ADB:Janssen, Johannes
*): Johannes J., Geschichtschreiber, geboren am 10. April 1829 zu Xanten am Niederrhein, † am 2. December 1891 zu Frankfurt am Main, entstammte einer kleinbürgerlichen, streng katholischen Familie, die sich durch Biederkeit und große Wohlthätigkeit auszeichnete. Schon sehr früh zeigte sich bei ihm der Lehr- und Priesterberuf und die Neigung zur Schriftstellerei; trotzdem sollte er nach dem frühen Tode seiner Mutter (1841) gemäß dem Willen seines Vaters ein Handwerk lernen: er kam bei einem Verwandten als Kupferschmied in die Lehre. Da er hierzu durchaus nicht taugte (er hatte stets unter dem blauen Schurzleinen Bücher), erlaubte ihm der Vater zu Ostern 1844 wiederum den Besuch der Xantener Rectoratsschule. Durch angestrengtes Studium, bei dem der von Natur aus schwächliche Körper schwer litt, brachte er es dahin, daß er Herbst 1846 auf die Obersecunda des Gymnasiums zu Recklinghausen kommen konnte; drei Jahre später bestand er dort das Abiturientenexamen. Er bezog nun zunächst die Universität Münster i. Westf., um Theologie zu studiren. Ostern 1850 ging er nach Löwen in Belgien, wo er neben seinem eigentlichen Studium gründlich Französisch und Englisch lernen wollte. Der Aufenthalt in dem rein katholischen Lande und der Verkehr mit bedeutenden Professoren, wie dem Philosophen Laforêt, dem Kanonisten Feije [734] und den Historikern Möller und Arendt behagte ihm ungemein. In seinen Plänen vollzog sich allmählich eine wichtige Wandlung. Infolge andauernder Kränklichkeit und übertriebener Gewissenhaftigkeit entsagte er dem Gedanken, Seelsorger zu werden und entschied sich, die geschichtliche Forschung als seinen eigentlichen Lebensberuf zu erwählen. Historische Neigungen hatten sich bei ihm schon im zartesten Knabenalter gezeigt; auch die großen geschichtlichen Erinnerungen und die bedeutenden mittelalterlichen Kunstwerke ferner durch die deutsche Heldensage verklärten Vaterstadt wirkten nachhaltig auf sein empfängliches Gemüth ein; in Münster war er Professor Grauert, dem Biographen der Königin Christine von Schweden, nähergetreten, Prof. Feije veranlaßte ihn in Löwen, sich eingehender mit den gerade damals in reicher Fülle erscheinenden Quellen zur Geschichte des Abfalls der Niederlande zu beschäftigen. Aus diesen Studien gingen die Aufsätze über „die erste Periode der niederländischen Revolution des 16. Jahrhunderts“ hervor (abgedruckt in der deutschen Ausgabe der Civiltà cattolica, Münster 1855). Im Herbst 1851 kehrte J. in die rheinische Heimath zurück und bezog die Universität Bonn, wo neben dem Philosophen Clemens die Historiker Aschbach und Dahlmann, später auch Julius Ficker und Heinrich Joseph Floß nachhaltig auf ihn einwirkten. In den Osterferien 1853 besuchte er mit einer Empfehlung Aschbach’s versehen Johann Friedrich Böhmer in Frankfurt am Main. Die Besprechung mit diesem hervorragenden Gelehrten und edlen Menschen ward entscheidend für seine ganze Zukunft. Auf der Mainbrücke bemerkte ihm Böhmer vor dem Standbilde Karl’s des Großen: „Dieses Bild sagt uns was uns fehlt: eine Geschichte des deutschen Volkes aus der Feder eines katholischen Historikers, denn was wir als deutsche Geschichte haben und kennen ist nur eine Farce; man nennt Euch Katholiken mit Recht Kreuzköpfe, weil Ihr das Kreuz verdient, welches man Euch auferlegt“. Diese Worte zündeten in der Seele des Jünglings, der damals bereits den Vorsatz faßte, nach Vollendung seiner Dissertation eine Geschichte des deutschen Volkes als Hauptarbeit seines Lebens in Angriff zu nehmen.
