom: ein Vorgehen, wie es Pseudo-Isidor erlaubte, während das ältere Kirchenrecht nur eine Berufung nach gesprochenem Verdikte gestattete. Gerade diese Durchbrechung des Gewohnheitsrechtes war H. fest entschlossen zu verhindern. Aber die neue Rechtsanschauung entsprach doch so sehr dem Bedürfniß der Suffragane, daß diese die Appellation anerkannten. Während Rothad sich nun in der Heimath zur Reise rüstete, schrieb er einem Amtsbruder, den er noch auf der Synode wähnte mit der Bitte, ihm seinen wirksamen Beistand zu leihen. Da der Adressat schon abgereist war, fiel der Brief in Hinkmars Hände, ward von ihm geöffnet, und der Inhalt so gedeutet, als ob er einem Verzicht auf die Appellation gleich käme. Demgemäß wurde Rothad in Haft genommen und vor die nächste Synode zu Soissons gestellt (862); daß hier seine Verurtheilung durchging, zeugt am besten von der alles beherrschenden Macht des Metropoliten. Aber ohne Einsprache konnte doch ein so beispiellos gewaltsamer Proceß nicht bleiben. Noch bevor die von H. zur Bestätigung nach Rom geschickten Acten dort anlangten, war der Papst von allem unterrichtet. Begierig bemächtigte sich dieser eines Streites, der ebenso sehr seine eigenen Intentionen förderte wie die der Bischöfe.

Nikolaus I. war eine dem Reimser Erzbischof an Begabung und Wollen ungemein verwandte Natur, ernst und streng, von den christlichen Wahrheiten innerlich erfüllt, voller theilnehmenden Fürsorge für seine Untergebenen; ebenso wie H. überzeugt von der Superiorität der Kirche über alle irdischen Gewalten und von der Nothwendigkeit sie mit allen Mitteln durchzusetzen. Was beide aber trennte, war durch ihre Stellung in der Hierarchie bedingt. Während der Metropolit schon das äußerste erstrebte, wenn er sich als den Primas einer in den nationalen Grenzen zusammengefaßten Kirche hinzustellen suchte, sah der Papst das Heil in der straffen, monarchischen Zusammenfassung aller Glieder unter das Regiment der Curie und hielt es für seine Lebensaufgabe, dies selbst noch durchzuführen. So standen sich beide schroff gegenüber, der eine von seinen Rechten, der andere von seinen Ansprüchen tief durchdrungen. Aber bevor es zur Auseinandersetzung kam, war Hinkmars Sache schon verloren. Was konnte da, wo es sich um die Durchbringung von Principien [451] handelte, die Fürsprache Karls oder Hinkmars eigenes warnendes und beschwörendes Schreiben, die Rechte der Metropoliten nicht anzutasten, helfen? oder gar solche kleinliche Mittel, wie die Verzögerung der Auslieferung Rothads nach Rom, das gänzliche Wegbleiben seiner Ankläger? Alles das erleichterte es nur dem Papste, von den unmittelbaren Fragen dieses einen Streites zu den allgemeinen Grundsätzen aufzusteigen. In der Weihnachtsnacht 864 ward Rothad in feierlichem Acte restituirt und die aus Pseudo-Isidor gewonnenen Normen, die aber angeblich alten und im päpstlichen Archiv ruhenden Dekretalen entnommen sein sollten, verkündigt: wie es sich mit der Abhängigkeit der Synoden von dem Willen des Papstes, mit der unbeschränkten Appellationsfreiheit, mit dem directen Entscheidungsrecht der Päpste in bischöflichen Processen verhalte. Dem Legaten Arsenius, der des lotharischen Ehehandels wegen über die Alpen zog, ward die Wiedereinführung Rothads in sein Amt übertragen.

