Zum Inhalt springen

ADB:Jahn, Otto

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Jahn, Otto“ von Adolf Michaelis in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 13 (1881), S. 668–686, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Jahn,_Otto&oldid=- (Version vom 26. November 2024, 23:35 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
Nächster>>>
Jahn, Quirin
Band 13 (1881), S. 668–686 (Quelle).
Otto Jahn bei Wikisource
Otto Jahn (Archäologe) in der Wikipedia
Otto Jahn in Wikidata
GND-Nummer 118556657
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|13|668|686|Jahn, Otto|Adolf Michaelis|ADB:Jahn, Otto}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118556657}}    

Jahn: Otto J., Philolog, Archäolog, Litterarhistoriker und Musikgelehrter. Er ward am 16. Juni 1813 in Kiel geboren, wo sein Vater Jakob J. als Advocat und Landsyndikus (Rechtsbeistand der schleswig-holsteinischen Ritterschaft) lebte. Als tüchtiger Jurist, und zuverlässiger Geschäftsmann im ganzen Lande hochangesehen, machte dieser von seinem selbsterworbenen Vermögen den liberalsten Gebrauch. Die Mutter war eine Tochter des Professors der Jurisprudenz Ad. Trendelenburg, eine lebhafte, thatkräftige, jeder Aufgabe mit warmem Herzen sich widmende Frau. Otto war das vorletzte von neun Geschwistern. Schon früh entwickelte der Knabe, zu den gewöhnlichen Kinderspielen wenig geneigt, einen ungemessenen Leseeifer, und man gewöhnte sich in der Familie bald in ihm den künftigen Philologen zu sehen. Eine seiner ersten Sorgen war, einen Stammbaum der griechischen Götter zu entwerfen. Später wanderten seine Ersparnisse regelmäßig zum Buchhändler. Mit nicht minder lebhaftem Interesse widmete sich der Knabe der Musik, welche in dem höchst angeregten Verkehr des elterlichen, von Einheimischen wie Fremden gern aufgesuchten Hauses eine hervorragende Rolle spielte. Zu den Aufführungen des Puppentheaters sang er mit heller Kinderstimme den ganzen Freischütz vollkommen richtig und nahm an der Hausmusik mit seinem Klavierspiel Theil. Den theoretischen Unterricht in der Musik erhielt er bei dem strengen G. Chr. Apel (s. Biogr. Aufs. S. 1 ff.), aus dessen Nachlaß er später das „Kirchliche Antiphonarium“ (Kiel 1845) herausgab. Zugleich betheiligte sich J. an Gesang- und Orchestervereinen. Obschon er nie ein gutes Orchester gehört hatte, unternahm er es dennoch, als die behufs eines Concertes von Hamburg verschriebenen Orchesterstimmen zum Finale des ersten Actes von Weber’s Oberon ausblieben, in einigen Nächten die Stimmen auf Grund des Klavierauszuges so wie er sie sich dachte aufzusetzen. Diese Extravaganz veranlaßte den Vater, welcher eine musikalische Laufbahn des Sohnes nicht wünschte und bereits P. W. Forchhammer in’s Haus gezogen hatte, um dessen Schulstudien zu überwachen und zu ergänzen, Otto noch vor Absolvirung des Kieler Gymnasiums nach Schulpforte zu schicken (Mai 1830). Auf Nitzsch’s Empfehlung fand er im Hause des ausgezeichneten Ad. Gottl. Lange eine neue Heimath, an Lange selbst einen lebenslänglich mit kindlicher Liebe von ihm verehrten Lehrer und Pflegevater. Trotz der eifrigen Erfüllung der Schulpflichten fand J. auch hier Zeit, die Musik weiter zu üben; für eine Schulfeier componirte er ein größeres Gesangsstück. Lange’s plötzlicher Tod (9. Juli 1831) brach Jahn’s Aufenthalt auf der Pforte vor der Zeit ab; die Anhänglichkeit an die Anstalt bewahrte er getreulich, und regelmäßig übersandte er der Bibliothek alle seine Schriften.

Im Herbst 1831 bezog J. die heimische Universität. Die schwankenden Interessen des Jünglings lenkte G. W. Nitzsch auf das Studium der griechischen Sagenpoesie, der damalige Privatdocent Joh. Classen auf die römischen Satiriker, denen J. fortan eifrige Studien widmete. Im Herbst 1832 ging er nach Leipzig, wo er im Hause des Prof. W. Wachsmuth freundschaftliche Aufnahme, an Gottfr. Hermann einen Lehrer fand, dessen Persönlichkeit und allgemeine Art der Behandlung wissenschaftlicher Fragen noch stärker auf J. wirkte, als daß ihn der speciellere Kreis von Hermann’s vorwiegenden Interessen in der Auswahl [669] seiner eigenen Studien bestimmt hätte. Nachdem J. nach einem Jahre Leipzig mit Berlin vertauscht hatte, gewann Böckh einen entscheidenden Einfluß auf seine Gesammtanschauung von den Aufgaben und dem Zusammenhange der Alterthumswissenschaft. Persönlich trat er Lachmann weit näher: Hörte er auch keine Vorlesung bei ihm, so war er ein desto eifrigeres Mitglied seines Seminars (vgl. Jahn’s Mittheilungen bei Hertz, K. Lachmann S. 82 ff.). Stets gründlich präparirt, war J. in jeder Stunde bereit, die Interpretation zu übernehmen, und Lachmann forderte, wenn kein Interpret sich meldete, bald regelmäßig J. auf einzutreten. Dafür wandte der Lehrer nicht blos vorzugsweise ihm die Strenge seiner methodischen und feinsinnigen Zucht zu, sondern beglückte ihn auch durch eine herzliche Zuneigung. Für Beides dankte später J. dem praeceptori incomparabili, amico integerrimo in der Widmung seiner Persiusausgabe. Archäologische Studien lagen J. in Berlin wie in Leipzig noch ziemlich fern, doch besuchte er die Vorlesungen über Antiken des Museums, mit denen damals Gerhard vor einem größeren Publikum seine Berliner Wirksamkeit eröffnete. Weit mehr nahmen ihn an beiden Orten die musikakischen Genüsse in Anspruch. Vor Allem machte ihm das Berliner Gastspiel der Schröder-Devrient (Sommer 1834) einen fast überwältigenden Eindruck, so daß deren Fidelio auch noch dem gereiften Manne als das Höchste musikalisch-dramatischer Kunst galt. Seine theoretischen Musikstudien setzte J. bei dem strengen Lehrer S. W. Dehn fort, der denn auch dem fortdauernden Schwanken des Jünglings, ob er die Musik oder die Philologie zum Lebensberuf wählen solle, ein Ende machte. J. hatte ihm einige seiner Compositionen mit der Bitte um ein unparteiliches, für seinen Entschluß entscheidendes Urtheil übergeben. Dehn behielt die Compositionen lange bei sich, ohne sich darüber auszusprechen. J. verstand das Schweigen. Ohne den musikalischen Studien zu entsagen, erblickte er fortan seinen eigentlichen Beruf in der Philologie, welcher er vom Frühjahr 1835 an wiederum in Kiel oblag. Das von Nitzsch geleitete Seminar (vgl. Biogr. Aufs. S. 148 f.) bildete auch hier den Mittelpunkt seiner akademischen Studien, die er mit einer dem Lehrer gewidmeten Abhandlung über Palamedes[WS 1], einer etwas ungefügen Probe citatenreicher Gelehrsamkeit, abschloß. Die scharfe Betonung der Grenzen des Wissens gegenüber bloßen Combinationen erinnert an Hermann und Lachmann. Am 18. October 1836 ward er promovirt, nachdem er sich kurz zuvor mit einem namentlich musikalisch reich begabten Mädchen verlobt hatte. Beethoven und Schubert hatte er sich angelegen sein lassen in Kiel einzubürgern, wo man bis dahin beide Componisten nur aus der Ferne verehrt hatte.

Auf die Lehrzeit folgten Wanderjahre, welche neben manchen anderen Zielen besonders der Beschaffung eines kritischen Apparates für Persius[WS 2] und Juvenal[WS 3] gewidmet waren. Ein Winter in Kopenhagen sicherte J. ein Reisestipendium, wie sie die dortige Regierung mit einer damals nicht überall üblichen Liberalität zu vertheilen pflegte, und brachte ihn in persönliche Beziehung zu dem kunstsinnigen Kronprinzen, dem späteren König Christian VIII. Im Sommer 1837 besuchte J. mehrere deutsche Bibliotheken und blieb dann längere Zeit in Paris. Neben den gelehrten Studien auf der Bibliothek, bei welchen ihn Hase auf das Liebenswürdigste unterstützte, genoß J. mit vollen Zügen die musikalischen Leistungen der Oper (Lablache, Rubini, Giulia Grisi[WS 4]) und des Conservatoriums, in dessen Leiter Habeneck er das Muster eines zugleich strengen und geistvollen Dirigenten kennen lernte (vgl. Grenzboten 1854, IV, S. 4). Der Eindruck von Chopin’s Clavierspiel hielt ihn wochenlang völlig im Bann. Außerdem führte das Museum und mehr noch das damals in Paris sehr lebhafte archäologische Treiben J. auf diese Studien. R. Rochette’s kürzlich erschienene Monumens inédits waren das erste archäologische Buch, welchem er [670] ein gründliches Studium widmete. So legte der Pariser Aufenthalt den Keim zu einer Erweiterung von Jahn’s Interessen, welche für sein ganzes Leben entscheidend ward. Im Juli 1838 begab sich J. nach Bern, welches ihm durch den intimen Verkehr mit dem Prediger Baggesen, einem Sohne des Dichters, besonders lieb ward. Nachdem die Bibliotheken in Bern, Zürich, St. Gallen, Einsiedeln für seine Zwecke ausgebeutet waren, wanderte er im Herbst südwärts über die Alpen und traf im October in Rom ein; unterwegs hatte er in Bologna Rossini aufgesucht. In Rom fand er in der casa prussiana auf dem Capitol Quartier bei Emil Braun, dem Secretär des archäologischen Instituts, der mit Freuden den „handfesten Philologen, der auch lebhaftes Interesse für Archäologie habe und überaus bewundert sei“, begrüßte (Braun an Gerhard, 30. October 1838). Ihm verdankte es J., daß er die in Paris begonnenen Studien fruchtbar fortsetzen lernte. Braun führte ihn in das Studium der reichen Denkmälerwelt Roms ein und verwies ihn auf die Arbeiten Welcker’s, deren Tiefe und Bedeutung dem Schüler Hermann’s erst jetzt aufging. Braun überließ ihm einige Zeichnungen zu seiner ersten archäologischen Schrift (Vasenbilder, 1839) und zog ihn zur Theilnahme an den Arbeiten des Instituts heran. Braun veranlaßte ihn auch, mit Hilfe einer durch Gerhard vermittelten Unterstützung der Berliner Akademie den litterarischen Nachlaß des jüngstverstorbenen Epigraphikers Olaus Kellermann zu erwerben und bestärkte ihn dadurch in seiner Neigung für inschriftliche Studien. Von Rom aus unternahm J. einen Ausflug nach Etrurien, sodann im Verein mit Schubart aus Kassel eine wohlgelungene Bereisung Siciliens, wo J. sich Griechenland nahe fühlte, endlich einen Besuch Neapels und Pompejis. Auf der Rückreise machte er noch eine längere Station in Florenz, wo er mit dem nach Griechenland reisenden K. O. Müller zusammentraf. Mit seinem Landsmanne Gaye plante J. einen Katalog der Kunstsammlungen in den Uffizien, aber Gaye’s Tod und der Verlust eines Theiles von Jahn’s Aufzeichnungen an der österreichischen Grenze verhinderten die Ausführung des Planes. Ueber Berlin, wo Lachmann den ehemaligen Schüler mit besonderer Herzlichkeit empfing und ein persönliches Verhältniß zu Gerhard angeknüpft ward, kehrte J. im Sommer 1839 in die Heimath zurück.

