ADB:Goldschmidt, Levin
Keller in Berlin und Mittermaier in Heidelberg den bedeutendsten Einfluß auf seine Entwicklung. In Halle 1851 zum Doctor promovirt, war er danach als Auscultator und Referendar gegen vier Jahre bei den Gerichten seiner Vaterstadt beschäftigt. Mit Rücksicht auf die geringe Aussicht, die ihm als Juden das Verbleiben in der praktischen Laufbahn damals bot, entschloß er sich, sie vor dem Assessorexamen zu verlassen. Im Juni 1855 habilitirte er sich bei der juristischen Facultät der Universität Heidelberg. Hier rückte er 1860 zum außerordentlichen, 1866, nachdem er einen Ruf nach Wien erhalten, zum ordentlichen Professor auf. Die Errichtung des Bundesoberhandelsgerichts führte ihn auf einige Jahre in die praktische Thätigkeit zurück. Als das einzige, bis dahin nicht innerhalb des Norddeutschen Bundes angestellt gewesene Mitglied trat er im Jahre 1870 in das neue, oberste Gericht ein. Berufungen nach Straßburg, Heidelberg und Berlin, die in den nächsten Jahren an ihn herantraten, lehnte er ab. Erst als im Jahre 1875 ein erneuter Ruf nach Berlin an ihn unter Umständen erging, die ihm denselben zugleich als die erste Verwirklichung des Wunsches nach einer selbständigen Vertretung des Handelsrechts an einer deutschen Hochschule erscheinen ließen, gab er der längst empfundenen, aus sachlichen Gründen bisher unterdrückten Neigung zur Rückkehr [439] in eine akademische Stellung nach. Vom Herbste 1875 ab gehörte er bis zu seinem Tode (16. Juli 1897) der Universität Berlin an, während der letzten Jahre freilich durch Krankheit an der Ausübung der Lehrthätigkeit verhindert.
Goldschmidt: Levin G., hervorragender Jurist, wurde am 30. Mai 1829 als Sohn eines angesehenen Kaufmanns in Danzig geboren. Er begann 1847 zunächst in Berlin Medicin zu studiren, vertauschte dieses Fach jedoch bald mit dem der Rechtswissenschaft, der er ein dreijähriges Studium an den Universitäten Berlin, Bonn und Heidelberg widmete. Von seinen Lehrern gewannenDer Zweig der Rechtswissenschaft, dessen Pflege G. zur wichtigsten Aufgabe seines Lebens gemacht hat, ist das Handelsrecht gewesen. Schon seine Dissertation behandelte ein Thema aus dem Rechte der Handelsgesellschaften, und mit deren alten und neuen Formen beschäftigte sich auch seine letzte, mehr als vierzig Jahre später von ihm selbständig veröffentlichte Schrift. Als G. seine Thätigkeit dem Handelsrecht zu widmen begann, erfreute sich dasselbe in Deutschland nur geringer Pflege. Namentlich war ihm auch das Aufblühen der geschichtlichen Rechtsschule kaum zu gute gekommen. Durch das Zurückgehen auf das reine römische Recht konnte dem Handelsrecht eine unmittelbare Förderung nur innerhalb enger Grenzen zu theil werden. Denn der ausgedehnte Handel der Römer war nur in geringem Maße von einem besonderen Handelsrecht beherrscht, im allgemeinen den Regeln des bürgerlichen Rechts überhaupt untergestellt gewesen. Verglichen mit dem römischen Rechte erschien daher das Handelsrecht vielen Juristen noch des neunzehnten Jahrhunderts wesentlich nur als ein Complex von Abweichungen von der eigentlichen Regel. Seine Bearbeitung blieb deshalb im ganzen zunächst den Germanisten überlassen. Diese wiederum hatten vorerst noch zu viel mit der Grundlegung zu dem Gebäude ihrer jungen Wissenschaft zu thun, um sich eindringlich und erfolgreich einer speciellen Materie zuwenden zu können, deren geschichtlicher Zusammenhang mit ursprünglich germanischem Rechte zum Theil sehr schwer zu erkennen war. So konnte denn noch im Jahre 1852 ein gründlicher Kenner des Handelsrechts (C. H. L. Brinckmann) es das Stiefkind deutscher Rechtswissenschaft nennen und klagen, es habe wohl kein Theil des deutschen Privatrechts weniger als das Handelsrecht eine den Bedürfnissen entsprechende Bearbeitung gefunden.
