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ADB:Richter, Aemilius Ludwig

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Artikel „Richter, Aemilius Ludwig“ von Johann Friedrich von Schulte in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 340–343, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Richter,_Aemilius_Ludwig&oldid=- (Version vom 13. Oktober 2024, 01:20 Uhr UTC)
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Richter: Aemilius Ludwig R., Kanonist, geboren zu Stolpen, unweit Dresden, als Sohn des dortigen Finanzprocurators (Advocaten) am 5. Februar 1808, † zu Berlin am 8. Mai 1864. Er legte die Gymnasialstudien in Bautzen zurück, studirte in Leipzig von 1826 an drei Jahre die Rechte, gleichzeitig geschichtliche und philologische Studien treibend. Sein Vater war wegen zahlreicher Familie nicht in der Lage, den Sohn ausgiebig zu unterstützen, so daß dieser schon als Student durch Privatstunden seinen Unterhalt zum großen Theile beschaffen mußte, und ohne die Mittel das Doctorat zu erwerben trat er, als Baccalaureus die Universität verlassend, 1829 als Obergerichtsauditor zu Leipzig in den Staatsdienst, habilitirte sich im selben Jahre als Privatdocent und fing an, die Advocatur auszuüben. Seine ersten Abhandlungen brachten ihm auf Betreiben Hugo’s das Ehrendoctorat der juristischen Facultät zu Göttingen ein. Hierauf gestützt und um einen Beschluß der Facultät, den Baccalauren die venia legendi zu entziehen, zuvorzukommen, habilitirte er sich nochmals förmlich mit einer vortrefflichen Schrift [341] im J. 1835 und wurde im folgenden Jahre zum außerordentlichen Professor ernannt. Das Jahr 1838 brachte einen Ruf nach Marburg. Am Tage der Abreise heirathete er, nahm aber für den Mittag eine Einladung bei Gersdorff an, der ihn auf die Post begleitete und sehr verwundert wurde, als R. ihm eine einsteigende Dame als die junge Frau vorstellte. Kein College wußte von der Heirath.

Die Marburger Zeit war, wie er mir oft sagte, die glücklichste seines Lebens. Enthoben der Noth und Sorge, mit der er bis dahin gekämpft hatte, körperlich ziemlich rüstig, in innigem Verkehr mit befreundeten Collegen lebte er nur dem Lehramte – Kirchenrecht und Civilproceß – und der Wissenschaft. Aus dieser Zeit stammen jene Arbeiten, welche seinen Namen begründet haben. Kurz vor der Generalsynode des Jahres 1846 wurde er nach Berlin berufen, wie Eilers (Das Ministerium Eichhorn, 1849) sagt, weil Eichhorn eine kirchliche Kraft zur Verfügung haben wollte, welche, ohne auf selbständige Haltung Anspruch zu machen, ihren Ruhm in der Brauchbarkeit fand. Er beschränkte sich im Lehramt auf das Kirchenrecht, neben dem Lehramte war er mit Gutachten u. s. w. im Cultusministerium beschäftigt, stand Eichhorn zur Seite für die sich aus der Generalsynode ergebenden Fragen und wurde Mitglied des am 28. Januar 1848 errichteten Oberconsistoriums. Im J. 1850 wurde er mit dem Titel eines Oberconsistorialraths in den neu gegründeten Evangelischen Oberkirchenrath berufen. Die ihm obliegende Arbeitslast, die ständigen Reibungen besonders mit dem Collegen Stahl bereiteten ihm viele Noth, ein sehr altes Luftröhrenleiden und Augenleiden drückten ihn nieder, alljährliche Badecuren verschafften nur zeitweise Besserung. Die Stellung im Oberkirchenrathe vertauschte er 1859 mit der eines Geh. Oberregierungs- und vortragenden Raths im Cultusministerium. Was er in dieser Stellung an Entwürfen u. dgl. gearbeitet hat, ist meist ohne Erfolg geblieben. Ich besuchte R. zuerst im October 1849, bin sofort von ihm mit der größten Liebe aufgenommen worden, habe mit ihm bei unserer beiderseitigen Anwesenheit in Berlin bis zum Mai 1853 fast täglich verkehrt, holte ihn zum Spazierengehen ab und wurde auch oft von ihm abgeholt, ich habe zahllose Abende in seinem Hause mit ihm und seiner Frau – die Ehe war kinderlos – zugebracht, in den Sommern 1851 und 1852 wiederholt für ihn in seiner Wohnung, wenn er unwohl war, die Morgens 6 Uhr beginnenden kanonistischen Uebungen (Einführung in die Behandlung der Quellen) geleitet, bin nach 1853 in stetem Briefwechsel mit ihm geblieben und habe ihn sicher am genauesten von allen Schülern gekannt. Es ist nicht möglich, R. an diesem Orte so eingehend zu behandeln, wie das von mir und Anderen an den anzuführenden Orten geschehen ist, die Bedeutung Richter’s rechtfertigt jedoch ein näheres Eingehen auf seinen Charakter und seine Wirksamkeit.

