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ADB:Bach, Johann Sebastian

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Artikel „Bach, Johann Sebastian“ von Rochus von Liliencron, Wilhelm Heinrich Riehl in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 1 (1875), S. 729–743, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Bach,_Johann_Sebastian&oldid=- (Version vom 14. Oktober 2024, 17:24 Uhr UTC)
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Bach: Johann Sebastian B., Tonkünstler, getauft zu Eisenach den 23. März a. St. (2. April n. St.) 1685, † zu Leipzig 28. Juli 1750. Die Familie Bach läßt sich seit dem Ende des 16. Jahrh. in Thüringen nachweisen und verbreitete sich, von der Arnstädter Gegend ausgehend, in einer unübersehbaren Reihe von Musikern, die als Spielleute, Organisten oder Cantoren in Thüringen und Franken begegnen. Ihr ältester nachweisbarer Vorfahre ist der Müller und Bäcker Veit Bach aus Wechmar zwischen Gotha und Dietendorf [730] (nahe südlich der jetzigen Eisenbahn), † 1619. Von dem jüngeren seiner Söhne (vielleicht Namens Lips) stammte eine Reihe von fränkischen Musikern ab, unter denen der in seinen Werken von Joh. Sebast. sehr geschätzte meiningische Capelldirector Johann Ludwig B., geb. 1677, † 1741, hervorragt und die mit eben dessen Enkel, dem meiningischen Hoforganisten Johann Philipp B., 1846 ausstarb. – Veit’s älterer Sohn, der Spielmann und Teppichflechter Hans, † zu Wechmar 1626, wurde durch 3 Söhne, Johann, Christoph und Heinrich, der Stammvater dreier Linien, deren mittlerer Johann Sebastian angehört. 1) Johann, geb. 1604, starb als Director der Erfurter Rathsmusik 1673. Seine Nachkommen setzten sich hier im Pfeiferdienst so fest, daß man die Stadtmusiker noch 18. Jahrh., obwol kein Bach mehr darunter war, die „Bache“ nannte. Andere Glieder dieses Zweiges wirkten zu Eisenach, Gehren, Sondershausen, Quedlinburg, Weimar u. s. f. Zu ihnen gehört als einer der bedeutendsten Johann Bernhard, geb. 1676, † 1749 als Organist und Kammermusiker des Herzogs Johann Wilhelm zu Eisenach; ein begabter Zögling Pachelbelscher Schule, von dem wir noch einige Orchestersuiten, Clavierstücke und Choralbearbeitungen besitzen. Nachkommen von ihm leben noch in Eisenach, Weimar und Meiningen (die Clavierspielerin Fanny B.). – 2) Christoph, geb. 1613 zu Wechmar, † 1661 als gräfl. Schwarzburgischer Hof- und Stadtmusicus zu Arnstadt. Durch seinen ältesten Sohn Christoph, der 1697 als Cantor zu Schweinfurt starb, verzweigte sich die Familie dorthin und blühte in Franken bis in die 2te Hälfte des 18. Jahrhunderts. Diesem ältesten folgte ein Zwillingspaar, geb. 22. Febr. 1645, von denen Joh. Christoph am 25. Aug. 1693 als Hofmusicus zu Arnstadt starb, seine Nachkommenschaft erlischt in der Generation der Enkel. Der andere Zwilling aber, Ambrosius, Joh. Sebastians Vater, trat 1667 in die Erfurter Rathscompagnie als Stadtpfeifer ein, siedelte 1671 als Hof- und Rathsmusicus nach Eisenach über und ist dort schon im Januar 1695 gestorben. Die noch blühenden Nachkommen seines ältesten überlebenden Sohnes Joh. Christoph, geb. 1671, † 1721 als Organist zu Ohrdruff, setzten sich hier im Cantoren- und Schuldienst fest. Dessen Bruder Johann Jakob, geb. 1682, trat 1704 als Hautboist in die Garde Karls XII. von Schweden, den er bis Bender begleitete; von da kehrte er über Konstantinopel nach Stockholm zurück und starb hier 1722 als Hofmusicus. Der jüngste der den Vater überlebenden Brüder war Johann Sebastian, dessen männliche Nachkommenschaft mit seinem Enkel dem kgl. preuß. Capellmeister Wilhelm Friedr. Ernst, einem Sohne Joh. Christophs, ausgestorben ist. – 3) Heinrich, der jüngste Sohn des Stammvaters Hans, geb. 1615, † 1692 als Organist zu Arnstadt, war als Orgelspieler und Componist zu seiner Zeit sehr geschätzt. Berühmter aber noch sind seine beiden Söhne Joh. Christoph und Joh. Michael (s. d.), nächst Sebastian die größten Sprossen des Hauses. Des ersteren Sohn war der 1753 in Jena verstorbene Universitäts-Organist Joh. Nicolaus, nicht unbekannt als Componist, Orgelspieler und Claviermacher. Dieser ganze dritte Zweig erlosch im vorigen Jahrhundert.

