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ADB:Reichensperger, August

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Artikel „Reichensperger, August“ von Georg Heinrich Kaufmann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 276–281, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reichensperger,_August&oldid=- (Version vom 19. Dezember 2024, 04:17 Uhr UTC)
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Reichensperger: August R., Jurist, Politiker und Kunstfreund, mit seinem Bruder Peter einer der Begründer und langjähriger Führer der katholischen Centrumspartei.

R., geboren am 22. März 1808 in Koblenz, † in Köln am 16. Juli 1895, stammte aus einer Familie, die beherrscht war von den Erinnerungen der staatlichen Zustände, die in den rheinischen Landen im 18. Jahrhundert das Leben erstickten, und der ungeheuren Veränderung, die mit der Einfügung in den straff geeinigten und die Kräfte des Volkes rücksichtslos anspannenden Napoleonischen Staat verbunden war. Die Lasten waren schwer; aber das Volk gewann doch zum ersten Male die Vorstellung davon, was ein wirklicher Staat bedeute, wie er ungeahnte Kräfte und Empfindungen weckt, indem er die Einzelnen zum Gliede eines Ganzen macht.

Reichensperger’s Vater, aus Simmern auf dem Hundsrück, war Criminalrichter in Koblenz, der Hauptstadt des Rhein- und Moseldepartements, dann Präfecturrath an der Kaiserlichen Präfectur daselbst. Er war ein sehr tüchtiger Mann, dem deshalb übermäßig viel aufgebürdet wurde und der unter der Last der Geschäfte bereits 1812 zusammenbrach. Seit 1805 war er mit Margarethe Knoodt aus Boppard vermählt. Der Ehe waren 4 Kinder entsprungen: Luise, August, Peter und Elisabeth, mit denen die fast mittellose Wittwe bei ihren Eltern in Boppard liebevolle Aufnahme fand. In einfachen, aber gesunden und gebildeten Verhältnissen wuchsen hier die Brüder zusammen heran. Der jüngere (Peter) jähzornig, der ältere (August) weichlich und in seiner Schulzeit in Gefahr, durch Vielleserei sich ganz zu zersplittern. Er machte der Mutter viel Sorge; doch raffte er sich schließlich zusammen, bestand 1827 das Abiturientenexamen und trat nach Vollendung seiner juristischen Studien in Bonn, Heidelberg, Leipzig und Berlin 1830 als Auscultator in Münster in den Staatsdienst. Im folgenden Jahre wurde er nach Koblenz versetzt. Eine [277] Reise nach Paris und durch andere französische Städte gab ihm nicht nur Anregungen; er wußte zu sehen und zu lernen. Auch später ist er viel gereist, in Deutschland, in der Schweiz, in Belgien, England und Italien. Zunächst aus Wissensdurst. Es schien ihm nothwendig, die Menschheit möglichst in sich aufzunehmen, jede Richtung wenigstens zu begreifen, aber auch wohl, um die unglückliche hypochondrische Stimmung zu überwinden, die ihn bedrückte. Jedenfalls besserte sich sein Befinden, auch sein geistiges; aber er hatte doch das Gefühl der Leere, wußte nicht, wohin er gehöre. Das änderte sich mit einem Schlage, als am 20. November 1837 der Kölner Erzbischof Clements August wegen seiner Haltung in dem Streite über die gemischten Ehen verhaftet wurde. Da erhob sich das Element, das bisher schon das stärkste in R. gewesen war, der Gegensatz des Rheinländers gegen das preußische Wesen und den preußischen Staat, zum Kampfe, und dabei erfüllte sich R. nun zuerst, aber für immer mit dem kirchlichen Eifer, den der augenblickliche Anlaß forderte und darbot.

