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ADB:Windthorst, Ludwig

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Artikel „Windthorst, Ludwig“ von Felix Rachfahl in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 97–104, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Windthorst,_Ludwig&oldid=- (Version vom 14. Oktober 2024, 14:50 Uhr UTC)
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Windthorst: Ludwig W., Staatsmann, wurde geboren am 17. Januar 1812 auf dem Gute Kaldenhof bei Osterkappeln im alten Fürstenthum Osnabrück, das eben damals unmittelbar zu Frankreich, und zwar zum Departement der Oberems gehörte. Er stammte aus einer alten, streng katholischen Familie; schon in frühester Jugend verlor er den Vater, welcher Advocat und Rentmeister des Droste-Vischering’schen Gutes Kaldenhof war. W. besuchte das Gymnasium zu Osnabrück und die Universitäten Heidelberg und Göttingen. [98] 1836 ließ er sich als Rechtsanwalt zu Osnabrück nieder. Seine Ernennung 1842 zum Vorsitzenden Rathe des Katholischen Consistoriums zu Osnabrück beweist, daß schon damals über seine kirchliche Stellung kein Zweifel obwaltete. Im Sommer 1848 wurde er Rath beim Oberappellationsgericht in Celle; im Januar des folgenden Jahres wurde er in seiner Heimath in die zweite hannoversche Kammer gewählt, und damit begann seine politische Thätigkeit, zunächst unter dem Ministerium Bennigsen[WS 1]-Stüve, dessen Seele Stüve war. Wie Stüve, so war auch W. constitutionell und großdeutsch gesinnt; daher schloß er sich der Regierungspartei an. Schon im April 1849 wurde die Kammer aufgelöst, da ihre überwiegende Mehrheit für die Reichsverfassung der Paulskirche war. Im neuen Landtage, der Ende 1849 zusammentrat, hatte die Partei Stüve’s die Oberhand; ihr Führer nach außen war der Landdrost Mayer; in Wahrheit war W. ihr Lenker, der schon damals Proben seiner staunenswerthen parlamentarischen Taktik und Geschicklichkeit ablegte. Er war ein entschiedener Gegner der Union, der sich Hannover damals beizutreten genöthigt sah; seinen confessionellen Standpunkt bekundete er durch die heftige Opposition gegen das Volksschulgesetz von 1850, das ihm mit den kirchlichen Ansprüchen und Interessen nicht vereinbar erschien. Noch spielte der Gegensatz der Weltanschauungen eine so geringe Rolle, daß W. trotzdem (am 12. Februar 1851) zum Präsidenten der zweiten Kammer gewählt werden konnte.

Im November 1851 starb König Ernst August; sein Nachfolger Georg umgab sich mit einem Ministerium, das aus reactionären und liberalen Elementen zusammengesetzt war; zu den letzteren gehörte W., der die Justiz übernahm. Eben damals brach der Verfassungskampf in Hannover aus; die Feudalen strebten die Verwandlung der ersten Kammer zu einem Adelsparlament an, und zwar mit Hülfe des Frankfurter Bundestages. W. und sein College Schele widersetzten sich der Einmischung des Bundes; Georg V. schlug sich zuerst auf ihre Seite und entließ (am 10. April 1852) Borries und Decken[WS 2], die den entgegengesetzten Standpunkt vertraten. Die Hauptleistung Windthorst’s aus der Zeit seines ersten Ministeriums ist die Durchführung einer Reform der Justizorganisation; sie gipfelte in der Trennung von Verwaltung und Rechtspflege, sowie in der Einführung des mündlichen Verfahrens. Der Sieg Windthorst’s und Schele’s über ihre feudalistisch gesinnten Widersacher war allerdings von kurzer Dauer; diese wußten mehr und mehr den König für sich zu gewinnen und brachten (Ende 1853) den Sturz des Ministeriums zu Stande, – ein Ereigniß, auf das der damalige preußische Gesandte am Bundestage, Otto v. Bismarck, nicht ohne Einfluß war.

