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ADB:Hinschius, Paul

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Artikel „Hinschius, Paul“ von Ulrich Stutz in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 50 (1905), S. 344–360, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Hinschius,_Paul&oldid=- (Version vom 23. November 2024, 09:26 Uhr UTC)
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Hinschius: Paul H., Rechtsgelehrter, wurde geboren in Berlin am 25. December 1835. Sein Vater, der spätere Geheime Justizrath Franz Sales August Hinschius († am 4. December 1877) war Rechtsanwalt und Notar und gehörte als solcher zu den hervorragendsten Praktikern des preußischen Rechts. Er besaß aber auch wissenschaftliche Interessen, die er später, zusammen mit dem Sohn, durch die Herausgabe der preußischen Anwaltszeitung (1862 bis 1866) und der Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege in Preußen (1867 und 1868) bethätigte; die Berliner Juristenfacultät hat ihn deshalb zu ihrem Ehrendoctor ernannt. In beiden Eigenschaften wirkte Franz H. auf den Sohn ein, der vom Vater nicht bloß die glänzende juristische Begabung, sondern auch eine selten tüchtige praktische Schulung empfing, doch so, daß zugleich die vorwiegend wissenschaftlichen Neigungen des Sohnes durch den Vater die verständnißvollste Förderung erfuhren, der unter anderem die Kosten mehrjähriger großer Reisen für wissenschaftliche Zwecke bestritt.

Seine Schulbildung empfing Paul H. auf dem Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin; erst 161/4 Jahr alt ging er, nachdem er als einer der besten die Reifeprüfung bestanden hatte, Ostern 1852 ab, um an der Universität Rechtswissenschaft zu studiren. Zwei Sommersemester (1853 und 1854) brachte er in Heidelberg zu, die übrigen in Berlin. Hier löste er während seiner Studienzeit eine römisch-rechtliche Preisaufgabe über die Berechnung der falcidischen Quart bei doppelten Testamenten. Der Romanist Friedrich Ludwig Keller hatte es eben auch ihm angethan; zeitlebenes sprach er gleich manchen Andern von Keller’s juristischer Schärfe und Eleganz sowie von dem Eindruck seiner Vorlesungen und Uebungen nur mit aufrichtiger Bewunderung. Aber entscheidenden Einfluß auf die Richtung von Hinschius’ Studien gewann nicht dieser, sondern ein anderer Berliner Rechtslehrer, nämlich Aemilius Ludwig Richter. H. hat nach dessen Tod im Jahrgang 1864 der Zeitschrift für [345] Rechtsgeschichte IV, S. 351 ff. die wissenschaftliche Bedeutung dieses Gelehrten vortrefflich charakterisirt und gezeigt, daß und weshalb der Aufschwung, den das Kirchenrecht seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts nahm, trotz der vorbereitenden Thätigkeit Eichhorn’s und Walter’s wesentlich Richter’s Werk war; höchstens das wäre dazu etwa noch nachzutragen, daß auch die Zeitereignisse (Kölner Wirren!) viel dazu beitrugen, das lange vernachlässigte Kirchenrecht wieder in den Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses zu rücken. H. hat aber vor allem in schönen, warmen Worten ausgeführt, worauf der große Lehrerfolg Richter’s beruhte, der wie kein Anderer seither, und wie Wenige vor ihm auf dem Gebiete des Kirchenrechts Schule machte. Er hat bekannt, mit welch’ unwiderstehlicher Gewalt die Persönlichkeit des Lehrers, sein irenischer und gerechter, einfach frommer, kirchlich gerichteter und dabei doch durch und durch staatstreuer und vom wärmsten wissenschaftlichen Eifer getragener Sinn und nicht zuletzt die angeborene Liebenswürdigkeit die Schüler anzog, an deren geistiger Entwickelung Richter regen Antheil nahm, bald durch wohlwollende Berichtigung, bald durch liebevolle Belehrung, bald durch freundliche Aufmunterung und ermuthigenden Beifall. Und er rühmt dem Lehrer ganz besonders die namentlich in kanonistischen Uebungen bethätigte Fähigkeit nach, „die Blicke seiner Zuhörer, sobald die ersten Schwierigkeiten geebnet und die nothwendigsten Fundamentalkenntnisse erworben waren, auf selbständig zu bearbeitende leichtere Themata hinzulenken, um ihnen durch die Freude an dem ersten, eigenen geistigen Schaffen neuen Mut und neuen Eifer einzuflößen.“ So erwarb sich denn auch Paul H. durch eine von Richter sehr günstig beurtheilte Dissertation: De jure patronatus regio kaum neunzehnjährig am 10. Februar 1855 magna cum laude zu Berlin die Würde eines Doctors beider Rechte.

Dann wandte er sich, der altbewährten Uebung folgend, zunächst der Praxis zu, um in ihr als Auscultator (März 1855), Referendar (1. December 1856) und Gerichtsassessor (1. December 1859) bis zu seiner Beurlaubung am 1. Februar 1860 thätig zu sein. Auch später noch hat er gerne praktisch gearbeitet, nicht nur, wie wir noch sehen werden, im Spruchcollegium der Facultät und in der Verwaltung der Universität, sondern auch als stellvertretender Vorsitzender des litterarischen und Mitglied des gewerblichen Sachverständigenvereins und als vielbegehrter Gutachter für das preußische Cultusministerium, für andere deutsche Regierungen, für deutsche Bischöfe und – in Patronatssachen – auch für Private. Es wird berichtet, er habe sich noch in späterer Zeit einmal mit dem Gedanken getragen, den Lehrstuhl mit dem Sitz in einem höchsten Gerichtshof zu vertauschen, und ohne Zweifel würde er dank seinem eminent praktischen Sinn, seiner souveränen Beherrschung des praktischen Apparats, dem raschen und sicheren Blick für das im Einzelfall Entscheidende sowie vermöge seiner Unabhängigkeit und Arbeitskraft eine Zierde des Richterstandes geworden sein. Die Kirchenrechtswissenschaft freilich, unter deren auch damals nicht allzu zahlreichen Jüngern es seinesgleichen nicht mehr gab, kann von Glück sagen, daß er sich entschloß, der Lehr- und Forschungsthätigkeit treu zu bleiben.

Am 10. December 1859 nämlich hatte er sich mit einer Schrift „Beiträge zur Lehre von der Eidesdelation mit besonderer Rücksicht auf das kanonische Recht“, die 1860 im Drucke erschien, für Kirchenrecht und Civilproceß an der Berliner Universität habilitirt. Auch Richter vertrat die seither selten gewordene Verbindung dieser beiden Fächer, ohne freilich im Gebiet des zweiten je litterarisch thätig zu werden. Außer diesem Vorbild mag die voraufgegangene Praxis und der Einfluß des Vaters mitgewirkt haben, die ihn nachmals auch [346] das preußische Civilrecht in seinen Arbeitsbereich ziehen ließen, indeß er deutsche Rechtsgeschichte, Handelsrecht und zuletzt auch Familienrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs weniger aus innerem Beruf vortrug, als weil es, wenigstens zeitweise, sein Lehrauftrag ihm auferlegte.

Denn seine Beförderung ließ nicht lange auf sich warten, vielmehr war ihm eine rasche und glänzende Laufbahn beschieden. Schon am 18. April 1863 wurde er mit Wirkung vom 1. October desselben Jahres zum außerordentlichen Professor für Kirchenrecht, deutsches Recht und Civilproceß an die Universität Halle berufen. Dann kam er am 15. Juni 1865 in gleicher Eigenschaft nach Berlin. Aber bereits am 29. Juni 1868 wurde er zum Wintersemester als ordentlicher Professor für preußisches Civilrecht und Handelsrecht an die Universität Kiel befördert. Von da sollte er, nachdem er schon einen ehrenvollen Ruf nach Freiburg i. Br. abgelehnt hatte, als Ordinarius an die neue Straßburger Universität gehen, für die er bereits verpflichtet war. Da holte der Cultusminister Falk, der durch den ersten Band des großen Kirchenrechtshandbuchs und namentlich durch zwei Schriften gegen das Vaticanum („Die Stellungen der deutschen Staatsregierungen gegenüber den Beschlüssen des vatikanischen Conzils“, Berlin 1871 und „Die päpstliche Unfehlbarkeit und das vatikanische Conzil“, Vortrag, Kiel 1871) auf den Gelehrten aufmerksam geworden war, H. unterm 27. März 1872 als ordentlichen Professor wieder an die Universität Berlin. Dort hat er dann 53 Semester, bis zum Schluß des Sommers 1898, gewirkt, sodaß er im ganzen nur 81/2 Jahre seines Lebens außerhalb seiner Vaterstadt zugebracht hat; aus Preußen ist er, außer auf nicht sehr zahlreichen Reisen, überhaupt nicht herausgekommen.