R. war in Kreisen aufgewachsen, deren Bildung in der Aufklärung wurzelte. Sie waren katholischer Confession, aber entweder gleichgültig oder sie gehörten, soweit sie lebhafteres Interesse an kirchlichen Dingen nahmen, der milden, die protestantische Welt anerkennenden und den Zusammenhang mit den Grundsätzen der modernen wissenschaftlichen Forschung auch auf dem theologischen Gebiete festhaltenden Richtung an, die in den Professoren Hermes und Günther ihre hervorragendsten Vertreter gewann. Seit Beginn des Jahrhunderts erhob sich aber gegen diese Aufklärung die aus Romantik und aus hierarchischen Elementen gemischte Richtung, die in dem Grafen Josef de Maistre einen ungemein erfolgreichen litterarischen Vertreter fand, in der Erneuerung des Jesuitenordens 1814 einen großen Erfolg erlebte und dann durch die politischen Verhältnisse der Restauration von 1814–1830 allseitige Förderung erhielt. In Deutschland erwuchs ihr ein starker Bundesgenosse in der Opposition der 1815 zu Preußen geschlagenen Rheinlande, welche von ihrem neuen Vaterlande nichts wissen wollten und von den Preußen oftmals in ähnlicher Tonart sprachen, wie heute bisweilen die bairischen Centrumsblätter. Diese antipreußische Stimmung erfüllte auch das Haus, in dem R. aufwuchs. Mutter und Großmutter erzählten den Kindern gern von der Kriegszeit und schilderten dann die Franzosen als die besten und bescheidensten unter all den Truppen, die damals die Saar- und Mosellande durchzogen. „Die Russen waren schrecklich, schmutzig, unsittlich, hinter äußerer Politur gewaltig roh. Die Preußen waren aber am meisten gehaßt, weil voll Dünkel und Ansprüche. Sie hatten öfters ihre Frauen, ja Kinder bei sich, und erstere wollten immer ‚Gnädige Frau‘ titulirt sein, was ihnen beharrlich verweigert wurde, sodaß einer der Officiere einmal sagte: Man meint, sie würden ob dem Worte ersticken.“ Diese thörichte Familientradition (Pastor, A. Reichensperger I, 9) läßt ermessen, wie blind der Haß gegen Preußen war, der diese Jugendkreise Reichensperger’s erfüllte. R. hatte zu seinem preußischen Vaterlande kein inneres Verhältniß, auch nicht, nachdem er in den preußischen Staatsdienst eingetreten war. Er fühlte sich als Rheinländer, nicht als Preuße. Diese in den Rheinlanden sehr verbreitete Stimmung wurde durch den bald nach 1815 beginnenden Kampf für das rheinische Recht mit seinen modernen Einrichtungen der Oeffentlichkeit und Mündlichkeit und der Schwurgerichte gegen die immer erneuten Bestrebungen das allgemeine Landrecht einzuführen die folgenden Jahrzehnte hindurch wach erhalten und vielfach gesteigert.