Da die Opposition gegen H. glücklich begonnen war, konnte es nicht fehlen, daß andere versuchten, sie fortzusetzen. Die Kleriker, deren Sache 853 in Soissons gefallen war, scheinen sich mit Arsenius in Verbindung gesetzt zu haben. In ihrer Angelegenheit bot sich der Curie eine vortreffliche Gelegenheit dar, den trotzigen Erzbischof nochmals zu demüthigen und an einem zweiten Falle den Gehorsam, den die fränkische Geistlichkeit den eben ausgesprochenen pseudo-isidorischen Grundsätzen entgegenbringen würde, zu erproben. Obendrein war König Karl dies Mal bereit mit dem Papste zu gehen, da er den angesehensten dieser Kleriker, Wulfad, den Erzieher seines Sohnes Karlmann, zum Erzbischof von Bourges zu machen wünschte. So erging an H. der Befehl die Ansprüche Wulfads und seiner Genossen, überhaupt die ganze Ebo’sche Frage, von Neuem einer Synode zur Untersuchung vorzulegen und, wenn man sich nicht einigen könne, die Entscheidung aus Rom zu holen. Aber hier war es doch möglich, viel energischer Widerstand zu leisten, als im Rothad’schen Handel. So sehr der Episcopat den pseudo-isidorischen Ideen zustimmte, so wenig hatte er Neigung, das Urtheil, das er selbst früher gesprochen, zu cassiren. Dazu führte H. seine Sache meisterhaft. Noch ist das umfangreiche Memorandum erhalten, das er der Synode zu Soissons 866 vorlegte. Im Anschluß daran entschied man sich für ihn, sowol hier wie 867 in Troyes, und glaubte dem Papste, was die Kleriker betraf, nur einen Gnadenact anempfehlen zu dürfen. Aber das war wieder nicht, was der Papst wollte. Immer mehr spitzte sich der Conflikt zu: keiner konnte sagen, wie die Sache noch enden werde. Da erfolgte im entscheidenden Augenblicke im fernen Osten der Abfall der griechischen Kirche unter dem Laienpatriarchen Photius. Was sollte aus der abendländischen Kirche werden, wenn nun auch noch die fränkische unter einem Führer wie H., der zum äußersten gebracht war, sich separirte? Unter Erwägungen dieser Art fand Nikolaus es für gut, die Wulfad’sche Sache niederzuschlagen und dafür den treuen und geliebten Bruder H. um seinen Beistand gegen die Griechen zu bitten, der mit Freuden gewährt ward. Kurz darauf starb der Papst. So war der Sieg im letzten Falle auf Hinkmars Seite geblieben, aber nur durch Combinationen, die ebenso zufällig, wie sie gekommen, auch wieder schwinden konnten. Dauernd konnte er seine Stellung nur sichern, wenn es ihm gelang, den Betrug der pseudo-isidorischen Dekretalen zu entlarven. Man hat zu beweisen versucht, daß H. bei seiner ungemeinen kanonistischen Gelehrsamkeit und den sehr beachtenswerthen Proben von Kritik, die er gibt, die Fälschung auch in der That durchschaut und nur den Beweis nicht erbracht habe, weil ihm die Sammlung in andern Dingen, besonders durch die Begünstigung der Reimser Primatial-Idee, erwünscht war. Dagegen ist mit Recht geltend gemacht, daß die Vortheile, die sie vielleicht in Zukunft bringen konnte, durch [452] die schweren Nachtheile, die sie brachte, weit überwogen wurden. Vor allem, die Reimser Ansprüche auf den Primat standen auch sonst fest oder konnten wenigstens den damaligen Bedürfnissen entsprechend begründet werden. Im erzbischöflichen Archiv lag der berühmte Brief des Papstes Hormisda, in dem Remigius zum apostolischen Stellvertreter in Gallien ernannt war, ein Brief, den H., wenn er ihn nicht selbst fabricirt hat, doch wo er nur konnte, verbreitete. Im Uebrigen durfte H., so lange Nikolaus lebte, überhaupt keine Hoffnung auf Erfüllung seiner Wünsche hegen. Und warum schonte er denn die Sammlung, als die Curie sich später nicht abhalten ließ, trotz ihrer den Erzbischof von Sens zum Primas zu machen? Auch für die im Pseudo-Isidor ausgesprochene Unverletzlichkeit des Kirchengutes konnte man andere Rechtssätze beibringen, z. B. die Capitularien des sogenannten Benedikt; oder jede Kirche hatte ihre besonderen Mittel, wie Reims das falsche Testament des Remigius. Am meisten würde wol die Emancipation der Kirche von der staatlichen Gewalt, der H. von Herzen zustimmte, durch den Beweis der Unechtheit gefährdet worden sein. Aber auch da hätte man der Dekretalen entrathen können. Als H. einige Jahre später in der Angelegenheit seines Neffen, des Bischofs Hinkmar von Laon, für die Befreiung der Kleriker vom königlichen Hofgericht eintrat, führte er den Beweis u. a. aus dem römischen Recht, indem er nur die Vordersätze citirte, in denen die Jurisdiktion über Geistliche in Criminalsachen einem geistlichen Gericht vorbehalten wird, aber absichtlich die Nachsätze fortließ, wo steht, daß sich dies natürlich nur auf geistliche Verbrechen bezöge. Dasselbe unredliche Verfahren, wie er es bei der Auslegung Augustins gegenüber Gottschalk angewandt hatte. Solche Interpretationskunst aber bedurfte keiner falschen Dekretalen! Während er den Inhalt von einzelnen von ihnen bekämpft, steht er gar nicht an, andere zu benutzen, oft bei untergeordneten Fragen, wo ihm auch ächte zur Verfügung standen. Sein Verfahren ist ein eklektisches: er nimmt, was ihm nützt, und läßt fort, was ihm schadet. Nur das Wort von Nikolaus, daß alle Dekretalen der orthodoxen Päpste Gesetzeskraft hätten, hat er nie approbiren wollen. Er kommt allmählich dazu, als Norm für die Rechtsgiltigkeit der Dekretalen ihre Uebereinstimmung mit den Kanonen der Concilien hinzustellen, von denen wieder die, welche die Metropolitangewalt begünstigen, wie die von Nicäa, ihm die heiligsten sind. Aber selbst die Dekretalen, deren Gesetzeskraft er nicht anerkennt, hat er damit noch nicht als Fälschungen brandmarken wollen. Vollends der Gedanke, daß die ganze Sammlung ein Betrug sei, ist ihm nicht gekommen.