JanssenIm Herbst 1853 promovirte J. mit einer Abhandlung über den als Abt, Staatsmann und Gelehrten gleich ausgezeichneten Wibald von Stablo und Corvey („De Wibaldo abbate“, Bonnae 1858), die er Aschbach widmete. Im folgenden Winter arbeitete er die Dissertation zu einer deutschen Monographie um („Wibald von Stablo und Corvey“, Münster 1854). Die von edlem patriotischem Geiste durchwehte Arbeit fand bei Aschbach und Böhmer die beste Aufnahme; das preußische Unterrichtsministerium verlieh dem jungen Gelehrten, dessen Mittel äußerst beschränkt waren, ein Stipendium, welches demselben einen mehrmonatlichen Studienaufenthalt in Berlin ermöglichte.
Anfang August 1854 habilitirte sich J. zu Münster als Privatdocent für Geschichte; für das Wintersemester kündigte er eine Vorlesung über das 16. Jahrhundert an. Allein bereits im September wurde ihm, nicht ohne Zuthun Böhmer’s, welcher den hoffnungsvollen Gelehrten nicht aus den Augen verloren hatte, der Antrag gemacht, an Stelle des plötzlich verstorbenen Dr. Steingaß, eines Schwiegersohnes von Görres, die Geschichtsprofessur für die katholischen Schüler des Gymnasiums zu Frankfurt am Main zu übernehmen. Obgleich J. Münster und „die treuen Bewohner der rothen Erde“ sehr lieb gewonnen hatte, nahm er doch den verlockenden Antrag an; die Aussicht, in die Nähe Böhmer’s zu kommen, und statt der unsicheren akademischen Laufbahn sofort eine gesicherte Lebensstellung zu erhalten, war entscheidend. Ende October 1854 siedelte er nach der alten Kaiserstadt über, wo fortan sein ganzes Leben verlaufen sollte.
[735] In Frankfurt, das damals noch die geräuschvolle Residenz des deutschen Bundestages war, trat J. bald in einen Kreis geistig hoch angeregter Männer und Frauen ein (hervorgehoben seien Johann David Passavant, Karl Passavant, Maler Steinle, Professor Wedewer, Stadtpfarrer Thissen, Staatsrath v. Linde, Herr und Frau v. Sydow, Frau Rath Johanna Schlosser, Professor Stumpf-Brentano), die er durch seine kindlich harmlose Natur, sein fröhlich freies Wesen („Es lebe die Freiheit“ war damals sein Wahlspruch) und seine hinreißende Liebenswürdigkeit entzückte. Wie mannichfaltig auch Lebensstellung und Beruf, wie verschieden oft die politischen und religiösen Ansichten seiner Freunde waren, alle schätzten, ja liebten den jugendlichen Gymnasialprofessor in gleicher Weise. Auch mit seinen protestantischen Collegen am Gymnasium, besonders mit Professor Creizenach und Director Classen stand J. in den allerbesten Beziehungen; am engsten gestaltete sich sein Verkehr mit Böhmer, der am 4. April 1858 schrieb: „Janssen ist mir ein immer lieberer Freund geworden, einen größeren wissenschaftlichen Ernst, eine tiefere Empfänglichkeit für alles Schöne in Natur und Kunst, gepaart mit so vieler Bescheidenheit und Gemüthstreue wird man nicht leicht bei einem jüngeren Manne antreffen“.
Die Studien Janssen’s in seinen ersten Frankfurter Jahren bewegten sich vorwiegend auf dem Gebiet der mittelalterlichen Geschichte. Er besorgte in Verbindung mit Junkmann die Herausgabe der von seinem Landsmann Scholten unvollendet hinterlassenen Geschichte Ludwig’s des Heiligen (Bd. 2, Münster 1855), veröffentlichte Studien über die Kölner Geschichtsquellen im Mittelalter (Annalen f. d. historischen Verein des Niederrheins, Bd. I, 1855) und publicirte als dritten Band der Geschichtsquellen des Bisthums Münster die Chroniken von Röchell, Stevermann und Corfey (Münster 1855–56). Letztere Publication führte ihn wieder auf das Gebiet der neueren Geschichte, der er sich seit 1857 in steigendem Maße zuwandte, im Hinblick auf das allmählich auf die Periode seit dem 15. Jahrhundert eingeschränkte Unternehmen einer deutschen Geschichte, zu dem Böhmer die Anregung gegeben hatte. Böhmer war es auch, der J. auf den Schatz ungedruckter Actenstücke aufmerksam machte, welchen das Frankfurter Stadtarchiv birgt. Hieraus ging die wichtige Publication „Frankfurts Reichscorrespondenz“ hervor, von welcher 1863 der erste Band erschien, welcher die Zeit von 1376 bis 1439 umfaßt. Weech begrüßte dieselbe als eine „Quellensammlung ersten Ranges und als ein Werk, durch welches der Schüler dem Meister Böhmer sich ebenbürtig an die Seite stelle (Augsburger Allg. Zeitung 1863, Nr. 196 u. 214, Beilage).