Als Mensch war R. liebenswürdig, heiter, ein Freund des Humors, ja oft von einer für einen Mann in den vierziger Jahren seltenen Lustigkeit, in seinem Urtheile unendlich milde; niemals hat er über Collegen oder überhaupt den Sittenrichter gespielt. Familienumgang hatte er mit keinem Collegen, nur seit 1850 mit Keller, den er in Schutz nahm selbst gegen dessen notorische Lebensweise, an die nicht zu glauben er sich den Anschein gab. Das mir Merkwürdigste war das innige Verhältniß zwischen ihm und seiner Frau, die aus ganz niedriger Herkunft sich bei guten Anlagen einen gewissen Schliff angewöhnt hatte, aber auch einen nicht gerade feinen Ton cultivirte, ein Bruder derselben hat ihnen bittere Stunden bereitet. Im Hause von R. verkehrten ab und zu Bischof Neander, Präsident v. Uechtritz, der frühere Marburger Thiersch (Irvingianer).

[342] Als Lehrer war R. keineswegs hervorragend, sein Vortrag infolge des klanglosen Organes unschön; er dictirte zum Theil, sprach dann darüber, was er gab, blieb bei weitem hinter dem Inhalte des Lehrbuchs zurück, so daß man eigentlich nicht viel lernte. Und dennoch wirkte er als Lehrer enorm, weil Jeder sofort empfand, daß er mit Lust und Liebe an der Sache hing. Diese Lust und Liebe brachte er dem Lernenden bei, er ging unverdrossen ein auf jeden Wunsch, war stets bereit, Material zu verschaffen, stellte seine eigene Bücherei mit vollster Freiheit zur Verfügung und erleichterte die Benutzung anderer – ich habe von ihm, freilich auch von Rudorff, Heffter u. A., stets viele Blanketts für die königliche Bibliothek gehabt. So ist es begreiflich, daß er viele Schüler hatte, die kanonistische Dissertationen machten und ihm widmeten, daß zu seiner Zeit in Berlin eine Reihe kanonistischer Dissertationen erschienen und kaum ein anderer Docent so viele Schüler gehabt hat, die sein Fach ergriffen (vgl. meine Angaben in der Geschichte der Quellen).

R. war übrigens reiner Büchergelehrter, arbeitete nur gut und sicher in seiner Bibliothek, wo nichts ihn störte und beunruhigte; sofortiges Eingehen und Erörtern auf Fragen, war nicht seine Sache. Was R. an Gedanken besaß und geleistet hat, schöpfte er aus den Quellen, wirklich selbständige Ideen und Gesichtspunkte hatte er nicht, außerhalb der Studirstube und von seinen Büchern getrennt entbehrte er auch der Kraft und Fähigkeit, energisch seine Ansichten zu vertreten; er war gänzlich ungeeignet zum Staatsmann und Politiker, aber ein unendlich brauchbarer Arbeiter für das, was der Minister wollte. Sein Eintritt in den Oberkirchenrath bezw. ins Ministerium war ein Fehler, aber erklärlich, wie er mir offen sagte, um eine vom Katheder unabhängige gesicherte Stellung zu erhalten, die bei den durch seine Gesundheit geforderten Bedürfnissen und dem Mangel von Vermögen nothwendig wurde.

Richter’s Verdienste als Schriftsteller lassen sich für das katholische Kirchenrecht dahin feststellen, was ich am unten anzuführenden Orte ausführlich begründet habe: Er hat durchaus objectiv, objectiver als jeder andere evangelische Kanonist vor ihm, das Recht dargestellt, das geltende lediglich auf Grund der Quellen und der katholischen Litteratur, die Geschichte, ohne für einen einzelnen dogmatischen Punkt etwas Neues zu liefern, rein quellenmäßig. Durch das mit mir gearbeitete Werk über das Tridentinum und seine objective Methode hat thatsächlich der curiale Einfluß gewonnen, da man in Deutschland jetzt die römische Praxis erst wirklich kennen lernte und eine ganz andere Behandlung der kirchlichen Rechtsfragen, welche mit staatlichen zusammenhängen, aufkam. Was das evangelische Kirchenrecht betrifft, so war R. ein guter, liberaler Protestant, ohne festen dogmatischen Standpunkt, ein Anhänger des historischen landesherrlichen Summepiscopats und, mit einem Worte gesagt, ein Mann des juste milieu. Er hat sich weder für das katholische, noch das evangelische Kirchenrecht gänzlich freigemacht von dem theologischen Ballast, aber doch das wirklich Juristische mehr in den Vordergrund gestellt und herausgearbeitet, als ein Kanonist vor ihm. Schließlich ist hervorzuheben, daß R. ein Freund der freien religiösen Ueberzeugung war, Feind der staatlichen Knechtung wie der kirchlichen Inquisition und von dem vernünftigen der Entwicklung zugänglichen Standpunkte eines denkenden Mannes aus in der geschichtlichen Bildung nicht ein für alle Zeiten nothwendig Bleibendes sah, sondern sich bewußt war, daß neue Zustände und Bildungen, wenn sie als berechtigt und gefestigt angesehen werden können, vollen Anspruch auf Berücksichtigung haben, eine durch die Geschichte selbst begründete Forderung.