In seinen Universitätsstellungen war H. auch als Mitglied der bei den Juristenfacultäten damals noch bestehenden Spruchcollegien thätig, in Halle vom 9. November 1863 ab als außerordentliches, in Kiel und Berlin als ordentliches; besonders zu Anfang wurde er durch die Abfassung von Urtheilsentwürfen stark in Anspruch genommen. Sehr gesucht war der vielgewandte, nie ermüdende Mann für die Besorgung der Verwaltungsgeschäfte, die das Leben unserer Universitäten in wachsender Zahl mit sich bringt. Mehrmals bekleidete er das Dekanat, und für das Jahr 1889/90 berief ihn das Vertrauen seiner Collegen zum Rectorat der größten deutschen Hochschule; in seiner Eigenschaft als Rector der Berliner Universität sprach er am 15. October 1889 über Svarez, den Schöpfer des preußischen Landrechts (auch in den Preuß. Jahrb. LXV 1889, S. 289 ff.), nicht ohne Bezug zu nehmen auf den ein Jahr zuvor veröffentlichten ersten Entwurf zu einem Bürgerlichen Gesetzbuch, an dem auch er scharfe Kritik übte (das Personenrecht der Ehegatten im Entwurf eines B. G. B. für das Deutsche Reich im Archiv für civilist. Praxis LXXIV 1889, S. 55 ff.), und für den er sehnlichst einen zweiten Svarez zu gründlicher Umgestaltung herbeiwünschte. Aber auch den Universitätsrichter vertrat und im Senat saß er lange Jahre; dazu war er Vorsitzender der Professoren-Wittwen- und Waisencasse und gehörte dem Vorstand der von ihm und unter seinem Rectorat begründeten Hilfscasse zum Besten der Hinterbliebenen der Docenten und Beamten der Berliner Universität mit an. In all diesen Stellungen bekundete er seine werkthätige Collegialität und das lebhafteste Interesse an Ansehen, Wohl und Gedeihen wie der Berliner Universität, so überhaupt des deutschen Hochschulwesens. Schon das hätte ihn, als er anläßlich einiger viel umstrittener Einzelfälle im Jahre 1896 ein Rechtsgutachten abgab betreffend „die Disciplin über die Privatdocenten an den preußischen Universitäten“, das in manchen Universitätskreisen Anstoß erregte, wenigstens vor persönlicher Mißdeutung und Anzweifelung des guten Glaubens schützen [347] sollen; man konnte über die Schlüssigkeit seiner Ausführungen verschiedener Ansicht sein, durfte es ihm aber unter keinen Umständen verübeln, wenn er, wie immer, dem, was er als positives Recht erkannt zu haben glaubte, unbedingt sich unterordnete und, ohne Rücksicht auf Beifall oder Tadel, freimüthigen Ausdruck gab. Uebrigens hat die Berliner theologische Facultät, als sie ihn am 16. Februar 1897 anläßlich der Melanchthonfeier honoris causa zum Doctor der Theologie promovirte, es ausdrücklich ausgesprochen, daß diese Ehrung nicht blos dem erfolgreichsten Erforscher des Kirchenrechts, dem berühmten Schriftsteller und gefeierten Lehrer gelte, sondern auch dem Collegen, der um das Wohl der Berliner Universität während langer Jahre große Verdienste sich erworben hatte.

Ueberhaupt fehlte es H. an äußerer Anerkennung nicht. Von amtlichen Auszeichnungen sei nur die unterm 13. Februar 1884 erfolgte Verleihung des Charakters als Geheimer Justizrath erwähnt. Auch Doctor der Universität Bologna wurde er, als er 1888 die Berliner Universität bei der Jubelfeier dieser einstigen Pflanzstätte der Rechtswissenschaft vertrat.