Joh. Sebastian, dessen Genealogie in einem merkwürdigen Bilde zeigt, wie aus lange gepflegter Anlage eine breite Fülle des Talentes und aus diesem als höchste Frucht der gewaltige Genius emporblüht, erhielt seine erste musikalische Entwickelung innerhalb der Familientradition. Nach des Vaters frühem Tode nahm ihn der ältere Bruder Christoph zu sich nach Ohrdruff, wo er auch das Lyceum besuchte. Aber schon 1700 erhielt er, durch seine schöne Stimme und musikalische Bildung empfohlen, ein Alumnat beim Sängerchor der Michaelskirche in Lüneburg, deren Kirchenbibliothek ihm für das Studium der älteren wie lebenden Meister reiche Schätze bot. Hauptsächlich durch eigenes Studium [731] solcher Werke erlernte er die Composition. Einen persönlichen Einfluß scheint Georg Böhm (s. d.), der Cantor der dortigen Johanniskirche auf ihn geübt zu haben. Auch dessen Lehrer, den Hamburger Reinken, besuchte B. auf einer Ferienreise und zugleich wol auch Vincenz Lübeck, den Organisten der Nicolaikirche zu Hamburg; beide waren damals geschätzte Meister. Das öfters von ihm besuchte Celle bot daneben Gelegenheit, die am dortigen Hofe eifrig gepflegte französische Instrumentalmusik kennen zu lernen. Zugleich wird B. die Prima des Michaelsgymnasiums durchgemacht haben. Ostern 1703 erhielt er als Violinist die Stelle eines Hofmusicus zu Weimar bei Johann Ernst, dem Bruder des regierenden Herzogs; aber schon im Sommer dieses Jahres ward er zum Organist an der „neuen Kirche“ in Arnstadt gewählt. Am gräfl. Schwarzburgischen Hofe zu Arnstadt ward die Musik eifrig gepflegt; es gab sogar nach braunschweigischem Vorbild (die Gräfin war nämlich eine Tochter Anton Ulrichs von Braunschweig) ein Theater, auf dem freilich nur die Bürger spielten und sangen. – Von B. sind uns einzelne Jugendarbeiten aus dieser Periode erhalten. Im Herbst 1705 unternahm er eine Wanderung nach Lübeck, um daselbst den Organisten Buxtehude (s. d.) kennen zu lernen. Gefesselt von dem berühmten Meister kehrte er mit langer Ueberschreitung seines Urlaubs, was nicht ohne Verdrießlichkeit für ihn ablief, erst im Februar 1706 heim. Im J. 1707 folgte er einem Rufe nach Mühlhausen als Organist an der Blasiuskirche, indem er sich zugleich am 17. Oct. dess. J. mit seiner Base Maria Barbara, einer am 20. Oct. 1684 zu Gehren geb. Tochter Michael Bach’s, verheirathete. Doch fühlte er sich in Mühlhausen nicht lange wohl und folgte schon 1708 einer Berufung nach Weimar als Hoforganist. Zugleich auch Kammermusicus, rückte er 1714 zum Concertmeister auf. Mit Joh. Gottfr. Walther, dem Verfasser des Musikal. Lexikons, damals Organist an der Weimarer Stadtkirche, trat B. in ein freundschaftliches Verhältniß; doch scheint später zwischen beiden Männern wieder eine Entfremdung eingetreten zu sein. – Bach’s Thätigkeit in Weimar war hauptsächlich der Orgel und Kirchenmusik zugewandt. Von hier aus begann sein Ruf als Orgelmeister, Geiger und Componist zuerst sich weiter hinaus zu verbreiten. Eine Reihe von Choralbearbeitungen und freien Orgelcompositionen, als Präludien, Fugen, Toccaten etc. gehören dieser Periode an. Wir finden ihn mit dem Studium der Orgelcompositionen Frescobaldi’s und Giov. Legrenzi’s