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ADB:Bernays, Michael

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Artikel „Bernays, Michael“ von Erich Schmidt in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 46 (1902), S. 404–409, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Bernays,_Michael&oldid=- (Version vom 21. Dezember 2024, 14:58 Uhr UTC)
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Bernays, Jacob
Band 46 (1902), S. 404–409 (Quelle).
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Bernays: Michael B., Litterarhistoriker, wurde am 27. November 1834 in Hamburg geboren, wo sein Vater Dr. Isaak B. aus Mainz (1792–1849), der Urheber des von ihm verleugneten „Biblischen Orients“ (1821), als glaubens- und satzungsstrenger Rabbiner oder wie er sich lieber nennen hörte: „Chacham“ (Weiser) wirkte, ein heftiger Gegner jeder liberalen Neuerung im deutschen Judenthum, A. Geiger und seine Genossen bekämpfend, auch von Heine gescholten (Strodtmann 1, 307). Während der ältere Sohn Jacob, moderner Bildung voll, doch bis zum Tode hartnäckig alle orthodoxen Bräuche festhielt, ging auf den jüngeren nichts von der Art des Vaters über, den er früh verlor. Ein Sturz aus dem Fenster bedrohte das Kind mit Sprachlosigkeit; dann blieb er bei spärlichem Privatunterricht bis ins fünfzehnte Jahr beinah sich selbst überlassen, umfaßte jedoch früh mit liebendem Eifer die Schätze der deutschen Litteratur und der classischen Sprachen, auch durch Jacob’s Vorbild angespornt, der aber gleich Anderen Michael in ein Contor zwängen wollte. Endlich setzte er es durch, die beiden obersten Classen des Johanneums zu besuchen: als Kreon bei einer griechischen Aufführung der Antigone und am 31. März 1853 durch die Abiturientenrede über Goethe’s Tasso erwies er seine Richtung. Vom Director Kraft warm empfohlen, ging B. nach Bonn, nur dem Namen nach Jurist, obgleich er bei Böcking Institutionen belegte und auch in Heidelberg (Herbst 1853 bis Mai 1856) zunächst in der Rechtsfacultät aus äußeren Gründen eingeschrieben blieb. Verehrungsvoll hielt er sich an Diez und Welcker und dankte am Neckar, ohne in studentischer Jugendlust zu schwelgen, dem unermüdlichsten Privatstudium viel mehr als den Vorlesungen Bähr’s und Stark’s, Holtzmann’s und Häusser’s. Schon lange vor seiner am 20. Mai 1856 summa cum laude erfolgten Doctorpromotion haben ihm jüngere Commilitonen für „geistvolle und glänzende“ litterarische Privatissima gehuldigt, und sein belehrendes Gespräch, seine Recitationskunst machten überall wohin er kam Aufsehen. In den als Handschrift gedruckten Briefen Levin Goldschmidt’s heißt es (Sept. 1855): „Gestern habe ich mein liebes Alexis und Dora vortrefflich lesen hören. Der Student B. war den ganzen Abend bei mir, eine wunderbar früh entwickelter Mensch, bei dem man erkennt, was eigentlicher und eiserner Fleiß vermag. Sein Umgang macht mir nicht nur Vergnügen, er fördert mich auch“; und etwas später: „Immer mehr [405] erstaune ich über diese eminente Begabung und diese tiefe Bildung“, die auch Prof. B. Stark bewundere. Die Beiden sprachen nicht von Goethe und Shakespeare allein, sondern auch von ihrer sehr verschiedenen Stellung zum Judenthum: „B. ist noch Jude“, schreibt Goldschmidt im März 1856, „aber er wird es schwerlich bleiben – mit seinem ganzen Wesen dem eigentlich jüdischen Element diametral entgegengesetzt, wenngleich sein äußeres Auftreten noch mitunter an manche jüdische Eigenschaften erinnert.