Alle diese Arbeiten entstanden unter großen körperlichen Schmerzen; neben einem Augenleiden war es vor allem die Neigung zu heftigem Nasenbluten, das bis zum Blutsturze ausarten konnte, welche J. wiederholt in Lebensgefahr brachte; seine zähe Natur überwand jedoch Alles, kaum genesen widmete er sich wieder mit größtem Eifer seinen Arbeiten. So konnte er 1861 eine historisch-politische Abhandlung „Frankreich’s Rheingelüste und deutschfeindliche Politik in früheren Jahrhunderten“ (2. Auflage 1883) und 1863 die Schrift „Schiller als Historiker“ (2. Auflage 1879) veröffentlichen. Die erstgenannte Arbeit stand in engen Beziehungen zu den Zeitereignissen, an welchen J. den lebhaftesten Antheil nahm: sie ist ein leuchtendes Denkmal seiner echt deutschen Gesinnung. Mit Meisterhand wird in derselben Frankreichs traditionelle Politik gegen Deutschland und deren Streben zur Erwerbung der Rheingrenze nachgewiesen. Die Schrift ist „den deutschen Diplomaten“ gewidmet, in Wahrheit aber an das deutsche Volk gerichtet. In den herrlichen Schlußworten gibt J. seiner Hoffnung auf das Wiedererstehen von Kaiser und Reich begeisterten [736] Ausdruck. „Niemand“, bemerkte ein streng protestantischer Kritiker, „wird dem Verfasser seinen katholischen Stand- und Gesichtspunkt zum Vorwurfe machen wollen, jeder sich vielmehr freuen können, denselben mit soviel Milde gegen Andersgläubige, mit soviel Unbefangenheit und Freimuth der eigenen Kirche gegenüber verfochten zu sehen“. Dieser Freimuth war gepaart mit einer tief innerlichen glühenden Liebe zur Kirche seiner Väter. Wer J. näher kannte, den konnte es nicht überraschen, daß derselbe den bereits in früher Jugend gefaßten Plan, Priester zu werden, am 26. März 1860 ausführte. Ganz in der Stille hatte er sich durch geistliche Uebungen bei den Capuzinern in Aschaffenburg und während eines Urlaubes durch theologische Studien in Tübingen zu dem Schritte vorbereitet. Von großem Einfluß auf den Entschluß Janssen’s war die Geistesnoth seines Freundes Böhmer, der durch seine historischen Studien ein feuriger Verehrer der katholischen Kirche geworden, dennoch außerhalb ihres Verbandes blieb und dadurch ungemein litt; entscheidend waren Janssen’s Liebe zur Kirche und die Ueberzeugung von der Kraft ihrer Gnaden, deren er als Priester doppelt theilhaftig zu werden hoffte. Bezeichnend für die großen und weiten Anschauungen, denen J. auf religiösem Gebiete huldigte, ist seine Rede über „die Kirche und die Freiheit der Völker“ (Frankfurt 1863), die vielfach an Lacordaire und Montalembert’s Ideen erinnert, und seine begeisterte Abhandlung „Das Papstthum in der Geschichte“ (Frankfurt 1867).