beschäftigt, aus letzteren verarbeitete er Themen in seiner Weise. Ebenso aus den Violinsonaten Corelli’s und Albinoni’s und drei Vivaldi’sche Violinconcerte übertrug er für Orgel und Cembalo. Ueberhaupt läßt sich ein selbständig verarbeiteter Einfluß der italienischen Concertform bei ihm nachweisen. Seit 1712 aber wandte er sich hauptsächlich den Cantaten zu, deren er bis dahin, wie es scheint, nur 3 schrieb, darunter der berühmte Actus tragicus „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“. Erdmann Neumeister (s. d.), der eigentliche Schöpfer dieser Gattung, hatte eine erste Sammlung von Texten zu Kirchen-Cantaten (unter der weltlichen italien. cantata verstand man damals dramatische Scenen für eine oder mehre Solostimmen, daher auch der wol vorkommende deutsche Name „Gesprächspiel“) auf alle Sonn- und Festtage des Jahres, zunächst für den weißenfelsischen Capellmeister Joh. Phil. Krieger bestimmt, 1700 herausgegeben; bis 1716 ließ er, bald von allen Seiten um dergleichen Dichtungen angegangen, noch 4 Jahrgänge folgen, deren zweiten zuerst Erlebach in Rudolstadt, den dritten Telemann in Eisenach in Musik setzte. In der Kirche erhob sich gegen diese Neuerung ein erbitterter Kampf nicht nur von pietistischer Seite, sondern auch, obwol Neumeister selbst ein rüstiger Vorkämpfer der Orthodoxie war, von seinen eigenen Parteigenossen und nicht minder seitens der Musiker alter Schule, wie Buttstedt. Man erblickte darin eine der Kirchlichkeit schädliche Uebertragung [732] aus dem Gebiet der Opernmusik. In der That hat erst Bach die fremde Form mit dem höchsten kirchlichen Inhalt und Geist erfüllt, indem er dabei von seinem Orgelstil ausging. Als 1715 auf des Herzogs Befehl Salomo Frank, Secretär des Oberconsistoriums zu Weimar, († 1725), drei Jahrgänge solcher Cantaten für die dortige Capelle dichtete, mußte an ihrer Composition auch B. sich betheiligen. Ins Jahr 1714 fällt – wol nebst noch einer anderen – die Cantate „Ich hatte viel Bekümmerniß“; aus dem Jahrgange 1715-16 sind 9, aus dem folgenden nur 2 Bach’sche Compositionen vorhanden. Dem J. 1716 gehört auch die zum Geburtstag des Herzogs Christian von Sachsen Weißenfels verfaßte dramatische allegorische „Jagdcantate“ an, aus welcher die bekannte Arie „Mein gläubiges Herze“ und noch eine zweite Nummer später in der Pfingstcantate „Also hat Gott die Welt geliebt“ geistlich umgearbeitet sind. In diese spätere Weimaraner Zeit fällt neben anderen Orgelcompositionen noch der berühmte Passacaglio in C-moll. – In den Herbstferien pflegte B. Kunstreisen zu machen; nach Cassel (vor 1714); 1713 nach Halle, 1714 nach Leipzig, 1716 wieder nach Halle, wo ihm und Kuhnau die Prüfung einer neuen Orgel übertragen war; wol auch nach Meiningen zu Joh. Ludwig Bach (s. oben), 1717 nach Dresden. Hier ließ eben damals der bewunderte französische Clavier- und Orgelspieler Marchand hören, der sich aber der Herausforderung Bach’s zu einem musikalischen Wettstreit durch rasche Abreise entzog. – Schon führte auch Bach’s wachsende Berühmtheit ihm einen immer größeren Kreis von Schülern zu; wir nennen aus dieser Zeit Joh. Mart. Schubart, Joh. Caspar Vogler, Joh. Tobias Krebs und Joh. Gottl. Ziegler.