Die Geschicke seines preußischen und des deutschen Vaterlandes hat H. mit beeinflußt, als er in den Jahren 1872–1876 unter Falk an den Entwürfen der kirchenpolitischen Gesetze mit arbeitete. „An der technischen und stofflichen Ausarbeitung der Maigesetze von 1873 und des Personenstandgesetzes von 1875 hatte er hervorragenden Antheil“ (Seckel). Im einzelnen würde es sich natürlich erst an der Hand der Acten feststellen lassen, wie weit seine Mitarbeit ging, sowie ob und in welchen Punkten er gesetzgeberische Maßnahmen auch angeregt hat. Die technische Durcharbeitung der Gesetze war allerdings vorzüglich; man begreift es, daß H. angesichts der Abänderungsgesetze der achtziger Jahre die Vernachlässigung dieser Seite der Arbeit scharf rügte. Ja, es muß wohl geurtheilt werden, daß gerade in juristischer Folgerichtigkeit des Guten zu viel gethan wurde im Kampf gegen eine Weltanschauung, deren Grundlagen doch nur zum Theil auf politisch-rechtlichem Gebiete ruhen; man wurde infolge dessen weiter getrieben, als man wohl ursprünglich zu gehen dachte, und griff zu Mitteln, die Bismarck in seinen „Gedanken und Erinnerungen“ scharf, aber nicht ganz ohne Unrecht als „juristischen Fangapparat für widerstrebende Priester“ gebrandmarkt hat, freilich ohne vor dem Forum der Geschichte seine Mitverantwortlichkeit mit Erfolg ablehnen zu können. Verfehlt waren aber vor allem die Voraussetzungen, von denen man ausging. Und in dieser Beziehung theilte H. aus vollster Ueberzeugung die Anschauungen der Culturkämpfer, wenn auch seine von niemanden übertroffene Vertrautheit mit dem katholischen Kirchenrecht und sein nie mit Bewußtsein hintangesetzter Gerechtigkeitssinn ihn vor dem blinden Eifer und manchen Ausschreitungen Anderer bewahrten. Zwar wenn er praktisch und, in seiner 1883 (bei Marquardsen, Handbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart I, S. 187 ff.) erschienenen, 1892 ins Italienische übersetzten „Allgemeinen Darstellung der Verhältnisse von Staat und Kirche“, auch theoretisch den Standpunkt der staatlichen Kirchenhoheit vertrat und demgemäß die Sonderung des kirchlichen Gebiets von dem der staatlichen Aufgaben forderte, dem Staat aber die Grenzziehung und, im Interesse der Friedensbewahrung sowie der Glaubens- und Bekenntnißfreiheit, die Aufsicht über die Kirchen zuwies, die für das weltliche Gemeinwesen nur als Körperschaften im Staat in Betracht kommen sollten, so sind das Principien, zu denen mit H. jeder vorbehaltlos sich bekennen wird, der auf dem Boden des modernen Staates steht, und Leitsätze, mit denen unser heutiges deutsches Staatsrecht steht und fällt. Und wenn er weiterhin anerkannte, daß der Staat nicht omnipotent sei, und daß nicht alles Recht [348] vom Staate ausgehe, so vertrat er dabei Anschauungen, die zwar seit dem Zusammenbruch des Absolutismus und des Naturrechts und seit der Aufrichtung des constitutionellen Rechtsstaates, sowie seit dem Siege der historisch-positiven Schule für alle andern Gebiete der Rechtswissenschaft und Politik zum fast unangefochtenen Gemeingut geworden sind, während im Bereich des Verhältnisses von Staat und Kirche noch heute Manchem der Muth fehlt, solche Grundsätze anzuerkennen. Aber freilich noch bei H., dem hiernach obiges Bekenntniß als ein wahres Verdienst anzurechnen ist, blieb der Satz von der Selbständigkeit auch des Kirchenrechts theoretisch und noch mehr praktisch ein totes Capital. Die verderbliche Folge davon war eine bedenkliche Unterschätzung des Gegners; nicht immer blieb H. dessen sich bewußt, daß auch auf der anderen Seite ein positives Recht ihm gegenüberstand, das von einem zu stets wachsendem Leben erwachenden Rechtsbewußtsein getragen wurde, und nur allzu leicht fiel er in die Anschauung früherer Zeiten zurück, wonach dem nur auf staatlicher Seite zu findenden Recht lediglich widerstrebende klerikale Herrschsucht und Unbotmäßigkeit entgegentrat. Und doch hätte der Historiker in ihm, der sonst so erfolgreich dem Juristen zur Seite stand, ihm sagen müssen, daß es sich von jeher im Verhältniß der beiden Gewalten lediglich um einen bald mehr persönlich, bald mehr fachlich zugespitzten Machtkampf handelt, in dem freilich vorwiegend ethische Kräfte und der jeweilige Gesammtculturzustand den Ausschlag geben, indeß die vom einen oder vom anderen Theil ausgehenden Rechtsnormen, die jeder auch dem Gegner aufzuerlegen bestrebt ist, nur eine untergeordnete Rolle zu spielen vermögen. Jedoch da kam eben bei H. der alte Landrechtsjurist zum Vorschein und daneben der akademische Doctrinär, der gerade bei der Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche, bei der auf staatlicher Seite eine nüchterne Realpolitik mehr als anderswo noth thut, schon so oft unabsehbaren Schaden gestiftet hat; nicht umsonst sind bereits von Justus Möser Professoren für derlei Beschäftigungen als weniger geeignet erklärt worden, weil sie alles durch ein Vergrößerungsglas sähen. An H. bewahrheitete sich dies bei der Beurtheilung des Vaticanums. Auch er war der Meinung, daß die päpstliche Unfehlbarkeit und der Universalepiscopat, die doch nicht nur schon geraume Zeit zuvor in der Luft lagen, sondern auch nach ihrer Definition und Declaration thatsächlich das Verhältniß der katholischen Kirche zum modernen Staat in keiner Weise zu verschieben vermochten, den Gegner praktisch gefährlicher machten; auch er half deshalb mit, die leitenden Staatsmänner zu ihrer bekannten Stellungnahme gegenüber dem neuen Dogma zu veranlassen, die er sich sogar noch energischer gewünscht hätte. Und doch trug er dadurch mit dazu bei, ungezählte Katholiken, denen die religiöse Seite des Katholicismus, wenn auch auf ihre Weise, durchaus im Vordergrund stand, denen in die Arme zu treiben, die er bekämpfen wollte, und wirkte er so mit, die breite Masse gebildeter und ungebildeter Katholiken vom politischen Katholicismus noch mehr abhängig zu machen, die, wenn gleich die staatliche Kirchenpolitik nicht so leicht darauf rechnen kann, von ihnen laut anerkannt und offen unterstützt zu werden, doch als zum mindesten praktisch staatstreue Unterthanen mit ihrem tacitus consensus für den Staatslenker ein werthvoller Rückhalt sind, falls dieser mit ihnen durch sichere Kanäle Fühlung zu gewinnen vermag. Aber gerade solche Fühlung scheint, wie manch höher Stehendem, auch H. gefehlt zu haben, der eben Zeit seines Lebens nur in rein protestantischen Gegenden gelebt und den Katholicismus wesentlich darnach eingeschätzt hat, wie er in der Presse und sonst an die Oeffentlichkeit trat. Auch das führte zur Unterschätzung. Nicht minder folgendes: H. war, soweit sich darüber urtheilen läßt, nicht eigentlich eine religiöse Natur; der [349] protestantische Sohn des katholischen Vaters, in dessen geistigem Leben zudem die Verstandesthätigkeit des voraussetzungslos nach wissenschaftlicher Wahrheit suchenden Forschers durchaus überwog, hatte kaum religiöse Bedürfnisse. Freilich war er im Verhältniß von Mensch zu Mensch von größter Duldsamkeit. Manche katholische Theologen traten, um unter seiner Leitung zu arbeiten, mit ihm in Berührung; er nahm sie nicht nur, sondern er setzte sie ohne weiteres voraus, wie sie waren, und kam, zumal wenn sie in der ganz protestantischen Umgebung auch ihn sein ließen, wie er war, vortrefflich mit ihnen aus. Aber auch religiös oder sonst andersdenkende Protestanten ertrug er nicht nur, sondern behandelte sie sogar mit ausgesuchtem Wohlwollen, besonders wenn sie ebenso offen und entschieden wie er zu ihrer Anschauung sich bekannten, wenn auch mit der Bescheidenheit, die dem Schüler und jungen Manne gegenüber dem bejahrten Lehrer ziemte. Gerade das hat ihm in den verschiedensten Lagern manchen aufrichtigen und treuen persönlichen Verehrer verschafft. Jedoch in der Kirchenpolitik rechnete er nicht ernstlich mit der Religiosität; wie er selbst im wesentlichen Ordnungschrist war, so hielt er auch die Anderen dafür, wenn nicht geradezu für Leute, welche die Religion nur zu politischen Zwecken ge- oder vielmehr mißbrauchten. Unrecht aber würde man ihm thun, wenn man bestreiten wollte, daß seine theoretische und praktische Stellungnahme in kirchenpolitischen Dingen nicht ganz und gar von idealen Beweggründen bestimmt war. Wenn manche Aeußerungen in und außer der Vorlesung den Anschein erweckten, als ob seine Gegnerschaft gegenüber der katholischen Kirche mit dem Vergnügen entspringe, das raffinirteste aller Rechtsgebilde, das kanonische Recht, mit überlegenem Verstand zu durchschauen und vernichten zu helfen, so handelte es sich dabei doch nur um Stimmungen, die beim einen oder anderen Einzelfall mit wirksam sein mochten, aber H. nicht in der Tiefe seines Denkens bewegten. Ihn trieb vielmehr, trotz aller entgegenstehenden theoretischen Aeußerungen, wenn auch unbewußt, im letzten Grunde jene altlutherische Anschauung, die der moderne, nichtreformirte Protestant angesichts der veränderten Verhältnisse erst langsam sich abgewöhnen muß, nämlich daß alle äußere Ordnung Sache des Staates sei. Und ihn beseelte jener staatliche Idealismus, dem der souveräne Staat, von dem er auch alles erwartet, das Ein und Alles bedeutet, eine Geistesrichtung, die ja gewiß einseitig ist, die aber Preußens und Deutschlands Größe geschaffen hat und dazu unentbehrlich war.

Unter diesen Umständen begreift es sich, daß H. für den Abbruch des kirchenpolitischen Kampfes, in dem er den Staat unmittelbar vor einem vollen, dauernden Erfolge angekommen wähnte, kein Verständniß besaß. Vielmehr schrieb auch er ihn der politischen Kurzsichtigkeit der nationalliberalen Partei, der Zollpolitik und der Laune des Fürsten Bismarck zu. Wohl gab er theoretisch die Möglichkeit einer Waffenruhe zu. Aber er hielt den Augenblick dafür erst nach der, wie er meinte, mit Sicherheit zu erwartenden Niederwerfung allen Widerstandes für gekommen, und konnte sich außerdem mit der Art nicht befreunden, wie der Ausgleich herbeigeführt wurde, Anschauungen, denen er alsbald auch auf dem Katheder unerschrocken Ausdruck gab. Dem abgegangenen Kampfesminister Falk aber widmete er in dankbarer Erinnerung an die Jahre, da er unter ihm und für ihn thätig gewesen, 1883 den vielleicht am besten gelungenen und besonders wichtigen dritten Band seines Kirchenrechts.

Es war nur natürlich, daß ein Mann, der solchen Einfluß auf den Gang der öffentlichen Angelegenheiten ausübte, auch parlamentarisch thätig wurde. Von 1872–1878 und von 1880–1881 saß er im Reichstag als Abgeordneter für Flensburg-Apenrade. Die Universität Kiel sandte ihn 1871–1872 als [350] ihren Vertreter ins Herrenhaus, in dem er später, nämlich von 1889 bis zu seinem Tode, die Universität Berlin vertrat. Als Reichstagsabgeordneter hat H. 1873 seinen von ihm und Dr. Völk eingebrachten Entwurf zu einem Gesetz über die bürgerliche Eheschließung und dann auch über die Beurkundung des Personenstandes ausgearbeitet, der schon am 28. März 1874 in dritter Lesung angenommen wurde, und nach einer im Verein mit den verbündeten Regierungen vorgenommenen Umarbeitung eben zum Reichspersonenstandsgesetz auswuchs.

Auch den verschiedenen Vertretungskörpern der evangelischen Kirche gehörte der berühmte Kirchenrechtslehrer selbstverständlich an. In Berlin saß er in der Gemeindvertretung der Zwölf-Apostel- und der Lutherkirche, 1871 war er Mitglied der Provinzialsynode zu Rendsburg, später saß er in der Synode der Provinz Brandenburg. Seiner dogmatischen Ueberzeugung und kirchlichen Richtung nach zählte er zur liberalen Partei, die er z. B. auf der erwähnten Rendsburger Provinzialsynode geradezu führte.

Seit dem Jahre 1876 zog er sich mehr und mehr von der Politik auf seine Forschungs- und Lehrthätigkeit zurück, um hier das Größeste zu leisten.