Der Tod Böhmer’s (22. October 1863), durch den J. „das Beste ward, was er je empfangen“, war ein schwerer Schlag; sich in Frankfurt vereinsamt fühlend, nahm J. einen fünfmonatlichen Urlaub zu einer Reise nach Italien, während welcher er vom December 1863 bis April 1864 als Gast des Cardinals Reisach in Rom weilte. Neben archivalischen Forschungen im vaticanischen Archiv widmete er sich eifrig dem Studium der Kunstwerke und trat auch vielen hervorragenden Persönlichkeiten näher. Pius IX. und besonders Cardinal Reisach befragten ihn wiederholt wegen der kirchlichen Verhältnisse Deutschlands, wo sich damals der Altkatholicismus vorbereitete; sie lernten den maßvollen und gelehrten deutschen Professor so hochschätzen, daß sie ihm den Antrag machten, in den diplomatischen Dienst der Curie zu treten. Allein J., der vor allem seine persönliche Freiheit hochschätzte, lehnte dieses ehrenvolle Anerbieten ebenso ab, wie später dasjenige eines preußischen Diplomaten, seine gewandte Feder in den Dienst politischer Publicistik zu stellen. Er bat auch Pius IX., der ihm eine geistliche Auszeichnung zugedacht hatte, hiervon Abstand zu nehmen: als einfacher Gymnasialprofessor traf er im Juni 1864 wieder in seinem „lieben Frankfurt“ ein, wo er in der folgenden Zeit eine weitverzweigte schriftstellerische Thätigkeit auf dem Gebiet der Geschichte, der Biographie und des Essay entfaltete. Neben kleinen historischen Vorträgen („Rußland und Polen vor 100 Jahren“; „Gustav Adolf in Deutschland“; „Karl der Große“; „Erinnerungen an den Kapuziner P. Borgias“) gehören der folgenden Zeit drei größere Arbeiten an: die 1865 als Frucht seiner römischen Quellenstudien erschienene Schrift „Zur Genesis der ersten Theilung Polens“, die erste Abtheilung des zweiten Bandes von Frankfurts Reichscorrespondenz, Acten aus der Zeit Kaiser Friedrich’s III. bis zur Wahl König Maximilian’s enthaltend (die zweite Abtheilung mit den Documenten zur Zeit Maximilian’s I. erschien 1872, die erste 1866) und endlich das große Werk „Johann Friedrich Böhmer’s Leben, Briefe und kleinere Schriften“ (3 Bände, Freiburg 1868). Die durch peinlichste Objectivität und Genauigkeit, ungemeine Reichhaltigkeit und künstlerische Form ausgezeichnete Böhmer-Biographie, von welcher J. 1869 unter dem Titel „Böhmer’s Leben und Anschauungen“ einen Auszug [737] veröffentlichte, fand allgemeine Anerkennung; kein geringerer als Ranke hob die Bedeutung der Publication für die Geschichte der deutschen Studien hervor (siehe Ranke’s Werke 51–52, S. 535), während August Reichensperger die Wichtigkeit der Arbeit für die nationale Kunst eingehend würdigte (Organ für christliche Kunst 1863, Nr. 13). In den mit „heldenmüthiger Rücksichtslosigkeit“ (so urtheilt Wattenbach in den Heidelberger Jahrbüchern 1868, Nr. 36) herausgegebenen Briefen sind „wahre Goldkörner ausgestreut für historische Forschung und deren Methode, für Kunst und Litteratur“ (Norddeutsche Allg. Zeitung 1868, Nr. 161).
Neben diesen größeren und schwierigeren Arbeiten gingen gewissermaßen zur Erleichterung von Geist und Gemüth kleinere und leichtere her, welche in Zeitschriften veröffentlicht wurden. Bei diesen Essays bevorzugte J. Briefsammlungen und biographische Aufzeichnungen. Eine Auswahl seiner Essays veröffentlichte er 1875 unter dem Titel „Zeit- und Lebensbilder“ (4. Auflage 1889, 2 Bde.). Er widmete diese „Beiträge zur vergleichenden Culturgeschichte“, welche fast das ganze 19. Jahrhundert umspannen, seinem Freunde August Reichensperger. An die „Zeit- und Lebensbilder“ reihte sich eine auf dem meist ungedruckten Nachlaß beruhende künstlerisch abgerundete Biographie des Grafen Friedrich Leopold zu Stolberg (2 Bde., Freiburg 1877 ff., dritte Auflage des ersten Bandes 1882).