“ Der bald darauf (21. August) in Mainz vollzogene Uebertritt war die Folge des ernstesten Dranges, sich ganz zur deutsch-protestantischen Bildung zu bekennen. Vortheile der Carrière standen gar nicht in Frage, vielmehr büßte der Convertit Unterstützungen ein, und die nächsten Verwandten sagten sich von ihm los, Jacob verleugnete fortan den Abtrünnigen, selbst die geliebte Mutter hat ihn nie wieder vor sich gelassen, nicht einmal an ihr letztes Bett. B. führte nun lange Jahre als mittelloser Privatgelehrter ein an äußeren Entbehrungen auch für seine recht bescheidenen Ansprüche überreiches Dasein, schriftstellernd, doch nicht zum behenden Journalisten oder zum productiven Autor geboren, in rheinischen Städten und anderswo vortragend, ohne aus der Recitation des Manfred, des selbst verfaßten verbindenden Textes zu Beethoven’s Egmont-Musik ein Gewerbe zu machen und die eigenen Themata aus Klopstock, Lessing, Schiller, Goethe den Wünschen des großen Publicums anzubequemen. Sein Schwung packte die Hörer auch bei scheinbar spröden, noch ganz unpopulären Gegenständen, wie dem zweiten Theile des Faust, von dem zu reden selbst den Hirzel und Jahn Verlegenheit war. Solche Wanderpredigten führten nach Frankfurt, Karlsruhe, Bremen, nach Lübeck, wo Geibel, nach Stuttgart, wo der ihm als Lyriker besonders werthe Mörike gegrüßt ward, nach Weimar zu Schöll, Köhler, Mildes. Er behielt seinen Sitz in Bonn, nahe verbunden mit Otto Jahn, dessen reiche Bibliothek aushalf, wenn der eigene wachsende Vorrath versagte. Goethe stand im Mittelpunkt ihrer gemeinsamen Interessen, wie auch das im Goethe-Jahrbuch 1900 unter den Briefen an S. Hirzel gedruckte Project eines Buchs über die Lyrik zeigt, während der Umgang mit Delius das Studium Shakespeare’s förderte und die philologisch-historische Blüthe Bonns ein altes Streben stärkte. Tief prägte sich ihm Dahlmann’s Persönlichkeit ein. Die Verlobung mit Arndt’s Enkelin Lotte wurde gelöst. Auf den Markt zu kommen war er gar nicht eilig, sondern gab sich einem ungeheuren Lesen und Lernen hin, auch Nachts keineswegs müde, zum unwilligen Staunen des anwohnenden jungen Botanikers Sachs eine Masse von Poesie und Prosa nach der andern seinem so empfänglichen Gedächtniß einzuprägen. Erst das Wendejahr 1866 brachte die erste selbständige kleine Schrift, der 1868 die zweite folgte, beide Goethe gewidmet und rheinischen Gönnern, Delius und Sybel, zugeeignet. Das Buch über Schlegel’s Shakespeare diente im November 1872 zur Habilitation des längst reifen und auf kein gewöhnliches docendo discimus angewiesenen Gelehrten in Leipzig, wohin B. im Juni 1871 übergesiedelt war, mit thätig an der Wochenschrift „Im neuen Reich“. Zarncke’s Akribie galt damals fast ausschließlich dem Mittelalter, Hildebrand’s Wissen und Empfinden zog an der Universität noch keine weiteren Kreise, so daß B. ohne Wettkämpfe mit den Collegen durch seine Fülle der Kenntnisse und seine rauschende Beredsamkeit den größten Lehrerfolg in litterarhistorischen Vorlesungen gewann, zu derselben Zeit, da Scherer in Straßburg eine neue Wendung anbahnte. Sehr kurz war die Leipziger Thätigkeit, sowie der intime Verkehr mit S. Hirzel und seinem Kreis, denn schon im Mai 1873 wurde B. als außerordentlicher Professor für neuere Sprachen und Litteraturen nach München berufen, Ostern 1874 zum Ordinarius ernannt. In Würzburg hatte die philosophische Facultät nach einem letzten Versuch des alternden Auslegers unserer Classiker D., [406] ein Katheder zu besetzen, für diesen zu errichtenden Lehrstuhl B. so warm vorgeschlagen, daß man in München diese Kraft lieber nach der Hauptuniversität Bayerns ziehen wollte. B. deutete wohl auch auf einen persönlichen Wunsch des Königs hin und blieb der Begeisterung für Ludwig II. treu, den phantastischen Einsiedler, mit dem er einmal ein Gespräch über Racine und Bossuet geführt hat. Er fühlte sich in München sehr beglückt: seine Lage war endlich sorglos, die Studenten strömten ihm zu und ein engerer Kreis schloß sich fest an den Lehrer, wechselvolle Geselligkeit umfing ihn, mochte er im Hause Kaulbach seiner Rede freien Lauf