R. hatte 1834 durch eine Flugschrift an diesem Kampfe theilgenommen und schon hierbei mußte er den Spuren von Görres begegnen, dessen Einfluß [278] er völlig verfiel, als Görres’ Athanasius erschien (1837). Fortan war R. erfüllt von dem Gedanken für das katholische Rheinland und weiter für die Rechte der katholischen Kirche im Sinne der Görres und Genossen gegen das protestantische Preußen zu kämpfen. „Er ward wieder ein gläubiger Katholik, [sagt sein Biograph] katholisch mit der vollsten Ueberzeugungskraft seines hohen Geistes, Katholik bis in die tiefsten Tiefen seines reichen Herzens.“ Das ist richtig, aber einseitig; es hatte dieser Katholicismus eine antipreußische Beimischung. Der Haß gegen das dem Rheinländer unsympathische Preußen waltete in diesen Jahren bei ihm vor wie bei Görres. Nicht der große Vorkämpfer für Deutschlands Befreiung und Verfassung, der im innigen Verein mit Männern jeder Glaubensrichtung im Rheinischen Merkur den Großen der Erde in das Gewissen redete, daß sie des Volkes Ehre und Wohl nicht preisgeben sollten den kleinlichen Interessen und den ängstlichen Sorgen des Tages, sondern der seit der Aufhebung des Merkur und vollends seit den Karlsbader Beschlüssen in seinem Vertrauen und seiner Liebe zu Preußen getäuschte und verbitterte Görres der späteren Zeit war das Vorbild und der Lehrer von R. Und R. stand diesem gewaltigen Autor kritiklos gegenüber. Er war ergriffen von der Tiefe dieses Geistes und der ursprünglichen Aufrichtigkeit dieses Herzens; er fühlte den verwandten Zug der Sehnsucht, sich hinauszuheben über die Nichtigkeit des Lebens und war wehrlos gegenüber diesem Redestrom, der durch grandiose Bilder und dreiste Aphorismen blendete und verwirrte. Mangel an Kritik da wo er liebt und bewundert, war auch allgemein für R. bezeichnend. So scharf er die Mängel der Gegner zu erspähen wußte, in seinen geschichtlichen und politischen wie in seinen künstlerischen Bestrebungen und Urtheilen offenbart sich jener Mangel an Kritik und eine gewisse dilettantische Hülflosigkeit, die dann ersetzt wurde durch rücksichtsloses Beiseiteschieben des unbequemen Materials, wie es das praktische Bedürfniß der Parteiinteressen und des Augenblicks forderte. So ließ er sich fortreißen mit seinem Bruder Peter und seinem Freunde Thimus den Stoff zu sammeln für die Schmähschrift des Franzosen Gustave de Failly „De la Prusse et de sa domination sous les rapports politiques et religieux spécialement dans les nouvelles provinces par un inconnu“ (Paris 1842, Guilbert). Und als der Bischof von Trier die Schaustellung des sog. heiligen Rockes wagte, da sah er in dieser Speculation auf die groben Bedürfnisse der menschlichen Natur, insbesondere auf die Blindheit der von körperlichen Leiden und socialen Nöthen geplagten Menschen ein frommes Werk, und verschloß sich völlig den unwidersprechlichen Beweisen, daß hier eine späte Fälschung und eine plumpe Täuschung vorliegt. R. hatte sehr vielseitige Kenntnisse, hatte eindringenden Scharfsinn – aber die praktischen Ziele, die er verfolgte, und die romantische Stimmung, die ihn bei Fragen der Kunst wie bei kirchlichen und kirchenpolitischen Fragen beherrschte, ließen ihn die gröbsten Halbwahrheiten seiner Freunde für voll ansehen und die wichtigsten Thatsachen ignoriren. Daß er in der Renaissance die Quelle des meisten Unheils sah, an welchem unsere Gegenwart laborirt (Pastor, Aug. Reichensperger II, 313), möchte man leichter begreifen; aber daß er sich über den Gegensatz, der zwischen den Jesuiten und der von Montalembert und seinen Freunden vertretenen Richtung täuschte, das ist kaum anders als durch einen Gewaltact seines wesentlich praktisch und nicht kritisch gerichteten Geistes zu erklären. Aehnlich ist es mit seinen widerspruchsvollen Urtheilen über Italien, auf die Fr. X. Kraus in seinen ausgezeichneten Aufsätzen über R. (Beilage der Allgemeinen Zeitung 1900, Nr. 224, S. 4) hinweist.

R. wurde 1841 nach Köln versetzt, stieg hier 1848 zum Kammerpräsidenten auf und entfaltete in der Gründung des Dombauvereins und in der Thätigkeit [279] für die kirchliche Presse und die clericale Politik eine große und allseitig anerkannte Thätigkeit. Er wurde 1848 in das Frankfurter Parlament und in die preußische Nationalversammlung gewählt, wirkte in Berlin als Mitglied der Rechten bis in den Juni, überließ den Sitz dann seinem Stellvertreter und begab sich nach Frankfurt, wo er eine Vereinigung der katholischen Abgeordneten bilden half, deren Präsident Radowitz war. R. war Vicepräsident und hatte, da Radowitz vielfach verhindert war, einen wesentlichen Antheil an der Leitung dieser „ultramontanen“ Fraction. R. begrüßte die von Gagern durchgesetzte Wahl des Erzherzogs Johann zum Reichsverweser mit Freude, war aber ein heftiger Gegner des kleindeutschen Programms Gagern’s, im besonderen des preußischen Erbkaiserthums. Auch zum Erfurter Parlament im April 1850 wurde R. gewählt und bekämpfte auch hier die kleindeutsche Reform des Bundes, wie sie in der Unionsverfassung Ausdruck gefunden. Er glaubte jede Bundesverfassung, an der Oesterreich nicht theil genommen habe, als einen Bruch des Rechts bezeichnen zu können und weigerte sich, die Thatsachen anzuerkennen, aus denen sich ergab, daß Oesterreich eine irgendwie wesentliche Reform der allgemein als unbefriedigend bezeichneten Bundesverfassung nicht zugeben wollte.