Nach seiner Entlassung zog sich W. nach Osnabrück zurück; hier nahm er seine Anwaltspraxis wieder auf. In der Kammer gehörte er der Opposition an; doch hörte 1856 seine parlamentarische Wirksamkeit auf, da Georg V. gegen ihn die sogenannte „Ausführungsverordnung zum Staatsdienergesetze“ zur Anwendung brachte, derzufolge auch pensionirte Beamte zum Eintritte in die Kammer der Erlaubniß des Königs bedurften. Als das reactionäre Cabinet Borries abgewirthschaftet hatte, berief Georg V. Ende 1862 ein neues Ministerium, worin W. abermals die Justiz übernahm; da sich der König aber noch immer nicht von den reactionären Einflüssen und von den Beziehungen mit Borries loszulösen vermochte, gab W. abermals (1865) seine Demission. Er wurde im Mai 1866 zum Kronoberanwalt (d. h. Oberstaatsanwalt) beim Oberappellationsgericht zu Celle ernannt; kaum hatte er aber diese Stellung angetreten, da erfolgte die Katastrophe des welfischen Königthums, die Occupation Hannovers durch Preußen. Nur wenige Monate verblieb W. noch in [99] seinem Amt und damit im preußischen Staatsdienste; Anfang 1867 schied er mit der gesetzlichen Pension aus seinem neuen Wirkungskreise aus, um als Bevollmächtigter des depossedirten Herrschers die Verhandlungen über dessen Abfindung mit der preußischen Regierung zu führen und sich zugleich einer freien politischen Thätigkeit zu widmen. Er ließ sich nach 1867 sowohl für den constituirenden Norddeutschen Reichstag als auch für das preußische Abgeordnetenhaus im Wahlkreise Meppen-Lingen-Bentheim wählen; in jenem begründete er mit Mallinckrodt als einzigem Preußen und etwa sechzehn Particularisten aus Schleswig-Holstein, Hannover und Oldenburg den „bundesstaatlich-constitutionellen Verein“, dessen „Präses“ er wurde.

Damit waren die Richtlinien seiner Politik für die nächsten Jahre vorgezeichnet: Wahrung eines streng föderativen Charakters für den neuen Bundesstaat, Kampf gegen jede Centralisation, welche ja doch der Präsidialmacht Preußen zu gute kommen würde, möglichst vollkommene Selbständigkeit der Einzelstaaten und daher thunlichste Beschränkung der materiellen Bundescompetenz, sowie nach der formalen Seite hin eine Organisation der Bundesgewalt, derzufolge die Präsidialgewalt einer weitgehenden parlamentarischen Bevormundung unterworfen würde – durch Einführung liberal-constitutioneller Verfassungsformen, nämlich eines verantwortlichen Bundesministeriums, eines Zweikammersystems, ausgedehnten parlamentarischen Budgetrechtes, eines Bundesgerichtes zur Schlichtung von Zwistigkeiten unter den Bundesgliedern sowie von Verfassungszwistigkeiten, „damit nicht in solchen Angelegenheiten die Macht [d. h. Preußen] anstatt des Rechtes entscheide“. Den katholischen Interessen diente er, indem er schon damals die Uebertragung der Artikel der preußischen Verfassung über die „Freiheit der Kirche“ auf den Bundesstaat forderte. Der Bismarck’sche Verfassungsentwurf, der seinen Wünschen in allen Stücken widersprach, war daher für ihn unannehmbar; mit Mallinckrodt und Reichensperger stimmte er dagegen, nicht minder gegen den Miquel’schen[WS 3] Antrag (von 1869) betreffend die Ausdehnung der Competenz des Norddeutschen Bundes auf das gesammte bürgerliche Recht. Im Zollparlamente von 1868 scharten sich sämmtliche katholischen und particularistischen Elemente des Nordens und Südens um ihn; es ward damals in diesen Kreisen der Plan erwogen, Hohenlohe[WS 4] im Vorsitze im bairischen Ministerium durch W. zu ersetzen.