lassen oder mit hervorragenden Männern, wie Döllinger, Zwiesprache halten, mit Halm Philologisches betreiben, mit Heyse, W. Hertz, Levi zeitweise regen Austausch pflegen. Die bildende Kunst lag ihm ferner, was mit seiner Kurzsichtigkeit zusammenhängen mag, wie auch sein Natursinn dadurch beschränkt war. Er saß als kritischer Hörer im Theater, dem gelegentlich seine Vortragskunst durch Anleitung Einzelner zu Gute kam, und erstreckte den Enthusiasmus für Musik auf die neue Welt Bayreuths; der „Meister“ selbst gab ihm in unvergeßlichen Abendstunden Vorklänge des Parsifal. Sommerreisen führten meist an den Vierwaldstätter oder Genfer See zu dem befreundeten Ehepaar Uhde. Gegen seine neuere Gewohnheit schlug B. im Frühjahr 1880 eine Einladung nach Wien nicht aus und machte dort mit drei Vorträgen solchen Eindruck, daß Vielen der rechte Mann für den schon länger erledigten Lehrstuhl K. Tomaschek’s gegeben schien. Nicht bloß in der Studentenschaft und in litterarischen Vereinen regte sich dieser Wunsch, sogar die Fürstin P. M. strengte Alles an, den Unterrichtsminister zu überreden; doch die Berufung blieb aus, und B. hat sie dann nach seiner neidlosen Art einem jüngeren Freund um so herzlicher gegönnt, da er entschlossen war, in München ein neues Leben zu beginnen. Am 4. December 1880 verheirathete er sich mit seiner Landsmännin Luise Uhde, geb. Rübke, die ganz in dem häuslichen Glück, den Interessen und dem Ruhm des Gatten aufging und auch als Wittwe unter den ihr so vertrauten, vor Zerstreuung bewahrten Bücherschätzen sorglich waltet. Eine Tochter und ein Sohn wuchsen aus dieser Ehe heran. Studenten gingen ein und aus, Gäste von nah und fern waren stets willkommen. Kleine Unbilden mochten wohl über der Genugthuung des akademischen Lehrers und dem Behagen des Hauses vergessen werden, so daß es großes Aufsehen erregte, als B. einem schon 1886, im Todesjahre Ludwig’s II., bedachten Plan gemäß 1889 um Enthebung von der Professur einkam und nach längeren Verhandlungen im Februar 1890 den dringend gewünschten Abschied erhielt. Am 11. März stand er zum letzten Mal auf dem Katheder. Jahr für Jahr hatten im größten Auditorium viele Hunderte aus allen Facultäten seinen genau vorbereiteten, scheinbar improvisatorisch strömenden Worten gelauscht, die nach kurzer Sammlung, als stärke der Redner sich erst durch ein stilles Gebet, anschwollen und die farbige Darstellung auch ohne Hülfe der herbeigetragenen Bücher mit reichen Proben ausstatteten. Das Interesse für germanische und romanische Litteratur, soweit es nicht K. Hofmann’s Erklärungen vor einem zünftigen Häuflein galt oder einer verschwommenen Aesthetik, ist durch B. an der Münchner Universität geweckt und mit dem Einsatz aller Lust und Kraft immer lebendiger geworden. Den eigentlichen Fachstudenten, seinen „jungen Freunden“, war B. über Colleg und Seminar hinaus so zugänglich wie kaum je ein Professor; er zog sie, ohne je mit der Zeit zu kargen, in sein Haus, öffnete ihnen zu freiem Gebrauch die imposante Bibliothek und feierte den Sonntag am liebsten durch zwanglose Privatissima. All das war jetzt vorbei, ein großer Verlust für München, ein schwerer Verzicht für B. selbst. Die Studenten bereiteten ihm Ovationen, zahlreiche Fachgenossen sprachen in einer Adresse ihr Bedauern, aber auch ihre Hoffnung aus, daß die Muße [407] nun größere, bisher durch das Aufgehen im Lehrberuf vereitelte Werke zeitigen möge. Dieser Grund war neben rein persönlichen schwer in die Wagschale gefallen, doch er ward nicht bloß ein Sporn, sondern auch ein Druck für die neue Freiheit, und mancher vertraute Freund blieb dabei, den Rückzug vom Katheder des so wirksamen Redners an das Pult eines nicht mehr von der Jugend umdrängten, nun zur Schriftstellerei getriebenen Gelehrten als Irrgang zu betrachten.