Mittlerweile hatte aber das praktische Bedürfniß einheitlichen Rechts trotz der nur losen Verbindung der Staaten Deutschlands im Deutschen Bunde die Schaffung einer Allgemeinen Wechselordnung bewirkt, diejenige eines Allgemeinen Handelsgesetzbuchs vorbereitet. An der Gestaltung des letzteren nahm G. bereits Antheil. Namentlich erstattete er im Jahre 1860 über die vier ersten Bücher des Entwurfs zweiter Lesung der badischen Regierung ein Gutachten, dessen Forderungen die Regierung fast durchweg zu ihren eigenen machte. Gewiß ist es vornehmlich dem beschleunigten Verfahren zuzuschreiben, das nach Beendigung der zweiten Lesung des Entwurfs Platz griff, wenn von jenen Forderungen nur wenige noch Berücksichtigung finden konnten. Als etwa vierzig Jahre später im Anschluß an die Herstellung des Bürgerlichen Gesetzbuchs für das deutsche Reich die Revision des Handelsgesetzbuchs stattfand, ist gerade in einer Anzahl von principiell wichtigen Fragen der einst von G. zuerst vertretene Standpunkt von vornherein eingenommen und dann auch zu dem des nunmehr geltenden Rechts gemacht worden. An der Gestaltung des letzteren hat G. infolge seiner Erkrankung nicht mehr persönlich theilnehmen können. Aber es ist ihr noch zu gute gekommen, was er für das erste deutsche Handelsgesetzbuch ein Menschenalter zuvor vergeblich angestrebt hatte. Eben mit der Herstellung dieses Gesetzbuchs stehen aber auch die beiden bedeutendsten, wissenschaftlichen Werke Goldschmidt’s , die Zeitschrift für das gesammte Handelsrecht und das Handbuch des Handelsrechts, in engem, nicht nur zufälligem Zusammenhange.
Den Plan, eine Zeitschrift für Handelsrecht zu gründen, hatte G. bei Beginn der Gesetzgebungsarbeiten bereits gefaßt (Anfang 1857). Aber in dem [440] Geleitworte, das er ihrem ersten Hefte auf den Weg gab, wies er ihr ihre Aufgabe schon im Hinblick auf die „ersehnte Vollendung eines Deutschen Handelsgesetzbuchs“ zu: „ist der Bau beendigt, so soll sie den Uebergang aus dem alten in das neue Recht vermitteln, die mühsam errungene Einheit wahren und der drohenden Zersplitterung der deutschen Praxis nach Möglichkeit vorbeugen.“ Es versteht sich, daß das Programm der Zeitschrift im Laufe der vier Jahrzehnte, während deren sie den Namen ihres Begründers als den ihres Herausgebers führen durfte, Aenderungen verschiedener Art erfahren mußte. Die Gefahr einer Zersplitterung der deutschen Handelsrechtspraxis wurde durch die Errichtung des Bundes- (später Reichs-)oberhandelsgerichts gründlich und endgültig beseitigt. Andererseits verlangten die Mitarbeit an der Weiterbildung des deutschen Handelsrechts in Gemäßheit der veränderten und gesteigerten Ansprüche des Verkehrs und die ständige Berücksichtigung der Entwicklung des ausländischen Rechts mit dem Ausblick auf die Schaffung eines einheitlichen Welthandelsrechts Aufnahme in den Kreis der von der Zeitschrift zu lösenden Aufgaben. Mit unermüdlicher Sorgsamkeit hielt der Gründer und Leiter der Zeitschrift den Blick auf die neuen Erscheinungen des Lebens und des Rechts gerichtet. Er selbst veröffentlichte in seinem Organ eine überaus große Zahl stets gleich werthvoller Untersuchungen und Besprechungen. Als Mitarbeiter wußte er ebenso bewährte Kräfte zu gewinnen, wie junge heranzuziehen. Seiner Aufgabe als Redacteur wurde er mit der unbedingten, sich nie genug thuenden Gewissenhaftigkeit gerecht, die einen Grundzug seines Wesens bildete. Seine Controle erstreckte sich bis auf die Correcturen der Mitarbeiter der Zeitschrift. Diese ist durch ihn zu einem die gesammte Entwicklung des Handelsrechts zuverlässig wiedergebenden und zugleich fördernden Organ gemacht worden.
Kurze Zeit, nachdem das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch zu seinem Abschlusse gelangt war (1861), entschloß sich G., ein „Handbuch des Handelsrechts“ zu schreiben. Er setzte sich zur Aufgabe, durch dasselbe zur Ueberwindung der Gefahren beizutragen, um deren Preis die Vortheile einer Codification erkauft werden müssen. Die formelle Selbständigkeit, in welcher eine solche dem ihr vorangegangenen Rechtszustande gegenübertritt, die Geschlossenheit und gegenseitige Bedingtheit ihrer einzelnen Theile, die Wucht des mit elementarer Gewalt in die Lebensverhältnisse eingreifenden Gesetzgebungsactes sind nur zu geeignet, der Anschauung Vorschub zu leisten, als sei mit dem neuen Gesetzeswerke auch materiell eine völlige Loslösung der Gegenwart von der Vergangenheit erfolgt, als bedürfe es zum Verständnis des Jetzt eines Zurückgehens auf das Einst nicht mehr. Dieser Vorstellung sollte das Handbuch entgegentreten, ihre Gefährlichkeit und Unrichtigkeit durch die That erweisen. Zwar entnimmt es selbstverständlich seinen eigentlichen Gegenstand dem geltenden Rechte, das überall mit der entsprechenden Gründlichkeit zur Darstellung gelangt. Aber principiell wird dieses Recht nicht als ein gegebenes, sondern als ein gewordenes behandelt, nicht als ein isolirtes Ereigniß, sondern als das Ergebniß einer Entwicklung, die zu ihm geführt hat und von ihm aus weiter führen wird. So hat G. nicht nur sich selbst in dem Handbuche ein unvergängliches Denkmal gesetzt. Seiner Absicht entsprechend stellt dasselbe vielmehr die Verwirklichung eines wissenschaftlichen Programms dar. Es will ein tieferes Verständniß des geltenden Rechts auf dem Wege der geschichtlichen Betrachtung einerseits und der Berücksichtigung der es bedingenden, thatsächlichen Verhältnisse andererseits zu gewinnen suchen.