In Kiel begann J. bereits im Herbst 1839 seine akademische Thätigkeit mit einem Colleg über Juvenal. Philologische und archäologische Vorlesungen gingen schon hier, wie seitdem überall, regelmäßig neben einander her. Daneben führte er Besprechungen mit den Studenten über antiquarische Gegenstände ein. Zu seinen natürlich nicht zahlreichen Zuhörern gehörte unter Andern Theodor Mommsen, der sich in der Vorlesung über Juvenal durch die sichere Detailkenntniß des römischen Lebens innerlich angeregt, noch mehr aber durch die Winke gefördert fand, welche J. ihm für antiquarisch-epigraphische Arbeiten gab (vgl. Mommsen, de collegiis S. 129). Aus jenen Besprechungen erwuchs allmählich eine Art archäologischen Seminars. Diese Methode archäologischen Unterrichts war damals nicht üblich, und es ist ein entschiedenes Verdienst Jahn’s, sie in das akademische Leben Deutschlands eingeführt zu haben. Desgleichen bürgerten J. und Forchhammer zuerst die in Rom übliche Winckelmannsfeier an deutschen Universitäten ein (9. Dec. 1840), ein Beispiel, das vieler Orten Nachahmung fand. Auch betheiligte er sich an den von Kieler Docenten herausgegebenen „Kieler philologischen Studien“ (1841) mit einer Abhandlung über Polygnot, während er selbständig in einem „Briefe an Herrn Professor F. G. Welcker“ (1841) eine resultatreiche archäologisch-litterarische Untersuchung über Telephos und Troilos veröffentlichte, welche den Grund zu einem allmählich immer enger sich gestaltenden Verhältniß zu Welcker legte. Mit dem „specimen epigraphicum in memoriam Ol. Kellermanni editum“ gab J. in demselben Jahre [671] eine Abschlagszahlung auf die Verpflichtungen, welche er mit dem Nachlasse jenes Gelehrten übernommen zu haben glaubte. In der That gewährte ihm darauf hin Christian VIII. auf drei Jahre eine jährliche Summe zur Fortsetzung dieser Studien. Neben allen diesen Publicationen ging als Hauptarbeit die große Persiusausgabe her. Aber auch dem Musikleben Kiels widmete er eifrige Theilnahme: der ersten Aufführung von Mendelssohn’s Paulus war die orientirende Broschüre über dies Oratorium (1842) gewidmet. Auch erschien damals ein Heft mit acht Liedern, „seiner Louise“ zugeeignet.

Im Herbst 1842 folgte J. einem Rufe als außerordentlicher Professor der klassischen Litteratur und Archäologie nach Greifswald, an Stelle Klausen’s. Eine Jacht brachte das junge Ehepaar mit der bereits sehr ansehnlichen Büchersammlung in rascher Fahrt hinüber. Der erste Winter war der Einleitung zum Persius gewidmet; im März 1843 konnte die umfangreiche Ausgabe abgeschlossen werden. Mit einer Gelegenheitsrede über Goethe’s Iphigenie (1843), die an seinen Bemerkungen über die griechische Tragödie und deren Verhältniß zu Goethe’s Dichtung reich ist (Popul. Aufs. S. 353 ff.), führte er sich in weiteren Kreisen seiner neuen Mitbürger ein und begründete auch hier bald die Sitte der Winckelmannsfeier im Verein mit Schömann, welcher sich J. auch persönlich mit großer Wärme anschloß und sich durch ihn in archäologische Interessen hineinziehen ließ. Im Anschluß an diese Feiern bildete sich ein Ausschuß, welcher bald die erforderlichen Mittel gesammelt hatte, um den Grund eines akademischen Kunstmuseums zu legen. Die akademische Wirksamkeit, in welcher auch die archäologischen Uebungen wieder ihre Stelle fanden, gestaltete sich ähnlich wie in Kiel; für die geringe Zahl bot der Eifer und die Anhänglichkeit der Zuhörer Ersatz. Außer zahlreichen Einzelarbeiten erschienen 1845 eine Altes und Neues vereinigende Sammlung „Archäologischer Aufsätze“ und die Ausgabe des Censorinus[WS 5], an welcher Lachmann den thätigsten Antheil nahm. Jene war Braun, diese Imm. Bekker gewidmet. Kurz darauf erfolgte ein Ruf, unter äußerlich glänzenden Bedingungen als Akademiker nach St. Petersburg überzusiedeln. J. zog das Ordinariat in Greifswald, welches ihm auf Schömann’s warme Fürsprache verliehen ward, vor; zugleich trat er als Mitdirector am philologischen Seminar ein.

Die Musik pflegte J. gleichzeitig in einem Kreise eng befreundeter Familien, die sich zu einem äußerst angeregten Verkehr zusammenfanden. Ein Sonnabendskränzchen, ein- und mehrstimmigem Gesange gewidmet, gab ihm Anlaß zu vielfachen Compositionen, von denen eine Auswahl 1852 in zwei Heften erschienen ist. Aber schon sehr bald traten bei Jahn’s Frau die ersten Anzeichen eines geistigen Leidens hervor, welches sich rasch steigerte, so daß nach mancherlei auftauchenden und wieder verschwindenden Hoffnungen auf Genesung schließlich die Kranke einer Heilanstalt übergeben werden mußte. Der Druck dieser „schwersten Prüfung, die einem menschlichen Herzen auferlegt werden kann“, hat auf J. sein ganzes Leben hindurch gelastet. Nur schwer überwand er sich, der Musik nicht völlig zu entsagen; im Verkehr gewöhnte er sich seitdem auf den engsten Kreis nächster Freunde sich zu beschränken. Im Sommer 1845 dachte er an eine längere Urlaubsreise nach Italien, um den schon 1841 von Savigny ihm nahegelegten Plan eines Corpus Inscriptionum Latinarum mit Hilfe Mommsen’s zur Ausführung vorzubereiten. Allein die Verhandlungen mit der Berliner Akademie zögerten sich jahrelang hin, so daß J. sich schließlich „nur das Verdienst erwerben konnte, auszuhalten, bis Th. Mommsen eintreten konnte in die Aufgabe, die ein gutes Geschick ihm aufbewahrt hatte“ (Ed. Gerhard, S. LXXXIV). J. selbst widmete sich inzwischen im Anschluß an Zahn’s großes Werk über Pompeji einer Reihe von Monographien, welche zu einem Bande „Archäologischer [672] Beiträge“ (1847) zusammengefaßt wurden. Die einzelnen Mythen wurden durch Litteratur und Kunst hindurch verfolgt, durchweg mit der strengen philologischen Methode, welche damals für archäologische Untersuchungen nicht üblich war. Diese Behandlungsweise ward für Jahn’s spätere Arbeiten typisch, fand aber bald auch bei anderen Archäologen Nachahmung. Zugleich begann J. eine kritische Ausgabe des Juvenal. Da traf um Neujahr 1847 ein Ruf nach Leipzig ein, an die durch W. A. Becker’s Tod erledigte Stelle. J. zögerte nicht, das abgelegene Greifswald mit Leipzig zu vertauschen, wo ihm eine größere Wirksamkeit an der Seite G. Hermann’s und Haupt’s in Aussicht stand. Ostern 1847 siedelte er dahin über.

Obschon die Leipziger Universität damals von ihrer heutigen Frequenz noch weit entfernt war, sprach doch J. dort zuerst zu einem etwas größeren Kreise von Zuhörern. Am philologischen Seminar hatte er keinen Theil; durch philologische und archäologische Vorlesungen und durch archäologische Uebungen ergänzte er die Wirksamkeit der genannten beiden Männer, neben denen Westermann eine tüchtige Thätigkeit entfaltete. Nach Hermann’s Tode ertheilte die Universität J. den ehrenvollen Auftrag, die Gedächtnißrede zu halten (28. Jan. 1849), in welcher er dem verewigten Meister ein schönes Denkmal in Hermann’schem Lapidarstil setzte (Biogr. Aufs. S. 89 ff.). Kurz vorher war auf eine Anregung Jahn’s hin Mommsen nach Leipzig berufen, mit welchem J. fortan in engster Gemeinschaft des Lebens und der Studien zusammenwohnte: das Wissen und Können des Einen stand stets auch dem Andern zu Gebote. Damals pflegten die Leipziger Universitätsprofessoren noch in lebhaftem, vielfach fördernden und anregenden Verkehr mit anderen Berufskreisen zu stehen. „Von den Buchhändlern K. Reimer, S. Hirzel, G. Wigand machte Dr. H. Härtel den Uebergang zu dem ausschließlich gelehrten Contingent von Haupt, Mommsen, Danzel und Jahn; denn Klee war damals schon nach Dresden gegangen“ (Biogr. Aufs. S. 210). Die politische Schwere der Zeit, welche diese Männer zu ernster Thätigkeit verband, ließ doch auch dem Humor freien Spielraum; die Genossen waren unerschöpflich in Scherzen und Neckereien (vgl. Belger, M. Haupt S. 59 ff.), welche leicht ihren Weg in die Druckerei fanden, bald an ein größeres Publikum sich wendend, bald nur für den vertrauten Kreis bestimmt. Daneben bot das Goethejubiläum (28. Aug. 1849) J. den Anlaß, im Verein mit Hirzel allen Spuren von Goethe’s Leipziger Aufenthalt nachzugehen; so ward aus der Festrede bei der Veröffentlichung ein kleines Buch. Aus dem Kreise des „trefflichen, ehrenhaften Kernmenschen“ Georg Wigand (Biogr. Aufs. S. 224), in dessen Hause J. und Mommsen längere Zeit wohnten, ging 1850 das litterarische Centralblatt hervor, welches anfangs an Haupt, Jahn, Mommsen, Nipperdey seine eifrigsten Mitarbeiter hatte. Wigand’s Verbindung mit L. Richter ward auch der Anlaß zu Jahn’s Lebensbild dieses Künstlers (1852, Biogr. Aufs. S. 221 ff.); dessen Dank war die reizende Vignette mit dem Motto inter folia fructus, welche J. fortan als Bibliothekszeichen benutzte. Wenig später setzte J. dem ganzen Freundeskreise ein Denkmal in der tief empfundenen Erinnerung an Danzel (Biogr. Aufs. S. 165)