In demselben Jahre 1876, in welchem J. mit der Stolberg-Biographie hervortrat, begann er auch die Herausgabe seiner großen „Geschichte des Deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters“. Dieses Werk war unter dem Eindruck der gewaltigen Ereignisse des Jahres 1870, an welchen J. als echter deutscher Patriot begeisterten Antheil nahm, in den Vordergrund seiner Studien getreten: es sollte ihn fortan in erster Linie bis zu seinem letzten Augenblicke beschäftigen. Eine gewisse Ablenkung brachte allerdings der auf den deutsch-französischen Krieg folgende „Culturkampf“ mit sich. J. hatte, hier gänzlich von seinem Lehrer Böhmer, der Preußen für den „Pfahl in deutschem Fleische“ erklärte, wie von den meisten seiner Glaubensgenossen, abweichend schon in den sechziger Jahren eine entschieden preußenfreundliche Haltung eingenommen. In Frankfurt stand er vor und noch lange nach dem Jahre 1866 in dieser Hinsicht unter hervorragenden Katholiken wie Protestanten fast völlig isolirt da. Es kümmerte ihn auch nicht, daß das Berliner Unterrichtsministerium ihn trotz seiner hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen hartnäckig ignorirte und nicht daran dachte, ihn für eine Universität zu gewinnen. Die Erhebung König Wilhelm’s zum Deutschen Kaiser begrüßte er in einem schwungvollen Gedicht, auf das neue Reich setzte er die größten Hoffnungen. Um so schmerzlicher war seine Enttäuschung, daß der alte religiöse Zwiespalt wieder entbrannte und der leitende Staatsmann „in der alten Kirche heiliger Macht den Erbfeind deutscher Größe wähnte“. Was die Ignorirung nicht erreicht hatte, das bewirkten jetzt die Schlag auf Schlag folgenden Maßregeln gegen die katholische Kirche. J. trat in eine entschiedene Opposition gegen die preußische Politik, die mit dem Fortschreiten des Culturkampfes an Schärfe zunahm. Er wurde ein eifriger Mitarbeiter der katholischen Presse, besonders der Kölnischen Volkszeitung, verfaßte die scharfe Schrift „Berlins sittliche und sociale Zustände nach Berliner Berichten dargestellt“ (Freiburg 1872) und ließ sich an Stelle seines am 11. Februar 1875 verstorbenen Freundes Karl Friedrich v. Savigny für den Wahlkreis Montjoie-Schleiden-Malmedy zum Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses wählen; daß er dem Centrum beitrat, war selbstverständlich. Ueber seinen Berliner Aufenthalt [738] liegen ausführliche Tagebücher vor, aus welchen Auszüge in der „Kölnischen Volkszeitung“ (1896, Nr. 491, 493, 495, 497) veröffentlicht wurden. Der gemüthvolle stille Gelehrte war indessen für das unruhige und aufgeregte parlamentarische Leben nicht geschaffen; er erkannte dies bald selbst; im Herbst 1876 lehnte er die Wiederannahme eines Mandates ab, um sich fortan ungestört dem Geschichtsunterricht der katholischen Schüler des Frankfurter Gymnasiums und vor allem seinem großen Lebenswerke, der „Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgange des Mittelalters“ widmen zu können. Der erste Halbband derselben hatte 1876 innerhalb weniger Monate vier Auflagen erlebt; Anfang 1878 lag der ganze erste Band mit dem Sondertitel „Die allgemeinen Zustände des Deutschen Volkes beim Ausgang des Mittelalters“ im Drucke vor. Auf Grund einer staunenswerthen Quellen- und Litteraturkenntniß war hier in leicht lesbarer Form ein mit patriotischer Begeisterung entworfenes umfassendes Culturbild der deutschen Zustände am Vorabend der Kirchenspaltung gezeichnet. Das Ganze gestaltete sich zu einer glänzenden Ehrenrettung des vielverlästerten, wenig gekannten 15. Jahrhunderts. An Anerkennung der hochbedeutenden Leistung, welche tiefe Forschung mit feinsinniger und doch stets populärer Darstellung verbindet, fehlte es auch auf protestantischer Seite nicht. Georg Waitz urtheilte, „J. ist der erste jetzt lebende Historiker“. „Hier ist einmal wieder eine That des Katholicismus“, schrieb die Deutsche Reichspost (1877, Nr. 286). „Wie hohe Wellen auch Möhler’s Symbolik einst über dem todten Meere der deutschen Gelehrsamkeit erregte, ebenso hohe erregt nun dies Buch, und vielleicht in noch weitere Kreise fortschreitende. Tiefe Gelehrsamkeit, eminenter Ueberblick über die meisten wissenschaftlichen Gebiete, reichliche, treffliche Combinationen finden wir gepaart mit besonderen Autoreigenschaften, einem ungewöhnlichen Talente geschickter Uebergänge, einem kräftigen Stil. Keine Polemik im Buche. Ein religiös-idealer und patriotischer Grundton zieht stark und warm durch das Ganze“. Die wichtigsten und glänzendsten Partien des Bandes sind jene, welche die socialen Verhältnisse behandeln; die Berliner Jahresberichte der Geschichtswissenschaft (1877, S. 606) bezeichneten dieselben geradezu als eine „Musterschöpfung wissenschaftlicher Arbeit“.