Ein Jahr nach seiner Promotion gab H. unter dem Titel: „Das landesherrliche Patronatrecht gegenüber der katholischen Kirche“, Berlin 1856, seine Doctorschrift auch deutsch, als selbständige, Richter gewidmete Abhandlung heraus, wofür ein wirkliches Bedürfniß vorhanden war, da die objectiv gehaltene und nach strenger juristisch-historischer Methode verfaßte Schrift sich vortrefflich dazu eignete, in dem gerade damals über diese Frage heftig tobenden Oberrheinischen Conflict klärend zu wirken. Wenn bald nachher der landesherrliche Patronat im technischen Sinne aufgegeben wurde, so ist das mit das Verdienst von H., wozu freilich bemerkt werden muß, daß nach der neuesten Forschung der Begriff historisch besser begründet erscheint, als H. nach dem damaligen Stande der Wissenschaft es darstellte. Ueber die Succession in Patronatrechte säcularisirter geistlicher Institute veröffentlichte H. mit Rücksicht auf den sog. Kölner Patronatsstreit eine Untersuchung im 2. Jahrgang der Zeitschrift für Kirchenrecht 1862, S. 412 ff., hierbei Fragen, die er schon in seiner Erstlingsschrift erörtert, weiter verfolgend. Auch sonst hat er sich in Specialarbeiten und Gutachten eingehend mit dem Patronatrecht befaßt, dessen historisch-dogmatische Darstellung denn auch ein Glanzpunkt seines Kirchenrechtes (2. u. 3. Band) geworden ist. In diesen Zusammenhang gehört ferner eine gleichfalls in das Handbuch (Bd. 2) übergegangene Untersuchung „Ueber die Geschichte der Incorporation und des Patronatrechtes“, Berliner Festgaben für Heffter zum 3. August 1873, worin er zum ersten Mal den historischen Zusammenhang beider Einrichtungen klarstellte und für spätere und weitergehende kirchenrechtsgeschichtliche Forschungen die Bahn brach.

Seinen wissenschaftlichen Ruf begründete H. mit seiner Ausgabe der falschen Decretalen Pseudoisidor’s. Von Anfang 1860 bis Ende 1861 hatte er zu ihrer Vorbereitung eine große wissenschaftliche Reise durch Italien, Spanien, Frankreich, England, Schottland, Irland, Holland und Belgien unternommen, die er 1862 im Herbst durch eine solche in die Schweiz ergänzte. Das Erscheinen der „Decretales Pseudo-Isidorianae et Capitula Angilramni“, Lipsiae 1863, fiel zusammen mit seiner Ernennung zum außerordentlichen Professor in Halle. Um die Ausgabe, der er eine vortreffliche praefatio vorausschickte, gruppiren sich eine Reihe von kleineren Aufsätzen, die in den ersten Bänden der Zeitschrift für Rechtsgeschichte und derjenigen für Kirchenrecht erschienen. Ich hebe nur hervor die scharfsinnige Untersuchung über den Beinamen Mercator in der Vorrede Pseudo-Isidor’s, Zeitschrift für Kirchenrecht Bd. VI, 1866, S. 148 ff., worin H., an die Stelle verfehlter [351] Erklärungshypothesen wissenschaftliche Gewißheit setzend, nachwies, daß der Beiname von der Benutzung des in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts wirkenden Marius Mercator herrühre, ein Nachweis, dem jüngst noch eine Untersuchung von Joh. Friedr. v. Schulte in den Sitzungsberichten der Wiener Akademie, phil.-hist. Cl. CXLVII 1903, eine späte, aber darum nicht weniger willkommene Bestätigung verschaffte. Ueber die Ausgabe selbst, die bisher die einzige geblieben, und deren Einleitung auch in Punkten, über die seither eine reiche Litteratur sich verbreitete, im großen und ganzen nicht überholt worden ist, urtheilt der berufenste unter den lebenden Kennern der älteren kirchlichen Quellen- und Litteraturgeschichte und zugleich Schwiegersohn von H., Emil Seckel[WS 1], daß sie ein höchst verwickeltes textkritisches Problem glücklich gelöst, einen ungeheuren Fleiß erfordert und der Sachkunde des Herausgebers ein glänzendes Zeugniß ausgestellt habe. Nur in einem Punkte werde sie den zu stellenden Ansprüchen nicht voll gerecht: „sie giebt die Konzilien und echten Dekretalen in erster Linie nach den gedruckten Texten echter Sammlungen (Hispana u. s. w.), während Maaßen[WS 2] in seinen Pseudo-Isidor-Studien nachgewiesen hat, daß Pseudo-Isidor eine eigentümliche Redaction der Hispana benutzte, die von ihm selbst bereits mit Verfälschungen und falschen Stücken durchsetzt war“. Seit der Veröffentlichung dieser wichtigen Edition hat sich H. nur noch gelegentlich mit handschriftlichen und textgeschichtlichen Studien abgegeben. Vielmehr schied er mit Rücksicht auf das allerdings bedauerlicher Weise in den Anfängen stecken gebliebene quellen- und litteraturgeschichtliche Werk von Maaßen und auf die Arbeiten v. Schulte’s diese Aufgaben von seinem Arbeitsbereich aus.

Mit seiner kirchenpolitischen Thätigkeit hängen zusammen die Ausgaben und Commentirungen der preußischen Kirchengesetze von 1873 und 1874 und 1875; in Nachtragsheften dazu behandelte er in entsprechender Weise die Gesetze von 1876, 1878, 1880, 1886 und 1887, indeß er in der Zeitschrift für Kirchenrecht XVII, 1883, S. 166 über das preußische Gesetz betreffend Abänderung der kirchenpolitischen Gesetze vom 31. Mai 1882 in seiner Einwirkung auf die bisherige staatskirchliche Gesetzgebung Preußens sich verbreitete. Andere hierher gehörige Aufsätze finden sich in Hartmann’s[WS 3] Zeitschrift für Gesetzgebung und Praxis auf dem Gebiete des Deutschen öffentlichen Rechtes, Bd. I und II, 1875 und 1876, und im 4. Supplementband von Holtzendorff’s Handbuch des deutschen Strafrechts, Berlin 1874. Die Schrift über die Orden und Congregationen der katholischen Kirche in Preußen (vgl. auch Preußische Jahrbücher XXXIV, 1874, S. 117 ff.) wurde durch Decret vom 11. Decbr. 1874 von der römischen Indexcongregation verurtheilt und kam auf den Index (vgl. neueste revidirte Ausgabe von 1900, S. 156), was H. nicht ohne sichtliches Vergnügen in den Vorlesungen gleich dem Umstand festzustellen pflegte, daß sein Hauptwerk von ängstlichen katholischen Autoren nur mit einem Sternchen aufgeführt werde, und daß ihn dies doch nicht davor schütze, gerade von dieser Seite weidlich geplündert zu werden, ein Loos, das allerdings – übrigens zu seinem Ruhme – wol wenigen Schriftstellern in so reichlichem Maße wie ihm beschieden war. Gleich 1874 hatte er auch einen Commentar zum preußischen Personenstandsgesetz vom 9. März dieses Jahres herausgegeben, dem er dann 1875 einen ebensolchen zum entsprechenden Reichsgesetz vom 6. Februar 1875 folgen ließ; schon 1876 erlebte dieser eine zweite, 1890 eine dritte Auflage. Den Grundstock des preußischen Kirchenrechtes bildeten aber damals noch in weit höherem Maße als heute die Bestimmungen von Theil II, Titel 11 des preußischen Allgemeinen Landrechts. Es war darum für die Abrundung von Hinschius’ eigenen particular-kirchenrechtlichen Arbeiten [352] wie für die Wissenschaft gleich bedeutsam, daß er 1874 ff. in die Reihe der Nachfolger Koch’s für die Commentirung dieses wichtigen Gesetzbuches eintrat. Die Frucht davon war schließlich „Das Preußische Kirchenrecht im Gebiete des Allgemeinen Landrechts“, Abdruck aus der 8. Auflage von Koch’s Commentar, Berlin 1884, ein Werk, das sich durch praktische Brauchbarkeit und vortreffliche Einarbeitung der zahlreichen neueren Gesetze auszeichnete, wozu allerdings auch Niemand so berufen war wie H., der Urheber eines Theils von ihnen. Während manche, zumal neuere Commentare die Arbeit sich leicht machend und die eigenthümliche Aufgabe dieser juristischen Litteraturgattung verkennend, mit bloßen Umschreibungen des Gesetzestextes sich begnügen, verstand H. es ausgezeichnet, die an den einzelnen Paragraphen sich anknüpfenden praktischen Möglichkeiten und Fragen zu erörtern, und erwies er sich so als Meister auch in einer litterarischen Behandlungsweise, die sonst dem Theoretiker eher fernliegt.