Im November 1717 ward B. von dem musikverständigen jungen Fürsten Leopold von Anhalt-Cöthen dorthin als Capellmeister berufen. Da hier der ganze Schwerpunkt seiner dienstlichen Wirksamkeit in der Instrumental- und Kammermusik lag, so wandte jetzt auch sein Schaffen sich überwiegend dieser Gattung der Musik zu. Während die Toccaten Fis-moll und C-moll und die bekannte 3stimmige A-moll Fuge für Clavier wol schon der weimarschen Zeit angehören, entstanden jetzt z. B. die Inventionen und Sinfonien, die „französ. Suiten“ und der erste Theil des „Wohltemperirten Claviers“ (1722). Einzelne Stücke dieses großen Werkes zwar sind älteren Ursprungs; die allermeisten aber scheinen auf einmal in rascher Folge geschaffen zu sein. Ferner für Solo-Geige die 3 Sonaten (deren eine, A-moll, in D-moll für Clavier arrangirt ist) und die 3 Suiten oder Partien mit der berühmten Ciacona; wol auch das Suitenartige Trio in A-dur. Ferner die 6 Suiten für Solovioloncell, deren eine in D-dur eigentlich für die von B. erfundene Viola pomposa geschrieben ward. Ferner die 6 Sonaten für Geige mit (obligatem) Clavier; die 3 Sonaten für Gambe und Clavier und die 3 Sonaten für Flöte und Clavier. Ferner die Violinconcerte E-dur, A-moll, D-moll und zwei andere, die wir nur in einer Ueberarbeitung aus der Leipziger Zeit als Clavierconcerte kennen. Endlich auch die berühmten 6 „Brandenburger Concerte“, so genannt, weil sie (1721) dem Markgrafen Christian Ludwig v. Brandenburg dedicirt wurden, als „concerts avec plusieurs instruments“. Es sind z. Th. sogenannte concerti grossi, in denen dem Tutti nícht ein, sondern mehre Soloinstrumente gegenüberstanden; z. Th. aber sind es (eine Bach’sche Fortbildung dieser Gattung) Orchesterstücke in Concertform ohne Soloinstrumente.

Für das Clavierspiel, in welchem B. ein nicht minder großer Meister war, wie auf Orgel und Geige, entwickelte er eine neue Technik in Handhaltung und Anschlag und einen eigenthümlichen Fingersatz. Auch war er es, der die temperirte Stimmung, mit der sich schon Andere, wie Werkmeister und J. G. Neidhardt theoretisch beschäftigt hatten, zuerst vermöge einer neuen Stimmmethode [733] praktisch ausführte. Mit der Verbesserung des Instrumentes beschäftigte er sich überhaupt; so suchte er in dem, nach seiner Erfindung später ausgeführten Lautenclavicymbel der Kürze des Tones durch Einfügung von Darmsaiten abzuhelfen. Die schon erwähnte Viola pomposa ist ein als Bratsche gespieltes, zwischen Bratsche und Violoncell stehendes fünfsaitiges Instrument.

Das äußere Leben in Cöthen ward nur durch einige Reisen unterbrochen: nach Karlsbad, wohin er mehrmals seinen Fürsten begleiten mußte; nach Leipzig, wo er 1717 die Orgel der Paulinerkirche zu prüfen hatte; nach Halle, wo er 1719 Händel’s Bekanntschaft zu machen suchte, der aber eben am Tage seiner Ankunft wieder nach England abgereist war. Noch einmal 1729 von Leipzig aus hat B. sich um Händel vergebens bemüht. Dieser war wieder damals auf der Heimreise von Italien bei seiner leidenden und erblindeten Mutter in Halle. Selbst durch Krankheit eben ans Haus gefesselt, schickte B. seinen Sohn Friedemann hinüber, um Händel zu sich einzuladen. Händel aber entschuldigte sich. Mag immerhin die geschäftliche Nöthigung zur eiligen Rückkehr nach London und der Wunsch, der kranken Mutter die Tage nicht zu entziehen, der Grund hiezu gewesen sein; jedenfalls fühlte Händel nicht den gleichen Drang, wie Bach, seinen großen Kunstgenossen persönlich kennen zu lernen. – Im Spätherbst 1720 ging B. nach Hamburg, wo er mit dem greisen Reinken und Matheson verkehrte, sich auch ohne Erfolg um die eben erledigte Organistenstelle an der Jacobikirche bewarb, an welcher Erdm. Neumeister Prediger war. Nicht lange vorher aber, während B. noch mit dem Fürsten auf der Rückreise von Karlsbad war, war ihm am 7. Juli 1720 die innig geliebte Gattin durch einen plötzlichen Tod entrissen worden. Den Sarg der Mutter umstanden 4 Kinder (drei andere waren früh gestorben): Katharina Dorothea, geb. 1708, unvermählt gestorben; Wilhelm Friedemann, geb. 1710, Karl Philipp Emanuel, geb. 1714 (s. d.) und Joh. Gottfr. Bernhard geb. 11. Mai 1715 und † in Jena 1739. – Schon im September 1721 war der lebenskräftige Mann wieder verlobt mit der fürstlichen Sängerin Anna Magdalena Wilken, der Tochter eines ihm altbefreundeten Hof- und Feldtrompeters zu Weißenfels, und verheirathete sich mit ihr am 3. Dec. Sie war eine musikalisch tüchtig gebildete Frau, die dem Gatten aufs neue ein dauerndes schönes eheliches Glück bereitete.

