ADB:Borries, Wilhelm Graf von

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Artikel „Borries, Wilhelm Friedrich Otto Graf von“ von Ferdinand Frensdorff in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 47 (1903), S. 116–134, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Borries,_Wilhelm_Graf_von&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 19:34 Uhr UTC)
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Borries: Wilhelm Friedrich Otto Graf von B., hannoverscher Minister, geboren am 30. Juli 1802 zu Dorum im Lande Wursten, † am 13. Mai 1883 zu Celle. Die Familie stammte aus dem Patriciat der Stadt Minden in Westfalen und hatte schon in mehreren Generationen den Herzögen von Braunschweig-Lüneburg gedient, ehe sie mit Johann Friedrich B. in das Herzogthum Bremen-Verden kam. 1684 in Einbeck geboren, war er 1715 wirklicher Justizrath bei der Kanzlei in Stade geworden und 1751 als Director der drei Justizcollegien des Landes (Kanzlei, Hofgericht, Consistorium) gestorben. Auf ihn geht der Adel der Familie zurück; der Adelsbrief Kaiser Karl’s VI. ist vom 20. August 1733 datirt und unterm 4. Februar 1734 publicirt. Durch den Erwerb des Guts Horneburg (Kreis Stade) trat die Familie in die Ritterschaft des Herzogthums Bremen ein. Der junge B., der Urenkel von Johann Friedrich, wurde auf dem Lande im Hause des angesehenen bremischen Predigers Georg Langenbeck, des älteren Bruders des Göttinger Chirurgen Konr. Joh. Martin Langenbeck (s. A. D. B. XVII, 664), erzogen. Hier blieb er sieben Jahre bis zu seiner Confirmation, besuchte dann 1817–19 das Gymnasium zu Stade und 1819–21 die Ritterakademie zu Lüneburg. Auf Grund ihres Zeugnisses wurde er am 18. October 1821 in Göttingen als Student der Rechte immatriculirt. Der Vater, erster Beamter des Landes Wursten (Obervogt) und Hofgerichtsassessor, war gestorben, ehe der Sohn die Universität bezog. Er fand eine treue Stütze an seiner Mutter, Juliane v. d. Decken, und pries es noch in seinem Alter als ein seltenes Glück, mit ihr stets in der nächsten Verbindung geblieben zu sein. Nach Beendigung seiner Studien kehrte er in die heimathliche Provinz zurück und durchlief hier alle Stadien des Beamtenthums: war Auditor in Meinersen, Amtsassessor in Harsefeld, nachdem er 1826 zusammen mit seinem späteren Minister-Collegen v. d. Decken[WS 1] das Examen beim Oberappellationsgerichte bestanden hatte. Ueberall hatte er das Glück, sehr tüchtige Beamte zu Vorgesetzten zu haben, die ihn in Verwaltung und Justiz einführten. Er nennt besonders seinen Oheim, den Oberhauptmann v. Düring in Meinersen, der das Interesse für die Landwirthschaft und deren Reform bei ihm weckte, und den Drost v. Wersebe zu Harsefeld, dem er durch ein zwölfjähriges Zusammenwirken den gewichtigsten Einfluß auf seine ganze Ausbildung, auch die politische, zuschreibt. Neben seinem Amte in Harsefeld bekleidete er seit 1827 die Stelle des Gerichtshalters in dem benachbarten Patrimonialgericht Delm, das den Herren v. Zesterfleth, Düring, Schulte und v. d. Bussche gehörte. Seit 1828 war er Mitglied der Provinziallandschaft als Quartal-Verschlags-Commissar und während der wenigen Jahre, die das 1832 mit der Justizkanzlei verschmolzene Hofgericht zu Stade noch bestand, ebenso wie der genannte v. d. Decken dessen von der Bremischen Ritterschaft präsentirter Assessor. Als Deputirter seiner Ritterschaft trat er 1832 in die erste Kammer der Ständeversammlung ein, nahm an der Berathung des Staatsgrundgesetzes und der Ablösungsordnung lebhaften Antheil und schied 1835 aus Familienrücksichten aus. Im Jahre zuvor hatte er sich mit Artemise v. Lütcken verheirathet, einer Schwester des im Kampfe um das Staatsgrundgesetz vielgenannten Osnabrücker Landdrosten und späteren Ministers v. Lütcken[WS 2]. 1838 wurde er Regierungsrath bei der Landdrostei Stade und war eines der Mitglieder der von König Ernst August zur Entwerfung des Landesverfassungsgesetzes von 1840 bestellten Commission. In den politischen Kämpfen der Zeit ist sein Name nicht früher genannt worden als im Winter 1848 auf 1849. Bei den Wahlen zu der ersten Kammer, die das Verfassungsgesetz vom 5. September [117] 1848 in origineller Weise nach gesellschaftlichen Gruppen gebildet hatte, bekämpfte B. in einem offenen Schreiben die unter den Grundbesitzern seines heimischen Wahlbezirks ausgegebene Parole: wählt keinen Adeligen! Durch seine langjährige Thätigkeit als Verwaltungsbeamter, als Besitzer eines vollen Bauernhofs zu Hedendorf im Gericht Delm, mit den Bedürfnissen des Landes und der Landwirthschaft gründlich vertraut, glaubte er zur Mitarbeit an den großen gesetzgeberischen Aufgaben des bevorstehenden Landtages geeigneter zu sein, als der schlichte Landmann, von dem er sich in allem, was die praktischen Verhältnisse des Ackerbaus betrifft, gern belehren lasse. Er erklärte sich bereit, „in der jetzigen großartigen Entwicklungsperiode“ zu der Ausführung der vom Könige und seinen Ministern dem Lande gemachten Zusagen mitzuwirken und erachtete es als nothwendig, das Landesverfassungsgesetz von 1840 in Gemäßheit des Gesetzes vom 5. September 1848 und der deutschen Grundrechte umzuarbeiten. Seine Bewerbung war erfolglos. Die neue erste Kammer zählte unter ihren 33 Vertretern des Großgrundbesitzes nur vier Rittergutsbesitzer. Der Gebrauch, den die bäuerlichen Wähler von ihrem Rechte gemacht hatten, erklärlich genug als Reaction gegen die voraufgegangene Periode einer ausschließlichen Adelsvertretung, rief eine tiefe Erbitterung in den Ritterschaften hervor, die sich seit 1849 zu einer immer schärferen Opposition gegen die Schöpfungen des Jahres 1848 und ihre Väter sammelten. An den erfolglosen Verhandlungen, die die Regierung in den Jahren 1852 und 1853 mit den Vertretern der Provinzialstände über deren Reorganisation führen ließ, war B. als Bevollmächtigter seiner Ritterschaft betheiligt. Daß er allmählich einer der Führer seiner Partei geworden war, zeigte sich, als die Ritterschaften ihre Zeit gekommen glaubten. In dem sofort nach dem Regierungsantritt König Georg’s V. neugebildeten Ministerium Schele (s. A. D. B. XXX, 749) wurde B. und seinem Landsmanne v. d. Decken ein Platz zu Theil. Aber noch hielt ihnen das durch Bacmeister (s. A. D. B. XLVI, 175) und Windthorst vertretene bürgerliche Staatsdienerelement die Waage, stärker noch die Abneigung des jungen Königs gegen eine Beeinträchtigung seiner Souveränetät durch den Bundestag oder feudale Stände. Als die beiden „bremischen Minister“ nach fünf Monaten (10. April 1852) wieder abziehen mußten, schieden sie mit dem Bewußtsein, nur zu früh gekommen zu sein. B. kehrte nach Stade zurück und setzte die ritterschaftliche Opposition fort. Nachdem das Ministerium Schele und nach ihm das Ministerium Lütcken ihre Schuldigkeit gethan hatten, wurde B. zurückgerufen, und ihm und seinen Gesinnungsgenossen die ganze Verwaltung ausgeliefert. Das am 29. Juli 1855 die Geschäfte übernehmende Ministerium zählte nur adelige Mitglieder, das erste seit 1848, in dem das bürgerliche Element unvertreten war. B. erhielt wie im November 1851 das Ressort des Innern, aber er war jetzt die Seele des Ganzen. Nach ihm wurde das Ministerium zubenannt, und unter seiner Firma hat es einen Platz in der deutschen Geschichte erworben. Sieben verhängnißvolle Jahre hat es die Verwaltung geführt, und seinem Antritt folgten sofort die entscheidenden Schläge gegen das bestehende Recht. Der Bundesbeschluß vom 19. April 1855, der die Regierung zur Revision der Landesverfassung aufforderte, wurde am 1. August publicirt, der Landtag aufgelöst und eine Ständeversammlung an die Stelle gesetzt, die im wesentlichen auf den im Wege der Octroyirung wiederhergestellten Bestimmungen der Verfassung von 1840 beruhte. Sachlich bedeutete das die Wiedererhebung des ritterschaftlichen Adels zu einem Factor der Gesetzgebung. Einer kleinen Partei, der sich erst der König und dann die Bundesversammlung dienstbar gemacht hatten, war es gelungen, die seit 1848 in anerkannter Wirksamkeit stehende Verfassung aus den Angeln zu heben. Nachdem das Landesrecht von seinen angeblichen Bundeswidrigkeiten gesäubert war, kam es darauf an, wie sich die [118] ritterschaftliche Opposition auf der selbst gezimmerten Grundlage einrichten würde. Mit großer Energie schlug B. zunächst jeden Widerstand nieder, der sich dem Staatsstreich entgegenstellte. So besonnen der Gegner auftrat, so streng er sich in den Formen des Rechts, der juristischen Deduction bewegte, mit der ganzen Rücksichtslosigkeit des Siegers ging der Minister vor, scheute nicht vor persönlicher Verfolgung zurück, sowenig wie vor Verletzung der selbstgeschaffenen oder wiederhergestellten Gesetze. Wo das Recht unbequem war, half ein Nothgesetz über alle Hindernisse hinweg. Das Ziel einer monarchisch-conservativen Regierung, die dem Lande die ihm angeblich seit Jahren fehlende Sicherheit und Ordnung zurückbringen sollte, wurde mit wenig wählerischen und noch weniger originellen Mitteln verfolgt. Die preußischen Reactionsjahre waren nicht vergebens für den Nachbarstaat, der sich so gern seiner Eigenart rühmte, verlaufen. Otto v. Manteuffel fand einen gelehrigen Schüler an dem Minister v. Borries. Als die erste im J. 1856 einberufene Ständeversammlung sich nicht gefügig genug erwies, wurde sie aufgelöst, und durch eine Wahl, bei der die Verwaltung mit allen ihren Hebeln in der ungescheutesten Weise arbeitete, im Frühjahr 1857 eine Volksvertretung zu Stande gebracht, deren erste Kammer völlig von den wenigen noch widerstrebenden Stimmen gereinigt war, während die zweite Kammer der Regierung eine Mehrheit von 50 gegen einige 20 oppositionelle Stimmen zur Verfügung stellte. Durch Urlaubsverweigerung hatte man die sachkundigsten Mitglieder fern gehalten. Nicht bloß Staatsdienern, auch Communalbeamten war der Urlaub versagt; und daran nicht genug, hatte eine zwei Tage vor den Wahlen erlassene Verordnung die pensionirten Minister unter die unmittelbare Dienstherrlichkeit des Königs gestellt und ihm damit die Mittel verschafft, sofort sechs zu Abgeordneten erwählten Exministern die Erlaubniß zum Eintritt in die Kammer zu verweigern. Diese speciell von B. empfohlene Maßregel war motivirt mit der allgemeinen Wohlfahrt und mit der Besorgniß, der bisherige Zustand müsse zu einer Untergrabung der Regierungsautorität und, wie allemal das Schreckenswort lautete, zu einer parlamentarischen Regierungsform führen. Die Verordnung vom 14. Januar 1857 erschien dem Minister noch nach Jahren als eine so werthvolle Bereicherung des hannoverschen Staatsrechts, daß er, als im Mai 1862 der Abgeordnete v. Bothmer einen Antrag auf Aufhebung einbrachte, seine Erörterung durch Stellung der Vorfrage abschneiden ließ. Nachdem das nöthige Werkzeug geschaffen war, begann die Revision der seit 1850 geschaffenen Gesetze zur Stärkung der angeblich unzureichenden Regierungsgewalt. So wurden die Städteordnung und die Landgemeindeordnung, die Aemtereinrichtung umgestaltet, die Aburtheilung der Polizeivergehen den Gerichten entzogen und Verwaltungsbehörden übergeben, das Staatsdienergesetz in ein Gesetz über die königlichen Diener umgewandelt, die Polizei von der übrigen städtischen Verwaltung abgetrennt und königlichen Polizeidirectionen übertragen. Das einschneidendste Gesetz des neuen Regimes, die Neuordnung des Finanzcapitels und die Ausscheidung eines Domanialcomplexes als Krondotation, lag zwar außerhalb seines Ressorts, aber bei der Durchbringung der Maßregel durch die Kammer lieh B. ihr doch seine gewichtige Unterstützung. Für die Ausführung der neuen Gesetze sorgte Borries’ strenge Ueberwachung der Beamten. Sofort nach Uebernahme seines Amts hatte er ihnen unbedingte Unterstützung der Regierung zur Pflicht gemacht. Ein hartes Polizeiregiment wurde aufgerichtet, kräftig und selbstbewußt gestützt durch den Jugendfreund des Ministers, den General-Polizeidirector Wermuth. Es hatte überall seine Augen und mischte sich in alles. Bei dem Begräbniß Lehzen’s, des ausgezeichneten Finanzministers im Ministerium Stüve, wurden die Theilnehmer von der Polizei aufnotirt. Obergerichtsassessor Planck, der den Spruch des Auricher Gerichts über die Ungültigkeit der Octroyirung vom 1. August 1855 herbeigeführt hatte, wurde Aufenthalts- [119] und Reisebeschränkungen unterworfen und während seiner Urlaubsreisen bis auf seine Lectüre von Gensdarmen controllirt. Oppositionellen Handwerkern und Gewerbtreibenden mußten die Behörden die Arbeit für den Hof oder staatliche Betriebe entziehen. Der Minister duldete keinen Widerspruch und keine Abweichung von der durch ihn aufgestellten Regel. Wer nicht seiner Meinung war, war radical: eine Bezeichnung, der ein Mann wie Stüve nicht entging. Die Universität Göttingen, weil sie die allerhöchsten Wünsche bei den Wahlen nicht berücksichtigt hatte, war politisch verkommen und wurde mit der Hungercur bedroht. Der Kammerrath v. d. Decken, der sich 1855 unabhängig in der ersten Kammer geäußert hatte, durfte als ein Mann ohne politischen Charakter nicht wieder gewählt werden. Der Generalsecretär im Justizministerium Danckert, eines der dienstwilligsten Werkzeuge der Reaction, der die Verordnung gegen die Exminister als ein Zeugniß staatsmännischer Weisheit gepriesen hatte, mußte, als er im Frühjahr 1858 bei Berathung des Staatsdienergesetzes abweichend vom Minister, dem er bis dahin in der Debatte kräftig secundirt hatte, sich für eine stärkere Garantie gegen Entlassung von Staatsdienern unter Berufung auf seinen Eid als Abgeordneter erklärte, sofort sein Mandat und sein Amt im Justizministerium aufgeben und die Residenz verlassen. Dem Staatsminister a. D. v. Münchhausen, der 1856 die Opposition in der zweiten Kammer geleitet hatte, übermittelte B. den königlichen Befehl, mit seiner Gemahlin den Hof zu meiden. Von dem nicht mehr an objective Kriterien gebundenen Rechte, gewählten Communalbeamten die königliche Bestätigung zu versagen, wurde der ausgiebigste Gebrauch im parteipolitischen Sinne gemacht. In dem politischen Apparat fehlte eine strenge Ueberwachung der Zeitungen, für die das Bundespreßgesetz bequeme Handhaben lieferte, nicht; an der officiellen Presse betheiligte sich B. durch gelegentliche Einsendungen, deren Form und Inhalt den berufsmäßigen Journalisten ihre Arbeit nicht erleichterte.