Durch das Gewicht seines politischen Ansehens hatte H. die streitigen kirchlichen Angelegenheiten zu seinen Gunsten entscheiden wollen; nachdem ihm dies in einem bedeutenden und mehreren kleinen Fällen geglückt, war dann gerade das Gegentheil eingetreten: sein Streit mit der Curie hatte ihn bei Karl dem Kahlen zu Fall gebracht, und nicht bloß deshalb, weil der König in dem Wulfad’schen Handel für den Erzieher seines Sohnes interessirt gewesen wäre. Hinkmars Staatsleitung hatte auf die Erstarkung der Kirche hingearbeitet, ohne Zweifel mehr als der König wollte; aber der König brauchte seine Dienste zu dringend, um Einsprache erheben zu können; jetzt trat umgekehrt eine Constellation ein, wo er wünschen mußte, sich von einer Verbindung loszumachen, die ihm bei dem Papste, an dessen Freundschaft ihm seiner lothringischen Pläne halber alles lag, wesentlich schadete. Die Erinnerung, wie H. die Zeiten der Noth in seinem Interesse auszunutzen gewußt und die kirchlichen Forderungen höher und höher geschraubt hatte, mochte ihm diese Trennung erleichtern. Freilich, Niemand wird das treulose Verfahren Karls des Kahlen nach der Synode von Troyes, als er Hinkmars Briefe an den Papst sich einhändigen ließ, sie erbrach und eigene im entgegengesetzten Sinne geschriebene hinzufügte, rechtfertigen [453] wollen; mit Theilnahme liest man die Klage Hinkmars in seinen Jahrbüchern über die Undankbarkeit des Königs: aber es war doch nur dasselbe, was H. selbst einst dem greisen Rothad von Soissons angethan hatte. Die Entfernung Hinkmars von den Staatsgeschäften machte sich am meisten in der inneren Politik geltend. Wie in seinen ersten Jahren begünstigte Karl in erhöhtem Maße die weltlichen Großen, gab die Abteien an Laienäbte fort, forderte sogar einen Bischof, Hinkmar von Laon, den Neffen unseres Reimser Erzbischofs, der einem königlichen Vassallen ein Benefiz entzogen und dem ihn darob zur Rechenschaft stellenden König nicht hatte Genugthuung leisten wollen, vor das königliche Hofgericht. Die Entwickelung der letzten Jahrzehnte hatte darauf hingewirkt, die Geistlichen nur ihren eigenen Gerichten zu unterstellen: mit einem Schlag schien alles verloren. Das veranlaßte H. seinem Neffen, obwol er ihm wegen eigenmächtiger Handlungen, die den Rothad’schen sehr ähnlich sahen, keineswegs günstig gesinnt war, doch mit einer eigenen Schrift gegen den König beizustehen (868). Es war schon ein Zeichen des Entgegenkommens, wenn der König im Juni 869, auf dem Reichstag zu Pistes, wo überhaupt ein Ausgleich zwischen geistlichen und weltlichen Ansprüchen gesucht wurde, nachgab. Aber die volle Aussöhnung brachte doch erst die Richtung mit sich, welche bald darauf die äußere Politik nahm.