Im Mai 1723 entschloß sich B., seiner tiefen Neigung zur Kirchenmusik folgend, die nach Kuhnau’s Tode (1722) an ihn ergangene Berufung zum Cantor der Thomaskirche in Leipzig anzunehmen. Er blieb jedoch daneben cöthenscher „Capellmeister von Haus aus“. Den ersten Geburtstag der zweiten Gemahlin seines fürstlichen Herrn feierte er 1726 mit der Cantate „Steigt freudig in die Luft“ und zur Leichenfeier des schon 1728 verstorbenen Fürsten schrieb er eine, leider seit 1819 verlorene Trauermusik. Als Cantor an der Thomaskirche war er zu gleicher Zeit Musikdirector an der Thomas- und Nicolaikirche. Der seiner Leitung und Lehre unterstellte Chor bestand damals aus 55 Alumnen. B. erhielt später auch den Titel eines sächsisch-weißenfelsischen Capellmeisters und am 19. Nov. 1736 auf seinen schon 1733 und am 27. Sept. 1736 wiederholten Wunsch den eines königl. polnischen und kurfürstl. sächsischen Hofcompositeurs. Am 1. Trinitatis (30. Mai) 1723 führte er seine erste Kirchenmusik in Leipzig aus. Natürlich wandte nun auch sein Schaffen sich wieder vorzüglich der gottesdienstlichen Musik zu: jetzt schuf er, und zwar bis in das letzte Jahrzehnt seines Lebens, die meisten Kirchen-Cantaten, deren er nach Angabe des Mizlerschen Nekrologs im Ganzen 5 Jahrgänge für alle Sonn- und Festtage geschrieben hat. Bekannt sind uns davon bisher nur 226 geblieben. Dazu kommt noch eine Anzahl Motetten, d. h. Chorgesänge a capella oder doch vom Orchester nur im Einklang mit den Stimmen begleitet. Es sind uns deren bis [734] jetzt 6 oder 7 bekannt. Für das Osterfest schrieb er 5 Passionsmusiken, von denen wir aber nur die Johannis- und die große Matthäuspassion kennen. Letztere ward 1729 beim Nachmittagsgottesdienst des Charfreitags zum ersten Mal aufgeführt. Ihren Text hat der Leipziger Gelegenheitsdichter Picander (Christ. Friedr. Henrici) von dem auch viel andere der Bach’schen Texte herrühren, verfaßt, wol unter Bach’s eigener Mitwirkung namentlich in Betreff der eingelegten Choräle. Auch ein „Oper-Oratorium“ („Kommt, eilet und laufet, ihr flüchtigen Füße“) ist noch hierher zu rechnen und das Himmelfahrts-Oratorium (B.-G. II. Nr. 11). 1734 endlich ward der Cyclus der gottesdienstlichen Musiken durch das herrliche Weihnachtsoratorium vollendet; von wem die den biblischen Textworten desselben eingefügten Verse herrühren, ist nicht bekannt. Uebrigens sind auch einige Missae breves (d. h. solche, die nur aus Kyrie und Gloria bestehen) und ebenso auch das große Magnificat, über dessen Entstehung wir nichts näheres wissen, für die protestantische Kirche bestimmt, Die „Hohe Messe“ H-moll dagegen, obwol auf Grundlage einer dem Könige 1733 gewidmeten missa brevis entstanden, scheint schon um der Breite der Ausführung willen überhaupt nicht für den gottesdienstlichen Gebrauch berechnet zu sein. – Daneben entstanden dann noch manche nicht-kirchliche Cantaten, darunter auch einige komischen Inhaltes, wie die Bauern- und die Kaffeecantate. 