Seitdem hat R. mit geringer Unterbrechung eine hervorragende Rolle als Politiker gespielt; einmal in der Organisation der Katholiken zur politischen Wirksamkeit, besonders durch Beleben der katholischen Presse und des Vereinswesens, und dann als Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses und des Reichstags. Mit seinem Bruder Peter hatte er die Führung der am 30. November 1852 von 63 Abgeordneten begründeten „Katholischen Fraction“, zunächst veranlaßt durch die von den Ministern Raumer und Westphalen erlassenen Verbote gegen die Abhaltung von Volksmissionen der Jesuiten und gegen das Studium deutscher Theologen im Collegium Germanicum. Politisch vertrat R. mit seinem Bruder Peter den Standpunkt eines überzeugten Constitutionellen im Sinne der preußischen Verfassung; so trat er ein für Preßfreiheit und gegen die Forderungen der aus Junkern und Bureaukraten zusammengesetzten Majorität der Kammern der Periode 1851–58. Wenn er sprach, hatte er das Ohr der Kammer und der katholischen Generalversammlungen, auf denen er von Anfang eine einflußreiche Rolle spielte, wie er denn auf der Kölner Versammlung vom 6.–9. September 1858 zum Präsidenten gewählt wurde. In dem Landtage, welcher durch die Neuwahlen des Jahres 1858 unter dem Einflusse des Sturzes des Ministeriums Manteuffel gewählt war, überwog die Partei der gemäßigt Liberalen, mit denen die Katholische Fraction in der Zeit der Reaction oftmals zusammengestimmt hatte. Theilweise mit Rücksicht auf sie änderte die Fraction ihre confessionelle Bezeichnung, aber doch nur unter starkem Widerstreben und nur halb, indem sie officiell den Doppelnamen „Fraction des Centrums (Katholische Fraction)“ annahm. Auch war in die von 75 Mitgliedern unterzeichneten neuen Statuten vom 17. Januar 1859 absichtlich kein Satz aufgenommen worden, der Nicht-Katholiken ausgeschlossen hätte; thatsächlich aber beherrschten nach wie vor die kirchlichen Interessen die Richtung der Fraction. 1860 veröffentlichten die beiden Brüder ihr politisches Glaubensbekenntniß in der Schrift „Deutschlands nächste Aufgaben“. Alle Gefahren der Zeit werden hier auf das Streben zurückgeführt, das Christenthum aus den Staaten auszuschalten, was auch als der „principielle Abfall von der Idee des Rechts und der Wahrheit, ja von der Idee überhaupt“, bezeichnet wird, auch mit Lamoricière als der Kampf des modernen Islam gegen das Kreuz. Praktisch sollte die Schrift besonders die Einheitsbestrebungen Italiens bekämpfen und es als eine Pflicht des deutschen Bundes [280] und also auch Preußens bezeichnen, jeden Angriff auf Venetien nicht als eine österreichische, sondern als eine[WS 1] deutsche Angelegenheit zu behandeln. Neben der Sorge für Oesterreich trieb die Brüder hierbei noch, und gewiß noch stärker, die Sorge für die weltliche Herrschaft des Papstes, der sie für die römische Kirche einen entscheidenden Werth beilegten.