B., der bei wiederholtem Aufenthalt in Baden-Baden die Huld der Kaiserin Augusta und des Großherzogl. Paares dankbar genossen hatte, wählte sich Karlsruhe zum Wohnsitz. Ein eigenes, nah am Stadtwald gelegenes Haus, dessen Erdgeschoß den Büchern Raum bot, nahm ihn auf. Im engsten Hofkreise trug er häufig vor und würzte daheim die Geselligkeit aus seinen Dichtern. Von nachbarlichen Gelehrten trat ihm A. Holder näher, Besucher aus Heidelberg, Straßburg, München unterbrachen von Zeit zu Zeit das Stillleben, das durch liebreiche Sorge für die Bildung des Stiefsohnes und der eigenen Kinder die rechte Ablenkung von der papierenen Welt erfuhr. War er nun glücklich in dem Sinn: seine Gaben vollwichtig auszuprägen und sich thätig zu manifestiren? oder empfand er, wenn statt des erhofften Hauptwerkes nur „Kleine Schriften“ theils gesammelt, theils neu verfaßt wurden, nicht bloß die oft zugegebene Langsamkeit des Schaffens, sondern halbbewußt auch ein wachsendes Unvermögen, das mit einem vorerst unmerklichen physischen Leiden zusammenhing? Im Winter 1896 auf 97 trat die Herzkrankheit immer heftiger auf, um ihn am 25. Februar hinwegzuraffen. Er ward in Karlsruhe bestattet; sein Münchner Schüler und Nachfolger Muncker sprach pietätvolle Dank- und Scheideworte.

B. äußerte wol, ihm habe dreierlei geschadet: das Declamiren, das Gedächtnis, „der Goetheforscher“. Nun war unleugbar, daß er sehr gern und sehr reichlich declamirte oder wie er es lieber hieß: sagte; doch darf ein hie und da den Menschen leidiges oder von ihnen belächeltes Unmaaß uns daran nicht irre machen, welche Anregungen Jung und Alt, Männer und Frauen aus diesen freien, nie gehaltlos spielenden, wahrhaft interpretirenden Recitationen geschöpft haben, wie Vielen erst durch sie etwa die Wunder der Goethischen „Helena“ aufgegangen sind. Er war ein Meister der Wiedergabe alles Stilisirten, minder wohl des Einfachen, lyrisch Schlichten, unterstützt durch sein mächtiges, zu großem Crescendo und starken Accenten dringendes, in der Höhe wie in der Tiefe wohllautendes Organ, dem nur das gutturale R und die gezogenen „ai“ kleinen Abbruch thaten. Das Gedächtniß, früh geschult und stets geübt, war allerdings stupend: Es hielt außer einer Unzahl kürzerer Gedichte und massenhafter Prosastellen auch Werke vom Umfang des ganzen „Faust“ oder „Hermann’s und Dorothea’s“ u. s. w. zu untrüglicher, nie stockender Reproduction fest, hätte weder dem englischen noch dem Schlegel’schen „Hamlet“ gegenüber versagt und wäre bei Fragen nach Fundort und Wortlaut sammt Varianten sehr selten rathlos gewesen. Von Leuten, die der Tiefe und dem inneren Band dieses Vollbesitzes fern blieben, als Mnemotechniker angestaunt zu werden, mochte B. wol verdrießen, doch eine Gefahr lag wirklich im unübersehbaren Reiche seiner Gedächtnißmacht. Die Kraft barg eine Schwäche, denn Schopenhauer’s Streitsatz, viel lesen heiße mit fremden Gedanken denken, traf hier doch so weit zu, daß B. durch den andringenden Schwall von Belegen und Vergleichen in der Selbständigkeit seiner Ideen und der Unbefangenheit eingeengt ward, daß er vor einem Problem, statt die eigene Meinung knapp und klar zu äußern, eher herbeizog, was etwa Humboldt oder Pascal oder Gibbon Verwandtes boten, daß er darum auch am dichterischen Schaffen der Gegenwart nur spärlich theilnahm. Soll endlich der Titel „Goetheforscher“ bloß einen Specialisten