1727, bei dem Tode der Königin Christiane Eberhardine, verfaßte B. eine Trauermusik, deren Text Gottsched’s Ode „Laß, Fürstin, laß noch einen Strahl“ bildet. Nach der polnischen Wahl Friedrich Augusts II. feierte er den ersten Geburtstag der neuen Königin (8. Dec. 1733) durch das Drama per musica „Der Königin zu Ehren“; der Anwesenheit des Königs in Leipzig am 5. Oct. 1734 galt die in 3 Tagen geschriebene Cantata gratulatoria in adventum regis „Preise dein Glücke gesegnetes Sachsen“. Aus der großen Zahl seiner sonstigen Arbeiten dieser Periode heben wir endlich nur noch Einzelnes hervor. Der 2te Theil des „Wohltemperirten Claviers“ trägt die Jahreszahl 1744. Die beiden Tripelconcerte D-moll und G-dur, welche B. ohne Zweifel für sich und seine beiden ältesten Söhne schrieb, müssen danach vor 1733, wo Friedemann das älterliche Haus verließ, geschrieben sein. Auch das Concert A-moll für 4 Flügel, welches Ueberarbeitung eines Vivaldi’schen Violinconcertes ist, gehört wol der Leipziger Zeit an; während die in ihren Formen viel einfacheren Concerte G-dur und G-moll für 2 Flügel jedenfalls älter sind. Der erste Theil der „Clavierübung“ (6 zwischen 1726 und 1730 schon einzeln veröffentlichte Partiten) erschien 1731; der zweite Theil (das sog. italienische Concert und die H-moll-Suite) um 1735; um 1739 erschien der dritte mit Vorspielen über die Katechismus- und andere Gesänge für die Orgel, um 1742 der vierte Theil mit den 30 sog. „Goldberger’schen“ Variationen, geschrieben für den Grafen Kaiserlingk, der den in seinen Diensten stehenden jungen Goldberg bei B. unterrichten ließ. Endlich erwähnen wir noch die 6 großen „Englischen“ Suiten, so genannt nur, weil sie (aber erst nach Bach’s Tode) zuerst in London erschienen. Gedruckt ist überhaupt außer den zuletzt genannten Werken zu des Verfassers Lebzeiten nur sehr weniges; dahin gehören 6 Choräle für 2 Manuale und Pedal, erschienen bei G. Schübler zu Zella am Thüringer Walde; Kanonische Veränderungen über das Weihnachtslied „Vom Himmel hoch da komm ich her“ für 2 Manuale und Pedal, Nürnberg bei Balthasar Schmidt, und das gleich zu erwähnende „Musikalische Opfer“. Sein letztes Werk ist die 1749 für Studienzwecke geschriebene „Kunst der Fuge“, bestehend in 21 über dasselbe Thema gearbeiteten Stücken. Dem letzten davon ist ein Nebenthema auf die Noten b a c h eingewoben; aber über der Arbeit versagten die längst leidenden Augen dem Meister den Dienst; er mußte es unvollendet liegen lassen.

[735] Als seine bedeutendsten Schüler dieser späteren Zeit nennen wir Karl Frdr. Abel, Joh. Friedr. Agricola, Altnikol (Bach’s Schwiegersohn), J. Fr. Doles, Heinr. Ric. Gerber (Vater des Lexikographen), Goldberg, Gottfr. Aug. Homilius, Joh. Phil. Kirnberger, Joh. Christ. Kittel, Joh. Ludw. Krebs, Joh. Gottfr. Müthel, Joh. Schneider und Christoph Transchel.