Schon der Umstand, daß die zahlreichen staatlichen Gesetze, mit denen er sich beschäftigte, auf die evangelische Kirche sich mit bezogen, brachte es mit sich, daß H. auch auf das evangelische Kirchenrecht seine Studien mit erstreckte. In der von ihm stets in erstaunlichem Umfang betriebenen Lectüre, welche die Litteratur auch derjenigen kirchenrechtlichen Gebiete, auf denen er nicht oder noch nicht thätig war, ja darüber hinaus die wichtigsten Erscheinungen des außerkirchenrechtlichen juristischen Schriftwesens bewältigte, hat er das evangelische Kirchenrecht aufs aufmerksamste verfolgt. Monographische Arbeiten darüber veröffentlichte er allerdings nur wenige; ich nenne z. B. die Beiträge zur Geschichte des Desertionsprocesses nach evangelischem Kirchenrecht in der Zeitschrift für Kirchenrecht II, 1862, S. 1 ff., die Schrift über die Evangelische Landeskirche in Preußen und die Einverleibung der neuen Provinzen, Berlin 1867, in welchem Jahre auch anonyme Aufsätze aus seiner Feder über den Einfluß der neuen Gebietserwerbungen auf die Union und die lutherische Kirche in der Neuen Evangelischen Kirchenzeitung erschienen, endlich seinen Beitrag über die Juristische Persönlichkeit der Synodalcassen in der evangelischen Landeskirche der älteren preußischen Provinzen in den Juristischen Abhandlungen der Berliner Facultät für Beseler, 1885, S. 31 ff. Daß er dazu neben seinen anderen Arbeiten noch die Zeit und die innere Sammlung fand, war fast ebenso erstaunlich, wie daß er zahlreiche Artikel für die 2. und 3. Auflage der Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche von Herzog (Hauck), für v. Holtzendorff’s Rechtslexikon, für Ersch und Gruber’s Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften, und namentlich für v. Stengel’s[WS 4] Wörterbuch des deutschen Verwaltungsrechts, sowie nicht wenige Besprechungen für die Zeitschrift für Kirchenrecht, für Rechtsgeschichte, der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, für die Historische Zeitschrift und für mehrere Litteraturblätter verfaßte, seiner Arbeiten über Civil-, speciell auch Urheberrecht, und über Proceß- und Verwaltungsrecht, die z. Th. schon oben erwähnt wurden, gar nicht zu gedenken. Man kann jedenfalls nicht behaupten, daß H. nicht auch auf dem Gebiet des evangelischen Kirchenrechtes Großes zu leisten im Stande gewesen wäre, und daß sein Interesse und seine Begabung einseitig auf dem Gebiet des katholischen Rechtes gelegen haben. Seine Anfänge, die erwähnten Erinnerungen an Richter und einige andere Arbeiten weisen auf das Gegentheil hin, wenn auch zugegeben werden mag, daß für Naturen, die, wie H., zu kirchlichen Fragen lediglich in einem wissenschaftlichen, juristisch-historischen Verhältniß stehen, große Theile des auf geschlossener dogmatischer Grundlage ruhenden, juristisch fein durchgebildeten und auf eine Vergangenheit von bald 2000 Jahren zurückblickenden katholischen Kirchenrechts ein besseres [353] Feld der Thätigkeit geben als manche Materien des evangelischen Rechts, das, wie alles Evangelische, wenigstens in seinen Hauptgegenständen innere, religiöse Stellung- und Antheilnahme erfordert. Jedoch die großen kirchenrechtlichen Schlachten werden doch auf dem Gebiet des katholischen Rechtes geschlagen und auf demjenigen des Staatskirchenrechtes, soweit es sich auf die katholische Kirche bezieht. Und so ist es auch wissenschaftlich nicht sowohl zu bedauern als dankbar hinzunehmen, daß H., als er es unternahm, ein großangelegtes Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten zu schreiben, und es sich herausstellte, daß die Arbeit eines Mannes selbst von seiner selten erreichten, kaum jemals übertroffenen Arbeitskraft nicht im Stande sei, die Riesenaufgabe zu bewältigen, seine rastlose Thätigkeit bis zu seinem vielleicht gerade infolge solcher Arbeit verfrühten Ende so energisch fortsetzte, daß wenigstens ein stattlicher Theil des wichtigen katholischen Rechtes von Grund aus neu aufgeführt wurde.

Richter hatte Weihnachten 1863, nicht lange vor seinem Hinscheiden, die Absicht geäußert, im Verein mit H., der dann 1865 aus dem Nachlaß des verstorbenen Lehrers wenigstens Beiträge zum preußischen Kirchenrecht herausgab, sein Lehrbuch gründlich umzugestalten und war mit ihm bereits ans Werk gegangen. Der Umstand, daß es aus Gründen, die nicht im Mangel an Bereitwilligkeit auf Seiten von H. lagen, doch nicht zu einer von diesem bearbeiteten Neuauflage kam, dürfte der Anlaß gewesen sein, dem wir das großartigste und bedeutendste kirchenrechtliche Werk des 19. Jahrhunderts verdanken.

Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland, d. h. fünfeinhalb Bände System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, erschien in Berlin, Bd. I 1869, Bd. II 1878, Bd. III 1883, Bd. IV 1888, Bd. V, Abth. 1 1893, Bd. V Abth. 2 1895, Bd. VI Abth. 1 1897; es umfaßt nach der Zählung von Seckel 4600 Seiten großen Formats und engen, durch einen gewaltigen Anmerkungsapparat noch reichhaltiger gemachten Drucks.

Von Richter’s ungleich kleiner angelegtem Werk, das eben nur ein Lehrbuch sein wollte, unterscheidet es sich auf den ersten Blick dadurch, daß es auch nicht ein Theilstück von Rechtsgeschichte vorausschickt, vielmehr den ganzen Stoff auf ein System bringt, und daß es das katholische und das evangelische Recht nicht nach Instituten durcheinandergewürfelt, sondern getrennt darstellen will. Letzteres bedeutete wissenschaftlich entschieden einen Fortschritt, wenn auch vielleicht für den Lehrvortrag die althergebrachte Gegenüberstellung der entsprechenden Materien manches für sich hat. Es hätte sogar bei so breiter Darstellung ruhig noch weiter gegangen und das Staatskirchenrecht als dritter Bestandtheil ausgeschieden werden können und sollen. Daß dies nicht geschah, daß vielmehr bei jedem Gegenstand anhangsweise das staatliche Recht, welches je nachdem das kirchliche freigibt, beschränken oder nicht zur Geltung kommen lassen will, mit dargestellt wurde, muß freilich jetzt, nachdem der Verfasser über der Arbeit gestorben ist, als ein wahres Glück bezeichnet werden; so sind wenigstens die in Angriff genommenen Stoffe nach jeder Richtung hin behandelt. Sehen wir von einem Einleitungsbande ab, der die Grundbegriffe und das Verhältniß von Staat und Kirche im allgemeinen erörtern, sowie eine Uebersicht über die Geschichte der Verfassungsentwicklung und einen Abriß der Quellen- und Litteraturgeschichte geben sollte, den aber H. schon im Vorwort zum ersten Bande nur in entfernte Aussicht zu stellen wagte, so sollte zunächst das katholische Kirchenrecht in den zwei Haupttheilen: „Die Hierarchie und die Leitung [354] der Kirche durch dieselbe“ sowie „Die Rechte und Pflichten der Kirchenglieder“ abgewandelt werden. Bis zum zweiten Haupttheil ist H. gar nicht gelangt; besonders daß er das katholische Ordensrecht nicht im Stile dieses Werkes bearbeitet hat, wird sich noch auf lange hinaus unangenehm fühlbar machen. Vom ersten Haupttheil fehlen bloß zwei Capitel. Für das allerdings sehr wichtige kirchliche Vermögensrecht sind viele Vorarbeiten Anderer da, auch ist dessen Behandlung in mehreren, innerlich zusammenhängenden Monographien von einem Schüler von H. in Angriff genommen. Das nächste, das H. zu bearbeiten gehabt hätte, wäre die Verwaltung der Gerichtsbarkeit in streitigen kirchlichen Angelegenheiten gewesen; gerade dabei ist es besonders zu bedauern, daß er, der zugleich ein gewiegter Processualist war, die Feder aus der Hand legen mußte. Auch sonst ergaben sich im Verlauf der Arbeit gewisse Abweichungen von dem hergebrachten System, namentlich im vierten Band, mit dem die Darstellung des kirchlichen Verwaltungsrechtes anhebt, wo die Lehren von den heiligen Sachen und vom Asylrecht, die sonst beim kirchlichen Vermögensrecht zur Darstellung gelangen, Unterkunft in dem die Verwaltung des Ordo schildernden Capitel fanden.