Die Mehrheit der zweiten Kammer bestand aus gefügigen Landleuten und abhängigen Beamten, die neben ihrer sonstigen Hülfeleistung den Beruf hatten, die Bauern in Zucht und Ordnung zu halten, in- und außerhalb des Sitzungssaales zu überwachen und vor jeder Berührung mit Andersgesinnten zu bewahren. Ihr stand eine Opposition gegenüber, die, so schwach ihre Zahl und so vergeblich infolge dessen ihr Widerstand war, dem Minister das Leben herzlich sauer zu machen verstand. Sie verfügte über tüchtige Kräfte und hatte vor allem einen unvergleichlichen Führer. Rudolf v. Bennigsen, Abgeordneter für die Stadt Göttingen, trat mit dem Landtage des Jahres 1857 in das parlamentarische Leben ein. Er wurde nicht müde, bei jeder Gelegenheit an das zu Boden getretene Recht des Landes zu erinnern, und unterzog jede neue reactionäre Regierungsmaßregel seiner scharfen Kritik. Die Last der Vertheidigung und nicht bloß seines Ressorts, sondern der Regierung überhaupt ruhte auf den Schultern des Ministers des Innern, den der König für eine der ihm vorbehaltenen Stellen zum Mitgliede der zweiten Kammer ernannt hatte. So spitzten sich alle wichtigen Debatten zu einem Duelle zwischen Bennigsen und B. zu. Der Minister hatte den augenblicklichen Erfolg auf seiner Seite. Sein bester Verbündeter war der materielle Aufschwung des Landes und der Zeit. Wer sollte sich um einen Verfassungsbruch grämen, wenn es soviel Geld zu verdienen gab, die Residenzstadt täglich schöner wurde und Theater und Concert die herrlichsten Kunstgenüsse gewährten? So schwierig auch der Stand der Opposition war, sie gewann doch allmählich das Ohr des Landes immer sicherer für sich. Ihre Ausdauer im täglichen hoffnungslosen Kampfe allein hätte das nicht vermocht. Eine lange Leidensgeschichte hatte das Land gelehrt, daß alle Kämpfe im Innern wirkungslos blieben ohne eine Besserung der deutschen Gesammtverfassung. Unter einem so verdienten und populären Minister wie Stüve [120] hatte es sich gezeigt, wie weit nationale Gesinnung in Hannover verbreitet war, und, den Kampf gegen den gefeierten Mann nicht scheuend, vor allem auf Begründung einer kräftigen Centralgewalt drang. Um wie viel mehr mußte sie sich geltend machen, seitdem das letzte Ergebniß der Bewegung von 1848 die Wiederherstellung des deutschen Bundes war und dieser nichts eiligeres zu thun hatte als seinen alten Ruf zu rechtfertigen. Die durch die neue Aera in Preußen und den Krieg von 1859 wiederbelebten nationalen Hoffnungen fanden deshalb vor allem in Hannover freudige Unterstützung. Der Führer der Opposition gegen das Ministerium B. wurde zugleich das Haupt des Nationalvereins, der von einer Erklärung, die einige dreißig hannoversche Abgeordnete und ihre Freunde am 19. Juli 1859 erließen, seinen Ausgang nahm. Der Minister, ohne Verständniß für das nationale Bedürfniß, erblickte in der neuen Bewegung nichts als destructive demokratische Bestrebungen und glaubte ihr mit der Polizei begegnen zu können. Aber bei der Gemeinsamkeit der Gefahr in größerem Stil. Von Norderney erging Ende August der Befehl an den General-Polizeidirector Wermuth, sich nach Dresden und Wien zu begeben, um auf ein vereintes Vorgehen zu dringen. Die Mission scheiterte vollständig und zog dem Minister einen Conflict mit dem Grafen Platen[WS 3] zu, der sich über den Eingriff in sein Ressort beschwerte. Der Mißerfolg ließ nichts übrig, als es mit der Polizei in kleinerem Stil zu versuchen. Mit gewohnter Meisterschaft wurde eine ministerielle Verfügung erlassen und ausgeführt, wonach die Unterzeichner von Aufrufen und Erklärungen zur Bildung eines deutschen Parlaments und zur Unterordnung der deutschen Staaten unter die Hegemonie Preußens bei keiner Anstellung, Beförderung, Gehaltsverbesserung oder sonstigen Gunstbezeugung ohne allerhöchste Genehmigung berücksichtigt noch bei Leistungen, Lieferungen oder Arbeitsleistungen zugelassen werden durften. Das Rescript sorgte zugleich für den Fall der thätigen Reue: widerrief ein Unterzeichner schriftlich seine Erklärung, machte er wahrscheinlich, daß er deren Inhalt und Tragweite nicht gehörig übersehen habe, und war er mit der Veröffentlichung seines Widerrufs einverstanden, so sollten jene Sperrmaßregeln nicht weiter gegen ihn angewandt werden. Den Bestrebungen des Nationalvereins hat die Verordnung, die auf den Egoismus der Privatinteressen speculirte, keinen Abbruch gethan, aber sie erzeugte eine Menge kleiner Gehässigkeiten, Verfolgungssucht und Gesinnungsriecherei und vermehrte den Parteigeist anstatt, wie es im Landesinteresse gelegen hätte, ihn zu dämpfen. Der Kampf in der Volksvertretung wurde durch den neuen Gegensatz nur noch verschärft. Seinen Höhepunkt erreichte er in der Sitzung vom 2. Mai 1860. Die Veranlassung gab ein Einschreiten des Ministers gegen den Magistrat der Stadt Harburg, der in einer Eingabe an die Ständeversammlung gebeten hatte, sich für eine kraftvollere Organisation der deutschen Gesammtinteressen zu verwenden. Drehte sich der Kampf formell um die Frage, ob städtischen Corporationen ein Recht zustehe, in allgemeinen politischen Dingen zu petitioniren, so faßte der Minister den Stier bei den Hörnern und sprach sich materiell über die Tendenzen des Nationalvereins aus, die wenig Sympathie im Lande fänden und, wenn sie durchdrängen, statt zur Einigung zur Zersplitterung Deutschlands führen würden. Ein neues Parlament habe nicht mehr Aussicht auf Erfolg, als das von 1848. Die Uebertragung der Militärhoheit und der diplomatischen Vertretung auf Preußen bedeute die Mediatisirung. Kein größerer Fürst und, solange das Recht gelte, auch kein kleinerer Fürst würden sie sich gefallen lassen. Die Fürsten würden auf jede Weise ihr Recht zu wahren suchen, sich miteinander gegen die Beraubung ihrer Rechte verbinden, ja sie könnten sogar durch die Noth dahin gedrängt werden, die Allianz auswärtiger Mächte zu suchen, welche sehr geneigt sein würden, auf solche Art eine Hand in die deutschen Angelegenheiten zu bekommen. So lauten die nachher so viel umstrittenen Worte nach [121] der Mittheilung des officiellen Landtagsblatts (1860 S. 502). In der Kammersitzung trat niemand dagegen auf, obschon mehrere Redner der Opposition nach dem Minister das Wort ergriffen. Nur in der Presse, der Zeitung für Norddeutschland vom 3. Mai, war sofort auf die gefährliche Aeußerung hingewiesen. Auch an den folgenden Tagen kam niemand in der Kammer auf die Worte zurück. In der Montagssitzung der folgenden Woche (7. Mai) war Rud. von Bennigsen nicht anwesend. Tags darauf überreichte er dem Präsidenten einen am 6. Mai in Heidelberg zu Stande gekommenen Protest, welcher erklärte, die deutsche Regierung, die in Fragen der nationalen Entwicklung bei feindlichen Mächten Hülfe suchte, sei dem öffentlichen Urtheil und dem Schicksal verfallen, das Verräthern gebührt: Erst am Tage darauf, bei Verlesung des Protokolls traten Redner der Rechten auf und verwahrten sich gegen das Einführen von Fremden, gegen die Unterschriften der Ausländer. Bennigsen, der den Protest zu dem seinigen machte, wünschte den Gegnern, wenn sie einmal einen Protest einzureichen hätten, eben so viele achtbare und angesehene Unterschriften ihrem eigenen Namen beifügen zu können. Das Schriftftück trug u. a. die Namen von Welcker, Reyscher, H. v. Gagern, Gervinus, Vangerow, Brater, Hölder. Der Minister schloß den Vorgang mit den, wie ich meine, ihn ehrenden Worten: er bedauere seine Erklärung, da sie zu so grundlosen Verdächtigungen hätte benutzt werden können. Ein hannoverscher Minister würde, der Vergangenheit seines Landes eingedenk, nie ein Bündniß mit Frankreich suchen. Georg V. dachte anders über die Worte seines Ministers. Während die Heidelberger Erklärung zahlreiche Zustimmungen in Deutschland erhielt, meinte der König, B. besonders auszeichnen zu müssen, und am Tage, da der Grundstein zu dem Denkmal für den König Ernst August gelegt wurde (5. Juni 1860), ließ er dem an einem Festmahl der Rechten theilnehmenden Minister die Botschaft zugehen, er habe ihn in den erblichen Grafenstand erhoben. Wenn der Herzog von Coburg glaubt, die Erklärung des Grafen B. habe dem Nationalverein zu neuem Leben verholfen, so ist es unzweifelhafter, daß der Verein dem Minister zum Grafen verholfen hat. Aber man kann sehr zweifelhaft sein, ob nicht die Erhebung in den Grafenstand B. in seiner ministeriellen Thätigkeit mehr geschadet als genützt habe.

