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ADB:Rietz, Julius

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Artikel „Rietz, Julius“ von Moritz Fürstenau in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 28 (1889), S. 603–606, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Rietz,_Julius&oldid=- (Version vom 16. November 2024, 20:41 Uhr UTC)
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Rietz: Julius R. Es war während des Winterhalbjahres 1839–40, als in einem der Gewandhausconcerte zu Leipzig zum erstem Male die Concertouverture eines jungen 28jährigen Componisten aufgeführt wurde. Allgemeiner Beifall ward dem Werke, damals ein Erfolg, der nicht zu unterschätzen war, denn wer einen solchen errang, dem war der Paß für die ganze gebildete musikalische Welt des Continents ausgestellt. Der glückliche Empfänger dieses Passes war Julius R., zu jener Zeit städtischer Musikdirector in Düsseldorf. Robert Schumann schrieb nach der Aufführung in der Leipziger neuen Zeitschrift folgende Beurtheilung von höchster Wichtigkeit für den jungen Componisten: „Sehr bedeutend schien mir die Ouverture, eine durch und durch deutsche, kunstreiche, im Detail noch etwas überladene Arbeit, die nach einmaligem Anhören kaum ganz zu ergründen war; dem Charakter nach eine Orchesternovelle, mit der man eben so gut ein Shakespeare’sches Lust- oder Schauspiel eröffnen könnte. Der Titel (Concertouverture) besagte nichts, ob sie zu einem besonderen Sujet gedacht sei; wie gesagt, wir hätten Verdacht auf Shakespeare. Möchte sie doch bald veröffentlicht [604] werden.“ Doch nicht Schumann allein brach für den Kunstnovizen eine Lanze. Leipzig war damals in der beneidenswerthen Lage, zwei Musiker von Gottes Gnaden zu besitzen, welche der deutschen Nation wie der ganzen gebildeten Welt die herrlichsten Blüthen deutschen Fleißes und Geisteslebens boten: mit Schumann vereint baute damals Felix Mendelssohn-Bartholdy am herrlichen Baue des wahren echten Kunsttempels. Der liebenswürdige Meister war dem jungen Düsseldorfer Musikdirector schon längst ein wahrer Freund und Schützer geworden. Am 22. April 1841 dirigirte Mendelssohn im Gewandhausconcert zu Leipzig seines jungen Freundes Ouverture zu „Hero und Leander“ und dessen seitdem so berühmt und beliebt gewordenen „Schlachtgesang“. Am andern Tage schon schrieb er an R. nach Düsseldorf: „Gestern Abend haben wir Ihre Ouverture zu „Hero und Leander“ und den „Schlachtgesang“, beide mit allgemeinem, lautem Beifall, mit einstimmiger Anerkennung der Musiker und des Publicums aufgeführt. – Ich habe sehr große Freude in allen Proben und der Aufführung daran gehabt; es ist so etwas echt Künstlerisches, so echt Musikalisches in Ihren Orchesterwerken, daß mir beim ersten Tact wohlig wird und daß michs fesselt und interessirt bis zum letzten.“ Mendelssohn wird damals nicht daran gedacht haben, daß der, an welchen er diesen in seinem weiteren Inhalte nicht minder aufmunternden und belehrenden Brief schrieb, bald an dem Platze stehen sollte, dem er in voller Manneskraft durch den Tod so schnell entrissen werden sollte.

Am 1. October 1848 dirigirte Julius R. zum ersten Male das Gewandhausconcert zu Leipzig, nachdem er dorthin schon das Jahr vorher an Stegmayer’s Stelle als Capellmeister an Stadttheater berufen worden war und zur selben Zeit die Leitung der dasigen Singakademie übernommen hatte. Welche Gefühle der Pietät, aber auch männlichen Stolzes mögen den strebsamen Künstler erfüllt haben, als er zum ersten Male an der Stelle stand, welche sein berühmter Meister und Freund fast zehn Jahre lang zum Wohle der Kunst, zum Ruhme Leipzigs eingenommen hatte!