In dem Conflict des Abgeordnetenhauses mit der Regierung über die Militärreorganisation nahm R. mit seinen Freunden einen gemäßigten Standpunkt ein und suchte namentlich die Krisis vom September 1862 durch einen Vermittlungsantrag zu lösen. Die Berufung Bismarck’s zum Minister bedauerte er nicht, obwohl „ihm Bismarck und seine Politik durchaus antipathisch“ war (Pastor I, 455). In diesen Kämpfen war R. übrigens tiefer in das preußische Wesen eingedrungen und hatte in diesem Staate etwas mehr Wurzel gefaßt.

Mit der Auflösung der Kammer Ende Mai 1863 war R. durchaus einverstanden; er freute sich, „daß dem Kammerschwindel so brusquement ein Ende gemacht wurde“, und bei den Wahlen im Herbst 1863 lehnte er die Candidatur ab. Er widmete sich den Arbeiten für die Geschichte der christlichen Kunst, die ihn schon lange beschäftigt hatten und die in der Begeisterung für den Kölner Dom noch eine besondere und durch das Heimathgefühl erwärmte Quelle fand. R. hatte 1840 durch eine kleine Schrift zur Bildung des Dombauvereins aufgefordert, der dann der Träger der großen Arbeiten zur Erneuerung und Vollendung des Domes geworden ist. In ihm blieb R. alle Zeit eines der thätigsten und erfolgreichsten Mitglieder.

Ueber Reichensperger’s Stellung zu der Wiedergewinnung Schleswig-Holsteins und den Conflicten von 1864/65 hat der Biograph in den sonst so reichhaltigen Papieren Reichensperger’s nichts gefunden, als ein ganz flüchtiges Gerede (I, 566). Noch deutlicher tritt die Lauheit seines preußischen Staatsgefühls 1866/71 hervor. Den Ausbruch des Krieges von 1866 schob R. ausschließlich dem altpreußischen Hochmuth zu, der die Katastrophe bei den Haaren herbeigezogen habe, und bei der Nachricht von dem Siege Preußens bei Königgrätz schrieb er: „Es kostet sehr viel Mühe, sich in solche Rathschlüsse Gottes zu fügen und nicht zu der Ansicht zu gelangen, daß nur für kleine bürgerliche Verhältnisse das Recht existenzberechtigt sei, daß im Großen und Ganzen aber Gewalt, List und Trug zur Herrschaft berufen seien, und der Zweck sowohl als die Mittel nicht religiösen und moralischen Privilegien unterliegen.“ (Pastor I, 580 f.) Eine Wahl für den constituirenden Reichstag des norddeutschen Bundes lehnte er im Februar 1867 ab und suchte sich von aller Politik fern zu halten. Im Jahre 1870 beschäftigte ihn ebenso das vaticanische Concil und das Schicksal des Kirchenstaats weit stärker, als der deutsch-französische Krieg. Er zählte zu den Katholiken, die eine Dogmatisirung der Unfehlbarkeit für inopportun erklärten, aber bereit waren, sich dem Concilsbeschluß zu unterwerfen, und diese kirchlichen Interessen bewogen ihn denn auch, wieder eine Wahl zum Abgeordnetenhause anzunehmen. Er wurde in Münster und Aachen mit großen Majoritäten gewählt, in Koblenz dagegen erst in der Stichwahl; er nahm deshalb für Koblenz an und begründete mit seinem Bruder und seinen Freunden Savigny und Mallinckrodt das neue Centrum, und er hat dann in den wechselnden Phasen des sogenannten Culturkampfes eine hervorragende Rolle gespielt, trat aber doch hinter Windthorst mehr und mehr zurück. R. empfand das nicht ohne Schmerz, zumal er auch in manchen sachlichen Dingen mit Windthorst nicht übereinstimmte (Pastor II, 228). Sein Abschied vom politischen Leben vollzog sich in einer großartigen Feier im Piusbau zu Köln am 26. October 1885. Noch ein Jahrzehnt war [281] ihm vergönnt, er verbrachte diesen Abend seines Lebens in eifriger Pflege seiner Kunststudien, und der Kölner Dom namentlich bildete immer noch das höchste Object seiner Sorge und seiner Freude. Von politischen Urtheilen aus dieser Zeit ist vielleicht hervorzuheben, daß er Bismarck’s Entlassung lebhaft beklagte. Schmerzliche Lücken riß der Tod in den Kreis seiner Freunde und seiner Familie; besonders schwer beklagte er den Tod seines Bruders Peter 1892. Dies Jahr brachte ihm dann bei der 50jährigen Jubelfeier des Dombauvereins (1842–92) neue außerordentliche Ehren ein, und bei der Feier seiner goldenen Hochzeit am 3. Mai 1892 wurde er vom Kaiser und vom Papste in außerordentlicher Weise geehrt, und der Erzbischof von Köln vollzog persönlich die feierliche Wiedertrauung. Als Persönlichkeit genoß R. auch in den Reihen der Gegner großes Vertrauen, und wenn wir jetzt die Schwächen und Widersprüche seines Wesens und seines Lebens überschauen, so werden wir doch immer Freude haben an der Kraft und der Unermüdlichkeit, mit der R. für das gestritten hat, was er für Recht hielt.