Seit dem Ausgange der sechziger Jahre gewannen die kirchlichen und kirchenpolitischen Verhältnisse und Conflicte zusehends an Bedeutung. Die Proklamirung des Unfehlbarkeitsdogmas hielt W. zum mindesten für inopportun, weil dadurch die Einigkeit im katholischen Lager gestört zu werden drohte. Er nahm theil am sog. „Laienconcile“ vom 17. Juni 1869, das die deutschen Bischöfe vor überstürzten Schritten in dieser Richtung warnte, dessen Mahnungen aber erfolglos verhallten. Er fand, daß das Dogma die Gewissen Tausender mit Qual und Sorge erfülle; er hat wohl auch versichert: „Und wenn sie mir den Kopf abschlagen, ich glaub’ nicht an die Unfehlbarkeit.“ Er hat sich dem Spruche gefügt, den das Concil schließlich fällte; aber noch Ende 1870 hatte er seine Zweifel nicht ganz überwunden, und er war von Ingrimm gegen die Jesuiten erfüllt, die er „an Allem für schuldig erklärte“. Schon die Verschärfung der kirchenpolitischen Situation, die sich gerade jetzt bemerkbar machte, die Aussicht auf die Entstehung einer geschlossenen kirchlichen Kampfespartei, mit deren Hülfe er hoffen durfte die politischen Tendenzen, wie er sie bisher im Parlamente verfochten hatte, mit noch größerer Kraft und Wucht vertreten zu können, konnte gerade jetzt in [100] ihm den Gedanken an eine Trennung von dem Gros der Kirche nicht aufkommen lassen.

Seit dem Anfang der sechziger Jahre war die katholische Fraction im preußischen Landtage mehr und mehr zurückgegangen; endlich war sie ganz und gar verschwunden. Unter dem Eindrucke der Verkündigung des Syllabus und den Vorbereitungen für die Proklamirung der Infallibilität verschärfte sich der Gegensatz der Weltanschauungen zu feindseliger Spannung, und damit erwachte der Wunsch in den kirchlich gesinnten Kreisen nach einer Wiederbelebung der politischen Organisation der deutschen Katholiken. Im Frühjahr 1870 setzten diese Bestrebungen ein; sie fanden lebhaften Wiederhall zumal in den Rheinlanden und in Westfalen; bei den Landtagswahlen, die im Herbste 1870 stattfanden, wurde durch die Presse und in den Versammlungen ein Programm aufgestellt, in dessen Mittelpunkte die Forderungen der „Freiheit“ der Kirche, eines streng confessionellen Volksschulunterrichts und der Durchführung des föderativen Charakters der Bundesverfassung standen. Mehr als ein halbes Hundert Abgeordnete wurde auf dieses Programm gewählt. Am 13. December schlossen sich 48 von ihnen zu einer besonderen Partei zusammen, die sich „Centrumsfraction“ (Verfassungspartei) nannte. W. hatte sich zwar an den Vorberathungen betheiligt, hielt sich aber zunächst von der neuen Partei fern, angeblich, um sie nicht dem Verdachte „welfischer Bestrebungen“ auszusetzen; auf die Einladung ihres Führers trat er freilich mit noch fünf anderen Abgeordneten ihr bei. In eben jenen Tagen erfolgte die Gründung des Deutschen Reiches; Mallinckrodt und W. stimmten, als die einzigen Katholiken, im Norddeutschen Reichstage gegen die Verträge mit den süddeutschen Staaten, da ihnen dabei das föderative Princip nicht zur Genüge gewahrt schien. Als die Wahlen zum ersten deutschen Reichstage ausgeschrieben wurden, trat die neue Partei als solche in die Agitation ein.