Daß die hervorragendste Musikstadt Deutschlands auch die musikalischen Neigungen Jahn’s neu belebte, versteht sich von selbst. Hartenstein (Vorrede zum Mozart) und Härtel, Hauptmann (Grenzb. 1870, II. S. 81 ff.) und Rietz standen ihm in diesen Interessen besonders nahe. So konnte er einen schon in Greifswald mit Freunden erwogenen Plan ins Leben rufen: die weitzerstreuten und meist nur handschriftlich erhaltenen Werke des Leipziger Altmeisters Joh. Seb. Bach in einer großen Ausgabe zu sammeln. Dies führte zur Gründung der Bachgesellschaft, als deren Schriftführer J. die sehr schwierigen [673] und zeitraubenden Vorarbeiten zum größten Theil zu führen hatte (vgl. Grenzb. 1851, IV. S. 269 ff.). Besonders aber erwarb er sich dadurch ein bedeutendes Verdienst, daß er darauf bestand, der Ausgabe jenen philologisch-kritischen Charakter aufzuprägen, welcher seitdem auch den übrigen Gesammtausgaben unserer großen Musiker verliehen worden ist und sie von ähnlichen ausländischen Unternehmungen so vortheilhaft unterscheidet. J. selbst stellte ein Muster auf in dem Klavierauszuge der ersten beiden Bearbeitungen von Beethoven’s Leonore (1851), welche für verschollen galten, zu welchen er aber das Material mühsam aus den verschiedensten Quellen zusammengebracht hatte. Eine kritische Einleitung setzte das Verfahren bei einer solchen Arbeit in’s Klare.

Die wissenschaftliche Thätigkeit Jahn’s fand eine besonders reiche Entfaltung in den Schriften der vor Kurzem begründeten sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften. Die lange Reihe meist archäologischer, aber auch philologischer und litterarhistorischer Monographien, welche J. beisteuerte, glichen dem Zuschnitte nach den früher veröffentlichten „Beiträgen“, waren aber in den Gegenständen viel mannigfaltiger. Ergänzt wurden sie durch die im Verein mit Mommsen verfaßte Schrift über die „Ficoronische Cista“ (1852), eine Streitschrift wider Panofka, welche ebenso luftreinigend wirkte, wie eine Rede über das Wesen und die Aufgaben der Archäologie (Sächs. Berichte, 1848, S. 209 ff.) klärend über die Stellung dieser Disciplin im Kreise der Alterthumsstudien. Für die von Haupt und Sauppe ins Leben gerufene Sammlung von Ausgaben klassischer Schriftsteller mit deutschen Anmerkungen bearbeitete J. Ciceros „Brutus“ (1849) und „Orator“ (1851), und daneben ging der Druck der kritischen Ausgabe des „Juvenal“, wiederum unter Lachmann’s emsiger Hilfe bei der Correctur, langsam seinem Ende entgegen (1851). Auch der Commentar gedieh allmählich bis zur fünften Satire, blieb dann aber liegen. Unter den Plänen, welche sich dazwischen schoben, stand in erster Reihe der eines Handbuches der Archäologie für die damals von K. Reimer entworfene Sammlung klassischer Handbücher. Eine kleine kritische Ausgabe des Persius, welche bald nach dem Juvenal erschien (1851), brachte einen gegenüber der größeren Ausgabe vereinfachten und zuverlässigeren Apparat.

Mittlerweile hatte Jahn’s akademische Thätigkeit ein jähes Ende gefunden. Voll lebhaften Interesses für die Entwickelung der politischen Verhältnisse Deutschlands, war er im Frühjahr 1848 nach Schleswig-Holstein geeilt, wo er auch als Gesandter nach Oldenburg eine rasch vorübergehende diplomatische Verwendung gefunden hatte (vgl. Belger, M. Haupt S. 61 Anm.). In Leipzig gehörte er wie die übrigen Freunde dem gemäßigten deutschen Vereine an, welcher 1849 für Durchführung der deutschen Reichsverfassung in Sachsen thätig war. Als aber die weiter links stehenden Parteien, mit denen der deutsche Verein bisher meistens zusammengegangen war, den Dresdener Maiaufstand hervorriefen, erklärte Mommsen im Namen der Genossen den Austritt aus dem Verein. Obwol diese Erklärung in jener aufgeregten Zeit nicht ohne Gefahr war, genügte dies doch nicht der Reaction, welche bald unter Beust über Sachsen hereinbrach. Als zunächst die Majorität des akademischen Senates sich weigerte, nach der octroyirten Verfassung einen Abgeordneten zu wählen, wurden mit den Uebrigen auch Haupt, Jahn und Mommsen suspendirt. Weiter aber ward gegen Letztere wegen ihrer früheren Thätigkeit im deutschen Verein eine Criminaluntersuchung eröffnet. In erster Instanz wurden Haupt und Mommsen zu längerer Festungshaft in Hubertburg verurtheilt, J. ab instantia freigesprochen; in zweiter erfolgte die Freisprechung aller Drei, aber wiederum nur ab instantia. Die Regierung bediente sich eines bei solcher halben Freisprechung ihr zustehenden Rechtes und verfügte die Absetzung der Drei „zum Besten der Universität“, [674] weil sie während der Maitage „öffentliches Aergerniß gegeben und ein sehr schlechtes Beispiel für die akademische Jugend aufgestellt“ hätten (Erlaß des Herrn v. Beust vom 22. April 1851). Dies Verfahren ward überall als Willkürakt empfunden, so daß K. F. Hermann in Göttingen, obschon politisch auf ganz anderer Seite stehend und sehr geneigt, nach Leipzig überzusiedeln, dennoch es ablehnte, einem Rufe an Jahn’s Stelle zu folgen.

Auch sonst brachte das J. 1851 viele Veränderungen: Lachmann’s Tod, die endliche Erlösung von Jahn’s Frau von ihrem dunkeln Leiden, die Berufung Mommsen’s nach Zürich, welcher im nächsten Frühjahr dorthin übersiedelte. Außer der Schrift über die ficoronische Cista ward noch die Ausgabe des Florus (1252) zum Denkmal ihrer Studiengemeinschaft. Durch Halm’s Güte hatte J. die maßgebende Bamberger Handschrift zur Benutzung erhalten; mit Hülfe Mommsen’s, Haupt’s und Halm’s entstand eine Ausgabe, welcher J. gern die Bezeichnung „O. I. et amici emendarunt“ gegeben hätte. Eine Bearbeitung der „Periochae de T. Livio“ und des Obsequens schloß sich an (1853), während andere philologische Absichten ebenso unausgeführt blieben, wie der bereits in Greifswald gefaßte Plan einer zusammenfassenden Behandlung der römischen Sarkophagreliefs. Neben den Arbeiten für die Gesellschaft der Wissenschaften, deren Klassensecretär J. nach Haupt’s Abgang nach Berlin (Herbst 1853) ward, begann damals eine regere Theilnahme an der Archäologischen Zeitung, welche zu einer allmählich immer innigeren Freundschaft mit dem Herausgeber Ed. Gerhard führte.

In den Vordergrund von Jahn’s Thätigkeit trat aber um diese Zeit der Plan einer Biographie Beethoven’s, welcher sich bald dahin erweiterte, daß einleitungsweise Mozart, vielleicht auch Haydn, geschildert werden sollte (Mozart, I¹ S. VIII f.). Um an den Quellen selbst zu schöpfen, begab sich J. im Sommer 1852 nach Wien, von dort im November nach Salzburg, im nächsten Jahre nach Berlin und Frankfurt. Durch die Unterstützung von Al. Fuchs u. A., des Mozarteums und der Gebrüder André gelang es ihm besonders für Mozart ganz unerwartet reiche Schätze zu heben, daher er sich entschloß, mit dessen Biographie zu beginnen. Leider blieben alle Bemühungen Jahn’s erfolglos, den bei André’s aufbewahrten handschriftlichen Nachlaß Mozarts an einer öffentlichen Bibliothek in Sicherheit zu bringen; J. konnte schließlich nichts thun, als bevor der Schatz in alle Winde zerstreut ward, mit großen Kosten für sich selbst Abschriften oder Collationen sämmtlicher Compositionen anfertigen zu lassen. Inzwischen hatte Anfang 1853 die Zukunftsmusik in Leipzig ihren Einzug gehalten. Von der Verwerflichkeit der neuen Richtung im Innersten überzeugt, begründete J. dies Urtheil in den „Grenzboten“ (Aufs. über Mus., S. 64 ff., 112 ff.), mit deren Herausgebern G. Freytag und J. Schmidt er schon länger befreundet war. Wie gut die Kritik ihr Ziel traf, bewies die Art der Polemik von Seiten der Gegenpartei; besonders ergötzte J. der ihm verliehene Ehrentitel eines „litterarischen Backfisches“. Ebenso richtete J. ernste Mahnungen wider den selbstgefälligen Schlendrian, der damals in den Gewandhausconcerten eingerissen war, wenn auch mit geringem Erfolg (Grenzboten 1854, 1855).