Das großartig gedachte Werk ist nicht vollendet worden. Die einzelnen, zum Theil in zweiter und dritter Auflage erschienenen Theile sind in dem [441] Zeitraum von 1864–1891 veröffentlicht worden. Auch die erste Auflage, obwohl am weitesten vorgerückt, behandelt doch nur etwa den fünften Theil des Stoffes, den G. vorzuführen gedachte. Auf eine Einleitung, die sich hauptsächlich mit den Quellen und der Litteratur des Handelsrechts beschäftigt, folgt in drei Büchern die Lehre von den Handelsrechtsquellen, dem Handel und den Handelsgeschäften, der Waare – diese jedoch zunächst mit Ausschluß der Werthpapiere, deren Darstellung den nächsten Band eröffnen sollte, aber niemals erschienen ist. Die zweite, auf einer völligen Umarbeitung beruhende Auflage wiederum begreift nur die Hälfte des in der ersten behandelten Stoffes. Und die dritte, die den ersten Theil einer Universalgeschichte des Handelsrechts bietet, stellt sich als ein vollkommen neues Werk dar, das aber gleichfalls nicht zum Abschlusse gelangt ist. Es bedeutet einen unersetzlichen Verlust für die Rechtswissenschaft, daß dem so ist. Aber was wir von dem Handbuche besitzen, ist doch so viel, daß gegenüber der Dankbarkeit für das Empfangene das Bedauern über das Fehlende in den Hintergrund treten muß. Einen sehr bedeutenden Theil des deutschen Handelsrechts der Gegenwart sehen wir hier aus den allgemeinen geschichtlichen Bedingungen seiner Entstehung heraus, im Zusammenhange mit dem Rechte der sonst am Welthandel betheiligten Völker und im steten Hinblick auf die volkswirtschaftlichen Aufgaben des Handels zur Darstellung gebracht. Ein Staunen erregendes, den verschiedensten Seiten menschlicher Thätigkeit zugewendetes Wissen wird in den Dienst der Erkenntniß der rechtsbildenden Factoren und damit der Ergründung des von ihnen erzeugten Rechts selber gestellt. In knapper, die Fülle des Mitzutheilenden oft nur schwer in sich fassender Form führt der Text die Ergebnisse der Forschung vor. Das Quellenmaterial, aus dem sie gewonnen sind, wird in den Noten dem Leser in umfassender Weise und unter Berücksichtigung auch der entlegensten Litteratur unterbreitet. Die einzelnen, sich an einander reihenden Untersuchungen erscheinen als eben so viele Monographien, ohne daß doch das leitende Ziel einer dem geltenden deutschen Rechte der Gegenwart gewidmeten Gesammtdarstellung vom Verfasser je aus dem Auge gelassen würde. Wissenschaft und Praxis haben daher auch in gleichem Maße den fördernden und nachhaltigen Einfluß des Handbuchs an sich verspüren können.
Daß es in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts überhaupt noch nöthig war, der historischen Methode die gebührende Anerkennung auf dem Gebiete des Handelsrechts zu verschaffen, erklärt sich nur aus der Vernachlässigung, welche dieser Zweig des bürgerlichen Rechts sich bis dahin hatte gefallen lassen müssen. Ohne sie hätte die Erkenntniß, daß das gewordene Recht ohne ein Zurückgreifen auf seinen Werdegang nicht voll verstanden werden könnte, eben für das Handelsrecht längst gewonnen werden müssen. Denn dieses hatte seine besondere Gestalt unter dem steten Drange der Verkehrsbedürfnisse unabhängig von der Gesetzgebung, zum Theil im Gegensatz zu ihr auf dem Wege der Gewohnheitsrechtsbildung im Kreise der am Handel Betheiligten angenommen. Gerade hierdurch waren freilich seiner eigentlich juristischen Behandlung Schwierigkeiten in den Weg gelegt. Sie hatte zur Voraussetzung die Loslösung des Rechtsstoffes von den thatsächlichen Verhältnissen, durch die seine Gestaltung bedingt und ohne die sein Verständniß nicht möglich ist, deren Wesensverschiedenheit aber erkannt und stets im Auge behalten werden muß, wenn nicht eine arge Verwirrung der Begriffe eintreten soll. Der Meisterhand Thöl’s vor allem haben wir es zu danken, daß diese Aufgabe noch vor dem Zustandekommen einer einheitlichen, deutschen Handelsgesetzgebung ihre Lösung gefunden hat. Durch ihn ist, wie G. selbst in dem [442] Programm seiner Zeitschrift sagt, der streng juristische Boden und die richtige Methode für das Handelsrecht dauernd gewonnen worden.