bezeichnen, [408] so durfte gerade ein in Goethe’s Sinn die Weltlitteratur durchspürender und weithin beherrschender Mann, den kein moderner Litterarhistoriker an vielseitiger Gelehrsamkeit übertraf, diesen Namen ablehnen. Wie er besondere Collegia über Shakespeare, Milton, Corneille las und daheim die Divina comedia kundig erläuterte, so war ihm antike Poesie und Prosa im seltensten Maaße geläufig und die Arbeit der Philologen von Erasmus und Scaliger zu Bentley, zu Porson, zu Welcker und Wilamowitz hin wol bekannt. Er war eingelesen in Bossuet wie in Döllinger oder Newman und erstaunlich sattelfest in der europäischen Geschichtschreibung und Aesthetik … ; diese Liste könnte noch lang fortgesetzt werden. Ein solches Aufgehen in der Litteratur ist neidens- und verehrungswürdig, aber man wandert nicht leicht mit so viel Gepäck und ruft wol: Dieu vous fasse la grâce de devenir moins savant! „Beschränkt von diesem Bücherhauf“, hat B. mehr gelesen als gelebt und aus den Ueberlieferungen keine Menschen leibhaft beschworen. Es muß gesagt werden, daß er unfähig war, in älteren Aufsätzen sehr leicht erfaßliche Bühnengrößen irgend zu vergegenwärtigen, in Münchner Nachrufen auf R. Wagner und Ludwig II. das Vagste zu überwinden, in der Karlsruher Rede die Person Scheffel’s zu zeichnen, und daß ihm die Aufgabe, für diese A. D. B. einen monumentalen Artikel über Goethe zu leisten, ungünstig lag. So ist die verschwiegene philologische Mitarbeit an den köstlichen Bänden „Der junge Goethe“ weit ergiebiger, als die wortreiche, doch uncharakteristische, kaum ein Problem aufstellende oder fördernde Predigt vorn, von der auch S. Hirzel sehr wenig erbaut war. Man beobachte die ungeheure Wissensfülle, die „Noten und Citate“, die Bernays’ Urtheil über Gervinus u. s. w. an irgend ein Allegat heften, die tiefe kundige Liebe, den pastosen Stil in den vier Bänden „Schriften zur Kritik und Litteraturgeschichte“, deren Herausgabe Witkowski’s Mühewaltung 1899 freigebig abgeschlossen hat, und man wird sehen, wie treu B. sich geblieben ist. „Ich hasse das Rhetorische auf dem Katheder“, rief er einst einem hospitirenden Collegen beim Fortgehen pathetisch zu, als ob sein Vortrag, gewiß ohne jede bewußte Mache, nicht durch und durch rhetorisch gewesen wäre. B. sprach fesselnder als er schrieb, wußte auch ganz gut, daß die Feierlichkeit des am Erbe des Goethe-Schiller’schen Zeitalters geschulten, in großen Perioden wohlgefalteten Ausdrucks den Leser bei weitem nicht so packe wie sein lebendiges Wort den Hörer. Viel Farbe, wenig Zeichnung; Epitheta gleich „hehr“, „überköstlich“, gern paarweis in den festlichen Reigen tretend, ohne sondernde Wahl und Abstufung; gar Manches voll und mächtig, Andres unfreiwillig aufgebauscht und an Monotonie streifend. Im Leben bot es den Reiz der Ausnahme, wenn B., dem nie ein vulgäres Wort entsprang und der sich selbst mit litterarhistorischem Scherz humorloser als Gottsched schalt, zum Clavierspiel mit der Bitte trieb: „Theurer L., willst Du nicht die Saiten rühren?“ oder bei der Schwierigkeit des Einpackens von einem Mangel der „gabeseligen“ Natur sprach. Er posirte nicht, sondern diese gehobene, aller leichten Causerie fremde Redeweise war ihm ganz gleichmäßig unter vier Augen wie im Hörsaal, in der langen, gern mit ein paar amusements philologiques beschlossenen brieflichen Mittheilung wie im Aufsatz eigen.