Man hat B. gleich anderen Staatsmännern als den Retter der Gesellschaft gepriesen. Wer jene Zeit erlebt hat, fragt sich vergebens, was in Hannover zu retten nothwendig war. B. selbst nahm als sein Verdienst in Anspruch, das alte Recht des ritterschaftlichen Grundbesitzes wieder zu Ehren gebracht zu haben. Es war ein kurzlebiges Verdienst; und gleich anderen Rettern ist er von denen, welche ihm ihre Wiederherstellung verdankten, zuerst verlassen worden. Von den Ritterschaften emporgetragen, hatte B. durch sie seine Erfolge errungen; ihre Unterstützung war ihm zu Theil geworden, weil er unter ihnen der arbeitsamste, der energischste, wol auch der kenntniß- und erfahrungsreichste war. Aber im Grunde war er mehr eine bureaukratische als eine feudale Natur, auch darin dem Meister in Preußen ähnlich. Noch im Preußischen Herrenhause hat er sich späterhin gerühmt, die Rechte der Verwaltung tapfer vertheidigt und kein Tüpfelchen nachgegeben zu haben. Seine Landsleute, auf deren Zeugniß er sich berief, konnten das vollauf bestätigen; nur daß sie statt Verwaltung Beamtenverwaltung und noch lieber Polizei gesagt hätten. Von der Selbstverwaltung, zu der sein großer Vorgänger im Ministerium des Innern, Stüve, das Volk zu erziehen gedachte, ist in seinem Regimente wenig zu spüren gewesen, wenn er auch weniger doctrinär als sein königlicher Herr den Amtsvertretungen nicht gleich das Lebenslicht ausblasen wollte. B. verstand sich darauf, auch die geschonten Institutionen unschädlich zu machen. Auch der feudalen Selbstverwaltung gönnte er keinen Raum und machte dadurch die Wortführer der [122] eigenen Partei zu entschiedenen Gegnern. Am frühesten überwarf er sich mit seinem Collegen v. d. Decken. Der Gedanke der Vorlage vom December 1855, der ersten Kammer einen Zusatz von zwölf durch den König zu ernennenden Mitgliedern zu geben, unter denen sieben dem nicht-ritterlichen Grundbesitz angehören sollten, wurde in der zweiten Kammer als eine Verhöhnung, von den Rittern als ein Preisgeben des kaum errungenen Sieges aufgefaßt und bildete den Keim eines Gegensatzes unter den Collegen, zumal der Plan ohne deren Vorwissen allein zwischen dem Könige und B. vorbereitet war. Aehnliches wiederholte sich im Winter 1857 auf 58, als es sich um Durchführung der neuen Organisation der Aemter und Amtsgerichte handelte. Die sachlichen Schwierigkeiten wurden gesteigert durch die Personalfragen, zu deren Erledigung B. einseitig unter Genehmigung des Königs eine Commission aus Directoren und Räthen der höheren Collegien bildete und dem Vorsitz des General-Polizeidirectors Wermuth unterstellte. Das gab dem Justizminister v. d. Decken ausreichenden Anlaß, seinen Abschied zu nehmen (21. Jan. 1858). Damit trennte sich der erste der Minister von 1855, der Mitführer im Kampfe der Ritterschaften, von B. Die Verbindung Borries’ mit der Partei, die ihn erhoben hatte, erhielt seitdem einen unheilbaren Riß, und der lüneburgische Landsyndikus E. v. Lenthe hielt dem Minister seinen Standpunkt bureaukratisch-polizeilicher Bevormundung mit nicht geringerer Schärfe vor, als die liberale Partei von Anfang an gethan hatte und zu thun nicht aufhörte. Die feudale Gegnerschaft fand eine wirksame Stütze am Hofe. Die Medisance, die hier nie schlief, konnte sich kein tauglicheres Object aussuchen als den Grafen B. Unter den vornehmen, eleganten und begüterten Herren eine mehr als schlichte, kleinbürgerliche Erscheinung. Beständig im blauen Ministerfrack, auch im Hause, wo eine ältere Garnitur aufgetragen wurde, empfing er in seiner Miethwohnung fremde Besucher in der nonchalantesten Weise, nahm an dem Hofleben nur soviel Theil als unumgänglich nothwendig war und hatte wenig Sinn für die hier mit Vorliebe gepflegte Kunst. Seine nüchterne Natur wies aber auch die guten Seiten des bürgerlichen Wesens auf. Als mit dem Sommer 1856 das Gründungswesen auch in Hannover Eingang fand und die moderne Speculation von den hohen und höchsten Herrschaften unter Anleitung des Finanzministers, des Grafen Eduard v. Kielmannsegge, gepflegt wurde, hielt sich B. nicht nur für seine Person fern, sondern sorgte auch nach Kräften dafür, das Land vor Schaden zu bewahren und bewirkte es, daß die neugeschaffene hannoversche Bank unter die Aufsicht des Ministers des Innern gestellt wurde. Er war unter den Ministern der unverdrossenste, bis in die geringsten Einzelnheiten seines Ressorts eindringende Arbeiter. In der zweiten Kammer hatte er seine getreue Phalanx. Wenn R. v. Bennigsen gegen ihn eine seiner einschneidenden Reden hielt, wandelte er lächelnd unter den bäuerlichen Abgeordneten umher, diesem eine Prise bietend, jenem vertraulich auf die Schulter klopfend, und trat, der Unterstützung seiner Getreuen sicher, zuversichtlich den Angriffen des Abgeordneten für Göttingen entgegen. Der naive Enthusiasmus, der aus diesen Kreisen den Thaten der Reaction entgegengebracht wurde und in den Worten eines ländlichen Poeten: zerstäubt sind die Juristenschnitzer, der höchste Herr ist Grundbesitzer, seinen classischen Ausdruck fand, war der verdiente Lohn dieser Bauernpatronage und brachte die Lacher auf die Seite der Gegner. Daß einem Politiker nicht weniger als seine Feinde die ungeschickten Freunde schaden, hat B. im vollen Maaße erfahren. Der Schwager v. Lütcken, der einem Oppositionsmanne, weil er sich bei einem Toaste auf B. nicht erhob, ein Weinglas an den Kopf warf; der aus Preußen verschriebene Preßleiter O. Meding[WS 4], alle jene unverantwortlichen Rathgeber, die sich an dem Hofe zusammendrängten, bis herab auf den [123] berufenen Friseur Lübrecht, wurden ihm an die Rockschöße gehängt, so schwer ihm diese unberechtigten Einflüsse oft genug das Regieren machten.