Der hiermit gegebenen Gemeinsamkeit der Grundanschauung gegenüber konnte die Verschiedenheit der juristischen Methode Thöl’s und Goldschmidt’s zunächst noch als eine Frage nur des Mehr oder Minder betrachtet werden. Aber je weniger die Zuverlässigkeit der Thöl’schen Grundlegung zu dem Bau des Handelsrechts in Zweifel gerückt wurde, um so größere Bedeutung mußte eben der Gegensatz der Auffassungen von der richtigen Art der Ausführung des Gebäudes sehr bald gewinnen. In Thöl erkannte G. den hervorragendsten Vertreter der von ihm gelegentlich so genannten „dogmatischen Isolirungsmethode“, welche in der sicheren Herausarbeitung möglichst vieler scharf begrenzter Rechtssätze aus dem positiven Gesetz ihre wesentliche, wenn nicht gar einzige Aufgabe erblicke, und welche naturgemäß zu der überwiegend grammatischen Interpretation des Einzelgesetzes auf der allein für ausreichend sicher gehaltenen Grundlage seines formulirten Wortlauts führe (Zeitschr. f. d. ges. Handelsrecht Bd. XXVIII, S. 449). Wenige Jahre, nachdem G. dem ihn mit Thöl Verbindenden gegenüber das beide Trennende in den Hintergrund gerückt hatte, sehen wir ihn zum Kampfe auch gegen die dogmatische und für die geschichtliche Methode sein Handbuch beginnen. Es war die beste Art, diesen Kampf zu eröffnen. Nicht Gründe sollten ins Feld geführt werden, sondern Leistungen. Und von dem so errungenen Siege Goldschmidt’s legte Zeugniß ab die gewichtige Stimme Georg Beseler’s, der noch wenige Jahre zuvor den praktischen Ertrag der rechtsgeschichtlichen Forschung auf dem Gebiete des Handelsrechts als verhältnißmäßig nur gering bezeichnet hatte und seine frühere Behauptung infolge von Goldschmidt’s historischen Untersuchungen erheblich beschränken zu können erklärte. Ein Urtheil dieser Art mußte für G. besonders erfreulich sein. Denn ihm war das Studium der Rechtsgeschichte wesentlich nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zwecke der Erkenntniß und Fortbildung des geltenden Rechts. Die Förderung der praktischen Aufgabe des gesammten Rechts überhaupt galt ihm als das Endziel, dem auch die historische Forschung, wenngleich auf langen und oft verschlungenen Pfaden, stetig zuzustreben habe. Es versteht sich, daß mittelst der Rechtsgeschichte allein jene Aufgabe nicht gelöst werden kann. Die Vergangenheit, wie viel sie auch zum Verständniß der Gegenwart beitragen kann, vermag doch nicht für alle ihre Erscheinungen den Schlüssel der Erkenntniß zu bieten. Es hieße wahrhaft unhistorisch denken, wenn man über den in früherer Zeit wirksam gewesenen Factoren der Rechtsbildung die gegenwärtig wirkenden übersehen oder hintansetzen wollte. Auch G. ist sich stets darüber klar gewesen, daß neben der Erforschung der Entwicklungsgeschichte des geltenden Rechts die Erkenntniß dieser auf staatswissenschaftlichem, ethischem, anthropologischem Gebiete liegenden Grundlagen ein unentbehrliches, jener vollkommen ebenbürtiges Hülfsmittel für das Verständniß der Gegenwart und für die Vorbereitung der Zukunft bilde. Eben die möglichst allseitige Würdigung der treibenden Kräfte, die principielle Ablehnung einseitiger Berücksichtigung nur eines oder des anderen Theils von ihnen verleiht seinen Untersuchungen ihr eigenartiges Gepräge.
Der Einfluß dieser universellen Anschauungsweise Goldschmidt’s ist auch für seine Stellungnahme in dem Kampfe der Geistesrichtungen von Belang gewesen, der durch den Gegensatz von Romanisten und Germanisten bezeichnet zu werden pflegt. Dem allgemeinen Studiengange seiner Zeit folgend, hatte G. sich zuvörderst dem römischen Rechte zugewendet. Von ihm aus ist er direct, nicht auf dem gewöhnlichen Umwege über das deutsche Recht, zum Handelsrechte gelangt. Aber auch nachdem dies geschehen, ist er zeitlebens dem römischen [443] Rechte treu geblieben. Das lebhafte Interesse, welches er dem classischen Alterthum entgegenbrachte, hielt er auch dessen bedeutsamstem Erzeugnisse auf dem Gebiete des Rechtes zugewendet. Im römischen Recht erblickte er das Muster, aus dem juristische Bildung ebenso gewonnen werden könne, wie künstlerische aus dem Studium der Antike. Und mit den hervorragendsten unter den römischen Juristen theilte er die Eigenschaften, die er vornehmlich an ihnen bewunderte, die Klarheit des Denkens, die richtige Würdigung des Verhältnisses der juristischen Construction zu dem ihren Gegenstand bildenden, positiven Rechte und die praktische, auf Gewinnung angemessener, den Forderungen des Lebens entsprechender Ergebnisse gerichtete Sinnesart. So war es ihm denn die liebste Thätigkeit, in geschichtlicher und dogmatischer Forschung den Spuren nachzugehen, welche die Geistesarbeit der Römer in der Gestaltung auch des modernen Rechtes, zumal des Handelsrechts, hinterlassen hat. Das Obligationenrecht, das diese Spuren am deutlichsten erkennen läßt, bildete den vornehmsten Gegenstand seiner Beschäftigung.