Von Anfang an bewährte sich die Centrumspartei im Parlamente als Vorkämpferin der ecclesia militans. Alsbald nach der Eröffnung des Reichstages trat sie nicht nur für die Aufrechterhaltung der weltlichen Herrschaft des Papstthums ein, indem sie den Wunsch ziemlich unverholen durchblicken ließ, daß sich das Deutsche Reich dafür ins Zeug werfe, sondern sie forderte auch die Uebertragung der preußischen Verfassungsartikel über die „Freiheit der Kirche“ auf das Reich. Diese Schritte lieferten für Bismarck den Beweis, daß sie alle nationalen und selbst die auswärtigen Interessen dem confessionellen Momente zum Opfer zu bringen gewillt sei; in dieser Ueberzeugung sah er sich bestärkt durch ihre Verbindung mit allen partikularistischen und selbst reichsfeindlichen Gruppen, den Welfen, Reichsländern, ehemaligen bairischen Patrioten und Polen. Unter diesen ihren Alliirten schien ihm Niemand gefährlicher, als eben die Polen, und der Kampf gegen sie ward das Vorspiel und der Uebergang zum „Culturkampfe“. Die Aufhebung der katholischen Abtheilung im Cultusministerium, die er im Verdachte hielt, daß sie der polnischen Propaganda in Posen und Westpreußen Vorschub leiste, schien ihm unbedingt erforderlich, nicht minder die Befreiung der Volksschule in den polnischen Landestheilen von der Localaufsicht des Clerus. Das waren freilich Maßregeln, die den Widerstand der katholischen Kirche und des Centrums herausfordern mußten.

So entbrannte denn der Culturkampf. Zuerst versuchte Bismarck, durch Antonelli[WS 5] zu erwirken, daß die Centrumsfraction von Rom aus desavouirt würde. Als sich die Curie nicht dazu hergeben wollte, bei der Beseitigung der Partei mitzuwirken, die ihr Interesse in Preußen und Deutschland vertrat, meinte Bismarck, den Kampf gegen das Centrum als einen solchen gegen [101] die katholische Kirche überhaupt führen zu müssen. Das Centrum nahm die Fehde auf, und daß es darin nicht besiegt wurde, das war in der Hauptsache das Werk der unvergleichlichen parlamentarischen Kunst und Taktik Windthorst’s. Bismarck erkannte in ihm seinen gefährlichsten Gegner; umsonst suchte er durch persönliche Einwirkung auf A. Reichensperger, durch öffentliche Angriffe die Partei dazu zu bringen, daß sie ihre Sache von der des „Welfen“ trenne, der sie nur für seine besonderen Zwecke mißbrauche; der einzige Erfolg war der, daß sie sich solidarisch mit der „Perle von Meppen“ erklärte, die erst durch ihre Zugehörigkeit zum Centrum die „richtige Fassung“ erhalten habe. In den Kämpfen, die sich um das Schulaufsichtsgesetz, um die mißglückte Ernennung des Cardinals Hohenlohe[WS 6] zum deutschen Botschafter beim Vatican und bei allen den Acten kirchenpolitischer Gesetzgebung der nächsten Jahre entspannen, war W. neben Mallinckrodt der Hauptredner der Fraction. Vermochte auch das Centrum am Gange der kirchenpolitischen Entwicklung in den Parlamenten bis 1876 nicht viel zu ändern, so wurde es doch der Regierung mehr als einmal sehr unbequem. Wirksamer jedenfalls, als der parlamentarische Strike, den einige seiner Parteigenossen empfahlen, war die Taktik der „Nadelstiche“, die W. bei jedem Anlasse dem Reichskanzler gegenüber zur Anwendung brachte. Ueberall trat der negirende Standpunkt des Centrums unter Windthorst’s Führung hervor, bei den Etatsberathungen, bei den Erörterungen über den inneren Ausbau des Reiches, bei den Debatten über die auswärtige Politik. Den Höhepunkt des Conflictes bildete die Discussion über das Kullmann’sche Attentat[WS 7]. Der Kanzler machte dem Centrum den Vorwurf der moralischen Mitschuld an diesem Verbrechen und glaubte in der Art und Weise, wie W. dagegen protestirte, „eine Nichtachtung seiner Person und seines Lebens“ erblicken zu müssen. Das Sperrgesetz, das Klostergesetz, das Altkatholikengesetz, die Aufhebung der Verfassungsartikel über die „Freiheit der Kirche“ in Preußen, sowie die Einführung der obligatorischen Civilehe im Reiche waren die letzten Phasen des Kampfes, der nur dazu gedient hatte, die politische Stellung der Centrumsfraction und in dieser hinwiederum die Windthorst’s zu festigen. Nach dem Tode Mallinckrodt’s (1874) war W. der unbestrittene Führer der Partei; gegen ihn traten selbst die alten Veteranen, wie die Reichensperger, in den Hintergrund.