Bereits 1879 erschien der zweite Band der Geschichte des Deutschen Volkes, der „vom Beginn der kirchlich-politischen Revolution bis zum Ausgang der socialen Revolution von 1525“ reicht. – „Das Werk ist eine sehr bedeutende Erscheinung“, heißt es in den Berliner Jahresberichten der Geschichtswissenschaft (II. Jahrgang, 1879, S. 11 u. 260), „und hat Anspruch auf eingehende Beachtung. Sehr überzeugend ist der zum Theil störende Einfluß der Reformation auf das wissenschaftliche Leben, wie der Verfall der Universitäten bewiesen, der der Heranbildung des rüden Prädicantenthums günstig war. In der Darstellung der socialen Revolution entfaltet J. seine ganze Meisterschaft, besonders in der Klarlegung der bäuerlichen Verhältnisse“.
Aehnliche anerkennende Urtheile von protestantischer Seite wurden seit dem Erscheinen des dritten Bandes, welcher „die politisch-kirchliche Revolution der Fürsten und Städte und ihre Folgen für Volk und Reich bis zum sogenannten Augsburger Religionsfrieden von 1555“ schildert (Freiburg 1881), immer seltener, während sich die Angriffe mehrten. Letzteres kann nicht überraschen, denn J. hatte in scharfer Weise die Kehrseite der politisch-religiösen Umwälzung des 16. Jahrhunderts hervorgehoben. Wundern muß man sich dagegen, daß ein Theil der Kritiker einen Mann von so bewährter deutschpatriotischer Gesinnung wie J. der Vaterlandslosigkeit und der Reichsfeindschaft beschuldigte. Ebenso bedauerlich ist es, daß viele Kritiker statt in eine sachliche [739] Discussion einzutreten, sich in den heftigsten Schmähungen und Verdächtigungen ergingen. J. hatte sich in seinem Geschichtswerk nicht bloß von jeder Leidenschaftlichkeit, sondern auch von jeglicher Polemik ferngehalten, auch theologische und politische Discussionen ausgeschlossen; er brachte nur Thatsachen und zeitgenössische Urtheile. So sehr die Angriffe, namentlich auf seinen patriotischen Sinn, auch J. schmerzten, so bewahrte er doch seine Ruhe. Zeuge davon sind die beiden Vertheidigungsschriften „An meine Kritiker“ (erstes Wort 1882, das „zweite Wort an meine Kritiker“, 1883). Es gibt wenig Streitschriften von so vollendeter Ruhe, Noblesse und Sachlichkeit; nur in ganz besonders schweren Fällen kommt ein scharfes Wort zur Verwendung, sonst äußert sich nur Bedauern, zuweilen mit Humor gemischt; im allgemeinen ist die Vertheidigung so eingerichtet, daß die in Anführungszeichen mitgetheilten Ausfälle der Gegner von selbst auf dieselben zurückfallen. Einen Kritiker, der ihn dem Teufel übergeben, „übergiebt“ J. „lediglich dem Urtheil der Leser“. Das Ende war, daß J. nach dem Urtheile vieler (vgl. Paul Förster, Deutsches Litteraturblatt 1881, S. 171) aus dem Streite „unzweifelhaft als Sieger hervorging“. Von dem Interesse, welches der Streit erregte, zeugt die Thatsache, daß von den Schriften an die Kritiker 19 000 und 11 000 Exemplare verkauft wurden. Gleichzeitig stieg auch die Verbreitung des Janssen’schen Geschichtswerkes, von dessen erstem Bande 25 000 Exemplare abgesetzt wurden. Der im Frühling 1885 unter dem Sondertitel „Allgemeine Zustände des deutschen Volkes seit dem Augsburger Religionsfrieden vom Jahre 1555 bis zur Verkündigung der Concordienformel im Jahre 1580“ zur Ausgabe gelangte vierte Band mußte sofort in der Höhe von zwölf Auflagen erscheinen. Dasselbe war der Fall bei dem 1886 publicirten fünften Bande, welcher die „Vorbereitung des dreißigjährigen Krieges“ behandelte. Mit dem 1888 erschienenen sechsten Bande unterbrach J. die politische Geschichte, um ein großes Bild der Culturzustände Deutschlands seit dem Ausgang des Mittelalters bis zum Beginne des dreißigjährigen Krieges zu entwerfen. Es war jedoch J. nur vergönnt noch den sechsten Band, welcher Kunst- und Volkslitteratur behandelte, herauszugeben. Ueber der Vollendung des siebenten und achten Bandes ist er nach mehrwöchentlichem Krankenlager am 24. December 1891 gestorben. Sein litterarischer Erbe hat die Vollendung und Herausgabe dieser Bände in engem Anschlusse an seinen Lehrer besorgt. Ungemein eingehend wird in denselben das Hexenwesen und der Hexenwahn des 16. Jahrhunderts behandelt; es ist die ausführlichste Darstellung dieses Gegenstandes, welche existirt, so eingehend, daß sie zum Theil aus dem Rahmen der Gesammtdarstellung herausfällt.