Damit soll übrigens keineswegs behauptet werden, daß in der Systematik das Hauptverdienst von Hinschius’ Werk zu finden sei. Hierin war vielmehr schon Eichhorn der Bahnbrecher, demgegenüber die Spätern und so auch H. nur als Besserer erscheinen. Ja in einer Hinsicht wirkte die rastlose Aufreihung allen Stoffes auf ein System sogar eher nachtheilig, nämlich bei den geschichtlichen Partien.

Schon das Vorwort hatte eingehende dogmengeschichtliche Einleitungen verheißen. Der erste Band brachte sie noch in verhältnißmäßig bescheidenem Umfang. Dann aber traten sie mehr und mehr in den Vordergrund. Nicht als ob darüber die Dogmatik vernachlässigt worden wäre. Vielmehr mündet die Geschichte jedes einzelnen Instituts in eine erschöpfende Behandlung des geltenden Rechtes aus, das dadurch, daß es als Abschluß und Krone der Entwicklung erscheint, erst recht verständlich wird. H. hat aber auch nicht die Geschichte zur Magd der Dogmatik herabgewürdigt, wie es so Manche thun, die einiges historische Material für ihre dogmatischen Zwecke zurechtstutzen und vergewaltigen, um sich dann gewöhnlich noch recht viel auf ihre im besten Fall von Mißverständnissen freie rechtsgeschichtliche Arbeit einzubilden. Im Gegensatz hierzu war H. ein echter und rechter Rechtshistoriker, der die Vergangenheit des Rechtes zwar als Theil des Werdeganges auffaßte, aus dem die Gegenwart entsteht und die Zukunft hervorgehen soll, der sie aber um ihrer selbst willen studirte und aus ihr selbst heraus verstehen lernen wollte. Daher auch der gewaltige Umfang, den manche historische Abschnitte seines Werkes annahmen. Man vergleiche etwa die meisterhafte Geschichte der Bischofswahlen im zweiten Band, die auf lange hinaus grundlegende der Synoden und des kirchlichen Gesetzgebungsrechtes im dritten, und dann vor allem die im vierten anhebende und bis in den sechsten hinein sich erstreckende historische Entwicklung des kirchlichen Strafrechts und Strafverfahrens; letztere leistet, selbst über die Anforderungen hinaus, die an eine Monographie zu stellen wären, in der erschöpfenden Benutzung des gesammten Materials so Erstaunliches, daß mit dem von H. Gebotenen mit Leichtigkeit mehrere umfassende und wirkungsvolle Einzelarbeiten geschrieben werden könnten. Aber freilich näherte sich auf solcher Weise das Werk stark einer Summe von Monographien an: nur ein solche Massen bezwingender Geist wie H. vermochte ihm nicht nur äußerlich sondern auch im Innern die Einheit und zwar bis in die kleinsten Einzelheiten zu wahren, während es dem Leser und Benutzer, zumal in Ermanglung eines ausführlichen [355] Registers, erst bei langjähriger Vertrautheit mit dem Werk möglich wird, jeden Gegenstand nach all den Richtungen, nach denen er – jeweilen am passenden Platze – im Text oder in den zahllosen, umfangreichen Anmerkungen behandelt ist, durch das Riesenwerk hin zu verfolgen. Und der große Ueberblick über das Werden des kirchlichen Rechtes im Ganzen sowie der Einblick in das Zusammenfallen und Zusammenwirken der verschiedenen historischen Einschläge ging bei dieser systematischen Verzettelung des geschichtlichen Stoffes verloren. Zwar H. selbst übersah bei der Bearbeitung des einzelnen Gegenstandes kaum einen Zusammenhang; vielleicht hätte auch der Einleitungsband in etwa ihm und dem Leser die vermißte Zusammenfassung vermittelt. Aber in seiner ganzen überwältigenden Größe scheint H. der stolze Werdegang des kirchlichen Rechtes doch nicht vor die Augen getreten zu sein, sonst hätte er uns bei irgend einer Gelegenheit wenigstens einen Act dieses historischen Dramas sondergleichen in machtvollem Zusammenspiel schauen lassen. Die aufbauende Phantasie und der große Stil des Geschichtsschreibers, der in seinem Geiste stufenweis die Vergangenheit zu neuem Leben wieder erstehen läßt und die Triebkräfte ihres Werdens mit einer die Einsicht des Zeitgenossen in den Schatten stellenden Klarheit erschaut, um sie dann mit so starken Farben seinen Lesern vorzuführen, daß auch sie mit ihren stumpferen Augen sie wahrzunehmen vermögen, das war weniger die Gabe von H., der mehr als Geschichtsforscher sich auszeichnete. Man erkennt dies, wenn man die erwähnte allgemeine Darstellung des Verhältnisses von Staat und Kirche und zwei zusammenfassende Bearbeitungen des Kirchenrechts vergleicht, die er, die eine für die fünf ersten Auflagen von Franz v. Holtzendorff’s Encyklopädie der Rechtswissenschaft, die andere für Birkmeyers[WS 5] ähnliches Unternehmen schrieb. An letzterem Ort hat er auf die Behandlung der kirchlichen Rechtsgeschichte so gut wie ganz verzichtet, bei Holtzendorff gab er davon kaum einen kurzen Abriß, und auch die geschichtlichen Teile des an erster Stelle genannten Werkes fielen ihm so aus, daß kaum jemand den alle Andern überragenden Erforscher und Wiederbeleber der dort behandelten Dinge als Verfasser vermuthet hätte. Muster von Präcision und von meisterhafter Beherrschung des Gegenstandes sind freilich alle diese in größter Kürze wunderbar vollständigen Zusammenfassungen; aber der Reichthum der Beobachtung, der im Hauptwerk förmlich überquillt, ist mehr, als es die abgekürzte Behandlung mit sich bringen mußte, versiegt, und der Ton ist, statt stärker zu werden, fast völlig verblaßt. Nur darum durfte es schon bald nach des Meisters Tode ein Schüler wagen, an dem einen der genannten Orte des Lehrers Arbeit durch eine neue zu ersetzen. Die Pietät gegen den Verstorbenen forderte recht eigentlich zu diesem Unternehmen heraus, ließ sich dabei doch hoffen, daß es trotz im übrigen ungleich schwächerer Kräfte doch gelingen werde, gerade das historische Lebenswerk von H. für diejenigen wirkungsvoller als bisher herauszuarbeiten, die nicht gleich dem Verfasser täglich in die unergründlichen Schächte des „Kirchenrechts der Katholiken und Protestanten“ zu gewinnreicher Arbeit einzufahren im Stande sind.

Denn darin liegt das Gigantische dieses Buches, und deshalb bildet es seit Jahrzehnten die Grundlage fast aller katholischrechtlichen Forschung, ja wird es sie wohl noch auf Menschenalter hinaus bilden, daß es den Stoff trotz dessen erdrückender Fülle auf Grund eigener, man kann wohl sagen, sachlich erschöpfender Kenntniß der Quellen nach allen Seiten hin gemäß den Regeln juristischer und historischer Methode gleichmäßig gründlich behandelt. Dadurch ist es zu dem unbestritten führenden Werke geworden. Was Richter blos skizzenhaft andeuten konnte, hat H. fertig ausgebaut. Die Vollständigkeit, die Andere in [356] schwerem Ringen nur für kleine Theile erzielen können, hat er, so weit er gekommen ist, fast mit Leichtigkeit für das Ganze erreicht.