Nach alledem begreift es sich, daß G. dem Antheil germanischer Rechtsgedanken an der Entwicklung unseres geltenden Rechts nicht immer vollkommen gerecht geworden ist. Wenn er wiederholt betont, die römische Theorie setze, richtig verstanden, dem wirklich reifen Gedanken keine Schranken, so nimmt er damit für sie eine allgemeine Geltung in Anspruch, die mit der eben von ihm vertretenen, geschichtlichen Rechtsanschauung nicht vereinbar ist. Aber der Umfang und die Gewissenhaftigkeit seiner historischen Forschung, die sich kein ihr zugängliches Zeugniß für das Werden des Rechts entgehen ließ, verringerten doch die Gefahren jener principiellen Auffassung Goldschmidt’s sehr erheblich. Es verdankt ihm daher auch die germanistische Rechtswissenschaft mannichfache, zum Theil in monographischer Behandlung gebotene Bereicherung (wie für die Geschichte der Verbrüderung, der Fahrnißklage, des Schiffsraths). Und darüber hinaus sind für sie seine meisterhaften Untersuchungen über das Verkehrsrecht des Mittelalters auch da von unvergänglichem Werthe, wo sie sich an der Feststellung seiner Selbständigkeit gegenüber dem römischen Rechte genügen lassen, ohne der Frage nach seinem etwa germanischen Ursprunge näher zu treten. Darauf, daß die sichere Kenntniß der germanischen Quellen eine unentbehrliche Vorbedingung für das Verständniß der Entwicklung des modernen Handelsrechts bildet, hat er selbst zu wiederholten Malen nachdrücklich hingewiesen. Als seine Erkrankung im Jahre 1892 den Unermüdlichen zwang, die Feder aus der Hand zu legen, war er eben mit Untersuchungen über das germanische Gildenwesen beschäftigt, dessen Bedeutung für die Geschichte des Handelsrechts bei der Fortsetzung der Universalgeschichte zunächst zur Darstellung gelangen sollte. Die Grundgedanken, von denen diese Fortsetzung getragen werden sollte, sind aus dem „Abriß der Geschichte des Handelsrechts“ erkennbar, den G. nach Fertigstellung des ersten Theils der Universalgeschichte für das Handwörterbuch der Staatswissenschaften (Bd. IV, S. 329 ff.) geschrieben hat.
Das gründlichste Studium der Rechtsgeschichte und die umfassendste Berücksichtigung der geltenden, fremden Rechte waren, wie angedeutet, für G. in erster Linie nur Mittel zur vollkommenen Ergründung und Beherrschung des deutschen Rechts der Gegenwart. Wie seine Auffassung von den Aufgaben des Rechts als einer vernünftigen Lebensordnung diesem durchaus praktische Ziele wies, so blieb er auch bei den entlegensten Untersuchungen dessen stets eingedenk, daß die Rechtswissenschaft dem Leben zu dienen hat. Der Gegensatz von Theorie und Praxis existirte für ihn nicht. Ihm war es klar, daß beide aufeinander angewiesen sind, da die Theorie auf dem Boden des Lebens fußen muß, wenn sie nicht zu einer schemenhaften Begriffsjurisprudenz führen soll, [444] und die Praxis zur handwerksmäßigen Technik werden würde, wenn sie auf die wissenschaftliche Beherrschung des Rechtsstoffes verzichten wollte. Er selbst ist denn auch sein Leben lang gleichzeitig theoretisch und praktisch thätig gewesen. Als Mitglied des Reichsoberhandelsgerichts hat er in einem Collegium auserwählter Männer eine hervorragende Thätigkeit entfaltet, die ebenso ihm selbst zur größten Befriedigung gereichte, wie sie von Seiten seiner Mitarbeiter, namentlich auch des ihm persönlich nahestehenden Präsidenten Pape, volle und bereitwillige Anerkennung fand. In der Zeit vor und nach seiner Zugehörigkeit zu dem obersten Gerichtshofe nahm er durch Erstattung zahlreicher Gutachten in Rechtsstreitigkeiten in einer auch der Wissenschaft reichen Ertrag bringenden Weise an der Rechtspflege Theil. Der den Schiedsspruch des deutschen Kaisers in der San-Juan-Frage vorbereitenden Commission gehörte er (1872) als Mitglied an. Als Ergebniß daran anschließender Studien konnte er dem Institut de droit international, dem er als Mitgründer angehörte, das ausgezeichnete Reglement für internationale Schiedsgerichte vorlegen (1874). Vor allem aber war es ihm vergönnt, bei der Gestaltung neuen Rechts auf den Gebieten des Handels- und Civilrechts während eines Menschenalters vielfach maßgebend mitzuwirken. Das Recht der Handelsgesellschaften und der Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften hat ihm auch nach dieser Richtung hin besonders viel zu verdanken. Des Einflusses, den seine Kritik des Entwurfs eines Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs (1860) auf die Gestaltung des Handelsgesetzbuchs vom 10. Mai 1897 ausgeübt hat, ist bereits gedacht worden. Vornehmlich bedeutsam aber war die Anregung, die er durch einen am 11. März 1872 zu Leipzig gehaltenen Vortrag über die Nothwendigkeit eines deutschen Civilgesetzbuchs gab, für dessen Herstellung er dann als Referent der vom Bundesrathe berufenen Fünfercommission (1874) die maßgebenden Berichte zu erstatten hatte.