Die Erfüllung großer gemeinsamer Wünsche erleichtert es den Menschen, Unangenehmes, was die Vergangenheit gebracht hat, zu vergessen. So geschah es auch zwischen H. und Karl, als Lothar II. auf der Rückkehr von Rom, am 8. August 869, plötzlich starb. Die lothringische Krone war erledigt; und da der Bruder Lothars, Kaiser Ludwig II., in Süditalien gegen die Saracenen beschäftigt war und Ludwig der Deutsche krank in Baiern lag, so stand nichts im Wege, daß Karl sich des Landes bemächtigte. Der König und H. sahen sich gleicherweise am Ziele ihrer Wünsche. Schon am 5. September war Karl in Metz; am 9. krönte H. ihn mit feierlichem Pomp, assistirt vom dortigen Bischof Adventius, dessen frühere Theilnahme am lotharischen Ehebruch ihn jetzt an der Gemeinschaft mit ihm nicht hinderte. Alle Mittel bietet er auf, um den Länderraub wie eine legitime Besitzergreifung erscheinen zu lassen. Darum redet er bei der Krönung Karl als den von Gott gewollten und prädestinirten Herrscher an und läßt die übrigen Bischöfe denselben Gedanken vortragen. Deshalb weist er auf das sich hier vollziehende bedeutungsvolle Zusammenwirken von Metz, dem Sitze der Arnulfinger, und Reims, wo Chlodwig die Krone empfing, hin. Deshalb erfindet er die Geschichte von der Ampulla des heiligen Remigius, jenem von Gott zur Taufe Chlodwigs geschickten Fläschchen mit Salböl, das jetzt dazu diente, die Stirn Karls des Kahlen zu weihen. Denselben Eifer trägt er zur Schau, als es galt, was glücklich und rasch gewonnen war, auch geschickt und energisch zu behaupten. Zwar hatte er sich der Theilung, die Karl 870 mit Ludwig dem Deutschen vornehmen mußte und für die er selbst im J. 867 im Metzer Vertrag als Garant eingetreten war, nicht widersetzt; blieb doch wenigstens seine Provinz davon unberührt. Dagegen hat er die wirklich legitimen Ansprüche Kaiser Ludwigs, die durch Papst Hadrian geltend gemacht wurden, mit Erfolg abgewiesen. Nie ist sein Uebergewicht in der Behandlung diplomatischer Angelegenheiten offenbarer zu Tage getreten als hier. Er sah sich einem Papste gegenüber, dem er in Menschen- und Geschäftskenntniß weit überlegen war, und ließ seinem Groll gegen die Curie freien Lauf. In seiner Eigenschaft als Metropolit schreibt er heuchelnd und devot: er habe alles gethan, was in seinen Kräften läge; aber dann erfindet er den Kunstgriff die Reden Karls und der lothringischen Optimaten mitzutheilen und so durch fremden Mund dem Papste die härtesten Abweisungen zu Theil werden zu lassen: Ob der Papst von jetzt ab König und Bischof zugleich sein wolle; anders hätten es seine Vorgänger [454] gemacht, die sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten, die kirchlichen Dinge, zu kümmern pflegten und nicht um die Staatsverwaltung, die dem König zustände; wie thöricht es sei, den Lothringern einen Herrscher geben zu wollen, der unten in Italien lebe! Der Papst möge zusehen, ob er durch seine Gebete die Normannen verjagen könne!