In den engen Anschauungen des Beamten eines Kleinstaats aufgewachsen, weder durch Studien noch durch Reisen an größere Gesichtspunkte gewöhnt, war B. in eine leitende Stellung berufen zu einer Zeit, da die schwersten Anforderungen an die deutschen Staaten herantraten, politische und wirthschaftliche Aufgaben zugleich zu lösen waren, Bestrebungen auf dem einen wie dem anderen Gebiete nach Neugestaltung rangen. Beiden stand er als selbstgenügsamer Particularist gegenüber. „Die deutschen Tendenzen sind antimonarchisch, das hiesige System ist streng monarchisch“: mit diesem Worte glaubte er die nationale Bewegung abweisen zu können. Auf wirthschaftlichem Gebiete hat er sich um die Hebung des Communicationswesens verdient gemacht. Wie schon seiner Thätigkeit als Mitglied der Landdrostei die Fürsorge für den Landstraßenbau nachgerühmt wurde, so hat er auch als Minister in dieser Richtung eifrig gewirkt. Seiner Heimathprovinz ist das besonders zu Gute gekommen; theils weil sie dessen vor allen bedurfte, theils weil er in ihr den Schwerpunkt der materiellen Entwicklung Hannovers sah. Von den Landdrosteien erschien ihm der Posten in Stade der interessanteste. Er hat sich auch wol redliche Mühe gegeben, die Verbindung des Landes mit der Nordsee, den Ausbau der Häfen zu fördern. Doch fehlte ihm die Kenntniß der Handelsverhältnisse; die sog. Schleusenpolitik, die König Georg in einem berühmten Falle der Stadt Emden gegenüber zum Ausdruck brachte, war ihm nicht fremd; und sein Particularismus, hier verderblicher als irgendwo sonst, kam ihm oft genug in die Quere. Mißtrauisch begegnete er den Wünschen Bremens und Hamburgs. In der Verbindung Preußens mit der Nordsee durch eine Bahn von Minden nach Oldenburg lag eine Gefahr „für die Macht und Selbständigkeit Hannovers“, nicht weniger in jenem Eisenbahnbau, der bei Kreiensen den Osten und den Westen Preußens in Zusammenhang setzen sollte. Seine Entlassung im J. 1862 begleitete man deshalb in Bremen mit den Worten: „auf dem handelspolitischen Gebiete entwickelte B. eine ebenso große Rührigkeit wie Unkunde. Für Geestemünde ist sein Rücktritt mehr als für irgend eine andere Stadt Hannovers ein glückliches Ereigniß“. Dabei entging dem Minister nicht, welche politische Triebkraft den wirthschaftlichen Bestrebungen innewohnte. Als er einmal im Herbst 1862 die verschiedenen für die nationalen Zwecke wirkenden Kräfte sich vergegenwärtigte: die hegemonistischen Bestrebungen Preußens, den ganzen deutschen Liberalismus mit der Demokratie, die Idealisten und die materiellen Interessen fügte er der letzten Kategorie hinzu: „nach meiner Ansicht die gefährlichsten Bestrebungen“. Unter den verschiedenen Gewerben erfreute sich das landwirthschaftliche eines warmen Interesses beim Minister. Schon in seinem Wahlprogramm vom Januar 1849 (s. o. S. 117) hatte er die Nothwendigkeit einer „weiteren Entwicklung,und kräftigen Belebung der Landwirthschaft, dieser wichtigsten Erwerbsquelle im hiesigen Königreiche“, betont. Seit 1850 Mitglied des Centralausschusses der königlichen Landwirthschaftsgesellschaft, seit 1857 deren Director, hat er dies Amt infolge steter Wiedererwählung siebzehn Jahre lang bekleidet. An dem Organ der Gesellschaft, dem Journal für Landwirthschaft, war er ein fleißiger Mitarbeiter. Bei seinem Rücktritt von dem Directorium zu Ende 1875 ehrte ihn der Ausschuß durch Verleihung der goldenen Medaille. Bei der Säcularfeier der Gesellschaft am 4. Juni 1864 hielt er die Festrede, in der er die volkswirthschaftlich und finanziell fehlsame Zollpolitik beklagte, welche den Landwirthen die Anschaffung englischer Maschinen erschwerte. Er besuchte die Versammlungen deutscher Land- und Forstwirthe und erwarb sich bei dem 1862 in Würzburg abgehaltenen Tage Verdienste um das Zustandekommen der Wanderversammlungen deutscher Agriculturchemiker. [124] Die Errichtung einer landwirthschaftlichen Versuchsstation, seit 1852 von dem Celler Centralausschuß angeregt, gelang unter B. als des damaligen Ministers des Innern thatkräftiger Mitwirkung durch die in Weende bei Göttingen im December 1856 begründete Anstalt, die 1874 nach Göttingen verlegt und mit der Universität in Verbindung gesetzt wurde. Es war ein wirklich selbständiges Interesse, das ihn bei dieser Theilnahme für die Landwirthschaft leitete, wenn sie ihm auch in seiner auf Heranziehung des Bauernstandes berechneten Politik behülflich war. Daß gelegentlich einem oppositionellen Abgeordneten, der einen landwirthschaftlichen Preis gewann, statt einer Prämie ein Thaler mit dem Bilde des Königs in die Hand gedrückt wurde, gehörte zu den urbanen Umgangsformen jener Tage. Eine so unpolitische Thätigkeit die Landwirthschaft ist, der Provinzialverein für Osnabrück, an dessen Spitze Stüve stand, sah sich infolge wiederholter Conflicte mit den Rittern und mit der Regierung genöthigt, sich von der Centralgesellschaft zu trennen und auf deren Unterstützung verzichtend, auf eigene Füße zu stellen. Unter geänderten politischen und Parteiverhältnissen war B. einer der frühesten, der einer Unterordnung der Landwirthschaft unter politische Parteigesichtspunkte widersprach und den Namen eines Agrarpolitikers für sich in Anspruch nahm.

Die rastlose Thätigkeit des Grafen B. stellte die der übrigen Minister in den Schatten. Wer von dem Ministerium sprach, meinte ihn. Der Ausgang des Kampfes, dessen schwerste Last er getragen, hatte sein Selbstgefühl gehoben; mißtrauisch verfolgte er den Collegen, dessen Politik das Errungene zu gefährden drohte. Sollte er für die Ruhe und Sicherheit im Innern einstehen, so durften die andern Minister ihm diese Aufgabe nicht erschweren. Ein Minister des Innern, ein Polizeiminister in einem kleinen Staate wird sein Ressort leicht als den Mittelpunkt des Ganzen betrachten. Wenn Grenzstreitigkeiten, Competenzconflicte, Uebergriffe schon unter normalen Verhältnissen aus sachlichen Gründen nicht ausbleiben, so kam hier der Gegensatz der Persönlichkeit hinzu. Keiner war verhängnißvoller als der zum Grafen Platen, dem Minister der auswärtigen Angelegenheiten, dem eine seit Jahren in den hannoverschen Verhältnissen unheilvoll wirkende Persönlichkeit zur Seite stand. Bald hinter den Coulissen, bald auf der Bühne beschäftigt, daheim und draußen, als anonymer Journalist, als staatsrechtlicher Berather, als diplomatischer Berichterstatter thätig, durch seine conservative Theorie die naive Praxis des Königs wie seiner Minister unterstützend, erfreute sich G. Zimmermann eines stillen, aber weitreichenden Einflusses. Mit einer feinen Witterung für den kommenden Mann begabt, hatte er mit B. zusammen Stüve’s Sendschreiben an Münden vom Herbst 1852 in einer anonymen Broschüre „über die Hannoversche Verfassungssache“ (Hannov. 1853) beantwortet. Die am 16. November 1854 dem Bundestage überreichte Denkschrift, in welcher das Ministerium Lütcken die Beschwerden der Ritterschaften als formell wie materiell begründet anerkannte und sich selbst die Kraft absprach, unter den bestehenden Gesetzen mit einiger Sicherheit die Regierung zu führen, war aus Zimmermann’s Feder geflossen. Wie hätte nicht der Führer der Ritterschaften mit einem so verdienten Manne in enger Verbindung leben sollen! In dem ritterschaftlichen Ministerium wurde Zimmermann Generalsecretär des Gesammtministeriums und des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten, in dem er insbesondere die Bundessachen zu bearbeiten hatte. War er dadurch auch zunächst an den Grafen Platen gewiesen, so stand er doch auch B. so nahe, daß er ihm 1858 bei der Abfassung seines Entlassungsgesuchs behülflich war. Aber bald darauf traten Differenzen ein, und wie der Minister Schele früher Zimmermann aus Hannover entfernt hatte, so wurde er im November 1859 als Ministerresident bei den freien Städten nach Hamburg versetzt. Sein Einfluß hörte darum nicht auf. Die Beziehung zum [125] Grafen Platen bestand fort, und in einem Artikel der Allgemeinen Zeitung schilderte er so eingehend und treffend den Gegensatz und Conflict zwischen den beiden Ministern, daß der König einen eigenen Abgesandten nach Augsburg und Stuttgart schickte, um den Urheber zu erfahren. Der Abgesandte war ein zweiter unverantwortlicher Rathgeber, der directen Einfluß auf den König erlangte. Auch mit O. Meding, der zu Anfang October 1859 in den hannoverschen Dienst getreten war, stand B. anfangs in engster Fühlung. Zur Bearbeitung der Preßangelegenheiten war er dem Minister zugewiesen, und B. sah mit dem Könige nach dessen Ausdruck in dem gewandten jungen preußischen Assessor der Manteuffel’schen Schule ein unicum. Aber auch er fühlte sich mehr zu dem Grafen Platen hingezogen und arbeitete darauf hin, die Presse aus ihrer natürlichen Unterordnung unter den Minister des Innern gelöst und dem Staatsministerium unterstellt zu sehen: ein Versuch, dem sich B. mit aller Kraft widersetzte.

In der wachsenden Uneinigkeit der Minister lag der Grundschaden des Cabinets. Das erkannte B. selbst an. Aber die Sieger von 1855, obschon alle aus einer Partei und einer Gesellschaftsclasse hervorgegangen, bildeten von vornherein keine Einheit. Die persönlichen Gegensätze schwiegen, solange als die Beseitigung des vorgefundenen Rechtszustandes die Aufgabe bildete. Als die positive Arbeit begann, waren die wichtigsten zum Zusammenwirken berufenen Mitglieder, der Minister des Innern und die der Finanzen und des Auswärtigen, bald durch grelle Feindschaft von einander getrennt. Daß B. durch seine Herrschsucht die Disharmonie unter den Ministern verschlimmerte, würde er schwerlich zugegeben haben. Und doch mußte er sich vom Könige daran erinnern lassen, daß er kein Premierminister und die übrigen Minister nicht seine Commis seien. Das Verhältniß zu ihm selbst hat der König treffend charakterisirt: B. möchte mich in ein Zimmer setzen, zu dem er allein den Schlüssel hat. Wenn überall Einigkeit für ein Ministerium geboten ist, um wie viel mehr war sie einem Fürsten gegenüber Bedürfniß, der selbst sein Premierminister sein wollte und weder die Selbständigkeit eines Ministers noch die verfassungsmäßige Existenz eines Gesammtministeriums respectirte. So stand jeder Minister für sich dem Könige gegenüber und jeder wider den andern.