In dem Maaße, wie G. die wissenschaftliche Erforschung des Rechts als die Vorbedingung seiner gehörigen Handhabung ansah, erblickte er in der wissenschaftlichen Ausbildung der Juristen die unentbehrliche Vorbereitung auf ihre praktische Thätigkeit. Darnach bestimmte sich ihm die Aufgabe des Universitätsunterrichts, der nicht dazu dienen soll, lediglich den Zugang zum praktischen Vorbereitungsdienst zu eröffnen oder einen Theil der diesem obliegenden Functionen ihm abzunehmen. Er selbst ist als Lehrer stets in diesem Sinne thätig gewesen. Seine Vorlesungen sollten in erster Reihe dem Studirenden nicht sowohl den positiven Stoff etwa in der von G. für angemessen gehaltenen Beleuchtung vorführen, als vielmehr ihm die Augen dafür öffnen, welche Verhältnisse und welche Geistesarbeit der Völker und der Zeiten zu der das derzeitige Ergebniß der geschichtlichen Entwicklung bildenden Gestaltung des Rechts geführt haben. Zum selbständigen Denken sollte der Hörer erzogen werden, und an seiner eigenen Arbeit ließ ihn G. deshalb unausgesetzt theilnehmen. Es kam ihm darauf an, sich verstanden zu wissen, und er legte Gewicht darauf, mit seinen Zuhörern stets in jenem geistigen Contact zu stehen, der allein dem Universitätslehrer den sicheren Maßstab dafür verschafft, wie er im Einzelnen seinen Vortrag zu gestalten hat. Neben den Vorlesungen wandte G. den Uebungen bereits zu einer Zeit, wo deren Werth nur vereinzelt erkannt war, seine volle Aufmerksamkeit zu. Die Anforderungen, die er auch hier an die Theilnehmer stellte, waren nicht gering. Wer aber ernsthaft arbeiten wollte, war gewiß, hier alles zu erhalten, was die umfassende Gelehrsamkeit und die nicht ermüdende Hülfsbereitschaft des Lehrers dem Schüler zu bieten vermag. Das Handelsrecht bildete in der Berliner Zeit den Hauptgegenstand der Lehrthätigkeit Goldschmidt’s. Daneben las er, wie zum Theil [445] schon in Heidelberg, über Völkerrecht, Encyklopädie und Methodologie, internationales Privat- und Strafrecht und einzelne Theile des römischen Rechts. Er hat zumal auf seinem Hauptgebiete auch durch die Vorlesungen einen maßgebenden Einfluß auf die kommende Generation der in- und ausländischen Juristen ausgeübt.
In engem Zusammenhange zwar nicht mit seiner eigenen Lehrthätigkeit – denn er durfte mit dem Eifer seiner Zuhörer wohl zufrieden sein –, wol aber mit der Bedeutung, die er für den akademischen Unterricht der Juristen in Anspruch nahm, stand sein unausgesetztes Bemühen, eine gründliche Reform des preußischen Prüfungs- und Ausbildungswesens herbeizuführen. Sein Leben lang kämpfte er dafür, daß die Erwerbung einer wissenschaftlichen Ausbildung für ihren Beruf den Studirenden nicht nur ermöglicht, sondern durch eine entsprechende Regelung der ersten Prüfung zur Nothwendigkeit gemacht werde. Zumal sein umfassendes Buch über „Rechtsstudium und Prüfungsordnung“ (1887) stellt durch die Gründlichkeit und Vielseitigkeit, mit der es diese Frage behandelt, einen überaus werthvollen Beitrag zur Rechts- und Culturgeschichte Preußens dar.
In der Mitwirkung Goldschmidt’s bei der Schaffung einheitlichen, deutschen Rechts haben wir mit einer wichtigen Seite seiner juristischen Thätigkeit zugleich den hervorragendsten Theil seiner politischen kennen gelernt. Die einheitliche Regelung der den Handels- und weiter den bürgerlichen Verkehr überhaupt beherrschenden Rechte hat er bereits zur Zeit des deutschen Bundes als eine durch nationalpolitische Erwägungen nicht weniger, als durch wissenschaftliche, gerechtfertigte Aufgabe bezeichnet. Das geschah zu einer Zeit (1859), wo das Ideal eines einigen, starken Deutschlands, für welches schon mehr als zehn Jahre früher der Student sich begeistert hatte, dem gereiften Manne weiter als je von der Verwirklichung entfernt zu sein schien. Die Hoffnung auf diese hat er aber nie verloren. Als Preuße hat er in Baden im engeren Kreise wie auch öffentlich für ein Deutschland unter