Er hatte es nicht zum voraus durchgearbeitet, weshalb er auch für die noch nicht bearbeiteten Theile nichts als einige Litteraturnotizen hinterließ. Nachdem er sich an monographischer Arbeit erprobt und anläßlich der Herausgabe Pseudo-Isidor’s einen großen Theil der Quellen kennen gelernt hatte, machte er sich kühn sofort an die Ausarbeitung des Einzelnen. Nur einen knappen Gesammtplan entwarf er, den er, eben in Holtzendorff’s Encyklopädie, vorläufig mit dem, was ihm an Wissen zur Zeit zu Gebote stand, und wie es ihm sich bot, gewissermaßen als Programm veröffentlichte, um dieses dann Schritt für Schritt abzuarbeiten und an Stelle des ersten Entwurfs die fertige Ausführung zu setzen. Wie genau ihm aber im Kopf das Weitere bis in alles Beiwerk hinein vorschwebte, zeigen die zahlreichen Verweise nach unten, die er zuversichtlich anbrachte und zum Theil auch eingelöst hat. Im übrigen arbeitete er so, daß er für jeden größeren Abschnitt die Quellen, namentlich auch die Concilien, diese an Hand von Mansi, von den Zeiten des Urchristenthums an bis herab auf die neuesten Entscheidungen der römischen Congregationen und die Erlasse der deutschen Bischöfe und Staatsregierungen hintereinander durchlief, dann den Abschnitt disponirte, hierauf den Quellen- und Anmerkungsapparat zubereitete und zuletzt den Text dazu schrieb. Letzteres ging meist im Fluge. Mit Entwürfen und Umarbeitungen durfte er sich nicht aufhalten. Daß dabei kleine Unebenheiten mit unterliefen und die Sätze bisweilen etwas schwerfällig wurden, ist weniger verwunderlich, als daß er trotzdem stets den treffendsten und klarsten Ausdruck fand. Zweifel darüber, was gemeint ist, hat man bei ihm nie. Aber auch die Materialbeschaffung und -bearbeitung ging ihm mit fast unheimlicher Behendigkeit von statten. Nur dadurch, sowie durch seine fabelhafte Ausdauer und seine einzig dastehende, stets wachsende Fähigkeit, sich auf dies eine große Werk zu concentriren, erklärt es sich, daß er das Buch in diesem Maßstab überhaupt so weit brachte. Er hielt Colleg, wohnte Sitzungen bei, ließ sich von Studirenden und Andern mit den verschiedenartigsten Dingen behelligen, trieb Lectüre, ja er machte zwischen hindurch Gutachten oder andere, die Anspannung aller Kräfte erfordernde Arbeit, um dann wieder zu seinem Kirchenrecht zurückzukehren, und da, wo er aufgehört, sofort, sammelnd oder producirend, mit vollem Erfolg von neuem einzusetzen.

Erholung gönnte er sich kaum. Besonders nach Naturgenuß hatte er, darin ein echtes Kind der Großstadt, nur ein beschränktes Bedürfniß. Wenige Wochen weilte er im Sommer fern von Berlin, in den letzten Jahrzehnten meist auf Sylt, wohin ihm aber oft genug Correcturbogen von einem Umfang und in einer Zahl nachliefen, daß ihre Bewältigung, die ihm fast wie eine Erholung erschien, für Andere eine schwere Arbeit gewesen wäre. Daneben spielte er dann vergnügt seinen Skat und rauchte mit noch mehr Behagen als sonst seine geliebte Cigarre.

H. war von durchdringendem Scharfsinn und besaß die Gabe eines raschen und sicheren Urtheils. Auch verfügte er über ein selten starkes Gedächtniß. Daraus und aus seiner Gewissenhaftigkeit selbst im Kleinsten erklärt sich die ungewöhnliche Zuverlässigkeit seiner Werke, in denen Versehen sogar geringfügigster Art eine Seltenheit sind. Die todten, aber auch die lebenden Sprachen Europas, besonders das Italienische, waren ihm vollkommen geläufig. In der Jurisprudenz, namentlich aber auch in der Geschichte und deren Hülfswissenschaften, deren Kenntniß er sich wesentlich durch rastloses Selbststudium erworben hatte, war er gleichmäßig bewandert. Vor allem aber beherrschte er die juristische wie die historische Methode meisterhaft. Die nie versagende [357] scharfe juristische Durcharbeitung und sichere Construction ging Hand in Hand mit freier, die Quellen und ihre Thatsachen nie verkürzender oder vergewaltigender historischer Behandlung.

Das Zusammenwirken juristischer und historischer Denkweise, sowie der in Hinschius’ Charakter wurzelnde Gerechtigkeitssinn ließen ihn als Forscher einen ungewöhnlich hohen Grad von Objectivität erreichen. Nie verleugnete er seinen Standpunkt auch nur im Geringsten. Aber in die dazu in schroffstem Gegensatz stehenden Voraussetzungen des katholischen Kirchenrechts lebte er sich für dessen wissenschaftliche Behandlung wie nur irgend Einer ein, und meisterlich verstand er es, daraus dann die rechtlichen Folgerungen zu ziehen, Man konnte ihm deßhalb nicht selten den Vorwurf machen hören, er arbeite dem Gegner geradezu in die Hände. Und in der That hat das Hinschius’sche Kirchenrecht an der das 19. Jahrhundert erfüllenden Wiederbelebung des katholischen Kirchenrechts in so fern einen nicht unerheblichen Antheil, als es manches Stück von dem dafür erforderlichen wissenschaftlichen Rüstzeug lieferte, wie z. B. ein Blick in eine neuste, von curialer, ja jesuitischer Seite ausgehende Gesammtdarstellung lehrt. Jedoch ist dies gering anzuschlagen im Vergleich mit den Vortheilen, die eine von apologetischen und dogmatisch-moraltheologischen Trübungen befreite, wahrhaft juristische Erkenntniß des katholischen Rechtes zeitigt. Erst sie macht die erfolgreiche Abwehr dessen möglich, was daran mit dem modernen Staatsleben sich nicht verträgt und dem gleichberechtigten Dasein andersgläubiger Einzelwesen und Kirchen im Wege steht. Erst sie lehrt aber auch den Nichtkatholiken, die abweichende Ueberzeugung und die ihm fremden Einrichtungen seiner katholischen Mitbürger, soweit es ohne Selbstaufgabe geschehen kann, so hinzunehmen, daß ein ehrlicher modus vivendi sich anzubahnen vermag. Und jedenfalls bedeutet die objective Forschung von H. und ihr Erfolg einen Triumph für die Wissenschaft, die frei und ohne andere als in ihr selbst und in dem menschlichen Verstand liegende Schranken der Wahrheit zustrebt, unbekümmert darum, welcher religiösen oder politischen Richtung, welcher Tages- oder Zeitströmung ihre Ergebnisse zu gut kommen.

Nur bei sehr ausgedehntem wissenschaftlichem Gesichtskreis und entsprechend allseitiger wissenschaftlicher Ausrüstung lassen sich im Kirchenrecht größere Erfolge erzielen; gerade deßhalb sind der Arbeiter auf diesem Gebiet von alters her immer so wenige gewesen. Dafür hat dann aber auch die kirchenrechtliche Forschung eine Tragweite wie nicht leicht andere rechtswissenschaftliche Arbeit. Ueber die Grenzen der Jurisprudenz hinaus gewinnen ihre Ergebnisse für die allgemeine Geschichte und deren Theildisciplinen wie für die Kirchengeschichte und die angrenzenden theologischen Fächer weitgehende Bedeutung. Für sie alle hat deshalb auch H. mitgearbeitet. Ein Blick in die Fachlitteratur, besonders in die kirchengeschichtliche, lehrt, welche Fülle von Anregung nach allen Seiten hin von dem Hinschius’schen Kirchenrecht ausgegangen ist. Zu ernsthaften Besprechungen seiner einzelnen Bände ist nicht einmal der Versuch gemacht worden; eine kritische Auseinandersetzung mit ihm hätte ja selbst auch wieder Bände erfordert. Aber besser als das Lob der Recensenten es gekonnt hätte, verkündet die Thatsache den Ruhm des Buches, daß es der Erörterung der von ihm behandelten Fragen auch in der nichtjuristischen Litteratur überall zu Grunde liegt. Darum war auch Hinschius’ Name in der gelehrten Welt Deutschlands und des Auslandes so bekannt wie nur wenig andere. Darum wurde H., wenn ihn auch der eine oder andere zeitgenössische Jurist an Geist, schöpferischer Kraft und glänzender Darstellungsgabe überragte, von keinem an Breite und Tiefe des gemeinwissenschaftlichen Einflusses [358] übertroffen, der noch dazu nach den bisherigen Erfahrungen ungewöhnlich nachhaltig zu werden verspricht.