Bei den zahlreichen, lauten und stillen, Gegnerschaften, die B. für seine Person wie für seine amtliche Thätigkeit fand, ist es fast verwunderlich, daß er sich sieben Jahre lang in seiner Stellung behauptete. Was ihn hielt, war nicht die eigene staatsmännische Kraft, nicht die Feindschaft seiner Widersacher unter einander, sondern die Stütze, die er an dem Könige fand. Nicht daß B. einem Fürsten wie Georg V. gerade eine sympathische Persönlichkeit gewesen wäre. Es gab Uebereinstimmungen unter ihnen, aber stärker waren die Unterschiede. Die Hauptsache lag darin: der König war ihm dankbar. Er sah in B. den Staatsmann, der in Hannover, das nach der ritterschaftlichen Fabel Jahre lang eine Art monarchischer Demokratie dargestellt hatte, das conservativ-monarchische Regiment wiederaufgerichtet und dem Könige seine Domänen, den Raub der Revolution. wiederverschafft hatte. Aus dem Buche Ernst v. Meier’s[WS 5], das über so viele hannoversche Verhältnisse neues Licht verbreitet hat, hat man erst erfahren, wie oft B. dem Doctrinarismus König Georg’s entgegentreten mußte, wie er es in seinem nüchternen Sinn verstand, bei aller Ehrerbietung den Tendenzen des Königs die Spitze abzubrechen. Seine praktische Auffassung brachte den Projecten des Welfenreichs und des Admiralstaats wenig Theilnahme entgegen, ebensowenig als der Preßorganisation oder dem großdeutschen Vereinswesen, das Meding unter der directen Aegide des Königs ins Werk gesetzt zu haben sich berühmt. Einem so selbstbewußten Herrscher wie König Georg zu dienen, forderte von dem Minister den höchsten Grad der Selbstverleugnung. [126] „Es versteht sich von selbst, daß ich als Monarch in einem monarchischen Staate das unbeschränkte Recht habe, bei allen mir geeignet scheinenden Fällen, besondere Befehle an mein Ministerium zu erlassen, geschweige denn ausnahmsweise und bei Dringlichkeit der Sache mich von den Vorschriften eines Ministerialrescripts zu dispensiren“ lautete ein Erlaß des Königs vom 27. September 1858, als er über den Kopf des Ministers weg in einer einfachen Verwaltungsangelegenheit entschieden hatte. Bei solchen Grundsätzen, die übrigens Zimmermann in seinem Buche über die Vortrefflichkeit der constitutionellen Monarchie für England und ihre Unbrauchbarkeit auf dem Continente als die wahrhaft monarchischen vorgetragen hatte, war es nahezu unmöglich, eine Verwaltung in den geordneten und gegliederten Formen eines Ministeriums zu führen, zumal wenn als eine zulässige Ausnahme schon das – vom Friseur Lübrecht befürwortete – Concessionsgesuch einer Feuerversicherungsgesellschaft galt. Collisionen zwischen dem Könige und B. waren denn auch schon früh vorgekommen und hatten den Minister wiederholt genöthigt, seine Entlassung zu erbitten. Bereits im November 1857 führte die hinter seinem Rücken entschiedene Besetzung eines wichtigen Amts dazu. Bedenklicher war die Ministerkrisis des folgenden Jahres, als das gedachte Rescript des Königs einen förmlichen Schriftenwechsel zu Ende September veranlaßte und die verschiedenen Parteien, welche der Erledigung der Justizorganisation und der Aemterverfassung widerstrebten, den Conflict benutzten, um B. zu stürzen. Der König hielt ihn nicht nur, sondern enthüllte ihm auch die gegen ihn ins Werk gesetzten Bestrebungen. Das befestigte Borries’ Stellung für einige Zeit, bis das Jahr 1861 in seinem Laufe der Conflicte mehrere brachte. Sie wurden diesmal so beschwerlich, daß der König das Abschiedsgesuch des Grafen am 13. December genehmigte, ihn aber zur Fortführung der Geschäfte bis zum Schlusse des in den nächsten Wochen zusammentretenden Landtages verpflichtete. Inzwischen stellte sich zu den vorhandenen Gegensätzen ein neuer ein. Er betraf die deutsche Angelegenheit. B. hatte aus der Bewegung des Jahres 1848 die eine Lehre abstrahirt, keine Concessionen zu machen. Er nannte sich einmal eine für Concessionen unbrauchbare Persönlichkeit, und sei der König entschlossen, Concessionen zu machen, so möge die erste die seiner Entlassung sein. Das wandte er besonders auf die deutsche Frage an. Die Verfassung des deutschen Bundes galt ihm als unantastbar.