[343] Schriften: „Beiträge zur Kenntniß der Quellen des canonischen Rechts (I: Ueber Algerus von Lüttich und sein Verhältniß zu Gratian, II: Zur Berichtigung der Inskriptionen im Dekret., III: Ueber die Collectio Anselmo dedicata), Leipzig 1834; „De emendatoribus Gratiani“, ebd. 1835; „Marburger Prorectoratsschrift“ (I: De triplici damnatione Formosi episcopi Portuensis, II: De antiqua canonum collectione, quae in Codd. Vatic. 1347 et 1352 continetur), abgedruckt 1844; „De inedita Decretalium collectione Lipsiensi“, Lips. 1836; „Corpus iuris canonici“ (P. I: Decretum Gratiani, 1836, P. II: Decretales Gregorii IX etc., ib. 1839, 4°); „Canones et decreta sacr. oec. Concilii Trid.“, ib. 1839; „Can. et decr. Concilii Tridentini ex editione Romana a 1834 repetiti: Accedunt S. Congr. Conc. Trid. Interpretum Declarationes ac Resolutiones ex ipso Resolutionum Thesauro, Bullario Rom. et Benedicti XIV. S. P. Operibus et Constitutiones Pontificiae recentiores ad jus commune spectantes e Bullario Rom. selectae. Assumpto socio Friderico Schulte J. U. D. edidit A. L. R.“, ib. 1853; „Die evangelischen Kirchenordnungen des sechzehnten Jahrhunderts. Urkunden und Regesten zur Geschichte des Rechts und der Verfassung der evangel. Kirche in Deutschland“, Weimar 1846, 2 Bde. 4°; „Verhandlungen der preußischen Generalsynode von 1846“, Leipzig 1847; „Lehrbuch des katholischen und evangelischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf deutsche Zustände“, Leipzig 1842, 5. Aufl. 1856, die 6., 7. ganz, 8. theilweise von R. Dove, theilweise von W. Kahl besorgt. Diesem Buche verdankt R. eigentlich das große Ansehen, welches er genoß, worüber meine Ausführung a. a. OO. „Geschichte der evangel. Kirchenverfassung in Deutschland“, ebd. 1851; „Beiträge zur Geschichte des Ehescheidungsrechts in der evangel. Kirche“, Berlin 1858; „König Friedrich Wilhelm IV. und die Verfassung der evangel. Kirche“, ebd. 1861; „Beiträge zum preußischen Kirchenrechte“. Aus dessen Nachlaß herausgegeben von P. Hinschius, Leipzig 1865; „Mittheilungen aus der Verwaltung der geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten in Preußen“, 1847; „Vortrag über die Berufung einer evangel. Landessynode“, Berlin 1848; „Der Staat und die Deutschkatholiken. Eine staats- und kirchenrechtliche Betrachtung“, Leipzig 1846. Dazu Aufsätze und Anzeigen in den von ihm redigirten Zeitschriften: „Kritische Jahrbücher für die deutsche Rechtswissenschaft“, von R. begründet 1837, von ihm redigirt bis 1842, seit 1839 Schneider Mitherausgeber; „Zeitschrift für das Recht und die Freiheit der Kirche“, mit H. F. Jacobson, Leipzig 1847, ging mit dem zweiten Hefte ein. – Verschiedene Gutachten u. dgl. von mir Geschichte der Quellen S. 225 aufgezählt.

v. Schulte in Dove, Zeitschr. f. Kirchenrecht V, 259–280; ders. in Gesch. d. Quellen u. Lit. des canon. Rechts III, 2 u. 3, S. 210–225. – Dove in seiner Zeitschr. VII, 273–404. – Hinschius in Zeitschr. f. Rechtsgesch. IV, 351–379. – Mejer in Preuß. Jahrb. XI, 339 ff.