Noch härtere Worte bekam man in Rom zu hören, als man jetzt auch den Kampf gegen die Metropolitanverfassung und für die Selbständigkeit der Suffragane, der 867 abgebrochen war, wieder aufnahm. Während man glaubte, H. so am sichersten treffen zu können, gab man ihm Gelegenheit, seinen glänzendsten Sieg zu erfechten. Es war der Streit Hinkmars mit seinem gleichnamigen Neffen, dem Bischof von Laon, wegen Mißbrauchs des bischöflichen Amtes und Widersetzlichkeit gegen seine metropolitanen Anordnungen, wo der Papst in rücksichtsloser Weise für den Neffen eintrat. Dieser hatte, um seinem Kampfe die rechtliche Grundlage zu geben, eine eigene Dekretalensammlung compilirt, in der er die hauptsächlichsten Sätze Pseudo-Isidors gegen die Erzbischöfe reproducirte. Hiergegen hatte H. eine eigene Widerlegung verfaßt, in 55 Capiteln, und sie der Synode von Attigny 870 vorgelegt. Sie gipfelt in dem oben erwähnten Satze, daß die Rechtsgültigkeit der Dekretalen nach den Kanonen der Concilien zu bemessen sei. Aber so schneidig und leidenschaftlich sie auch geschrieben war, so überzeugend die Beweise, so erstaunlich die kanonistische Gelehrsamkeit des Verfassers: nicht sie gab die Entscheidung, sondern die Thatsache, daß auch der König in den Kampf hineingezogen wurde, indem der Bischof in steigendem Ungehorsam zuletzt offen die Partei des rebellirenden Karlmann ergriff. Unter dem Gewicht der vom Könige vorgebrachten Anklage auf Landesverrath setzte H. die Verurtheilung des Neffen durch, auf der Synode von Tousy 871; es war ein großer Erfolg für ihn, wenn die Bischöfe der Curie ausdrücklich erklärten, daß sie eine Appellation von ihrem Urtheil nur gemäß den alten Beschlüssen von Sardica einräumen könnten. Neben den bischöflichen Schreiben gingen aber auch Briefe des Königs nach Rom, deren Verfasser H. war. Die Könige seien Herren des Landes, nicht bischöfliche Vögte! Niemals sei es Sitte gewesen, daß Verbrecher gegen die königliche Krone nach Rom geschickt würden! Im Gegentheil, die von Kaisern und Königen erlassenen Gesetze seien auch von den Nachfolgern Petri zu beachten, wie es mehrere Päpste ausdrücklich anerkannt hätten.

Noch einmal war H. die Seele der fränkischen Politik geworden, um sie gegen die Curie zu wenden, und erntete den Erfolg, daß Hadrian unbedingt nachgeben mußte, freilich nicht allein seiner trotzigen Worte wegen, sondern weil gewichtigere Rücksichten in Rom maßgebend wurden und in der Folgezeit immer mehr in den Vordergrund traten.

Ueber kurz oder lang ließ sich die Erledigung des Kaiserthrons erwarten; da Ludwig II. kinderlos war, hatte schon Nikolaus, wie es heißt, den westfränkischen König dafür in Aussicht genommen. Dagegen war der Kaiser selbst seinen ostfränkischen Verwandten günstiger gesinnt und hatte gerade jetzt Unterhandlungen über die Nachfolge mit ihnen angeknüpft. Dieser Combination galt es durch das Vorschieben Karl des Kahlen zu begegnen, vor allem aber sich mit ihm nicht zu entzweien. Es ist bekannt, daß Karl der Kahle unerwartet rasch, am Weihnachtstage 875, sein Ziel erreichte. H. hat nie einen Zweifel darüber gelassen, daß er gegen diesen Schritt seines Monarchen gewesen ist; von dem Augenblicke an, wo die kaiserlichen Ambitionen Karls an den Tag traten, zog er sich von den Geschäften zurück; möglich, daß auch die Curie ihren alten Gegner als ersten Rathgeber des neuen Kaisers nicht acceptiren mochte; aber auch möglich, daß der Erzbischof von den intimen Beziehungen Karls zu Johann VIII., der ganz in die Fußtapfen von Nikolaus trat, sich nichts günstiges [455] für die fränkische Kirche versprach. Jedenfalls trat das Letztere ein. Als Preis für die Krone mußte Karl die Unabhängigkeit der fränkischen Kirche dahin geben. Sein jüngster Günstling, der zugleich jüngster gallischer Erzbischof war, Ansegis von Sens, wurde apostolischer Vicar und Primas in Gallien und Germanien, mit der bestimmt ausgesprochenen Tendenz, durch seine primatialen Ansprüche endlich die metropolitanen Vorrechte zu brechen. Wieder nahm H. auf der Synode von Pontion 876 den Kampf auf. Er, der selbst einst nach dieser Würde gestrebt und den Wunsch, sie zu erwerben, lange festgehalten hatte, führte jetzt im Namen des heimischen Episcopats das Wort dagegen und setzte in der That durch, daß die Ernennung des Ansegis, wie einst die des Drogo, abgewiesen wurde. Sein Sendschreiben „De jure metropolitanorum“ faßt alles zusammen, was sich vom erzbischöflichen Standpunkt und speciell vom Reimser gegen den Primat sagen läßt; demselben Grundgedanken, die Metropolitanverfassung zu erhalten, dient die Schrift „De presbyteris criminosis“, wo gegen das Verlangen des Papstes, daß auch niederen Klerikern die Appellation nach Rom freistehe, Verwahrung eingelegt wird. Als dann Johann VIII. 878 in Frankreich erschien, führte H. auf der Synode zu Troyes die Opposition weiter und riß den größten Theil des Episcopats mit sich fort. Wie ganz anders erscheint er hier am Ende seiner Laufbahn, als am Beginne derselben! Ursprüngliche Gedanken des persönlichen Ehrgeizes haben sich zu der Idee der Metropolitanen-Unabhängigkeit, der Unabhängigkeit der nationalen Kirche erhoben.