Ehe J. Hand an den Mozart legen konnte, führte er einen vom baierischen Ministerium ihm ertheilten Auftrag aus, die reiche Vasensammlung König Ludwig’s in München zu katalogisiren (Herbst 1853). Das Eigenthümliche dieses Katalogs lag in der Beschränkung auf das Factische, unter Verzicht auf unsichere Benennungen. Sodann fügte J. in Leipzig die 240 enggedruckte Seiten umfassende Einleitung hinzu, welche ihm unter der Hand zu einem vollständigen Abriß der Vasenkunde anwuchs. So erschien das Buch erst im Herbst 1854. Gleichzeitig fand auch Jahn’s unfreiwillige Muße ihren Abschluß. In Berlin [675] war man darauf aufmerksam gemacht worden, daß J. die prekäre Lage eines Privatgelehrten nicht länger würde durchführen können, und beschloß, ihn an eine preußische Universität zu berufen. Bonn war bereits durch den Minister v. Raumer in Frage gekommen, als die Anwesenheit Ritschl’s in Berlin den Stein ins Rollen brachte: im October ward J. nach Bonn berufen, wenn auch unter sehr kärglichen Bedingungen. Welcker hatte hiervon keine vorgängige Kunde erhalten und empfand es als eine tiefe Kränkung, daß ihm die Gelegenheit entzogen worden war, selbst für Jahn’s Berufung einzutreten. Das Verhältniß zu diesem litt aber darunter nicht, ward vielmehr noch inniger als bisher. Der letzte Leipziger Winter ward den Anfängen des Mozart und der tiefgreifenden Abhandlung „Ueber den Aberglauben des bösen Blickes“ (Sächs. Berichte, 1855) gewidmet; auch für ein paar Beiträge zur Goethelitteratur fand J. noch Zeit.

In Bonn, wohin J. zu Ostern 1855 übersiedelte, hielt er es für seine nächste Aufgabe, sich wieder ganz in die Pflichten des akademischen Amtes einzuleben. Alle Gegenstände seiner Vorlesungen wurden völlig neu durchgearbeitet, besonders aber widmete er sich den Bedürfnissen der Studenten durch Anweisung und Rath in solcher Ausdehnung, daß die Zeit für eigene Arbeit bald fast ganz auf die Nachtstunden beschränkt ward. Dennoch konnte der sehr starke erste Band des „Mozart“ mit Anstrengung aller Kräfte schon zu Weihnachten 1855 dem treuen Freunde Hartenstein überreicht werden. Ursprünglich auf zwei mäßige Bände berechnet, wuchs die Biographie allmählich zu vier Bänden an; trotz einer schweren Erkrankung (1857), gelang es J. doch, gegen Ende des J. 1859 das ganze Werk abzuschließen. Wider Verhoffen erwarb sich das Buch trotz seines Umfanges einen großen Leserkreis, und die allgemeine Anerkennung, daß hier zum ersten Male eine des Gegenstandes würdige Biographie eines Musikers vorliege, sprach sich auch in dem gesteigerten Verlangen nach der Schilderung Beethovens aus. J. selbst nahm regen Antheil an dem lebhaften rheinischen Musiktreiben (Aufs. über Mus., S. 165 ff., 199 ff.), und fühlte sich durch den „Quickborn“ seines Landsmannes Klaus Groth, welcher damals nach Bonn kam und mit ihm eine rechte Herzensfreundschaft schloß, von neuem zu eigenen Compositionen angeregt. In Bonn bot das Haus Kyllmann den Mittelpunkt musikalischer Geselligkeit; dazu kam der Verkehr mit Welcker, Dahlmann, Böcking, Helmholtz und Otto Weber, später namentlich mit Springer, Lipschitz, Gildemeister und Ad. Marcus. Die herzlichste Ansprache hatte er bei einem innig geliebten Bruder, welcher in Hamm als Bürgermeister angestellt war.

Nachdem ein von J. abgelehnter Ruf nach Tübingen ihm 1857 die nöthige Verbesserung seiner äußeren Lage gebracht hatte, bekleidete er im nächsten Jahre das Rectorat, welches er am 15. October 1859 mit einer Rede über die Bedeutung und Stellung der Alterthumsstudien in Deutschland (Popul. Aufsätze, S. 1 ff.) niederlegte. Am folgenden Tage feierte ganz Bonn des alten Welcker’s 50jähriges Professorjubiläum, welches J. besonders bemüht gewesen war, dem würdigen Meister zu einem rechten Festtage zu gestalten. Er selbst steuerte zwei Abhandlungen bei, eine im Namen der Fakultät („Sophoniba“), eine in eigenem Namen, anknüpfend an den Beginn ihres persönlichen Verhältnisses („Telephos und Troilos und kein Ende“). Das von Welcker gegründete Kunstmuseum vermehrte J. durch Abgüsse der Hauptwerke griechischer Kunst und gewann dafür ein bedeutend größeres Local, neben dem er ein geschmackvoll ausgestattetes Auditorium einrichtete. Zum Gebrauch seiner philologischen Vorlesungen bearbeitete er eine Reihe von Ausgaben mit knappem Apparat und meistens mit Abbildungen antiker Kunstwerke (Apuleius Psyche und Cupido, 1855; Pausanias Beschreibung der Akropolis, 1860; Sophokles Elektra, 1861; [676] Platon’s Symposion, 1864; Pseudolongin, 1868). Seine Vorlesungen erfreuten sich eines immer wachsenden Zuspruches, die größte Freude aber gewährte ihm die herzliche Anhänglichkeit der Schüler, welche 1861 in einer Festschrift zu seinem Doctorjubiläum (Dilthey, „De Callimachi Cydippa“) neben seiner Gelehrsamkeit und Humanität den strengen Ernst hervorhoben, „mit welchem er der Wahrheit in der Wissenschaft nachstrebe und im Leben nie untreu werde“. Seit 1861 trat er auch an Welcker’s Stelle in die Mitdirection des philologischen Seminars neben Ritschl ein. Das persönliche Verhältniß zu diesem war allmählich immer kühler geworden und ging eben damals auf bestimmten Anlaß hin in völlige Entfremdung über; das Seminar dagegen, sowie den übrigen akademischen Unterricht leiteten beide in wissenschaftlichem Einverständniß, und beiden gemeinsam pflegten die Schüler ihre Promotionsschriften zu widmen. Obschon J. seit einer schweren Lungenentzündung im J. 1857 fast alljährlich stärkere oder schwächere Schwankungen seiner Gesundheit durchzumachen hatte, hielt er sich doch, da Welcker nicht mehr las und Ritschl’s Wirksamkeit eben damals vielfach durch Kränklichkeit unterbrochen war, für verpflichtet, den Kreis seiner Vorlesungen noch immer zu erweitern und fast alle Zeit und Kraft hieran zu setzen. Schon gegen Ende der fünfziger Jahre erachtete er eine Verstärkung der Bonner philologischen Lehrkräfte für ganz nothwendig. Niemand schien ihm für die Ergänzung von Ritschl’s und seiner eigenen Thätigkeit passender, als der als Hellenist und Antiquar so hervorragende Sauppe. Eine darauf hinzielende Anregung bei dem Ministerialreferenten Olshausen (1863) führte jedoch nicht zu der von J. gewünschten Befragung der Fakultät. Für J. ergab sich aus der Arbeitsüberladung und der geschwächten Gesundheit der allmähliche Verzicht auf umfassendere Arbeiten, das Handbuch der Archäologie, die Umarbeitung der großen Persiusausgabe, die Biographie Beethoven’s mußte sich auf die genannten Ausgaben in usum scholarum und auf archäologische Monographien beschränken, unter welchen diejenigen über Handel und Handwerk in antiken Kunstwerken hervorragen. Den von ihm veranlaßten Wiederabdruck von L. Roß’ „Erinnerungen und Mittheilungen aus Griechenland“ (1863) leitete er mit einer biographischen Erinnerung an den verstorbenen Freund ein (Biogr. Aufs. S. 133 ff.). Die Uhlandfeier, bei welcher ihm die Gedächtnißrede übertragen worden war, gab Anlaß zu einem Büchlein, welches außer der umgearbeiteten Rede allerlei litterarische Beigaben brachte (1863). Der von Breitkopf und Härtel publicirten kritischen Gesammtausgabe Beethoven’s widmete J. 1864 eine eingehende Besprechung, in welcher er die Grundsätze der Kritik durch eine Fülle treffender Beispiele erläuterte (Aufs. über Musik, S. 271 ff.). Endlich ließ ihn die politische Erregung jener „Conflictszeit“ nicht unberührt. In Bonn wirkte er im Sinne entschiedener Opposition, und als im Herbst 1863 die schleswig-holsteinische Frage von neuem entbrannte, bemühte er sich in Bonn, wie in Köln auf die patriotische Bedeutung derselben für ganz Deutschland energisch hinzuweisen.

Im December 1864 erging aus dem österreichischen Ministerium an J. die Anfrage, ob er als Vertreter der Archäologie nach Wien kommen wolle. J. war sehr geneigt, selbst gegen Aufopferung des besten Theiles seines akademischen Wirkens die größere Muße für sein litterarisches Lebenswerk einzutauschen. Die einzige Möglichkeit, beides mit einander zu vereinigen und zugleich die Blüthe der philologischen Studien in Bonn auch fernerhin zu sichern, schien ihm auch jetzt Sauppe’s Berufung zu bieten. Diese stellte er also nunmehr in Berlin als einzige Bedingung für sein eigenes Bleiben, indem er das Anerbieten hinzufügte, jenem nicht allein einige seiner Vorlesungen, sondern eventuell auch seinen Antheil am Seminar abzutreten. Das Ministerium gewährte diese Bedingung [677] und Sauppe erklärte seine Bereitwilligkeit zu kommen in anscheinend so bestimmter Form, daß J. darauf hin die Verhandlungen mit Wien sofort abbrach. Als Sauppe sich dann aber nachträglich dennoch entschloß, in Göttingen zu bleiben, war für J. ebenso die Möglichkeit größerer Muße in Wien, wie die Hoffnung auf eine gesteigerte Sicherung der philologischen Studien in Bonn vernichtet, dafür aber die Aussicht auf Reibungen in der Fakultät, welche vom Ministerium nicht befragt worden war, eröffnet. Die in der That alsbald ausbrechenden Streitigkeiten, welche weit über Bonn hinaus lauten Nachhall fanden, wurden namentlich durch die Aussprengung vergiftet, daß es in Wien mit der Anfrage gar nicht ernst gemeint gewesen sei, und durch die Mißdeutung, als ob Sauppe’s Berufung, statt auf die Blüthe Bonns, persönlich gegen Ritschl gerichtet gewesen sei. Docenten wie Studenten schieden sich in zwei Lager; daß Ritschl gerade Decan war, schärfte die Gegensätze. Aber erst nachdem die Fehde zwischen J. und Ritschl zur Ruhe gekommen war, sah letzterer sich durch die vom Curatorium ausgehende Veröffentlichung eines Verweises, welchen das Ministerium gegen ihn wegen seiner Decanatsführung ausgesprochen hatte, veranlaßt, seinen Abschied zu nehmen, und folgte demnächst einem Rufe nach Leipzig. Zunächst ward hierdurch die auf J. ruhende Last noch vermehrt, bis Usener um Ostern eintrat. Dennoch fand J. Zeit, das 50jährige Doctorjubiläum seines Freundes Gerhard (30. Juli 1865) durch zwei Abhandlungen zu ehren („Vasen mit Goldschmuck“ und Nuove memorie S. 1 ff.).