Der Tod des unversöhnlichen Pius IX., die unzweifelhafte Bereitwilligkeit seines Nachfolgers zu einem einigermaßen annehmbaren Frieden, die Veränderungen in der innerpolitischen Lage Deutschlands setzten dem Kirchenconflict ein Ziel. Durch die Wahlen von 1877 und 1878 war die liberale Partei stark reducirt worden; dazu kam die Schwenkung, die Bismarck damals auf dem Gebiete der Zoll- und Wirthschaftspolitik machte; während die Liberalen an dieser Wendung nicht theilnehmen wollten, herrschte hier zwischen dem Kanzler und dem Centrum mannichfache Uebereinstimmung; ähnliche Berührungspunkte gab es hinsichtlich der Socialpolitik: dadurch ward eine gewisse Basis der Annäherung zwischen den bisherigen Gegnern geschaffen. Die freihändlerische Minderheit im Centrum ward zum Schweigen gebracht; indem es Bismarck’s Zollpolitik unterstützte, erwarb es Anspruch auf kirchenpolitische Concessionen. Diese Taktik war im wesentlichen das Verdienst Windthorst’s, der seine Partei zusammenzuhalten wußte, während die Nationalliberalen gerade wegen ihres Verhaltens in der Zollfrage zerrieben wurden und auseinanderfielen. Es folgten der Bruch Bickmarck’s mit den Liberalen und die Ersetzung Falk’s[WS 8] durch Puttkamer[WS 9]; der Kanzler unterschied zwischen einem entbehrlichen und einem unentbehrlichen Theile der Maigesetzgebung, indem er für jenen, für das „juristische Detail, den juristischen Fangapparat [102] für widerspenstige Priester“, Falk die Verantwortung zuschrieb. Im Sommer 1878 wurden die Verhandlungen zwischen Regierung und Curie eröffnet; W. spielte dabei eine sehr wichtige Rolle, indem er den Nuntius Jacobini fortlaufend berieth. Sie nahmen freilich einen recht langsamen Fortgang; das Haupthinderniß war die Anzeigepflicht, auf welcher der Staat bestand, und ihre Modalitäten. Dazu kam, daß sich das Centrum der Regierung doch nicht so unbedingt zur Verfügung stellte, wie Bismarck es wünschte, vor allem bei der Verstaatlichung der Eisenbahnen, in der Polenfrage, bei den Steuerprojecten, beim Socialistengesetze und beim Septennate. W. nahm in diesen Punkten eine oppositionelle Haltung ein, theils in Rücksicht auf die Stimmung der Wählermassen des Centrums, theils um die Regierung nicht mehr erstarken zu lassen, als es ihm aus Gründen der Machtvertheilung wünschenswerth erschien. Bismarck konnte sich nicht vorstellen, daß eine Partei, „die sich speciell zum Dienste des Papstes bekennt“, ohne directe Beeinflussung von Rom aus ihm solchen Widerstand entgegensetzen könnte, und argwöhnte, daß ihn die Curie mürbe machen wolle, indem sie ihm parlamentarische Schwierigkeiten bereite. Dem gegenüber versuchte er es mit dem Kampfmittel eines Systems von discretionären Vollmachten; d. h. die Regierung wollte sich vom Landtage die Vollmacht ertheilen lassen, nach discretionärem Ermessen in bestimmten Punkten von der Ausführung der Maigesetze Abstand nehmen zu dürfen. Das Centrum erblickte darin eine Auslieferung des Clerus in die Gewalt der Behörden auf Gnade und Ungnade; es bestand auf einer „organischen Revision der Maigesetze“. Am 20. Mai 1880 wurde die „erste kirchenpolitische Novelle“ eingebracht, die auf dem System der discretionären Vollmachten beruhte. Auf Grund von Weisungen, die der Papst theils direct an Majunke, theils indirect durch Jacobini an W. ertheilte, nahm das Centrum dagegen eine ablehnende Haltung ein; gegen das Centrum erhielt die Vorlage, indem sie stark beschnitten wurde, infolge eines Compromisses zwischen Conservativen und Nationalliberalen Gesetzeskraft.