Den großen Gelehrten suchten als Lehrer von Nah und Fern alle diejenigen auf, die ihren Studien mit Bedacht die Richtung auf das Kirchenrecht hin gaben. Aber auch sonst wurde H., zumal in Berlin, viel und gern gehört. Seine Vorlesungen standen freilich, besonders was ihre Form betraf, nicht ganz auf der Höhe seiner litterarischen Leistungen. Von seinem Heft machte er sich fast nur für die scharfen und oft mit beißendem Sartasmus gewürzten Auseinandersetzungen los, die er in seinem naturgemäß weit subjectiver als das Buch gehaltenen Colleg mit den von ihm befehdeten kirchlichen und kirchenpolitischen Ansichten anstellte, oder wenn er von seinen stets mit Beifall aufgenommenen Witzen und Anecdoten etwas zum Besten gab. Sonst dictirte er rasch und viel, wodurch er seinen Vortrag des überwältigenden Eindrucks beraubte, den die in Gegenwart des Hörers erfolgende schöpferische Reproduction auch des wohl vorbereiteten Gedankens unfehlbar macht. Freilich auch sein College Goldschmidt befolgte die Dictirmethode, und doch gab es keine Vorlesung, die mehr den Eindruck frischer Unmittelbarkeit hinterließ. Aber Goldschmidt verstand es auch, mit seinem in fortwährendem Fluß befindlichen Dictat den jugendlichen Hörern das erhebende Bewußtsein beizubringen, daß vor dem Forum seines Collegs stets die neuesten Fragen des Handels- und Civilrechts durch die berufenste Autorität feierlich entschieden würden. Mit nicht weniger Grund hätte H. es mit dem Kirchenrecht ebenso halten können. Doch er war, vielleicht weil er von dem kirchenrechtlichen Interesse der studentischen Masse auf Grund langer Erfahrung nicht eben sehr hoch dachte, nicht der Mann, der das, was ihn gerade wissenschaftlich beschäftigte, womöglich noch in voller Gährung aufs Katheder brachte. Lieber vermittelte er ohne Sang und Klang dem Hörer eine schlichte und schmucklose, aber vollständige und präcise Darstellung seiner Disciplin, die wol nur den Fehler hatte, daß sie etwas abstract und zu sehr dem Bedürfniß des Durchschnittsstudenten angepaßt war. Auch im Seminar, in dem er sich naturgemäß freier und ursprünglicher gab, mußte er viel Zeit darauf verwenden, dem Theilnehmer „die notwendigsten Fundamentalkenntnisse beizubringen“; es gereichte der Studentenschaft zum Lob und zeugte beredt von der unbedingten Hochachtung, die H. als Lehrer genoß, daß sich stets zahlreiche Theilnehmer zu seinen kanonistischen Uebungen drängten, obschon der aller docentischen Popularitätshascherei durchaus abholde Mann die strengsten Anforderungen stellte und vorhandene Blößen schonungslos aufdeckte. In diesen Uebungen gewährte H. auch von Zeit zu Zeit dem Studierenden einen Einblick in seine wissenschaftliche Werkstatt und brachte er mitunter schwierigere Fragen zur Behandlung, an die sich nur Vorgerücktere wagen durften. Schule hat er freilich nur in bescheidenem Maaße gemacht. Das lag jedoch zum guten Theil an den Verhältnissen. H. selbst hat in seiner Berliner Rectoratsrede bitter über „die noch heute zum Theil in Preußen herrschend gebliebene Anschauung“ geklagt, der zu Folge „das wissenschaftliche Studium des Rechts für den jungen Juristen unfruchtbar und unpraktisch sei, und er das, was er in der juristischen Praxis brauche, überhaupt erst in dieser erlerne und auch dort erlernen könne“. Und in der That ist, während der praktischen Vorbereitung eine Zeit gewidmet wird, die in keinem Verhältniß zu dem steht, was darin gelernt werden soll, geschweige denn wird, das akademische Studium in Preußen immer noch auf 6 Semester bemessen. Das mochte genügen zu einer Zeit wie der, da H. studierte, wo das Rechtsstudium noch im wesentlichen Pandektenstudium war, und erst schüchtern auch andere Fächer Anspruch auf das Interesse und das Studium des angehenden Juristen erhoben. Heutzutage reicht es [359] kaum dazu aus, dem Durchschnitt, und was über ihm steht, mit vieler Noth einen encyklopädischen Ueberblick über die Rechtswissenschaften zu vermitteln. Die Folge ist, daß die wissenschaftliche Bildung in weiten Kreisen unseres Juristenstandes nicht den Fortschritten der Wissenschaft und den Anforderungen des Lebens entsprechend zunimmt, und daß namentlich die Auslese für den akademischen Beruf nicht nach inneren Gründen, sondern nach Zufall sich vollzieht. Denn ein wirkliches Verhältniß zur Rechtswissenschaft gewinnt nur der, der wenigstens in einen Zweig derselben in längerem Studium sich zu vertiefen und womöglich – und wäre es auch nur in bescheidenen Grenzen – selbstthätig an ihrer Förderung mitzuarbeiten vermag. Dazu kommt es jedoch heute fast nur noch in den seltenen Fällen, wo bei den Studirenden und den Eltern die weise Einsicht zusammentrifft, daß eine gründlichere wissenschaftliche Vorbildung mehr werth sei als das höhere Dienstalter von einem oder zwei Jahren, und wo auch die Mittel da sind, diese Einsicht zu bethätigen. Im übrigen spielt ein noch größerer Zufall, die praktische Verwendung am Universitätsort, starke persönliche Eindrücke u. s. w. mit. Auch H. hat unter diesen Verhältnissen sehr gelitten, obschon ja gerade der Kirchenrechtslehrer in der besonders glücklichen Lage ist, von den noch nicht mit solcher Hast studirenden angehenden Theologen und Historikern Zuzug zu erhalten. Zum Theil lag der beschränkte Schulerfolg von H. freilich auch an seiner Persönlichkeit und seinem Wesen. Die Initative ergriff er nicht, Schülern nach-, und auf sie einzugehen lag ihm eigentlich ferne. Er war im wesentlichen durch sich selbst geworden, was er war, und liebte die Leute, die gerade so sicher und selbständig ihren Weg machten. Jedenfalls aber ließ er alles erst an sich herankommen. Dann freilich nahm er sich dessen, von dem er den Eindruck eines ernsten Strebens erhielt, mit größter Bereitwilligkeit und lebhaftestem Interesse an und ging ihm mit Rath und That an die Hand. Dann ließ er es auch an Aufmunterung und an warmer Anerkennung nicht fehlen, die um so höher geschätzt wurden, als man wußte, daß sie aus dem Munde des berufensten, aber auch unbestechlichsten und unerbittlichsten Beurtheilers kamen. Durch solche wissenschaftliche Mitarbeit konnte man sogar, was sonst nicht eben leicht war, dem Menschen Hinschius nahe kommen und zu ihm in ein inneres Verhältniß treten, das er seinerseits mit wahrer Herzlichkeit und rührender Treue erwiderte.

Denn zu den Personen, die alsbald jedermann gewinnen, gehörte H. an sich nicht. Im Gegentheil seine eher rauhe und ausfällige, aber jedenfalls gerade und rückhaltlose Berliner Art hielt, zumal von den feineren Naturen, manche von ihm fern. Und doch war er ein trefflicher Charakter von unbedingter Zuverlässigkeit und wohnten Güte und Wohlwollen in seinem Herzen, dessen Regungen er nur fast ängstlich vor der Außenwelt verbarg. Auch zeichnete er sich durch sittlichen Ernst und durch starken, in langjähriger, glücklicher Ehe bethätigten Familiensinn aus. Dem Körperbau nach war er eher klein, aber mittelkräftig: an seiner Erscheinung fiel namentlich sein lebhaftes, kluges und alles durchdringendes Auge auf.

Am 13. December 1898 entschlief Paul H. nach längerem, schwerem aber mit Stärke und Fassung ertragenen Leiden. Schon jetzt darf auf Grund des oben über sein Hauptwerk und dessen Erfolg Beigebrachten geurteilt werden, daß durch ihn die Kirchenrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte, und daß mit ihm einer von jenen Männern aus dem Leben schied, denen es zu danken ist, wenn mit dem militärisch-politischen Aufschwung Preußens und Deutschlands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein nicht weniger achtunggebietender wissenschaftlicher Hand in Hand ging.

[360] Emil Seckel, Art. Hinschius in der Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche von Herzog-Hauck. 3. Aufl., VIII, 1900, S. 90–97, wo auch ein vollständiges Schriftenverzeichniß und eine Aufzählung der unter andern von Friedberg, Ruffini, Seckel und Stutz herrührenden Nekrologe zu finden ist. Dazu seither noch Teichmann im Biographischen Jahrbuch und Nekrolog für 1898, herausgegeben von Bettelheim, III, 1900, S. 51–53 und Stutz, Die kirchliche Rechtsgeschichte, 1905, S. 7–13.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Emil Seckel (1864–1924); deutscher Jurist und Rechtshistoriker
  2. Friedrich Bernhard Christian Maassen, auch Maaßen, (1823–1900); deutsch-österreichischer Rechtsprofessor und Publizist.
  3. Wilhelm Heinrich Eduard Hartmann (1816–1889); deutscher Jurist und Reichsgerichtsrat
  4. Karl Joseph Leopold Freiherr von Stengel (1840–1930); deutscher Richter und Rechtswissenschaftler
  5. Karl von Birkmeyer (1847–1920), vollständiger Name: Friedrich Ruprecht Karl von Birkmeyer; deutscher Rechtswissenschaftler