Die deutsche Litteraturforschung durch weite vergleichende Umschau und historisch-philologische Methode ausgedehnt und befestigt zu haben, bleibt bei großer Fülle des einzelnen Gewinns sein Verdienst. Was heute für Herder oder F. Schlegel oder Haller geleistet ist, was für Klopstock theilweis und für Wieland zu thun bleibt, hat er auf Grund eindringlicher, fruchtbarer Arbeit als Wegweiser gefordert, Edition und Erläuterung von Werken und Briefen manchmal musterhaft vorgezeichnet, Zusammenhänge zwischen heimischer und fremder Litteratur im einzelnen erschöpft, tiefe Einblicke in Haupturkunden deutscher Dolmetscharbeit [409] geöffnet. Das kleine Heft „Ueber Kritik und Geschichte des Goethe’schen Textes“, dem eigentlich eine Ausgabe des „Werther“ mit allen Lesarten folgen sollte, bot 1866 durch den Nachweis des Himburg’schen Fehlermediums und andrer Verderbnisse die Grundlage zur rechten Uebersicht und Säuberung, was trotz den bis heute wiederholten Betheuerungen Düntzer’s noch nicht geschehen war. Dabei suchte B. durch den Vortrag, als werde einem Prüfer die überlieferte Verderbniß auch ohne Kenntniß des Thatbestandes immer anstößiger, das Interesse zu beleben. Seine Einleitung zu Goethe’s Briefen an F. A. Wolf ist ein Meisterstück umfassender anmuthiger Gelehrsamkeit. Das Buch „Zur Entstehungsgeschichte des Schlegel’schen Shakespeare“, dem die saubere Revision der sogenannten Schlegel-Tieck’schen Uebersetzung und ergiebige Abhandlungen über allerhand Mißverständnisse darin zur Seite stehen, hat auf Grund der Handschriften, ohne die Varianten insgesammt ausnutzen zu wollen, dargethan, in welchen Stadien von der Göttinger Schülerzeit neben Bürger an und in welcher Entwicklung und Arbeit dies Denkmal errichtet wurde. Gleiches that, die älteren unzulänglichen Versuche musternd, das große Vorwort zur Jubiläumsausgabe der Vossischen Odyssee (1881), und die Wiederherstellung einer ersten Vossischen Ilias aus dem Münchner Manuscript wurde von B. lang geplant. Vor allem lag ihm ein Werk „Homer in der Weltlitteratur“ am Herzen, zu dem sich doch wider Erwarten schließlich kaum eine Notiz fand, wie auch die Absicht des in englischer Poesie so beschlagenen Mannes, sich einmal zu den Wordsworth-Schwärmern zu gesellen, nur aus Gesprächen und Briefen hervortritt. Offenbar konnte B. dank seinem präsenten Wissen und festen Gedächtniß Vieles ohne jede Niederschrift bis in den Wortlaut ausbilden und in sich forttragen; brachte er doch als Weimarischer Festredner keine Zeile mit, und der Vortrag über Goethe’s Geschichte der Farbenlehre, den er Freunden ganz genau so „andeutete“ wie er ihn dann feierlich sprach, wurde leider auch hinterdrein nicht aufgezeichnet.

Was an Bernays’ Erscheinung und Gebahren absonderlich war, lehrte die flüchtigste Begegnung, und Anekdoten von einer „naiv grotesken Eitelkeit“ liefen auch in Kreisen um, die nicht wußten, daß so ein „War es nicht herrlich?“ viel mehr dem Dichter als dem Herold galt und daß die pathetisch geführten Tagebücher auch manches aufrichtige Selbstbekenntniß schwacher Stunden enthielten. Akademischer, überhaupt aller Personalklatsch lag weit von ihm. Er lobte viel lieber als er tadelte, war eher zu nachsichtig, immer hilfsbereit, ein treuer Freund, nie geneigt über Männer, die sich ihm unhold erwiesen, polemisch abzusprechen, der Pflege litterarischer Güter mit heiligem Eifer hingegeben und keineswegs so weltfremd, daß er nicht die politischen, socialen und religiösen Umschwünge als treuer patriotischer Beobachter verfolgt hätte.

Ein Verzeichniß aller Publicationen gibt Witkowski im 2. Bande der „Schriften zur Kritik und Litteraturgeschichte“ (1895–1899), dem eine gute Photographie beigefügt ist (im 4. Bd. findet man Lenbach’s Porträt wiedergegeben). Sonst sei hier nur auf Petzet’s Lebensbild in Bettelheim’s Biographischem Jahrbuch 2, 328 hingewiesen.