Daß die oppositionelle Haltung des Centrums gegen seine innere Politik nicht auf Weisungen aus Rom zurückging, konnte Bismarck auf die Dauer nicht verkennen; er setzte sie nunmehr auf die Rechnung ihres Führers, nämlich Windthorst’s. Das Ziel, das er sich daher jetzt stellte, war die Umwandlung des Centrums in eine katholisch-conservative Regierungspartei, womöglich unter Beseitigung Windthorst’s, und jedenfalls in Verbindung und mit Hülfe des Papstes. Es fehlte nicht an Elementen in der Fraction selbst, die dafür zu haben waren; aber der Einfluß Windthorst’s in der Partei war stark genug, um sie abermals zusammenzuhalten; durch die Neuwahlen von 1881 erlangte sie zudem die ausschlaggebende Stellung im Reichstage. Ein Versuch, W. bei seinen Fractionsgenossen zu discreditiren, mißglückte; am 6. December 1881 erschien ein Artikel in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“, worin W. wegen einiger Bemerkungen in der Hamburger Zollangelegenheit der Preisgabe der nationalen Unabhängigkeit geziehen wurde; er hatte keinen andern Erfolg, als daß das Centrum abermals solidarisch für W. eintrat. Aussichtsvoller schienen die Bemühungen Bismarck’s, den Frieden unter Ausschaltung Windthorst’s und seiner Partei direct mit der Curie zu schließen, sowie den Papst zu Einwirkungen auf die Haltung des Centrums in den Fragen der inneren Politik zu bewegen. Eingeleitet wurde die Action zu einer directen Verständigung zwischen Rom und Berlin im Anfange des Jahres 1882 durch die Wiedererrichtung der preußischen Gesandtschaft beim hl. Stuhle; es folgte darauf das sog. „zweite und dritte Friedensgesetz“ von 1882 und 1884, durch welche weitere Breschen in die Maigesetzgebung der [103] siebziger Jahre gelegt wurden. Während die Verhandlungen zwischen Rom und Berlin ihren Fortgang nahmen, kam es zwischen dem Kanzler und dem Centrum, insbesondere W., zu heftigen parlamentarischen Zusammenstößen, so im November 1884 beim Antrage auf Aufhebung des Expatriirungsgesetzes. Anfang 1886 wurde der Bischof Kopp von Fulda in das Herrenhaus berufen, um hier als Vermittler zwischen Curie und Regierung auf einen kirchenpolitischen Ausgleich hinzuwirken; nachdem die Curie die Anzeigepflicht bewilligt hatte, kam das „Vierte Friedensgesetz“ von 1886 zu Stande, indem die Regierung zugleich das Versprechen immer weiterer „organischer Revision der Maigesetzgebung“ abgab.