Der Weg bis zu diesem ehrenvolle Ziele war für Julius R. nicht immer eben und glatt gewesen. Geboren zu Berlin am 28. December 1812 als jüngerer Sohn des Bratschisten und königlich preußischen Kammermusikus Johann Friedrich R. († am 25. März 1828), wurde seine früheste musikalische Bildung durch den Vater und den älteren Bruder Eduard gefördert. Letzterer, ein ausgezeichneter Geiger, im Besitze einer universellen Bildung, übte durch diese Eigenschaften, sowie durch edelstes, reinstes Kunststreben, durch echten Mannesmuth und festen Charakter den förderndsten Einfluß auf seine Brüder aus. Sein Andenken wird verklärt durch die sinnige Freundschaft mit Felix Mendelssohn-Bartholdy, der für ihn sein Octett für Streichinstrumente schrieb. Als Eduard R. am 23. Januar 1825 gestorben, übertrug Mendelssohn seine Liebe auf Julius und blieb ihm bis zu seinem Tode ein treuer Freund und Beschützer. Unter den Musikern Berlins nahm sich Zelter des jungen Künstlers an und unterwies ihn in der Theorie; im Violoncellspiel unterrichteten ihn Kammermusikus Schmidt, Bernhard Romberg und kurze Zeit auch Moritz Ganz. Gezwungen durch den frühzeitigen Tod des Vaters, mußte sich R. schon im zarten Jünglingsalter nach Erwerb umsehen, und so finden wir ihn denn bereits im 16. Lebensjahre als Violoncellist im Orchester des Königstädter Theaters angestellt. Bald darauf versuchte er sich zuerst als Componist; seine Musik zu Holtei’s „Lorbeerbaum und Bettelstab“ ward beifällig aufgenommen. Im J. 1834 berief ihn Mendelssohn, der damals als städtischer Musikdirector in Düsseldorf lebte, gleichfalls dorthin, um ihn als Musikdirector bei dem von Immermann gegründeten Theater zu verwenden. Bekanntlich trennte sich Mendelssohn bald von Letzterem, [605] und R. übernahm nun die alleinige Leitung der Opern. Nach Mendelssohn’s gänzlichem Weggange von Düsseldorf, welcher im nächsten Jahre, kurz vor Auflösung des Theaters erfolgte, legte auch R. seine Stelle nieder (1836) und übernahm in dem jugendlichen Alter von 25 Jahren den Posten als städtischer Musikdirector daselbst. Von da an stieg die Lebenswage des jungen Mannes. Das frische, geistig belebte Künstlerleben in Düsseldorf, die liebenswürdige Leichtlebigkeit des Rheinländers, die sagen- und poesievolle Färbung des herrlichen deutschen Stromgebietes regten seine Productionskraft ungemein an. In Düsseldorf entstanden jene beiden Ouvertüren, welche im Eingang dieser biographischen Skizze erwähnt sind, sowie die Lustspielouvertüre und viele andere seiner besten Compositionen, darunter die begleitende Musik zu Immermann’s Bearbeitungen von classischen Stücken, z. B. zu Goethe’s „Faust“, Calderon’s „Richter von Zalamea“ und Tieck’s „Blaubart“. Ferner eine Lustspielouverture, der altdeutsche Schlachtgesang und die Dithyrambe von Schiller (beide für Männerchor und Orchester), die G-moll-Sinfonie, viele Lieder, sechs Psalmen für eine Altstimme u. s. w. In Düsseldorf auch bildete sich in der Leitung der städtischen Concerte und einiger niederrheinischer Musikfeste sein bedeutendes Directionstalent aus. Daneben trat er auch noch als Violoncellvirtuos auf; man rühmte seinen „vollen kräftigen und elastischen Ton, sein geist- und gemüthvolles, echt künstlerisches Spiel“.

Ungern sah man am Rhein den geistvollen und kunstgebildeten Musiker nach Leipzig ziehen. Dort wußte R. bald feste Position in den musikalischen Kreisen zu fassen, nach Mendelssohn’s Vorgange keine gar zu leichte Aufgabe. In den Jahren 1852 und 1853 führte er das Capellmeisteramt am Theater allein fort; das Jahr darauf gab er dasselbe ganz auf und widmete seine Thätigkeit dem Gewandhause und der Singakademie, zugleich als Lehrer der Compostion im Conservatorium für Musik wirkend. Auch als solcher erlebte er Freude und Erfolg. Unter seinen Schülern sind zu nennen: Normann, Capellmeister in Stockholm, Levi, Capellmeister in München, Bargiel, Lehrer an der Hochschule für Musik in Berlin, Nicolai, Director des Conservatoriums im Haag, Rudorff, Professor an der Hochschule für Musik in Berlin, v. Sahr, jetzt in München lebend, Eichberg, Director des Conservatoriums in Boston, Franz v. Holstein und viele Andere. R. fand, wie am Rhein, so auch in Leipzig viel Anregung. Frohe Tage verlebte er im Kreise hochgebildeter Kunstgenossen und Freunde. Hauptmann, David, Moscheles, Schleinitz, Petschke, Raimund und Hermann Härtel bildeten einen Kreis, der ihn zu reicher Thätigkeit und frischen Schaffen anfeuerte. 1850 brachte R. in Leipzig seine Oper „Der Corsar“ zur Aufführung; 1859 folgte in Weimar die einactige Oper „Georg Neumark und die Gambe“ von Pasqué. Außerdem schrieb er die Sinfonie in Es, eine Festouverture zur Schillerfeier, das Lied vom Wein, Concertstücke für Violine, Violoncell, Oboe und Clarinette, viele Lieder, Männergesänge u. s. w. Auch seine segensreiche kritische Thätigkeit begann R. in Leipzig als Mitglied der Bach- und Händel-Gesellschaften, sowie als Herausgeber von zwölf Sinfonien von Haydn und zwölf Concertarien von Mozart.