Ausschließung Oesterreichs und unter Führung Preußens gewirkt, als der preußische Staat selbst ihm wie so vielen anderen seine deutsche Mission vergessen zu haben schien. Auch er hat in den Wirren der preußischen Conflictszeit nicht zu erkennen vermocht, daß die verschlungenen Wege, die der geniale Leiter der preußischen Politik zu gehen genöthigt war, auf das von ihm selbst ersehnte Ziel hin gerichtet waren. Aber die Erkenntniß der geistigen Potenz, die in Bismarck verkörpert war, und deren gänzliche Verkennung auch seitens hervorragender Männer uns jetzt geradezu unbegreiflich erscheint, ist, wie wir aus seinem Briefwechsel sehen, ihm früher als manchem andern zu Theil geworden, und freudig begrüßte er unmittelbar nach den großen Schlachten des Jahres 1866 die „ungeheuren Errungenschaften der letzten Monate“ und die „ebenso weise wie energische Politik“, die darauf abzielte, einen dauernden Erfolg aus ihnen hervorgehen zu lassen. Als ein Festhalten an den Idealen seiner Jugendzeit betrachtete er es daher auch, wie er an seinen Freund, den badischen Ministerpräsidenten Julius Jolly schrieb (1869), daß er die beschauliche Ruhe des akademischen Lehramts dahingebe, um als Mitglied des Bundesoberhandelsgerichts[WS 1] „durch die That an der Vereinigung von Nord und Süd .... mitzuwirken“. Noch ehe er sein neues Amt antrat, brach der deutsch-französische Krieg aus. Auf die nicht überall sichere Stimmung in Süddeutschland suchte im Sinne einheitlichen Zusammenhaltens gegen den gemeinsamen Feind ein Flugblatt mit der Ueberschrift „Buben und Verräther!“ einzuwirken, das am 23. Juli 1870 veröffentlicht wurde. Es rührte von G. her, der hier in wuchtigen, von glühender Vaterlandsliebe eingegebenen Worten aussprach, daß es nach der [446] Kriegserklärung in Deutschland nicht mehr Parteien gebe, sondern nur noch treue Söhne des Vaterlandes auf der einen, Buben und Verräther auf der anderen Seite. Und noch ein Mal trat er auf den Plan. Es war fast zwei Jahrzehnte später. Das deutsche Reich stand fest begründet da. Aber die Erhaltung des so schwer Errungenen schien nicht ausreichend gesichert. Die sogenannten Septennatswahlen (1887) standen bevor, zu denen die drohende Gefahr den Anlaß gegeben hatte. Am Tage, bevor sie stattfanden, trat G. in der National-Zeitung mit einer Erklärung hervor, in der er, unbekümmert um die ihm nach Lage der Umstände in Aussicht stehende, persönliche Mißdeutung mannhaft für die Sicherheit des Reiches eintrat. Wie einst zur Zeit des Krieges nahm er wiederum den Standpunkt ein, daß gegenüber dem durch das Wohl des Ganzen Gebotenen auch die sonst an sich berechtigten Anschauungen und Wünsche der Theile zurückzutreten hätten. Die Selbstüberwindung, die er hier übte und lehrte, gründete sich auf die klare Erkenntniß des unschätzbaren Werthes der auf dem Spiele stehenden Güter einerseits und auf ein ungewöhnliches Maaß wahrer politischer Bildung andererseits. Es erfüllte ihn mit gerechtfertigter Befriedigung, daß Fürst Bismarck selbst ihm aus Anlaß seines Auftretens die Ehre einer längeren Unterredung zu Theil werden ließ.
Von Goldschmidt’s activer Betheiligung an der Politik ist noch zu erwähnen, daß er von 1875 bis 1877 als Mitglied der nationalliberalen Partei ein Reichstagsmandat für Leipzig inne hatte. Er ist als Redner nicht häufig im Plenum aufgetreten, hat aber namentlich in der Commission für die Concursordnung als deren zweiter Vorsitzender eine einflußreiche Thätigkeit entwickeln können. Gesundheitsrücksichten nöthigten ihn, die Wiederwahl abzulehnen. Die Art, wie er die verantwortliche Aufgabe des Volksvertreters verstand, hatte in Verbindung mit der Rückkehr aus der Richterstellung in Leipzig zur Professur und den aus dieser erwachsenden Verpflichtungen seine Kraft auf das äußerste erschöpft. Es war der erste schwere Anfall des Leidens, das, wiederholt überwunden und zurückgekehrt, ihn schließlich vor der Zeit bezwingen sollte.