Durch seine Ausschließung vom Zustandekommen des Friedenswerkes fühlte sich W. persönlich verletzt; auch war er mit den Bedingungen des Abkommens zwischen Staat und Kirche keineswegs einverstanden, vor allem schien ihm die Anzeigepflicht eine viel zu weit gehende Concession. So hatte die Annäherung zwischen Berlin und Rom keinen Einfluß auf das Verhältniß zwischen Regierung und Centrum; der Gegensatz zwischen Bismarck und W. wurde immer schärfer. Gegen Ende des Jahres 1886 entbrannte der Kampf um das Septennat, als dessen Gegner W. aus „constitutionellen“ Gründen auftrat. Nachdem es in erster Lesung abgelehnt worden war, suchte Bismarck durch den Papst auf das Centrum einzuwirken. Die Curie wies in der That das Centrum an, für die Vorlage zu stimmen; aber W. hielt in Gemeinschaft mit Franckenstein diesen Befehl vor dem Gros der Fraction geheim und setzte es durch, daß das Centrum auch in der zweiten Lesung (14. Januar 1887) geschlossen gegen das Septennat votirte und dieses also zu Fall brachte; darauf löste Bismarck den Reichstag auf. Zwar wiederholte der Papst seinen Wunsch, daß das Centrum den Widerstand gegen das Septennat aufgebe, und diese Note wurde veröffentlicht, um den Gang des Wahlkampfes zu beeinflussen; aber W. fügte sich nicht. Am 6. Februar hielt er die berühmte Wahlrede im Gürzenich in Köln, worin er ausführte: um seine Existenz zu erhalten, müsse das Centrum gegen das Septennat stimmen, und es handele so auch gemäß den wahren Intentionen des Papstes, da auch er die Erhaltung des Centrums als unbedingt nothwendig erachte. Der Papst war darüber verstimmt; aber in der That hatte W. dadurch die politische Selbständigkeit der Partei gerettet. Durch die Neuwahlen verlor das Centrum freilich seine maßgebende Stellung im Reichstage; insofern siegte Bismarck, dem das Kartell jetzt eine sichere Mehrheit bot. Durch das „fünfte Friedensgesetz“, das abermals unter der Aegide Kopp’s zu Stande kam, fand der Culturkampf jetzt seinen Abschluß. Alles das, was Bismarck als „entbehrlichen Bestandtheil“ der Maigesetzgebung ansah, war nunmehr beseitigt; W. gingen die Zugeständnisse der Regierung allerdings noch immer nicht weit genug, insbesondere was die Regelung des staatlichen Einspruchsrechtes anbelangte; schließlich stimmte das Centrum jedoch auf directen Befehl des Papstes dafür. W. machte kein Hehl aus seiner Verstimmung über die Art und Weise und die Bedingungen des Friedensschlusses; sein Verhalten fand aber selbst bei alten Parteigenossen, wie bei A. Reichensperger, scharfe Mißbilligung.

Noch war Windthorst’s kirchenpolitisches Ziel keineswegs erreicht; sein Ideal war und blieb die Wiederherstellung des status quo ante 1871. Manches hat er auch in der That noch erreicht, so weitere Milderungen des Klostergesetzes, die Aufhebung des Expatriirungsgesetzes, die Befreiung der katholischen Theologen von der Militärpflicht, die Sperrgeldervorlage, die allerdings erst nach seinem Tode perfekt wurde. Insbesondere rückte er die Schulfrage in den Vordergrund. Er verlangte die Erneuerung des Zustandes, [104] wie er vor dem Schulaufsichtsgesetze von 1872 existirt hatte, eventuell vollkommene Unterrichtsfreiheit. Am 14. Februar 1889 brachte er einen Antrag ein, der von diesen Gesichtspunkten getragen war; doch vermochte er nicht dafür die Mehrheit zu erlangen. Im Reichstage trat er in gewissen Grenzen für die Colonialpolitik und für die Socialreform ein, indem er allerdings, was die letztere anbelangte, das staatssocialistische Element als Verstärkung der „staatlichen Omnipotenz“ bekämpfte. Sein Welfenthum, als politisches Princip betrachtet, war im Lauf der Zeiten verblaßt; auch bahnte sich allmählich zwischen Bismarck und dem Centrum wieder ein besseres Verhältniß an. Durch die Neuwahlen vom Anfange des Jahres 1890 gewann das Centrum seine maßgebende Stellung wieder; in diese Situation fällt die bekannte Unterredung zwischen Bismarck und W., die bei dem bald darauf erfolgten Sturze des Kanzlers eine Rolle spielte. W. hatte noch die Genugthuung, das Steigen der Macht und des Einflusses seiner Partei zu erleben; er trat sogar in Berührung mit dem Hofe. Als im J. 1890 der „Volksverein für das katholische Deutschland“ gegründet wurde, wurde er dessen erster Ehrenpräsident. Gegen den Goßler’schen[WS 10] Schulgesetzentwurf von 1890 führte er vornehmlich den Kampf; schon konnte er sich der Ueberzeugung hingeben, daß er das Feld behaupten würde, da wurde er am 10. März 1891 von einer Lungenentzündung befallen, der er vier Tage später (am 14. März) erlag.