Ueberhaupt dienten seine letzten Jahre der Tendenz, nach Kräften für die Wiederherstellung der alten und bewährten Zustände zu wirken. Noch kurz vor seinem Tode überarbeitete er die Schrift Adalhards von Corbie über die Palastordnung Karls des Großen, um dem König Karlmann ein Musterbild von geordneter Staatsverwaltung zu geben. Immer von Neuem wiederholte er in Mahn- und Rathschreiben die schon oft vorgetragenen Grundsätze; aber die Sprache ist strenger und rücksichtsloser geworden als früher.

Wenn er in die Politik auch nicht mehr handelnd eingriff, so verfolgte er den Gang der großen Angelegenheiten doch mit regestem Interesse, wie seine Jahrbücher zeigen, die er seit 861 geführt hat. Mit staatsmännischem Verständniß erzählt er die Thatsachen: nichts parteiisch verschweigend, aber allem den Stempel seiner Gesinnung und seines Urtheils aufdrückend. Verschieden von dieser streng historischen Darstellung sind die Werke, in denen er in freierer Weise die Vergangenheit zu reproduciren sucht, wol um auch in Kreisen, wo seine Staatsschriften nicht gelesen wurden, zu wirken. Dahin gehört die Visio Bernoldi, die gewiß seiner eigenen Phantasie entsprungen ist und die uns Karl den Kahlen für seine Sünden an der Kirche büßend im Fegefeuer zeigt; die Visio Eucherii, die Karl Martell als Räuber des Kirchengutes in der Hölle braten läßt; und die Vita Remigii ist kaum etwas anderes als eine große Variation auf die Themata, über die er sein ganzes Leben lang beschäftigt war, den Reimser Primat und die Mehrung des Reimser Kirchengutes.

Als im J. 882 die Normannenplage Westfranken schwerer als je heimsuchte, mußte auch H. im November aus dem mauernlosen Reims flüchten. In einer Sänfte ließ er sich nach Epernai bringen. Hier starb er am 21. December.

Hincmari opuscula et epistolae cura Sirmondi. 2 T. Paris. 1645. Dazu seine Annalen Mon. Germ. SS. I. Aus beiden abgedruckt und um einige Stücke vermehrt bei Migne, Patr. lat. t. 125 et 126. Regesten gibt Flodoard in seiner Historia Remensis im 3. Bch. (SS. XIII.). Wichtige bisher unbekannte päpstliche Schriften publicirte Ewald, Neues Archiv 5, p. 380 ff. Frühere Biographien sind veraltet durch die Arbeit C. von Noorden’s, Hinkmar, [456] Erzbischof von Reims. Bonn 1863. Dazu die Werke über fränkische Geschichte von Gfrörer, Wenck und besonders Dümmler. – Ueber seine Stellung im Kirchenrecht besonders Jul. Weizsäcker, Hinkmar und Pseudo-Isidor (Riedners Zeitschrift für histor. Theologie 1858). Hinschius, Decretales Pseudo-Isidorianae. Lips. 1863. Roth, Pseudo-Isidor (Zeitschrift für Rechtsgeschichte 5, p. 1).