Die Erregung dieser Zeit des Kampfes in Verbindung mit anderen schmerzlichen Erfahrungen, wirkte ebenso sehr auf Jahn’s bereits stark erschütterte Gesundheit, wie auf seine stets zur Hypochondrie geneigte Gemüthsstimmung. Nur mit den vertrautesten Freunden unterhielt er noch einen spärlichen Verkehr. Vollends mußte eine langwierige Lähmung der rechten Hand den Mann schwer bedrücken, dem die Feder die vertrauteste Genossin war. So ward ihm die an sich so erfreuliche Neubearbeitung seines „Mozart“ (1867) „zur schweren Frohn“ (Mozart, I². S. XXIX), ohne daß sie deshalb an Gründlichkeit etwas einbüßte. Die anderen größeren Pläne ließ er jetzt endgiltig fallen. Unfähig zu weiter aussehenden Unternehmungen, veranstaltete er zwei Sammlungen seiner musikalischen und seiner biographischen Aufsätze (1866), und schloß daran eine Reihe populärer Darstellungen aus der Alterthumswissenschaft, einer älteren Mahnung seines Freundes G. Freytag folgend (Grenzboten, 1867, 1868). Auch diese wurden demnächst mit einigen älteren ähnlichen Arbeiten zu einem Bande vereinigt (1868). Der Plan, auch seine archäologischen Aufsätze zu sammeln, kam dagegen nicht zur Ausführung, weil er stets lieber neuen Stoff verarbeitete: die sächsische Gesellschaft, die Archäologische Zeitung, der Philologus, der Hermes erfreuten sich reicher Beiträge. Nur Wenige erkannten in der zum Uebermaß gesteigerten Production das Ringen eines schwerkranken Mannes gegen die Uebermacht eines zerstörenden Leidens. Desto schmerzlicher empfand es J., wenn auch Freunde glaubten ihm vorwerfen zu dürfen, daß er über dem vielen Kleinen seine größeren Aufgaben versäume.

Noch einmal schien eine Aenderung eintreten zu sollen. Als am 12. Mai 1867 Ed. Gerhard starb, erschien J. als der natürliche Testamentsvollstrecker und Nachfolger. Nicht blos, daß er trotz seines Befindens (dergleichen Rücksichten kannte er nicht, wo es Freundespflicht zu erfüllen galt) die Ordnung des weitschichtigen Nachlasses, die einstweilige Redaction der Archäologischen Zeitung, die Beendigung mehrerer großen Publicationen Gerhard’s übernahm und in dem Lebensabriß seines Freundes (1868) dessen Wirken warm und unbefangen würdigte: es ward ihm auch die Nachfolge in Gerhard’s Berliner Stellung und, behufs vorgängiger Wiederherstellung seiner Gesundheit, ein Urlaub zu einer Reise [678] nach Italien angetragen. Als jedoch eine ärztliche Untersuchung ein sehr ernstliches Lungenleiden herausstellte, entschloß J. sich lieber, den kurzen Lebensrest in den alten Verhältnissen zu bleiben. Obgleich er fortan selten ohne Fieber war, nahm er dennoch alle Kraft zusammen, um möglichst in alter Weise thätig zu bleiben. Mit Hirzel’s Beistand besorgte er die Herausgabe von Goethe’s Briefen an Voigt (1868); eine kleine kritische Ausgabe der römischen Satiriker bezeichnete den Abschluß seiner ältesten Studien (1868); philologische und archäologische Aufsätze gingen daneben her: eine Arbeit über den sogen. Codex Pighianus in Berlin wies den Weg zur Eröffnung neuer Quellen der Archäologie. Im Winter 1868/9 nahm er einen älteren Plan der Bearbeitung der griechischen Bilderchroniken (Tabulae Iliacae) wieder auf und wollte ihn sogar durch eine Behandlung der römischen Sarkophage ergänzen. Während das Material hierfür beschafft ward, schrieb er für die Wiener Akademie eine Abhandlung über die Entführung der Europa, in welcher ein Excurs über die Grazien an seine ersten römischen Interessen anknüpfte. Es sollte seine letzte Arbeit bleiben. Die Körperkräfte waren völlig erschöpft. Die Vorlesungen hielt er freilich auch noch im Sommer 1869, obschon mit erstorbener Stimme, aber den übrigen Theil des Tages war er genöthigt zu ruhen. „Ich bin doch noch lange nicht fertig“, äußerte er schmerzlich. Gegen Ende des Semesters revidirte der todesmatte Mann den ihm anvertrauten Nachlaß seines jüngstverstorbenen Freundes Welcker, bestellte sein eigenes Haus und ließ sich dann nach Göttingen bringen in die Pflege einer naheverwandten Familie. Die wohlthätige Umgebung eines behaglichen Familienlebens, das er selbst so schmerzlich entbehrt hatte, erhellte noch einmal das tiefe Dunkel, welches sein Gemüth beschattet hatte: „wenn ich jetzt noch gesund werden könnte“, äußerte er, „möchte ich auch wieder leben“. Nur 14 Tage war er bettlägerig, am 9. September 1869 erlöste ihn der Tod. Der einfache Grabstein auf dem Albanikirchhof trägt den vom Grabe Lange’s in Pforta entnommenen Spruch voluit, quiescit. In dem Nachlasse fand sich nur das Manuscript über die Bilderchroniken so weit fertig vor, daß Jahn’s Neffe, Ad. Michaelis, das Werk beendigen konnte (1873). Vom Beethoven, den J. im Kopfe wesentlich fertig hatte, war nichts niedergeschrieben; die Collectaneen wurden Thayer zur Benutzung übergeben. Die auserlesene Bibliothek von über 30,000 Bänden ward versteigert; die besonders werthvolle Mozartsammlung erwarb mit liberaler Beihülfe Kyllmann’s die Berliner Bibliothek.

Jahn’s Gestalt war untersetzt. Sein früh gebleichtes Haar verlieh ihm das Aussehen höheren Alters, als der Wirklichkeit entsprach, doch schwand dieser Eindruck gegenüber der Lebhaftigkeit seines Wesens und seiner Rede. Er war sehr kurzsichtig und fühlte sich dadurch leicht befangen. Seine steile, stets sich gleichbleibende Handschrift war sehr sauber, aber so klein, daß sie, nach einem Scherzwort Freytag’s, „allen Setzern, die nur einmal damit zu thun gehabt haben, unvergeßlich blieb“.

An Jahn’s litterarischer Thätigkeit ist der hervorstechendste Zug die Mannigfaltigkeit der Gebiete, auf denen er thätig war. Gilt dies gemeinhin als ein Zeichen von Dilettantismus, so entsprang es bei J. zunächst aus einer wirklichen Universalität seiner Interessen (vgl. die Rede über Universität und Wissenschaft, 1862). Ihm galt das Fortschreiten des Menschengeistes in der Geschichte als das höchste Wissensproblem. Die verschiedenen Gegenstände seines Forschens bildeten die Hauptknoten eines großen Netzwerkes, zwischen denen er die Verbindungsfäden zu führen liebte. Gern ging er im Verkehr mit Helmholtz und Lipschitz den übereinstimmenden Zügen dieser Untersuchungsweise mit der Methode der Naturforschung nach. Ebensowenig dilettantisch, wie die Grundauffassung, ist bei J. die Behandlungsweise auf irgend einem seiner Arbeitsfelder. Vielmehr [679] wandte er bei allen Aufgaben dem Kleinen wie dem Großen die gleiche Sorgfalt zu und befolgte die gleiche strenge Methode. In seinen philologischen Arbeiten ging er bei Ausübung der Kritik auf dem von Bekker und Lachmann eingeschlagenen Wege (vgl. besonders die Einl. zum Florus). Eine glückliche Fügung setzte ihn in den Stand, für mehrere Schriftsteller (Censorin, Juvenal, Florus u. a.) die besten Hülfsmittel zuerst zu verwerthen. Auf das Verdienst eines hervorragenden Conjecturalkritikers machte er keinen Anspruch, so manche glückliche Besserung ihm auch gelang. Im Gegensatz zu der in der Schule Lachmann’s bevorzugten rein kritischen Behandlung förderte er auch die Interpretation, hauptsächlich durch den Commentar zum Persius, welcher durch eine dem Gedankengange des Schriftstellers Schritt für Schritt folgende Erklärung einen commentarius perpetuus zu geben sucht, nicht ohne eine Ueberfülle an Stoff und einige Breite der Darlegung, zu welcher J. überhaupt neigte. Knapper war der Commentar zum Juvenal angelegt, ebenso die Anmerkungen zum Brutus und zum Orator, noch gedrängter die Noten zum Censorinus. Als praktisch hat sich ferner die bloße Zusammenstellung der Scholien und aller zugehörigen antiken Zeugnisse erwiesen, mit welcher J. die für den akademischen Gebrauch bestimmten Ausgaben versah; vollständige Uebersicht über den Stoff galt ihm eben auf allen Gebieten als erste Vorbedingung einer sicheren und erfolgreichen Behandlung. Die Zuthat von Abbildungen sollte überall nicht blos als Illustration dienen, sondern auf diese zweite ebenbürtige Quelle antiker Tradition hinweisen. Auch die Litteraturgeschichte hat J. durch einige eingreifende Untersuchungen gefördert (Persiusscholien, römische Encyklopädien, Subscriptionen, collegia poetarum, Kunsturtheile bei Plinius).