Unbestrittene Vorzüge des Janssen’schen Geschichtswerkes sind die sorgsame Verwerthung eines riesigen Quellenmaterials (darunter auch zahlreiche ungedruckte Acten besonders aus dem Frankfurter Stadtarchiv), sehr vollständige Heranziehung der gesammten neueren Litteratur, klare und einfache Darstellung, endlich Bevorzugung des culturhistorischen Elementes in einem bisher nicht bekannten Umfange, sodaß eine eigentliche Volksgeschichte entstand. Während Döllinger die theologische Seite, Ranke die politisch-internationalen Beziehungen besonders berücksichtigte, stellte J. die social-politischen, culturgeschichtlichen Verhältnisse im weitesten Umfang in den Vordergrund. Eine besondere Eigenthümlichkeit des Werkes von J. ist, daß derselbe mit Vorliebe die Zeitgenossen redend einführt und das Endurtheil dem Leser überläßt. Auf die Auswahl und Verwerthung dieser Zeugnisse beziehen sich die Angriffe wegen Geschichtsfälschung, die jedoch nicht bewiesen sind; die Berliner Kreuzzeitung trat denn auch trotz ihres abweichenden Standpunktes dem Vorwurf entgegen, daß J. mit Tendenz und Bewußtsein geschichtliche Ereignisse verfälscht oder zu Gunsten [740] seines katholischen Bekenntnisses entstellt habe (Kreuzzeitung 1885, S. 39, Beil.). Was die oft angegriffene Objectivität Janssen’s anbelangt, so muß zugegeben werden, daß er trotz ehrlichen Strebens nach möglichster Objectivität die feine Linie derselben nicht überall eingehalten hat. Es gilt dies namentlich von dem ersten Bande, in welchem die kirchlichen Mißstände viel zu kurz behandelt waren; diesem von J. selbst empfundenen Mangel hat jedoch sein litterarischer Erbe bei Veranstaltung der 18. Auflage des ersten Bandes (Freiburg 1897) durch Einschiebung eines mehr als hundert Seiten füllenden Abschnitts abzuhelfen gesucht. – Ueber verschiedene Momente und Factoren, welche bei der Entstehung und Ausbreitung der Kirchenspaltung maßgebend waren, wird man gleichfalls im einzelnen anderer Ansicht sein dürfen als J. Neben dem von ihm sehr in den Vordergrund gestellten jüngeren Humanismus waren noch zahlreiche andere Factoren mächtig wirksam, welche in Janssen’s Darstellung nicht genügend in Anschlag gebracht sind. Die Schattenseiten im katholischen Lager wurden übrigens von J. im dritten, vierten und fünften Band scharf betont: die Politik Clemens’ VII. sowie diejenige Paul’s III. wurden mit Freimuth getadelt, ebenso der verweltlichte deutsche Episcopat des 16. Jahrhunderts.
An Einfluß und Verbreitung steht Janssen’s Geschichte des Deutschen Volkes unerreicht da: von jedem der drei ersten Bände sind 18 Auflagen, von den fünf folgenden 16 Auflagen ausgegeben worden. Daneben erschien eine französische Uebersetzung, deren erster Band bereits in zweiter Auflage vorliegt; eine englische Uebertragung ist in Angriff genommen. Aehnliche Erfolge hat kein Historiker des 19. Jahrhunderts aufzuweisen; unter den katholischen Geschichtsschreibern hat seit Baronius, Raynald und Pallavicini keiner Janssen’s Ruhm erreicht. Die Bedeutung Janssen’s für die protestantische Geschichtsschreibung betonte L. Freytag im Berliner Central-Organ für die Interessen des Realschulwesens (1885, S. 39). Derselbe hebt hervor, daß J. „auch uns Protestanten einen großen Dienst erwiesen hat: sein Werk mag oft empfindlich treffen, mag auch in Einzelheiten anzufechten sein, die landläufige populär protestantische Geschichtsschreibung über das Reformationszeitalter ist jedenfalls von jetzt ab unmöglich geworden“. In ähnlicher Weise meinte auch Professor Paulsen: „sicherlich ist Janssen’s Geschichte des deutschen Volkes nicht die letzte Darstellung dieses Volkslebens, aber gerade die Protestanten können und müssen von ihm lernen.“ Der Verfasser von „Rembrandt als Erzieher“, bemerkt in der neuesten Auflage über J. folgendes: „Der Unparteiische wird es als ein Verdienst Johannes Janssen’s anerkennen, daß er auch einmal die Kehrseite des Reformationszeitalters aufgezeigt hat, der Vernünftige wird seine wie der protestantischen Geschichtsschreiber Darstellungen gegen einander abwägen und sich selbst ein Urtheil bilden; nur der Träge und Voreingenommene wird bei ihm zu kurz kommen. Wie der Grieche seine homerischen Rhapsoden, so sollte der Deutsche seine nationalen Geschichtsschreiber anhören, empfangend und zugleich mitschaffend“ (S. 78 der 10. Aufl. 1892).