Selbstlos, uneigennützig, persönlich liebenswürdig und in der Arbeit unermüdlich, wie auch seine politischen Gegner anerkannten, war W. im 19. Jahrhundert der eifrigste, gewandteste und erfolgreichste Vorkämpfer des politischen Katholicismus, und zwar nicht nur in Deutschland, ein parlamentarischer Redner, Taktiker und Parteiführer ersten Ranges. Sein Werk war es, daß das Centrum die einzige Partei blieb, die Bismarck weder zu zertrümmern, noch sich dienstbar zu machen vermochte.

Johann Menzenbach, Ludwig Windthorst in seinem Leben und Wirken, insbesondere in seiner politischen Wirksamkeit. Trier 1892. – J. Knopp, Ludwig Windthorst. Ein Lebensbild. Dresden und Leipzig 1898. – Dr. Eduard Hüsgen, Ludwig Windthorst. Cöln 1907. (Alle drei gearbeitet auf Grund seiner Reden und Mittheilungen seiner Familie.) – Da W. seine Correspondenzen zu vernichten pflegte, ist ein schriftlicher Nachlaß leider nicht vorhanden. Ergänzungen aus: Oppermann, Zur Geschichte des Königreichs Hannover 1862 (über Windthorst’s Wirksamkeit in Hannover); Onno Klopp, Das Preußische Verfahren in der Vermögenssache des Königs von Hannover, Wien 1869 (über Windthorst’s Thätigkeit für die Vermögensinteressen des Welfenhauses); Paul Majunke, Geschichte des Culturkampfes in Preußen, Paderborn 1888; O. Pfülf, Hermann von Mallinckrodt, Freiburg i. Br. 1892 und Ludwig Pastor, August Reichensperger, Freiburg i. Br. 1899 (über Windthorst’s Thätigkeit im Culturkampfe und Stellung in der Centrumspartei). – Eine erweiterte Bearbeitung des vorstehenden Artikels ist unter dem Titel „Windthorst und der Culturkampf“ in d. Preuß. Jahrbüchern Bd. 135, Heft 2 u. 3 erschienen.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Alexander Levin von Bennigsen (1809-1893)
  2. Friedrich von der Decken (1802–1881)
  3. Johannes von Miquel (1828-1901)
  4. Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1819-1901)
  5. Giacomo Kardinal Antonelli (1806-1876), Kardinalstaatssekretär des Kirchenstaats.
  6. Gustav Adolf Prinz zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1823-1896), deutscher Kurienkardinal.
  7. Der Handwerker Eduard Kullmann (1853-1892) verübte am 13. Juli 1874 in Kissingen ein Attentat auf Fürst Bismarck.
  8. Adalbert Falk
  9. Robert Viktor von Puttkamer (1828-1900), preußischer Staatsmann und Minister verschiedener Ressorts.
  10. Gustav von Goßler (1838-1902) preußischer Staatsmann, Kultusminister von 1881-91, dann Oberpräsident von Westpreußen.