Die im Sommer 1859 Wermuth mitgegebene Instruction (s. o. S. 120) erklärte: Jedes Eingehen auf die neuen Pläne, die Bundesverfassung durch Einsetzung einer Centralgewalt und Vertretung der Unterthanen zu ändern, bricht mit der historischen Entwicklung der staatlichen Zustände Deutschlands und führt zur Zerrüttung entweder des bisherigen Zusammenwirkens der Regierungen durch das Bundesorgan oder zu einer noch größeren Uneinigkeit oder, was noch mehr zu besorgen, zu einer gänzlichen Umwälzung. Mit diesem Urtheil stimmte König Georg völlig überein. Er war ein grundsätzlicher Gegner jeder Bundesreform. Man hatte am Hofe keine Sympathie für Preußen, eher Antipathie. Die neue Aera, die Anzweiflung der Successionsrechte Hannovers in Braunschweig, die in Berlin hervorgetreten war, hatten ungünstig gewirkt und die alten Abneigungen vermehrt. Aber man war um deswillen nicht österreichisch gestimmt, wenn auch Graf Platen zu den Anhängern Oesterreichs zählte. Die Reformpläne Beust’s vom 15. October 1861 wurden kurzerhand verworfen. Obschon sie der König von Sachsen in einem eigenhändigen Schreiben der Beachtung Georg’s V. empfohlen hatte, gedachte er ihrer mit keinem Worte, als der Kronprinz Albert in den Tagen vom 13.–16. November sein Gast bei den Jagden in der Göhrde war. Als aber Graf Bernstorff in seiner Depesche vom 20. December 1861 auf die Idee des engeren Bundes und die Errichtung eines Bundesstaats innerhalb des Staatenbundes zurückkam, stutzte der König. [127] Der „engere Bund“ galt bei ihm und Anderen stets als ein speciell auf Hannover gemünzter Plan; hinter ihm witterte man ganz sicher die Mediatisirung, vielleicht gar die Annexion Hannovers. Die Mission des Grafen Blome, der österreichische Gedanke, Preußen nicht nur entgegenzutreten, sondern auch selbstständig Verfassungsreformen vorzuschlagen, fanden bereitwillige Aufnahme. Zimmermann verfaßte Denkschriften in diesem Sinne, Meding setzte unter der bescheidenen Firma Macchiavell’s des Jüngeren die imperialistischen Künste auseinander, wie man sich, um das Volk zu gewinnen, einer großen Idee bedienen müsse. Hannover betheiligte sich an den identischen Noten vom 2. Februar 1862 – es findet sich sogar die Angabe, Zimmermann sei ihr Verfasser – und erklärte sich für eine Bundesreform mit wirksamer Executivgewalt und Delegirtenversammlung, während König Georg noch wenige Wochen zuvor geäußert hatte: der Bundestag und die Bundesverfassung sind meiner Ansicht nach das einzig mögliche und das einzig wünschenswerthe Bindemittel und das einzig wünschenswerthe und einzig mögliche Centralorgan für Deutschland: Worte, mit denen er das viel bescheidenere Reformproject Beust’s abgelehnt hatte! Solche Schwenkung im Geschwindschritt mitzumachen fühlte sich Graf B. außer Stande. Zudem kam sie für ihn völlig überraschend. Er war nichts weniger als preußisch gesinnt, aber ebenso wenig österreichisch. Wenn wir uns auf Oesterreich verließen, würde es uns ebenso wie Hessen im Stich lassen. In dem Anschluß an seine und seiner Verbündeten Politik lag nach Borries’ Urtheil ein doppelter Fehler. Es ist damit in eine liberale Richtung eingelenkt, die mit dem System im Innern unvereinbar ist; was man seit 1855 begründet, ist dann nicht aufrecht zu erhalten. Die jetzige Bundesverfassung reformiren, heißt den Staatenbund aufgeben. Man stellt sich mit der ganzen destructiven Richtung auf denselben Boden, auf den des Nationalvereins, nur daß dieser sich seiner Ziele klar bewußt ist, während die Regierungen es nicht sind. Nun handelt es sich nicht mehr um das an, sonderm um das quantum, und es siegt in der Regel, wer am weitesten und kühnsten vorschreitet. „Ich habe mit Beyfall des Allergnädigsten jeder Zeit Centralgewalt und Nationalvertretung bekämpft“, und es war ihm deshalb unmöglich, urplötzlich dafür aufzutreten. Er mußte gute Miene zum bösen Spiel machen, als der König zu Anfang Mai 1862 eine Erklärung gegen „Kleindeutschland“ und für die Politik der identischen Noten durch den Schatzrath v. Rössing in der ersten, den Amtsrichter Klee in der zweiten Kammer in Scene setzen ließ. Stimmte B. auch mit der Mehrheit, so enthielt er sich doch ganz gegen seine Gewohnheit jeder Meinungsäußerung, der Führer der Opposition konnte sich die Bosheit nicht versagen, den Minister gegen die Vorwürfe in Schutz zu nehmen, die gegen die auswärtige Politik der Regierung, an der er völlig unschuldig sei, erhoben wurden. Den andern Fehler sah B. in der unklugen Provocation Preußens; zumal für Hannover hielt er es für äußerst bedenklich, gegen Preußen große Politik zu treiben. Wir sind von Preußen umspannt und müssen den ersten Schlag aushalten. So verbissen Regierung und Demokratie in Preußen ineinander sind, in dem Streben nach der Beherrschung Deutschlands sind sie einig. Weshalb stellen wir uns in die Vorderreihe und bleiben nicht gleich Mecklenburg vorsichtig zurück? „Ich besorge, die Zeit wird einmal kommen, wo man hier bitter bereut, Preußen in solcher Weise gereizt zu haben.“ Unter den Anhängern der großdeutschen Partei gab es auch solche, die die Bewegung damit rechtfertigten, man müsse dem Volke etwas bieten, um es den Gegnern abspenstig zu machen; die Reformen seien nicht so ernsthaft gemeint, wie sie auf dem Papier ständen. B. bekannte ehrlich, nicht genug Staatsmann zu sein, um derartige Komödien mitzumachen. Diese und ähnliche Aeußerungen seiner Briefe aus dem Jahre 1862 zeigen, wie völlig entfremdet [128] er sich in der wichtigsten politischen Angelegenheit den maßgebenden Kreisen fühlte. Dazu gesellten sich im weiteren Verlauf des Jahres deutliche Anzeichen einer wachsenden Ungunst am Hofe. Als der König im Juli das Herzogthum Bremen besuchte, nahm er in Dorum eine Adresse des Landes Wursten entgegen, in welcher die Mißstimmung der Bevölkerung über das zeitige Regierungssystem und seinen Träger mit loyalem Freimuth zum Ausdruck gebracht war. Inzwischen hatte eine kirchliche Angelegenheit eine immer weiter um sich greifende Bewegung hervorgerufen. Gegen den durch königliche Verordnung vom 14. April 1862 eingeführten neuen Katechismus waren beim Landtage zahlreiche Petitionen eingelaufen, die infolge des Schlusses nicht mehr zur Erörterung kamen. Die Erklärung des Archidiakonus Baurschmidt in Lüchow (s. A. D. B. II, 182) gab der Bewegung einen Sammelpunkt, und die gegen ihn eingeleitete Untersuchung führte in der Residenzstadt in den Augusttagen zu unruhigen Auftritten. Das bewog den König Conferenzen von Geistlichen und Staatsdienern erst nach Hannover, dann nach Goslar zusammenzuberufen. Zu der in Goslar anberaumten wurde auch Graf B. entboten, der zur Zeit in Bad Soden bei Frankfurt verweilte. Er hatte beim Schluß der Landtagsdiät sofort um seine Entlassung und beschleunigte Ernennung seines Nachfolgers gebeten und, da er zu bemerken glaubte, daß man sein Gesuch wie früher thatsächlich beseitigen wolle, ausdrücklich bevorwortet, daß er sich nach erbetener Entlassung nicht mehr in der Lage befände, sich an wichtigen Landesangelegenheiten zu betheiligen. Trotzdem erschien der Kriegsminister v. Brandis bei ihm in Soden, um ihn im Auftrage des Königs zur Zurücknahme seines Gesuchs und zur Theilnahme an der Goslarer Conferenz aufzufordern. Als B. auf seinem Entlassungsgesuch beharrte und der Abgesandte ihm eine unmittelbare Verhandlung mit dem Könige in Aussicht stellte, beauftragte er ihn mündlich die Bitte vorzutragen, ihm mit Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand nach der vierwöchentlichen Badecur wenigstens erst acht Tage Erholung und Ruhe zu gewähren. Ohne Rücksicht auf diese Entschuldigungsgründe wurde B. am zweiten Tage nach seinem Wiedereintreffen in Hannover nach Goslar befohlen, und als er nicht erschien, ohne Rücksicht auf die erbetene Entlassung wegen Ungehorsams in Ungnaden entlassen. Noch am Abend des 18. August ließ der König ihm die Nachricht zugehen; am 20. folgte das officielle Rescript nach, das ihm, da er sich geweigert – wörtlich: da Ihr euch geweigert – dem Befehle, der ihn zu einer wichtigen Berathung entboten habe, die schuldige Folge zu leisten, die Entlassung ertheilte. Der gesetzliche Ruhegehalt war ihm bewilligt, auch seinen bisherigen Diensten die ihm wohlbekannte Anerkennung gezollt, eine Clausel, die in der Publication weggelassen war; aber es ist begreiflich, wenn er damals schrieb: „nachdem ich während sieben Jahren keine Mühe, keine Arbeit gescheut habe, nachdem ich eigentlich allein nur dem Dienste gelebt und wie gewiß keiner meiner Collegen mich für die Rechte und Interessen Sr. Majestät herum geschlagen habe, thut mir eine solche Art der Trennung wehe“. Der Ausgang ist viel commentirt. Der nächste Anlaß, die Katechismusangelegenheit, hatte am wenigsten damit zu thun. Der König, der den Parlamentarismus, das constitutionelle System, den Feudalismus abgewehrt zu haben glaubte, sah in dem Verhalten des Grafen B. die leibhaftige Ministerherrschaft vor sich. Das beweist seine Aeußerung: „ich habe den Grafen B. entlassen, er wollte den Richelieu spielen, er hat sich in mir verrechnet“. Wie wenig der Verdacht begründet war, zeigen die durch die Thatsachen bestätigten Aeußerungen des Ministers. So mancherlei Ursachen auch zusammengewirkt haben, die Hauptsache lag in der Uneinigkeit unter den Ministern und der Neigung des Königs, ohne Anhörung der zuständigen Minister Anordnungen zu treffen und wichtige Angelegenheiten anstatt mit ihnen mit [129] Angestellten unterer Stufen zu berathen. Dazu kam die zunehmende Verwicklung der Verhältnisse in Deutschland und in Hannover. Die Disciplin, die die 4 Kammern zusammengehalten hatte, war gelockert. Die Uneinigkeit der Minister wirkte am sichtbarsten auf die erste Kammer, die so lange in ihrer Dankbarkeitsstimmung gegen B. verharrt hatte, zurück. B. klagte darüber, wie sie in gänzlicher Verkennung der Interessen der Grundaristokratie ihn bekämpfen könne. Das gab der Opposition in der zweiten Kammer verstärkte Bedeutung und erfüllte sie mit Vertrauen auf die im Frühjahr 1863 bevorstehenden Neuwahlen. B. hatte schon in der Motivirung seines Abschiedsgesuchs vom November 1861 auf die Nothwendigkeit hingewiesen, daß die letzte Diät des Landtags für die Regierung günstig verlaufen müsse. Er hatte sich nicht die Kraft zugetraut, die Session glücklich zu Ende zu führen und sich nur schwer zum Verbleiben verstanden. Nun war sein Regiment noch vor dem Landtage, der auf seinen Namen gewählt war, an sein Ende gelangt. Das ritterschaftliche Ministerium, allerdings nur noch aus drei Mitgliedern, Graf Platen, Graf Kielmannsegge und v. Brandis, bestehend, überdauerte ihn noch um einige Monate. Es war schwer, einen Ersatz für die vacanten Posten zu finden. Zu seinem großen Kummer tauchte der Name auf, der B. der verhaßteste war. In Windthorst sah er den Hauptwidersacher von 1856. Er hatte ihn polizeilich überwachen lassen, vor dem Umgang mit ihm gewarnt. Einer der Exminister, auf die die Verordnung von 1857 (s. o. S. 118) gemünzt war, wurde er jetzt mit dem Justizministerium betraut; Lichtenberg, der die Ritterschaften amtlich und schriftstellerisch bekämpft hatte, an die Spitze des Cultus gestellt; v. Hammerstein, Generalsecretär unter Stüve und Mitglied des Ministeriums v. Münchhausen, zu Borries’ Spezialnachfolger gemacht. Außer dem Kriegsminister ging allein Graf Platen aus dem ritterschaftlichen Ministerium in das neue über. In dem langjährigen Kampfe mit B. hatte Graf Platen gesiegt. Seine Sorge, man werde durch Concessionen das seit 1855 mühsam Geschaffene wieder beseitigen, sah B. bestätigt, als der König den zum Senator in Hannover erwählten Bergcommissar Hildebrand, dem im J. 1861 die Bestätigung versagt war, im Januar 1863 solche ertheilte, noch mehr, als das Ministerium Aenderungen des Wahlgesetzes in Vorschlag brachte. Bei den Neuwahlen im Frühjahr 1863 entsendete die Bremische Ritterschaft B., nachdem er sich mit v. d. Decken ausgesöhnt hatte, als Abgeordneten in die erste Kammer. Die bescheidenen Aenderungen des Wahlrechts wurden von ihm bekämpft, auch wo sie bloß technischer Natur waren, wie bei der Regelung der ritterschaftlichen Wahlen; um wie viel mehr wo sie, wie bei den Wahlen der Städte, die Zahl der Wähler um etwas vermehrten. Seine Opposition bewegte sich in den alten Formeln. Für ihn gab es nur, was ja die Sache außerordentlich vereinfachte, Monarchie und Demokratie. Der Constitutionalismus hat sich überlebt. Die Demokratie ist gegen 1848 vorsichtiger, eine Freundin der Homöopathie geworden. Das neue Wahlgesetz macht die Wahlen in den Städten demokratischer und betritt den abschüssigen Weg der Verfassungsänderung. Die Gespensterseherei verfing bei der ersten Kammer nicht mehr, verfehlte dagegen an einer andern Stelle ihres alten Eindrucks nicht. Ein dem Könige, bei dem er wieder zu Gnaden angenommen war, überreichtes Memoire überzeugte ihn von der Schädlichkeit der geplanten Reform, so daß er dem von beiden Kammern unter Zustimmung seiner Minister zu Stande gebrachten Wahlgesetz die Sanction versagte. Zum Zeichen seiner Rehabilitirung ernannte er B. am 21. September 1865 in Norderney zum Präsidenten des Staatsraths. Die überraschende Nachricht nöthigte die Minister zum Rücktritt. B. war der Todtengräber des kurzlebigen Ministeriums geworden. Auf die [130] Auswahl der Nachfolger war er ohne Einfluß. Der König bildete sich sein letztes Ministerium ganz nach seinem Willen. In der Schlußkatastrophe des Königreichs wirkte B. nur als Mitglied der ersten Kammer mit. Er stimmte am 4. Juni 1866 dem von der Mehrheit angenommenen Antrage des Schatzrathes v. Rössing, der König möge vereint mit den bundestreuen Regierungen dem Friedensbruche rücksichtslos entgegentreten, von ganzem Herzen bei. In der Debatte am 9. Juni erklärte B. gegen die in der zweiten Kammer gefallene Aeußerung Bennigsen’s, es sei eine geographische Nothwendigkeit für Hannover, sich auf die preußische Seite zu stellen, die zweite Kammer stehe auf dem Boden der Thatsachen, die erste auf dem des Rechts. Sollte das Land unterdrückt werden, so bleibe die Hoffnung, daß, wie früher, das fremde Joch wieder abgeworfen und Hannovers Selbständigkeit von neuem und ungeschwächt aufleben werde. Der Ton ist in jenen Wochen von vielen angeschlagen; eigen war B. das Anerkenntniß, auf Schritt und Tritt stoße der Aufschwung von Industrie, Handel und Landwirthschaft bei dem gegenwärtigen Zustande der Vielstaaterei auf Hindernisse, und es sei daher erklärlich, daß die gesammte Industrie und der Großhandel sich nach und nach als Feind der einzelnen Staaten und als Freund der Einheitsidee entwickelt habe. Dem Theile des Rössing’schen Antrags, der sich für eine Volksvertretung am Bunde aussprach, schloß sich B. nicht an; er befürchtete von einer solchen Einrichtung wie von dem Verfassungsproject des Fürstentags eine Schwächung des conservativen Elements.