Eigenthümlicher waren Jahn’s Leistungen in der Archäologie, für welche er gegenüber abweichenden Ansichten und Definitionen mit besonderem Nachdruck das Wesen der Kunst als Princip aufstellte (Sächs. Berichte, 1848, S. 213). Sein Verdienst beruht vor allem in der Uebertragung strenger philologischer Methode und Technik auf dies Gebiet. Zoegas großes Beispiel hatte wenig Nachfolge gefunden; J. rehabilitirte die wissenschaftliche Strenge archäologischer Forschung gegenüber der Vorliebe für luftige Hypothesen und willkürliches Spiel des Witzes. Vor allem drang er auf sorgsame Sonderung von Thatsache und Combination. Anstatt „sich mit einem Einfall aus der Noth zu helfen“, verlangte er „gründliche, in einem stetigen Zusammenhange geführte Untersuchungen“, anstatt der Aufstellung „provisorischer Wahrheiten“, das „ehrliche Bekenntniß der Schwierigkeit und des Nichtwissens, auf dem die wahre Forschung beruht“ (Ficoron. Cista, S. III). Weiter galt ihm für die Kunsterklärung als erste Forderung, „stets das Kunstwerk als solches zu erfassen und zu betrachten“, sodann „durch Vergleichung der Monumente Einsicht und Verständniß der eigenthümlichen Sprache zu gewinnen, welche die Kunstwerke reden“ (Arch. Aufsätze, S. VI). Eine gewisse Eintönigkeit seiner zahlreichen auf Kunsterklärung ausgehenden Monographien, sowie die Fülle gelehrten Apparates hängt theils mit der damaligen Neuheit dieser ganzen Behandlungsweise zusammen, welche, um wirksam zu werden, mit einiger Consequenz durchgeführt werden mußte (Arch. Beitr. S. XIV), theils mit Jahn’s bewußter Abneigung Resultate zu ziehen, wo ihm die Sache noch nicht spruchreif erschien (ebenda S. XIII). Die Scheu vor unsicherem Tasten hielt ihn auch im Ganzen von mythologischen Untersuchungen fern, dagegen verfolgte er mit Eifer und Tiefblick gewisse Nachtseiten des Glaubens, besonders in der von Jakob Grimm hochgeschätzten Abhandlung „Ueber den bösen Blick“ (Sächs. Berichte, 1855). Ein schwieriger Abschnitt des griechischen Kunstgeschichte erhielt durch die Einleitung in die Vasenkunde (vor dem Münchener Katalog) bedeutend helleres Licht. Für die Auffassung des [680] römischen Kunstvermögens ist ein Aufsatz über Orestesgruppen wichtig (Sächs. Berichte, 1861). Die Weite seiner Gesichtspunkte zeigt die Greifswalder Winckelmannsrede über die hellenische Kunst (1866, Popul. Aufs. S. 115 ff.), welche z. B. die hohe Bedeutung der Stammesunterschiede für die Entwickelung der griechischen Kunst zuerst scharf hervorhob und auf die Analogie der poetischen und der philosophischen Entwickelung nachdrücklich hinwies. Denn wie J. beim einzelnen Kunstwerke erst in der Verbindung formaler und inhaltlicher Betrachtung die Aufgabe des Archäologen erfüllt glaubte, so schien ihm auch eine Abtrennung der Kunst von der Poesie und dem übrigen Geistesleben einseitig und falsch. So vorwiegend er sich auch mit Einzeluntersuchungen beschäftigt hat, sein Sinn strebte stets zum Ganzen, wie er stets aus dem Vollen schöpfte. Mit Recht rühmt Mommsen an ihm „das Gleichgewicht in der Beherrschung der sämmtlichen Zweige seiner Fachwissenschaft, worin vielleicht keiner der mit ihm Lebenden mit ihm Schritt gehalten hat. Er war nicht genöthigt, wo er als Philolog archäologische Dinge brauchte oder als Archäolog philologische, von dem Nachbar zu borgen; es machte keinen Unterschied für ihn, ob die Ueberlieferung durch Erz und Marmor vermittelt war oder durch Pergament und Papier“ (Arch. Ztg. 1869, S. 95). So liebte denn auch J. zumeist solche Aufgaben, in denen poetische und künstlerische Tradition einander ergänzen und aufklären. Hierin bewährte er sich als Schüler Welcker’s, den er unter den lebenden Archäologen am höchsten stellte („Tel. und Troilos und kein Ende“, S. 3). „Welcker ist“, schrieb er einmal, „eine wirklich productive Natur von genialer Anschauung, der wirklich im Alterthum lebt und die tiefsten, fruchtbarsten Anregungen gegeben hat, mit deren Verarbeitung wir alle jetzt zu thun haben. Wenn man Einzelnes besser macht, hat das nicht viel auf sich, und Gedanken, wie er, hat sonst noch keiner gehabt, außer Bötticher für die Architektur. Ich bin nur eine vermittelnde Persönlichkeit und mache auf eingreifende oder gar bahnbrechende Wirksamkeit nicht entfernt Anspruch, aber wer an seinem Ort das Seinige thut, nützt immer“. In der That bildet Jahn’s ganze Thätigkeit die beste Ergänzung und zugleich die Consolidirung der Welcker’schen. Insofern das Genie wol zündend auf empfängliche Geister wirkt, aber nur methodische Forschung lehrbar ist, hat J. sich durch die Menge seiner unmittelbaren und mittelbaren Schüler ein außerordentliches Verdienst um die Weiterentwickelung einer wissenschaftlichen Archäologie erworben.

Aehnlich verhält es sich mit der Musikwissenschaft. In strenger musikalischer Zucht aufgewachsen, erblickte J. „in der Musik jederzeit eine ebenso ernste Sache, wie in der Philologie“ (Mozart I¹, S. XXI). Seinen eigenen Compositionen wissen Kenner „neben einem feinen Stimmungsgefühl überraschende Beherrschung der musikalischen Formen und technische Satzgewandtheit“ nachzurühmen (Jul. Maier in den Münchener Sitzungsberichten, 1870, I. S. 400). Jahn’s Bedeutung für die vom Dilettantismus so gern heimgesuchte Musikwissenschaft beruht wiederum auf der Durchführung strenger Methode. Auf diplomatisch getreue Wiederherstellung der Musikwerke selbst zielte seine Ausgabe der beiden Leonoren und seine Thätigkeit in der Bachgesellschaft; sein Aufsatz über die Beethovenausgabe klärt in anmuthiger Weise über die Aufgabe der musikalischen Kritik auf (Aufs. über Musik, S. 271 ff.). Nicht minder galt es in der Musikgeschichte ganz neuen Boden zu schaffen. Für Mozart z. B. gab es ja nicht einmal ein vollständiges, geschweige denn ein kritisches Verzeichniß der Werke; die Quellenuntersuchung mußte mühsam mit einem Wuste willkürlicher Ueberlieferungen und grundloser Erfindungen aufräumen. Daher die Ausführlichkeit der ersten Auflage; später gestattete Köchel’s „Verzeichniß“ sich kürzer zu fassen. Das Buch bietet aber nicht blos ein kritisches und mit voller Herrschaft [681] über den Stoff hergestelltes Lebensbild Mozart’s als Menschen und Künstlers, sondern stellt dies Bild auch überall in den Rahmen der Zeitverhältnisse, ja es greift sogar nicht selten noch darüber hinaus (Geschichte der Oper, Entwickelung der Instrumentalmusik). Nicht geringer ist die Bedeutung des Werkes für die ästhetische Kritik; hat man es doch wiederholt als „Kanon praktischer Aesthetik“ bezeichnet. So fern sich J. stets von philosophischen Systemen hielt, so wenig mangelte es ihm an bestimmten ästhetischen Anschauungen. Seine eigene musikalische Schöpferkraft war gerade groß genug, um ihm für die Beurtheilung künstlerischer Production sicheren Anhalt zu bieten. Im Schlußkapitel des vierten Buches des „Mozart“, auf das er viel hielt, legte er sein „Glaubensbekenntniß“ über die Eigenart künstlerischen Schaffens nieder. „Daß es dem einzelnen Menschen verliehen ist, ein Kunstwerk zu schaffen“, äußerte er einmal, „ist der stärkste Beweis dafür, daß ein Theil von uns unsterblich ist; denn das heißt dem Schöpfer gleich ein selbständiges Werk hervorbringen, in dem unvergängliches Leben ist“. Seine klare, jeder Phrase abholde Einsicht bewährt er bei der so schwierigen Analyse der einzelnen Compositionen. Er versucht nicht durch hohe Worte die unmögliche Aufgabe zu lösen, den Eindruck des Musikstückes im Leser hervorzurufen, sondern durch eine Klarlegung derjenigen Punkte, an welche die musikalische Gestaltung ansetzt, und der technischen Mittel, welche der Componist verwendet, eröffnet er den Einblick in den Zusammenhang zwischen Inhalt und Form, in das geheimnißvolle Schaffen des Genius, in das allmähliche Werden des Kunstwerks. Die gleiche Kunst ästhetisch-kritischer Analyse bewährt J. in der Zergliederung der Wagner’schen Musikdramen, hier noch gehoben durch die Wärme der Ueberzeugung, daß es sich dabei um den Verderb der wahren Kunst handle. In der Polemik steht ihm auch ein schlagender Witz, eine feine Ironie zu Gebote, und er versteht es wohl, seinen sonst so einfachen Stil durch passende Citate oder treffende Anekdoten zu würzen. Wo er es mit vorlautem Dilettantismus (Mozart, 1², S. XXX) oder leichtfertiger Behandlung ernster Dinge (Aufs. über Musik, S. 260 ff.) zu thun hat, läßt er es auch nicht an Schärfe fehlen, die sich aber nie gegen die Person richtet, sondern stets einem sittlichen Antheil an der Sache entspringt. Der von ihm gern citirte Spruch des Gewandhaussaales res severa verum gaudium war ihm ganz aus dem Herzen gesprochen.

Der Sinn für psychologische Vertiefung, die schöne Gabe, sich in eine andere Persönlichkeit ganz hineinzuleben und sie mit voller Unparteilichkeit nach ihren Vorzügen und ihren Schwächen zu schildern, machte J. zu einem vorzüglichen Biographen. Außer an Mozart, hat er an Winckelmann und G. Hermann, an Gerhard und L. Roß, an L. Richter und Danzel diese Kunst bewährt, vielleicht an Niemandem liebenswürdiger, als an seinem letztgenannten, früh dahingegangenen Freunde. Mit dem Biographen Lessing’s und mit Sal. Hirzel theilte J. die Neigung für die neuere deutsche Litteratur, besonders für Goethe. Er selbst pflegte sich freilich hierin nur als „Bönhasen“ zu bezeichnen, indessen zeigen alle seine einschlägigen Aufsätze und Ausgaben dieselbe bis ins Kleinste gewissenhafte Arbeitsweise, dieselbe schlichte aber warm empfundene Darstellung, wie seine übrigen Arbeiten. Auch hier springt es in die Augen, daß J. nicht blos mit dem Verstande, sondern mit dem Herzen dabei ist. „Die schwerste Aufgabe (so heißt es Aufs. über Musik, S. 230) erwächst dem Biographen durch seine Pflicht, die Wahrheit zu sagen, und zwar, wie der geschworene Zeuge nichts als die Wahrheit und die volle Wahrheit zu sagen“ (vgl. Mozart, I¹, S. XXXI). Daher empfand er herzliche Freude, wenn es ihm, wie in jenem Falle, gelang einen ihm lieb gewordenen Menschen von einem Verdacht zu reinigen. Es war ihm überhaupt unmöglich, den Künstler oder Gelehrten von [682] dem Menschen zu trennen: die Uebereinstimmung beider hebt er an Nitzsch hervor und preist er an G. Hermann (Biogr. Aufs. S. 95, 120, 148); es machte ihm große Freude, auch in Goethe’s Geschäftsverkehr „den guten, edlen Menschen sich in neuen, eigenthümlich schönen Zügen offenbaren“ zu sehen (Goethe’s Briefe an Voigt, S. VIII).