Das Material zu dieser Skizze findet sich in Ludwig Pastor, „August Reichensperger 1808–1895. Sein Leben und sein Wirken auf dem Gebiete der Politik, der Kunst und der Wissenschaft. Mit Benutzung seines ungedruckten Nachlasses.“ 2 Bde. Freiburg i. Br., Herder’sche Verlagsbuchhandlung 1899. Im Anfang des 2. Bandes sind S. 449–474 die zahlreichen litterarischen Arbeiten Reichensperger’s aufgeführt; die älteste von 1834, die letzten von 1895. Die meisten sind kurze Aufsätze und Berichte. Das Buch Pastor’s hat das Material mehr nur aneinander gereiht als verarbeitet. Um so willkommener sind die glänzenden Aufsätze, die Fr. Xaver Kraus dem Verstorbenen aus Anlaß des Buches von Pastor widmete; Beilage zur Allgem. Zeitung 1900, Nr. 200, 201, 224, 225. Außerdem nenne ich noch den Aufsatz von Hermann Oncken, „August Reichensperger“ in der Historischen Zeitschrift Bd. 88 (1902), 247 ff.

Peter Franz R., jüngerer Bruder von August R., geboren am 28. Mai 1818 zu Koblenz, Jurist und Politiker, als Richter in Koblenz, Elberfeld, Köln, und seit 1859 als Rath am Obertribunal zu Berlin thätig. Er starb in Berlin am 31. December 1892. Seine politische Thätigkeit verlief wesentlich in Gemeinschaft mit seinem Bruder August, neben dem er nur wenig zurücktrat. Im Frankfurter Vorparlament, in der preußischen Nationalversammlung, im preußischen Abgeordnetenhause und im deutschen Reichstage hat er eine erhebliche Rolle gespielt; meist in Uebereinstimmung mit dem Bruder, aber doch selbständig. So trat er 1883 für das Project eines westfälischen Canals ein, während der Bruder die betreffende Vorlage bekämpfte.

Unter seinen Schriften hat einen größeren Umfang: „Die Agrarfrage aus dem Gesichtspunkte der Nationalökonomie, der Politik und des Rechts“, Trier 1847. Außerdem sind zu nennen: „Reden der Gebrüder August und Peter Franz Reichensperger“, Regensburg 1858; „Erlebnisse eines alten Parlamentariers im Revolutionsjahre 1848“, Berlin 1882. Dazu dient als Ergänzung: „Die preußische Nationalversammlung und die Verfassung vom 5. December 1848“, Berlin 1849. Außerdem: „Ueber Oeffentlichkeit, Mündlichkeit und Schwurgerichte“, Köln 1842; „Culturkampf oder Friede“, Berlin 1876; „Die Zins- und Wucherfrage“, Berlin 1879, sehr verständig und aus der Praxis heraus; „Die Gemeingefährlichkeit der in Aussicht gestellten Erhöhung der Kornzölle“, Berlin 1888.

Die politische Thätigkeit und die kirchliche Stellung Peter Reichensperger’s ist im Lichte der über seinen Bruder August gegebenen Schilderung zu verstehen.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ein