Nach dem Untergang des Königreichs Hannover fand man B. nicht auf Seiten der welfischen Opposition. Er verhielt sich völlig still, nahm an keiner Demonstration seiner Standesgenossen Theil. So wenig er die Annexion billigte, jeder Widerstand erschien ihm als unberechtigt. Daß er trotzdem von den Organen der preußischen Regierung, die durch ihre Mißgriffe in der neuen Provinz so vielfach geschadet haben, nicht unbehelligt blieb, gehört zu dem Humor jener Zeit. Der Civilcommissär v. Hardenberg erschien eines Tages bei B., um ihm die Versicherung auf Ehrenwort abzufordern, daß er sich ruhig verhalten und jeden Angriff auf die Regierung in der Presse unterlassen wolle, widrigenfalls er binnen 48 Stunden das Land zu verlassen habe. Auf Bitten seiner Frau und Kinder verstand er sich zu dem Versprechen, obschon er nichts gegen die neue Regierung unternommen hatte. In Berlin sah man den Irrthum bald ein, berief ihn im Sommer 1867 zu der Versammlung der Vertrauensmänner, die die Regierung bei der Organisation der Provinz Hannover berathen sollten, und am 16. November des Jahres ernannte ihn der König zum Mitgliede des Herrenhauses. Bis 1873 ist er auch zu den Sitzungen erschienen und hat wiederholt das Wort ergriffen. An den Arbeiten des hannoverschen Provinziallandtages hat er bis zu Ende der siebziger Jahre theilgenommen und als Mitglied des ständischen Ausschusses gewirkt. Auch nach seinem Rücktritt aus der parlamentarischen Thätigkeit verfolgte er aufmerksam die Entwicklung des politischen Lebens. Bezeichnende und eingehende Aeußerungen aus seiner Feder enthält eine unmittelbar nach seinem Tode veröffentlichte Correspondenz aus den Jahren 1880 u. ff. Hier wie in seinen parlamentarischen Auslassungen berührt er die Vergangenheit oder das eigene Wirken nur ganz gelegentlich. Er hält sich an die actuellen Aufgaben; vor allem interessirt ihn die Frage, wie die Verwaltung der Provinz Hannover am zweckmäßigsten einzurichten sei. Im Herrenhause hat er außer bei Hannover betreffenden Gesetzesvorlagen in der Debatte über den Culturkampf das Wort ergriffen. Wie hier so hat er auch sonst nicht unterlassen sich über die großen principiellen Fragen der Zeit zu äußern. Den gordischen Knoten zu durchhauen, mag auf politischem Gebiete mitunter recht zweckmäßig sein; das religiöse Gebiet will er höchst vorsichtig behandelt [131] wissen. Er bewundert den glorreichen Krieg von 1870 und die Einigung Deutschlands unter Preußens Führung. Aber sie hat zwei Flecken. Ein getreuer Anhänger der evangelischen Kirche, beklagt er den wiederum unter Preußens Führung begonnenen Kampf gegen die Kirche und ihre Diener. Der andere wunde Fleck ist die Annexion Hannovers. Aber sie ist nicht rückgängig zu machen ohne die Zertrümmerung Preußens. Es ist deshalb die Pflicht eines Hannoveraners, sich der vollendeten Thatsache ehrlich zu fügen und auf diesem Boden für das Wohl des engeren wie des allgemeinen Vaterlandes zu wirken. Sein politischer Parteistandpunkt ist der alte. Er bekämpft den Liberalismus in allen seinen Schattirungen „von Bennigsen bis Virchow“ und beschuldigt ihn des Strebens nach dem Parlamentarismus. Das ständische Wesen will er durchaus ernst genommen wissen; die Regierungsvorlagen sind objectiv zu prüfen, einerlei wer auf dem Stuhle des Ministers sitzt; wer nein sagt, ist nicht verpflichtet, sich deshalb an dessen Stelle zu setzen. Emphatisch hat er einmal im Herrenhause ausgerufen: während eines vierzigjährigen Wirkens habe ich es mir auf öffentlichem Gebiete zur Pflicht gemacht, die monarchisch-conservative Fahne hochzuhalten und als Grundsatz befolgt: fürchte Gott, ehre den König und achte wohlerworbenes Recht!

Er war ein allein stehender Mann geworden, als er so sprach und schrieb. Von seinen alten Freunden und Standesgenossen trennte ihn der Mangel an Welfenthum. Zu den preußischen Conservativen knüpften sich keine neuen Beziehungen; was sollte ihnen der alte einflußlose Mann nützen? Zwischen ihm und den liberalen Freunden Preußens in seiner Heimath lag eine tiefe Kluft, wenn er auch zu einzelnen, die er früher schwer verfolgt hatte, in ein persönlich gutes Verhältniß kam. Ein Verständniß für eine entgegengesetzte politische Ansicht besaß er nicht. Er mißbilligt es, wenn die Welfen sich auf dem Provinziallandtage vor dem Hoch auf den Kaiser entfernen, aber aus dem Hoch der Liberalen hört er nur ein Hoch auf die liberale Zeitströmung heraus. Die Behandlung Hannovers durch die Regierung litt nach seinem Urtheil an schweren Mängeln und verhinderte die Bildung einer conservativen Partei in der neuen Provinz. Zunächst war schon durch zu vieles und zu häufiges Aendern gefehlt. 25 Jahre lang hätte nur das Nothwendigste neu geordnet werden sollen. In dem, was geschaffen war, tadelte er die Begünstigung der Liberalen, der Städte, die Selbstverwaltung auf dem Gebiete staatlicher Angelegenheiten, die im Osten, wo ein größerer aristokratischer Grundbesitz vorhanden ist, unschädlich sein möge. Würde man gleich bei der Annexion die Vertretung im Herrenhause auf die Provinz Hannover ausgedehnt haben, so würde die Bildung einer compacten Opposition verhindert sein. Durch die an sich rücksichtsvolle Zulassung des Eintritts der Hannoveraner in die sächsische Armee und Cadettenanstalt ist die Verstimmung auf den Nachwuchs verpflanzt. Es war unvorsichtig von Preußen, den Vertrag mit König Georg ohne genügende Garantieen zu schließen; den geschlossenen hätte es halten müssen. Ein dauerndes Abkommen mit dem Herzog von Cumberland[WS 6], dessen Verhalten nach dem Tode des Vaters er beklagt, wird der Bildung einer conservativen Partei in der Provinz förderlich sein. An eine Wiederherstellung Hannovers glauben nach seinem Urtheil die Urheber der welfischen Partei selbst nicht. Es ist für Borries’ ganze Politik charakteristisch, wie er sich zu der für Hannover geschaffenen Provinzialverfassung stellt. Die durch die Verordnung vom 22. August 1867 geschaffene war ihm sympathisch; gegen ihre Nachfolgerin, die in Borries’ letzten Lebensjahren vorbereitet wurde und nachmals unterm 7. Mai 1884 Gesetzeskraft erlangte, hatte er die schwersten Bedenken. Ironisch hatte er es auf dem Provinziallandtage 1868 einen Triumph der Bureaukratie genannt, als die vielgepriesene Selbstverwaltung nicht besser [132] als mit Errichtung einer neuen Behörde, des Landesdirectoriums, anzufangen wußte; aber die Thätigkeit dieses Organs wie der anderen der Selbstverwaltung hatte dann doch seinen Beifall gefunden. Diese bewährte Ordnung sollte nach wenig mehr als zehnjährigem Bestehen durch eine neue verdrängt werden, in der die Vertreter des Großgrundbesitzes nicht mehr durch die Ritterschaften, sondern durch die Kreistage gewählt wurden. Er sah damit den politischen Einfluß der Rittergutsbesitzer, für den er sein ganzes Leben lang gearbeitet hatte, beseitigt. Die Ritterschaften sinken zu Privatcorporationen herab, und statt ihrer werden Advocaten und Bürgermeister auf den Landtagen dominiren. Das Rittergut als solches, nicht ein Census, schafft eine conservative Institution, die man aufrechterhalten muß, mögen auch ihre Träger augenblicklich eine oppositionelle Richtung einschlagen. Den ganzen deutschen Verhältnissen entspricht nur eine ständische Verfassung: das ist der Ein- und Ausgang seines politischen Glaubensbekenntnisses.

Was B. von seinen Standesgenossen unterschied, war seine realistische Natur. Während sie sich in der Romantik der Lehnstreue gegen den angestammten Herrn gefielen, hielt er sich an das Bestehende, jenen Boden der Thatsachen, den er einst den Liberalen vorgeworfen hatte. Wenn er so mit dem Sinn für das Reale ausgerüstet war, warum – so darf man fragen – hat er ihn nicht in seiner Eigenschaft als amtlicher Rathgeber eines Fürsten geltend gemacht, dem nichts so nothwendig war, als sich an das Maaß der Dinge zu gewöhnen? Daß B. ein richtiges Urtheil über die Verhältnisse des politischen Lebens besaß, hat er oft genug gezeigt; nicht aber auch, daß er sein Urtheil in Thaten umzusetzen verstanden hätte. Man braucht sich nur an sein kleinliches Verhalten gegen Preußen in den Verkehrsbeziehungen, an seine Aeußerungen in der ersten Kammer während der Junitage 1866 (s. o. S. 130) zu erinnern. So kann man ihn nicht von der Schuld freisprechen, den Ausgang mitherbeigeführt zu haben, den er beklagt, und es ist nicht bezeugt, daß er das erkannt hätte.