Was G. in seinem Leben geleistet hat, ist in erster Linie der Rechtsordnung und der Rechtswissenschaft zu Gute gekommen. Aber in seinem Sinne am wenigsten würden wir handeln, wenn wir bei der Würdigung seiner Persönlichkeit über dem Juristen den Menschen vergessen wollten. Wie er das Recht selbst stets nur als eine im Zusammenhange der gesammten Cultur seines Volkes entstehende und zu verstehende Erscheinung betrachtete, so ruhte auch seine eigene Rechtskenntniß auf dem sicheren und stetig weiter gefestigten Fundamente einer umfassenden, allgemein humanistischen Bildung. Die Liebe zu den Werken des classischen Alterthums, die er als Schüler aus dem Unterrichte besonders trefflicher Lehrer heimgetragen hatte, begleitete ihn bis an sein Lebensende. Und des einzigartigen Werthes dieses Bildungselementes blieb er sich, ohne einseitig zu werden, stets bewußt. Von hier aus aber baute er sich auch die Brücke, die Verstand und Gemüth verbinden muß, wenn die Gewähr für eine harmonische Ausbildung des Menschen gegeben sein soll. Auch ihm galt das Reich des Wahren zugleich als das der Sittlichkeit, das Erkennen daher nicht nur als eine Bethätigung des Intellects, sondern auch als Mittel der sittlichen Bildung. Seine wissenschaftliche Thätigkeit, wie all sein Handeln, wurde beherrscht von dem kategorischen Imperativ des Pflichtgebots. Nur auf die Sache, der er diente, kam es ihm an; ihr opferte er bereitwillig jede Rücksicht auf seine persönlichen Wünsche. Obwol im allgemeinen wenig geneigt, am politischen Parteikampfe activ sich zu betheiligen, hat er es [447] doch, wie erwähnt, mehrfach über sich gewonnen, wo er dem Interesse des deutschen Vaterlandes damit dienen zu können glaubte. Das ist ihm um so höher anzurechnen, als er nicht den Gleichmuth des Berufspolitikers besaß, der die unausbleiblichen, selbst böswilligen Angriffe der Gegner leicht erträglich macht. Er selbst war stets auf das ängstlichste bedacht, niemandem Unrecht zu thun. Wo er auch nur von der Meinung eines Anderen in einer noch so untergeordneten, wissenschaftlichen Frage abwich, that er dies niemals, ohne seine Gründe darzulegen. Vergeblich würde man in seinen überaus zahlreichen Besprechungen von juristischen Schriften sehr verschiedener Art nach einem Beispiel für jenen wohlfeilen Recensententon suchen, der eben durch seine Sicherheit den einigermaßen Kundigen sehr schnell die wahre Sachlage erkennen läßt. Goldschmidt’s Besprechungen sind wissenschaftliche Untersuchungen durchaus gleichen Werthes, wie seine selbständigen Arbeiten; nur durch Anlaß und Umfang unterscheiden sie sich von diesen. Wol war er ein strenger Kritiker. Aber er übte sein Amt unbedingt gewissenhaft. Wer von ihm gelobt wurde, war dessen gewiß, daß er dies nicht etwa nur der Scheu seines Veurtheilers vor der Mühe eigener Nachprüfung zu verdanken hatte. Wen er tadelte, der erfuhr, aus welchen Gründen dies geschah. Und wenn G. im Interesse der Sache gegen Andere streng war, unendlich viel mehr war er dies gegen sich selber. Unbekannt war ihm, was es heißt, sich die Arbeit bequem zu machen. Die wohlfeile Kunst, sich mit Schwierigkeiten irgendwie abzufinden, statt mit ihnen zu ringen, hat er nie geübt. Immer sah er bei der Arbeit nur auf das, was noch fehlte, und er unterschätzte dem gegenüber leicht, was er bereits erreicht. So kam es, daß ihn seine eigenen Leistungen meist schon sehr bald nach ihrer Fertigstellung nicht mehr befriedigten. Bis zur Veröffentlichung besserte er unermüdlich an ihnen; nach ihr begann er wieder an die Weiterführung der Forschung zu denken. Aber viel Treffliches hat er auch überhaupt nicht publicirt, weil es seinen auf das höchste gespannten Anforderungen nicht zu genügen schien. Die Menge dessen, was er veröffentlicht hat – das den „Vermischten Schriften“ vorangeschickte Verzeichniß zählt 305 Nummern –, erscheint dadurch um so viel staunenswerther. Sie konnte nur von einer ganz ungewöhnlichen Arbeitskraft bewältigt werden, zumal da Goldschmidt’s schon in der Kindheit zarte Gesundheit später nur selten den ihr zugemutheten Anstrengungen eine längere Reihe von Jahren ohne Unterbrechung standgehalten hat. Aber wenn er für seine Person mit der Zeit geizen mußte, anderen versagte er sich gleichwol nie. Er betrachtete es, wie etwa einer seiner römischen Fachgenossen, als ein nobile officium, den ihn um Rath Fragenden „de iure respondere“. Daß seine Güte zuweilen arg gemißbraucht wurde, hat daran nichts zu ändern vermocht.
Unter den Namen der Männer, denen es die deutsche Rechtswissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts verdankt, daß sie eine führende Stellung erlangt hat, wird derjenige Goldschmidt’s stets in der ersten Reihe prangen. In Forschung und Lehre, auf Rechtsprechung und Gesetzgebung hat er maßgebenden Einfluß ausgeübt. Die Wissenschaft des Handelsrechts aber hat in ihm den Vertreter verloren, der, wie kein anderer, dazu beigetragen hat, sie auf eine früher nicht geahnte Höhe zu erheben.
- Laband, Levin Goldschmidt. In Deutsche Juristenzeitung 1897, S. 296 bis 298. – Pappenheim, Levin Goldschmidt. In Zeitschr. f. d. ges. Handelsrecht, Bd. 47, S. 1–49. – Rießer, L. Goldschmidt. Berlin 1897. – A. Sacerdoti, L’opera scientifica di Lewin Goldschmidt (Studii giuridici dedicati e offerti a Francesco Schupfer, Diritto odierno p. 66–69). Milano 1898. – Levin Goldschmidt. Ein Lebensbild in Briefen. Als Mscr. gedruckt. [448] Berlin 1898 (mit Vorwort von Adele Goldschmidt). – Vermischte Schriften von L. Goldschmidt. Zwei Bände. Berlin 1901 (aus dem Nachlasse des Verfassers herausgegeben von Rechtsanwalt Dr. H. V. Simon).
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Bundesoberhandelsgerichs