Außer dem mehr formalen Bande einer überall gleichen Methode, außer dem ethischen Princip der Wahrhaftigkeit, welche „der Kern und Grund seines Wesens“ war (Mommsen, Arch. Ztg. 1869, S. 69), verknüpft noch ein innerliches Princip die so verschiedenartigen Beschäftigungen Jahns, über deren anscheinend disparate Natur er selbst wol gelegentlich scherzte (Kekulé, Welcker, S. 336). Im Mittelpunkt seiner Weltanschauung steht die Kunst. Wie er das Wesen der Kunst für die Archäologie als Grundprincip aufstellt, ebenso spürt er ihr nach in den Zeichnungen des urdeutschen L. Richter, in den Compositionen Mozart’s, Beethoven’s, Mendelssohn’s, in den Meisterwerken der griechischen Tragiker (Popul. Aufs. S. 353 ff.) und in den Poesien Goethe’s, in den rhetorischen Schriften Cicero’s und in Apuleius’ Roman; ja selbst in den römischen Satirikern interessirt ihn neben der reichen Sittenschilderung besonders die Arbeit des Dichters. Alle diese Studien treffen im Kerne zusammen, mehr nur die Schale streifen die rein kritischen Ausgaben (Censorinus, Florus), welche theils dem technischen Interesse, theils äußeren Umständen ihre Entstehung verdanken. Es ist ganz bezeichnend, daß J. in der Rede auf G. Hermann wiederholt gerade dessen künstlerische Natur betont.

Trotz des Vorwaltens einer oft erstaunlichen Gelehrsamkeit besaß J., außer zu Persius und Juvenal und zum Mozart, keinerlei Collectaneen. Er fing immer erst an, einige Notizen zu sammeln, wenn er eine Arbeit demnächst beginnen wollte. So ist z. B. die an Einzelnotizen so überreiche Einleitung in die Vasenkunde ohne alle Vorarbeiten entstanden, jeder Abschnitt frisch aus den Originalquellen gearbeitet. J. verfügte über ein fast untrügliches Gedächtniß und über die Früchte einer von Jugend an geübten, nie ausgesetzten Belesenheit auf den verschiedensten Gebieten. Dabei unterstützte ihn seine mit unverhältnißmäßigem Aufwand gebildete, auf allen Gebieten seiner Forschung ausgezeichnete Bibliothek, ohne welche es ihm unmöglich gewesen wäre, seinen Arbeiten ihre materielle Vollständigkeit und relativ große Genauigkeit zu verleihen. J. nutzte seine Zeit mit großer Energie aus, ohne daß man je den Eindruck gewonnen hätte, daß er mit der Zeit geize. Er stand früh auf und begann sofort mit der Arbeit. Der Vormittag war in der Regel den Vorlesungen und der Vorbereitung dazu gewidmet, der Nachmittag gehörte schriftstellerischer Arbeit, die ihn bis spät in die Nacht am Schreibtisch festhielt. Er fing mit Niederschreiben erst an, wenn er den Gegenstand im Kopfe fertig hatte, schrieb dann aber mit solcher Raschheit, daß er einmal auf kurze Zeit sieben Setzer zugleich mit Manuscript versorgte. In seiner jedesmaligen Arbeit lebte er so vollständig, daß, wenn er darin durch einen Besuch unterbrochen worden war und sich mit dem Gaste nach seiner Art lebhaft unterhalten hatte, er sogleich wieder im Schreiben fortfahren konnte, ohne auch nur den abgebrochenen Satz wieder durchzulesen. Dazu hatte er die seltene Gabe, sehr verschiedene Dinge neben einander treiben zu können: Morgens Archäologie, Nachmittags Musik und am Abend vielleicht Goethe oder etwas Philologisches, das war bei ihm nichts seltenes. Diese Abwechselung mag wol dazu beigetragen haben, ihn trotz des unausgesetzten Arbeitens geistig frisch zu erhalten. Außer den Collegien und der schriftstellerischen Thätigkeit führte J. auch eine sehr ausgebreitete Correspondenz. Alles wandte sich an ihn um Rath und Auskunft, und selten blieb die Antwort aus.

J. war nicht ohne oratorisches Talent, wie er namentlich bei öffentlichen [683] Anlässen bewies. Aber in den Vorlesungen verlief sein Vortrag gleichmäßig in schlichter Natürlichkeit, immer fließend, aber nie rhetorisch, klar und warm, aber ohne starke Accente. Nur wenn er zu ihm besonders sympathischen Gegenständen oder Persönlichkeiten kam (Phidias, Scaliger, Bentley), steigerte sich der Ausdruck der Empfindung. Er richtete seinen Vortrag so ein, daß der nachschreibende Zuhörer zu einer selbstthätigen Redaction genöthigt ward. Den einzelnen Gegenstand liebte er bald durch ein kurzes Streiflicht, bald durch eine weitere Ausführung unter einen allgemeineren Gesichtspunkt zu rücken. In den Interpretatorien sparte er freilich nicht Citate und Verweisungen, legte aber den Hauptnachdruck auf den Zusammenhang und den künstlerischen Charakter des Schriftwerkes. In den historischen und systematischen Collegien (unter denen die Kunstgeschichte, die Geschichte der Philologie und die Kulturgeschichte der nachaugusteischen Zeit besonders geschätzt wurden) ging er sehr langsam vorwärts und kam selbst in mehreren Semestern, selten ans Ende. Er war der Ansicht, daß, während das Seminar den Gebrauch des wissenschaftlichen Handwerkszeuges lehren sollte, es die Aufgabe der Vorlesungen sei, auch den Stoff selbst in einiger Vollständigkeit zu überliefern; gern schilderte er wissenschaftliche Fragen nach dem Gange ihrer allmählichen Entwickelung. Von Polemik hielt er sich, wie meistens in seinen wissenschaftlichen Arbeiten, so auch in den Vorlesungen möglichst frei, und sorgfältig mied er einen pikanten Ton derselben, welcher junge Leute hätte veranlassen können, ohne selbsterworbene Einsicht über fremde Leistungen mit abzusprechen; wo er sich scharf aussprach, galt es einer verkehrten Richtung. Im Seminar stand ihm die wol allzu gewissenhafte Besorgniß im Wege, den Zuhörern fremde Gedanken zu leihen, statt sie zur angemessenen Verarbeitung eigener Gedanken in den Stand zu setzen. So fehlte ihm die glänzende Wirkung, mit welcher Ritschl durch schrittweise Anleitung den Schüler die Wahrheit anscheinend selbst finden zu lassen verstand. Desto mehr wirkte J. durch den persönlichen Verkehr mit den jungen Leuten, den er schon in Kiel eifrig pflegte und dem er namentlich in den ersten Bonner Jahren einen großen Theil seiner Zeit widmete. Leitend und fördernd ging er auf die wissenschaftlichen Interessen eines Jeden ein, war aber auch hier immer ängstlich bedacht, die Individualität des Einzelnen nicht zu stören, seine Selbstbestimmung nicht zu beschränken. Dabei war er, trotz aller Bücherliebhaberei, außerordentlich liberal im Verleihen seiner Schätze, so daß die Studenten „Jahn’s Leihbibliothek“ eifrig gebrauchten und bisweilen auch mißbrauchten. Mehr noch gewann er die Liebe seiner Schüler durch das Eingehen in ihre rein menschlichen Sorgen und Anliegen. Selbst solche, die ihm sonst ferner standen, wandten sich bei kritischen Erlebnissen am Liebsten an seinen Rath und waren sicher, daß es diesem auch nicht an der ergänzenden That fehlte; wie er andererseits mit eindringlichstem Ernst zu mahnen und zu rügen verstand, wo er im Schweigen Gefahr erblickte. Eine Trennung von Wissenschaft und Persönlichkeit war ihm auch in diesen Verhältnissen fremd. „Das ist das Große, was hier gelehrt und gelernt wird (heißt es in den schönen Schlußsätzen seiner Rede über die Universität und die Wissenschaft) in echt wissenschaftlichem Streben und Arbeiten den Geist zu bilden, daß er geschickt sei, die Wahrheit zu erkennen, und den Charakter, daß er tüchtig sei, an der erkannten Wahrheit zu halten und für Recht und Pflicht männlich einzustehen“. Das Pflichtgefühl auszubilden, war ein Hauptgrundsatz seiner Pädagogik, den er jedoch zunächst und zumeist an sich selber ausübte.