Die Nekrologe, die B. 1862 und 1883 gewidmet wurden, rühmten ihm Selbstlosigkeit und persönliche Integrität nach. Er hat in der That nichts für[WS 7] sich erreichen wollen noch erreicht. Die ihm bei der Erhebung zum Grafen in Aussicht gestellte Dotation ist ihm nicht zu Theil geworden. Er arbeitete für das Beste der Dynastie und des Landes, wie er es verstand. Als er 1862 ausscheiden mußte, bedauerte er besonders, die Verhandlungen mit Braunschweig über die Succession nicht zu Ende führen zu können. Der am 3. März 1863 zwischen Hannover und Braunschweig zu Stande gekommene Vertrag wurde durch den Grafen Kielmannsegge geschlossen. Aber unleugbar ist doch die ganze Politik des Grafen Borries von einer Selbstüberschätzung seiner angeborenen Stellung und sein Leben von dem Bestreben ihr Geltung zu verschaffen, durchzogen. Daß er ehrgeizig war, wird ihm niemand verdenken. Er strebte nach Einfluß, nach Antheil an der Herrschaft. Seine Arbeitskraft, seine Erfahrung, seine Kenntnisse, seine Energie gaben ihm ein Anrecht auf solche Stellung. 1848 hoffte er sie durch Anschluß an die allgemeine Bewegung zu erringen. Als die Volkswahl ihm den Zugang versperrte und eine rückläufige Strömung einsetzte, entdeckte er sein Recht auf die erstrebte Stellung und beschloß jenes Hemmniß zu beseitigen. Der Boden, auf den er sich selbst gestellt hatte, war auf einmal ein unrechtmäßiger geworden und mußte zertrümmert werden. Es war nicht historische Liebhaberei, die ihn leitete; sein realistischer Sinn hat sich auf die Geschichte selten berufen und nur da, wo sie andere Zwecke zu unterstützen vermochte. Als ihm Bennigsen vorwarf, selbst an dem Sturz von Ministern, deren Beamter er war, gearbeitet zu haben, verwahrte er sich dagegen, als Mitglied der Provinziallandschaft und der Ritterschaft habe er Rechte [133] vertheidigt, die nicht auf einer Wahl, sondern auf eigenem Grundbesitz basirten. Als ob es ein unverjährbares, unabänderliches Recht begründe, wenn eine vergangene Zeit mit Grundstücken gewisser Qualität die Theilnahme an der Landesvertretung verbunden hat! Alle Rechte im öffentlichen Leben haben sich verändert, aber die Rittergüter sollen die unverlierbare Kraft besitzen, ihre Inhaber zu gebornen Gesetzgebern zu machen! Diese Eigenschaft behandelt er wie eine privatrechtliche dem Grundstück anhaftende Befugniß, ein wohlerworbenes Recht, das er dem Königthum und der Kirche an die Seite stellt. Er preist den Staat, der einen corporativ organisirten Grundbesitz an einer Ritterschaft hat; sie liefert ihm Männer von politischer Bildung, selbständigem Urtheil und von monarchisch-conservativer Gesinnung. So hat ihn allerdings nicht persönlicher Egoismus, aber doch Standesegoismus sein politisches Leben hindurch geleitet.

Die Zeit hatte ihn in einen großen Kampf gestellt; er suchte ihm mit kleinen Mitteln zu begegnen. Es ist ein enger Kreis von Gedanken, mit denen er operirt. Nichts neues, schöpferisches ist aus seiner Verwaltung hervorgegangen. Er hat das Vorgefundene umgestaltet. Nicht alles war eine Verschlechterung. Man darf ihm nicht bloß nachrühmen, Schlimmeres verhütet zu haben; sein praktischer Sinn hat in den neuen Organisationen manches auf ein richtigeres Maaß zurückgeführt: namentlich durch eine Reduction der Verwaltungs- und Gerichtsbehörden, welche lebensfähigere Bezirke, eine Verringerung der Beamten und eine Erhöhung der Gehalte herzustellen ermöglichte. In den Gemeinde- und Amtsversammlungen war dem größern Grundbesitz eine stärkere, dem Ganzen nützliche Vertretung verschafft. So blieben die Stüve’schen Organisationsgesetze in der ihnen von B. gegebenen Gestalt ein werthvolles Besitzthum, auf dessen Erhaltung die Provinz Hannover nach ihrer Einverleibung in den preußischen Staat einen hohen Werth legte. Ein Mann der alten Schule, weiß er sich in die neue Zeit und ihre freie Bewegung schwer zu finden. Es ist ihm unbegreiflich, wie die Regierungen mit einem unlegitimirten Organe wie dem Handelstage in Verbindung treten können. Darin erblickt er eine Anerkennung der Entscheidungsbefugniß der Masse, die Bereitschaft, sich auf einen völlig thatsächlichen Boden zu stellen. In der Katechismusangelegenheit war es ihm nicht sowol widerwärtig, daß Concessionen gemacht, als daß sie immer auf Grund von Demonstrationen gemacht wurden. Er ist ein kräftiger Vertreter seiner Sache, ein wirksamer Redner, schlicht, auch wol derb weiß er seine Meinung an den Mann zu bringen. Die Armuth der Gedanken steht dem nicht im Wege. Er weiß eine Herrschaft über die Menschen zu erlangen. Auch über den König Georg hat er eine Macht geübt. Die Bestätigung von Communalbeamten, deren politische Gesinnung verdächtig war, versagte der König systematisch, solange B. am Ruder war. Unter dem nachfolgenden Ministerium sind die Wahlen Miquel’s zum Bürgermeister von Osnabrück, Lauenstein’s und Albrecht’s zu Syndici in Lüneburg und Hannover bestätigt worden.

Es galt das Bild eines kleinstaatlichen Ministers der vor 1866 liegenden Reactionsperiode zu zeichnen. Der Strom der Geschichte ist hinweggerauscht über die gehässige, kleinliche Verfolgungssucht, die von ihm ausging, Leid und Kummer, die er Einzelnen bereitet, Unwillen und Zorn, die sein Name unter den Genossen jener Tage erregte. Es war ihm gelungen, die hannoversche Regierung in ganz Deutschland unpopulär, sich selbst zu einem der verhaßtesten Minister seines Landes zu machen. Für die Generation, die nichts mehr von alledem empfunden hat, ist es werthvoll, sich die Spielart des Politikers zu vergegenwärtigen, die er repräsentirt. Der emporsteigenden nationalen Bewegung steht er feindlich gegenüber. Die Deutschthümelei, wie er sie nennt, ist eine politische Krankheit, von der er leider auch sonst sehr vernünftige [134] Menschen ergriffen sieht. Er verschmäht es mit ihr zu coquettiren, gleich andern Ministern seines Schlages; mit ihr zu pactiren, wie unbegreiflicherweise, wenn auch nur vorübergehend, sein königlicher Herr. Er sieht ein, daß man auf politischem Gebiete den Gegner wirksamer bekämpft, wenn man ihm etwas positives entgegensetzt, als wenn man sich allein auf der Defensive hält; aber man darf nicht dabei in das Fahrwasser des Gegners einlenken und ihm die Durchführung seiner Bestrebungen erleichtern. Dann hat man das suscipere in der Hand, nicht aber das finire. Es fehlte ihm nicht an Voraussicht. In seinen Briefen finden sich merkwürdige Beispiele. Wenige Wochen nach dem Eintritt Bismarck’s in das Ministerium schrieb er: „Bismarck ist ein Charakter, der vor Schwierigkeiten nicht zurückschreckt, und überwindet er sie, so werden alle Reden, Beschlüsse und Toaste in Frankfurt – die großdeutsche Versammlung vom 28. October 1862 ist gemeint – von Hannover die Folgen einer so preußenfeindlichen Politik nicht abwenden, wenn man obendrein in Berlin gewiß weiß, daß die Schritte in Frankfurt mit Vorwissen der hiesigen Regierung, ja selbst zum Theil auf deren Veranlassung geschehen sind“. Ein energischer Mann in seinem Ressort und in der Durchführung der Restauration, stand er doch zu vereinzelt da und hatte nicht die Kraft, seiner bessern Einsicht in den auswärtigen Angelegenheiten Anerkennung zu verschaffen. So ist sein Loos das eines der kleinen Reactionsminister geworden, die dem Strom der werdenden Einheit Deutschlands ihre kümmerlichen Schutzbauten entgegenstellten, mit verwunderten Augen bei Seite traten, als er sie hinwegschwemmte, und wenn er ihre Person verschonte, für die Bedürfnisse der neuen Zeit nichts als ihre alten Recepte anzubieten wußten.

Graf B. starb am ersten Pfingsttage 1883 in Celle, wo er die letzten Jahre seines Lebens wohnte, und wurde hier am 16. Mai auf dem Neuenhäuser Kirchhofe unter der Theilnahme der preußischen Officiere und Beamten beerdigt, während die welfische Partei, die ihm seine Haltung nach 1866 und namentlich den Eintritt in das Herrenhaus nie verziehen hat, sich demonstrativ fernhielt.

Festschrift z. Säcularfeier der Kgl. Landwirthschafts-Gesellschaft zu Celle I (Hannov. 1864), S. 88 (biogr. Nachrichten offenbar von B. selbst herrührend). – Unsere Zeit, Bd. VI (1862): Hannover unter K. Georg V. (A. Oppermann). – Oppermann, Z. Gesch. Hannovers II. – O. Meding, Memoiren z. Zeitgeschichte I (1881). – W. v. Hassell, Gesch. d. Königr. Hannover II, 1 (1899); der S. 318 mitgetheilte Aufsatz „über die Regierungskunst“ rührt nicht von B. her, sondern, wie Dr. Thimme Zeitschr. des histor. Vereins für Niedersachsen 1901 S. 420 zeigt, von Hannibal Fischer. – E. v. Meier, Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte I u. II (1898 u. 99). – Journal f. Landwirthschaft, Jg. 31 (1883), S. 499 ff. – Hannov. Staatsbriefe i. d. „Zeit“. hsg. von Lammers, in den Monaten Mai und Juni 1861. Sie können nicht, wie ich A. D. B. XXIV, 403 angegeben habe, von Oppermann sein und sind von den 1866 erschienenen Trostbriefen völlig verschieden. – Weserzeitung v. 26. u. 30. Aug. 1862; v. 17. u. 19. Mai 1883. – Hie Welf! (Hamburg 1861). – Kulturkämpfer, hsg. von O. Glagau, Jg. IV (Mai 1883): Briefe des Grafen B. aus den J. 1880–1883. – Briefe des Grafen Borries aus dem J. 1862 an den Minister Bacmeister, deren Kenntniß ich der gütigen Mittheilung des Herrn Landgerichtsdirector Bacmeister in Göttingen zu danken habe. – Herzog Ernst v. Sachsen-Coburg, Aus meinem Leben II (1888), 542. – v. Sybel, Die Begründung des deutschen Reiches II, 333, 403. – P. Hassel, Aus dem Leben K. Alberts, II, 112 ff.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Friedrich von der Decken (* 30. Januar 1802 in Braunschweig; † 7. Januar 1881 in Holenwisch bei Wischhafen), 1851/52 und 1855-62 Minister im Königreich Hannover.
  2. Eduard Christian von Lütcken (* 1800; † 1865), hannoverscher Politiker und von November 1853 bis Juli 1855 Ministerpräsident, Haus-, Finanz- und Handelsminister.
  3. Adolf Ludwig Karl Graf von Platen-Hallermund (* 10. Dezember 1814 in Hannover; † 27. Dezember 1889 in Dresden), hannovercher Staatsminister.
  4. Oskar Meding (* 11. April 1828 in Königsberg (Preußen); † 12. Juli 1903 in Charlottenburg), Diplomat und Schriftsteller.
  5. Ernst Ludwig Arnold (von) Meier (* 12. Oktober 1832 in Braunschweig; † 21. April 1911 in Berlin), deutscher Rechtswissenschaftler. Gemeint ist seine Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Hannovers (erschienen 1898/99).
  6. gemeint ist Ernst August von Hannover, bis 1866 Kronprinz.
  7. Vorlage: für für