Im Februar des Jahres 1860 ward R. an Reissiger’s Stelle als königl. sächsischer Capellmeister nach Dresden berufen und übernahm 1862 auch die artistische Direction des unter dem Protectorate des Kronprinzen Albert stehenden Conservatoriums für Musik. König Johann von Sachsen ernannte ihn 1874 bei seinem 40jährigen Dirigentenjubiläum zum königlich sächsischen Generalmusikdirector. Am 1. October 1877 sollte er in den wohlverdienten Ruhestand treten, allein der Tod rief ihn bereits am 12. September 1877 ab. R. war [606] Ritter des königlich sächsischen Albrecht- und des schwedischen Nordsternordens. Außerdem war er Ehrenmitglied mehrerer musikalischer Akademien (Berlin, Stockholm), Gesangsvereine u. s. w. Ein angestrengter amtlicher Wirkungskreis und eine bewundernswerth fleißige kritische Thätigkeit hat ihn in Dresden nicht zu so reicher Production kommen lassen wie in Düsseldorf und Leipzig. Einige sehr gelungene Gelegenheitscompositionen abgerechnet, sind besonders zu erwähnen eine große Messe in F-dur, ein Te Deum für Männerchor und Blechinstrumente zum Dresdener Sängerfeste 1865 und eine Hymne „Das große deutsche Vaterland“ von J. Pabst, für Baßsolo componirt während der Auferstehung des deutschen Volkes im J. 1870. In seinen letzten Lebensjahren hatte der Meister bei etwas mäßiger gewordener Amtsthätigkeit wieder mehr Muße gefunden und Mancherlei geschaffen, so eine Sonate für Pianoforte und Violine, eine desgleichen für Pianoforte und Flöte, eine Festouvertüre zur goldenen Hochzeitsfeier des sächsischen Königspaares und vieles Andere. Zum großen Theil ward der treffliche Künstler in seiner dienstfreien Zeit von der kritischen Redaction der Beethovenausgabe (neun Sinfonien, zehn Ouvertüren, sowie alle übrigen Orchesterwerke und Gesangssachen mit Orchester) und der Partiturausgabe der Mozart’schen Opern bei Breitkopf & Härtel in Leipzig in Anspruch genommen. Es sind dies unvergängliche Denkmäler deutschen Fleißes, deutscher Pietät und einer umfassenden musikalisch-philologischen Bildung. Otto Jahn hatte Recht, als er von seinem Freunde R. sagte, „daß in ihm ein Philolog verloren gegangen ist, was sehr zu bedauern sein würde, wenn er nicht Musiker geworden wäre“.

Als Componist erscheint R. als Schüler und Jünger Mendelssohn’s, ohne sich jedoch in erfindungslose, sklavische Nachahmung zu verlieren. Im Besitze vollständiger Beherrschung aller Formen und Kunstmittel, wußte er aus jeder seiner bedeutenderen Compostionen ein Product einer durchempfundenen, selbsterlebten Seelenstimmung zu machen, so daß dieselben deshalb sämmtlich als wahr und tiefgefühlt erscheinen. Viele seiner Schöpfungen sind völlig populär geworden, worunter die Concertouvertüren, die Lustspielouvertüren, der „Schlachtgesang“, die „Dithyrambe“ Schiller’s, das „Lied vom Wein“ und andere zu rechnen sind. R. stand mit vollem Mannes- und Künstlerbewußtsein auf „classischem Boden“, ohne jedoch in starrer Abgeschlossenheit sich den Schöpfungen der Gegenwart zu verschließen; dafür sprechen die Programme der Concerte, welche er in Düsseldorf, Leipzig und Dresden dirigirte; dafür spricht seine Thätigkeit als Operndirigent, insbesondere in der sächsischen Residenz, wo er Wagner’s „Tannhäuser“, „Fliegenden Holländer“ und die „Meistersinger“ mit gewissenhafter Objectivität und entschiedenem Interesse leitete. Charakteristisch bezeichnet das Ehrendoctordiplom der Universität Leipzig (1859) ihn als Mann, „dessen Streben in der Theorie wie in der Praxis, im selbständigen Schaffen wie im Leiten der Ausführung fremder Tonwerke unverrückt dem Hohen und Schönen zugewandt ist und sich dem Echten in jeder Kunst ebenbürtige Ziele setzt“.

Vgl. meinen Artikel in Gartenlaube 1872, Nr. 50.