Jahn’s Persönlichkeit war so ausgeprägt, daß sie Niemanden gleichgültig lassen konnte. Er hatte manche entschiedene Gegner, aber noch weit mehr anhängliche Freunde und von Herzen zugethane Verehrer. Dem entsprechend war auch er selbst aller Halbheit in persönlichen Dingen fremd. Wo er vertrauen, [684] achten oder gar lieben konnte, gab er sich ganz und voll hin. Wer einmal seine Freundschaft erworben hatte, an dem hielt er fest, so lange jener nicht von ihm ließ; sich in Freunden getäuscht zu haben, war ihm der schwerste, ein unüberwindlicher Schlag. Wo aber jene Grundlagen eines innerlichen Verhältnisses fehlten oder gar sich als trügerisch erwiesen, verzichtete er, unbekümmert, was Andere dazu sagten, lieber auf den Verkehr oder brach ihn ab, als daß er halbe, conventionelle, unklare Verhältnisse fortsetzte. „Eine echte Freundschaft und Liebe“, so bekannte er einmal, „faßt den ganzen Menschen auf, zu dem auch seine Schwächen gehören, und nimmt ihn so in ihr Herz auf, oder sie gibt ihn auf, womit natürlich von Feindschaft und Abneigung nicht die Rede ist“. So erschien er Manchen, die ihn nur oberflächlich kannten oder vor denen er sich abschloß, kühl, während er einer der wärmstempfindenden Menschen war. „Er machte aus jedem reinen Ton, der zu ihm klang, nicht nur Accorde, nein ans Herz klingende Melodien“. Eine besondere Gabe hatte er, in die Interessen von Kindern mit anscheinend vollem Ernst einzugehen. Größerer Geselligkeit abhold, fühlte er sich erfrischt und angeregt im engeren Kreise guter Freunde, den er selbst durch die Lebhaftigkeit seiner Interessen, die Innerlichkeit seiner Ueberzeugungen, das Geistvolle seiner Unterhaltung belebte. Die Verhältnisse, die an ihn neu herantraten, übersah er auf den ersten Blick, und ebenso rasch fand er für seine Gedanken den treffenden Ausdruck. Während er gegen sich selbst in seinen Anforderungen streng bis zur Selbstquälerei war, nahm er jeden Anderen nach seiner Art. Von seinen gesammelten litterarischen Schätzen theilte er Freunden und Schülern neidlos zur Benutzung mit. Freunden gegenüber kannte er überhaupt keine Rücksicht auf sich selbst und scheute vor keinem Opfer zurück. Er war ein geübter und erprobter Krankenpfleger (Biogr. Aufs. S. 210). Wen er lieb hatte, erfuhr bei jedem Anlaß, welch herzlichen Tröster und thatkräftigen Helfer er an ihm hatte. „Bei ihm“, so lautet Welcker’s einfach schönes Zeugniß (Tagebuch, I. S. X), „scheint die Thatfreundschaft noch mehr aus der eigenen guten Natur zu fließen, als der Beachtung des Beispiels der Hellenen oder der Lehren des Aristoteles zu verdanken zu sein“. Man kann sich der schmerzlichen Ueberzeugung nicht verschließen, daß, wenn etwas reichlicherer Sonnenschein in sein Inneres gefallen wäre, sein Leben sich noch weit reicher und auch für ihn selbst befriedigender entwickelt haben würde. So aber „war ihm auf die volle Entfaltung seines Wesens der Preis großer Schmerzen gesetzt, und diesen Preis hat er reichlich bezahlt“ (Lipschitz, Wissenschaft und Staat, S. 4,).

Die hauptsächlichsten Publicationen Jahn’s sind folgende:

A. Philologie: „Palamedes“, Kiel 1836. „Specimen epigraphicum“, ebenda 1841. „Persius cum scholiis“, Leipzig 1843. „Censorinus de die natali“, Berlin 1845. „Cicero’s Brutus, Leipzig 1849 (Berlin 1856, 1865). „Cicero’s Orator“, Leipzig 1851 (Berlin 1859, 1869). „Persius“, kleinere Ausg., Leipzig 1851. „Julius Florus, ebenda 1852. „Periochae de T. Livio et Iulius Obsequens“, ebenda 1853. „Apuleii Psyche et Cupido“, ebenda 1856 (1873). „Pausaniae descriptio arcis Athenarum“, Bonn 1860 (1880). „Sophoclis Electra“, ebenda 1861 (1872). „Platonis symposium“, ebenda 1864 (1875). „De loco Platonis“, ebenda 1866. „Dionysii sive Longini de sublimitate libellus“,ebenda 1867. „Persius Iuvenalis Sulpicia“, Berlin 1868. Dazu Aufsätze in der Zeitschr. für die Alterthumswiss., 1840, 41, 44, in der Allg. Litt.-Zeitg., 1842, im Rhein. Mus., III, IV, VI, IX, X, in den Rhein. Jahrb. 1848, im Litt. Centralbl., 1850–52, in den Berichten der sächs. Ges. 1850, 51, 56, 57, im Philologus, XXVI. XXVIII, im Hermes, II, III. –

B. Archäologie. „Vasenbilder“, Hamb. 1839. „Telephos und Troilos“, Kiel [685] 1841. „Gemälde des Polygnotos“ (Kieler philol. Studien), ebenda 1841. „Pentheus und die Mainaden“, ebenda 1841. „Archäologische Aufsätze“, Greifsw. 1845. „Hellenische Kunst“, ebenda 1846. „Peitho“, ebenda 1846. „Archäologische Beiträge“, Berlin 1847. „Ficoronische Cista“, Leipzig 1852. „Beschreibung der Vasensammlung in München“, München 1854. „Kurze Beschreibung“, ebenda 1854 (1871). „Wandgemälde des Columbariums in der Villa Pamfili“ (baier. Akad.), ebenda 1857. „Tod der Sophoniba“, Bonn. 1859. „Telephos und Troilos und kein Ende“, 1859. „Lauersforter Phalerae“, Bonn 1860. „Darstellungen griechischer Dichter auf Vasenbildern“ (Abh. sächs. Ges.), Leipzig 1861. „Alterthümer aus Vindonissa“, Zürich 1862. „Bemalte Vasen mit Goldschmuck“, Leipzig 1865. „De antiquissimis Minervae simulacris Atticis“, Bonn 1866. „Darstellungen des Handwerks und Handelsverkehrs auf Wandgemälden“ (Abh. sächs. Ges.), Leipzig 1868. „Entführung der Europa“ (Abh. Wiener Akad.), Wien 1869. „Griechische Bilderchroniken“, Bonn 1873. Der Archäologie gehören zum größten Theil an: „Aus der Alterthumswissenschaft, populäre Aufsätze“, Bonn 1868 (meistens aus „Grenzboten“ 1867, 68); außerdem sehr zahlreiche Beiträge zu den Schriften des archäolog. Instituts 1838–43, 1845–48, 1851, 52, 1856–69, zur Zeitschr. für die Alterthumswiss. 1841–44, zur Allg. Litt.-Zeitg. 1842, 43, zur Jen. Litt.-Zeitg. 1843, 1848, zur Archäolog. Zeitg. 1844–69, zum Philologus I. XXVI, XXVII, zu den Rhein. Jahrbb. 1846, 47, 59, 60, 63, zu den Berichten der sächs. Ges. 1847–58, 61, 1867–69, zum Rhein. Mus. VI, zur Allg. Monatsschr. 1853, 54, zu den Nass. Annalen 1859. –

C. Musik. „Ueber Mendelssohn’s Paulus“, Kiel 1842. „W. A. Mozart“, Leipz., 4 Bde. 1856–59 (2 Bde. 1867). Einzelnes im Kieler Wochenblatt 1841, in der Allg. musikal. Zeitg. 1848, 63, besonders in den Grenzboten 1851, 1853–56, 1864, 67. Die meisten kleineren Arbeiten finden sich in „Ges. Aufsätze über Musik“, Leipzig 1866 (nicht darin die Aufsätze über die Leipziger Gewandhausconcerte, Grenzboten, 1854, 55). Ferner: „Leonore, Oper von Beethoven, vollständiger Klavierauszug der zweiten Bearbeitung mit den Abweichungen der ersten“, Leipzig [1851]. Eigene Compositionen für eine Singstimme: „Acht Lieder“, ebenda [1842]. „Acht Lieder, zweite Sammlung“, ebenda [1852]. „Neun Lieder aus Groth’s Quickborn, dritte Sammlung“, ebenda [1856]. „Sieben Lieder desgl., vierte Sammlung“, ebenda [1858]; endlich: „Sieben Lieder für Sopran, Alt, Tenor und Baß“, ebenda [1852]. –

D. Litteraturgeschichte, Biographie etc. „Ueber Goethe’s Iphigenia“, Greifswald 1843. „Winckelmann“, ebenda 1844. „Gottfr. Hermann“, Leipzig 1849. „Goethe’s Briefe an Leipziger Freunde“, ebenda 1849 (1867). „Erinnerung an Danzel“ (Danzel’s ges. Aufs.), ebenda 1854. „Briefe der Frau Rath an ihre lieben Enkeleins“, 1855. „L. Richter“, 1852 (vor G. Wigand’s Richter-Album, 1855, 1861). „L. Uhland“, Bonn 1863. Biographische Einleitung zu „L. Roß’ Erinnerungen und Mittheilungen aus Griechenland“, Berl. 1863. „Ed. Gerhard“ (Gerhard’s akad. Abh., Bd. II), ebenda 1868. „Goethe’s Briefe an Voigt“, Leipz. 1868. Außerdem Einzelnes in den Grenzboten 1852, 55, 68, in der Allg. Monatsschr. 1854, in der 11. Auflage von Brockhaus’ Convers.- Lex. (Arndt, Beethoven, F. G. Welcker). Vieles ist wiederholt in „Biographische Aufsätze“, Leipz. 1866 (zwei Aufl.). Dazu die beiden Reden „Bedeutung und Stellung der Alterthumsstudien in Deutschland“ (Preuß. Jahrb.), Berl. 1859, und „Die Universität und die Wissenschaft“, Bonn 1862. – Vgl. „O. Jahn’s Bibliothek“, I. Griechische und römische Classiker (7631 Nummern); II. Musikalische Bibl. und Musikaliensammlung (2884 Nummern); III. Archäologie [686] (5712 Nummern); IV. Deutsche Litteratur und Kunst (2670 Nummern); V. Vermischtes (3328 Nummern).

Alberti, Lexikon der schleswig-holstein-lauenb. Schriftsteller, I. S. 388 ff. M. Jordan, Daheim, 1870, S. 202 ff. Halm, Bayer. Sitzungsber., 1870, I. S. 395 ff. A. M[ichaelis], Beil. des Preuß. Staats-Anzeigers, 1869, Nr. 249. Springer, Grenzboten, 1869, IV. S. 201 ff. Vahlen, Alm. der Wiener Akad. 1870, S. 33 ff. – Kürzere Nachrufe: Beil. der Allg. Zeitg. 1869, Nr. 264. W. Cart, Le Temps, 1870, 6. Juli. Conze, Kunstchronik, 1869, 18. Novbr. G[umprech]t, Nat.-Zeitg. 1869, 14. Octbr. Hanslick, N. Fr. Presse 1869, 19. Sept. Th. M[ommsen], Arch. Ztg. 1869, S. 95 f.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Palamedes, griechischer Sagenheld
  2. Aulus Persius Flaccus (34–62), oft nur kurz Persius genannt, römischer Dichter etruskischer Abstammung.
  3. Decimus Iunius Iuvenalis, römischer Satirendichter des 1. und 2. Jahrhunderts.
  4. Giulia Grisi (1811–1869), italienische Opernsängerin.
  5. Censorinus, römischer Grammatiker und vielseitiger Schriftsteller im 3. Jahrhundert.