Trotz seiner großen litterarischen Erfolge und des ausgedehnten Ruhmes, der ihm zu theil wurde, blieb J. persönlich so einfach und bescheiden wie vorher. Papst Leo XIII., der hochherzige Beförderer geschichtlicher Studien, hatte bereits 1880 seine Verdienste durch Ernennung zum apostolischen Protonotar ad instar participantium anerkannt; mehrmals hat der Papst auch daran gedacht, J. an die Spitze des vaticanischen Archivs zu stellen; noch im Herbst 1890 wollte er ihm die Cardinalswürde verleihen, J. aber bat dringend, ihn seinem stillen Frankfurter Kreise nicht zu entziehen, nur dort könne er sein Lebenswerk zu Ende führen. Nach höheren Ehren hatte sein Sinn niemals gestanden. Aus dem Volk hervorgegangen blieb er stets ein Mann des Volkes, [741] Demokrat in seinen Anschauungen, Aristokrat in seinem Wesen und Auftreten. Für sich selbst überaus sparsam, verwandte er seine reichen, litterarischen Einkünfte zur Förderung historischer Arbeiten, zu Kirchenbauten und zur Milderung der socialen Noth, namentlich zum Besten armer Kinder. Die Rettungsanstalt Johannesstift in Oberursel bei Frankfurt am Main verdankt ihm ihre Gründung. Seine Stellung zu den Protestanten hat er im J. 1882 also gekennzeichnet: „Was ich im J. 1861 am Schluß einer Schrift, in der ich den von Frankreich geschürten confessionellen Hader der Deutschen zu schildern hatte, ausgesprochen habe, daran halte ich noch heute fest: es handle sich für uns vor allem darum, keine religiöse Feindschaft neu zu erwecken, sondern treu zu pflegen mit der Kirche, was bei den einzelnen Parteien vom Christenthum noch auf lebendiger Wurzel grünt. Von Herzen befürworte ich ein einheitliches Zusammengehen mit den von uns getrennten Confessionen auf allen Gebieten, wo ein solches erreichbar ist, namentlich gegenüber dem Unglauben und Materialismus, gegenüber den Feinden einer jeden Kirche“.
Geboren in einer Stadt des Rheinlandes nicht weit von der westfälischen Grenze, vereinigte J. in sich die guten Eigenschaften beider Volksstämme: die Zähigkeit und den Fleiß des Westfalen mit der Lebhaftigkeit und Vielseitigkeit des Rheinländers. Es hatten jedoch die rheinischen Elemente in seinem Wesen das entschiedene Uebergewicht: seine bezaubernde Liebenswürdigkeit und die sonnenhelle Heiterkeit seines Gemüthes waren echt rheinisch. In Frankfurt war J. völlig heimisch geworden und bei Angehörigen der verschiedensten Parteien und Confessionen so beliebt, daß die Frankfurter Zeitung in ihrem Nekrolog schreiben konnte: „J. als Mensch besaß keinen Feind unter denen, die ihn kannten.“
- Janssen’s litterarischer Nachlaß (Tagebücher u. Briefe). – Eigene Erinnerungen. – Böhmer’s Leben und Briefe. Freiburg 1868. – F. Hülskamp im Litterarischen Handweiser 1891. – H. Wedewer im Mainzer Katholik 1892, I. – Akademische Monatsblätter 1892. – A. v. Steinle, Janssen’s Frankfurter Freundeskreis, in d. Historisch-polit. Blättern, Bd. 109. – Edward v. Steinle’s Briefwechsel mit seinen Freunden. 2 Bde., Freiburg 1898. – Meister, Erinnerungen an Janssen. Frankfurt 1896. – L. Pastor, J. Janssen. Ein Lebensbild vornehmlich nach den ungedruckten Briefen u. Tagebüchern desselben. Neue, verbesserte Auflage. Freiburg 1894.
[733] *) Zu S. 631.