Das äußere Leben verlief inzwischen stille und einförmig. In dienstlichen Beziehungen war es mitunter durch Reibungen mit der Behörde getrübt, wobei der sonst in hohem Maaße bescheidene und schlichte Mann von einiger Eigenwilligkeit und Heftigkeit nicht freizusprechen ist. Wenn freilich der Rath ihn einmal durch Kürzung an seinen Bezügen strafte, weil er dem Thomaschor nicht die nöthige Sorgfalt widme, so gewährt das heute angesichts der das Maaß des Begreiflichen fast übersteigenden Thätigkeit und der nie zu ermüdenden Arbeitskraft Bach’s einen fast komischen Eindruck. Nach Dresden machte er, namentlich seitdem sein Sohn Friedemann dort Organist an der Sophienkirche geworden, öftere Reisen, liebte es auch, die unter Hasse dort blühende italienische Oper zu besuchen, wie denn auch Hasse und seine berühmte Gattin Faustina wiederum ihn hochschätzten. 1747 ward er, nicht ohne vorher eine Probe bestanden zu haben, in die 1738 von Lor. Mizler in Leipzig gegründete musikalische Gesellschaft aufgenommen, nachdem dieselbe bereits 1745 Händel und 1746 Graun zu Ehrenmitgliedern ernannt hatte. Wir danken diesem Umstande die Kenntniß seiner Züge in dem von Haußmann 1747 gemalten Bilde, welches B. statutenmäßig der Gesellschaft verehren mußte. In dasselbe Jahr fällt seine letzte Reise, zugleich sein letzter äußerlicher Triumph. Friedrich d. Große nämlich, in dessen Diensten Phil. Emanuel B. seit 1740 stand, hatte schon öfters den dringenden Wunsch geäußert, den alten Meister bei sich zu sehen und zu hören; 1747 entschloß sich daher Bach, in Friedemanns Begleitung nach Potsdam zu reisen. Kaum dort angekommen, mußte er, selbst ohne erst die Reisekleider wechseln zu dürfen, vor dem König erscheinen und spielen. Friedrich empfing ihn mit ausgesuchter Artigkeit und gab seiner hohen Bewunderung den lautesten Ausdruck, so daß der Meister sehr beglückt von diesem Ausflug heimkehrte. Ein ihm vom Könige zum Phantasiren gegebenes schönes Fugenthema bearbeitete er zu Hause in den kunstvollen Formen und übersandte es im Stich dem Könige unter dem Titel: „Das musikalische Opfer“; die Zueignung ist vom 7. Juli 1747 datirt. – 1749 hatte er noch die Freude, seine 1726 geborene Tochter Elisabeth mit Altnikol, dem er 1748 die Organistenstelle an der St. Wenzelskirche in Naumburg verschaffte, verheirathet zu sehen. – Bald darauf nöthigte das sich steigernde Augenleiden ihn, sich einer Operation zu unterwerfen, deren traurige Folge aber völlige Erblindung war. Auch sonst von zunehmenden Leiden geplagt, blieb er 6 Monate lang ans Haus gefesselt. Wol kehrte dann plötzlich noch einmal die Sehkraft zurück, aber 10 Tage darauf, am Abend des 28. Juli 1750, schloß er die Augen für immer. – Seine zweite Gattin hatte ihm im Ganzen noch 13 Kinder geschenkt. Nämlich: Christiane Sophie Henriette, geb. 1723, † 29. Juni 1726. Gottfried Heinrich, getauft 27. Febr. 1724, † 12. Febr. 1763 in Naumburg. Christian Gottlieb, get. 14. April 1725, † 21. Sept. 1728. Elisabeth Juliane Friederike, get. 5. April 1726, vermählt mit Altnikol 20. Jan. 1749, dem sie drei Kinder gebar, verwittwet seit 25. Juli 1759; Todesjahr unbekannt. Ernst Andreas, get. 30. Oct. und † 1. Nov. 1727. Regina Johanna, get. 10. Oct. 1728, † 25. April 1733. Christiana Benedicta, get. 1. Jan. und † 4. Jan. 1730. Christiana Dorothea, get. 18. März 1731, † 30. Aug. 1732. Johann Christoph Friedrich (der „Bückeburger“), get. 23. Juni 1732, † 26. Jan. 1795. Johann August Abraham, get. 5. Nov. u. † 6. Nov. 1733. Johann Christian (der „Londoner“), get. 7. Sept. 1735, † 1782. Johanna Caroline, [736] get. 30. Oct. 1737, † 16. Aug. 1781 zu Leipzig unvermählt. Regina Susanna, get. 22. Febr. 1742, † 14. Dec. 1809 in Leipzig unvermählt. Es lebten also von ihnen beim Tode des Vater nur 3 Söhne und 3 Töchter. Die Wittwe folgte ihm zu Leipzig am 27. April 1760 im Tode, nicht ohne vorher noch mit den Sorgen der Dürftigkeit kämpfen zu müssen. Für die verarmte Tochter Regina Susanna, die letzte überlebende ihres Hauses, wurden 1800 von Leipzig aus Geldsammlungen veranstaltet.

Der Nekrolog, welchen Karl Philipp Emanuel Bach und Joh. Friedrich Agricola für Mizler als den Secretär der musikalischen Gesellschaft verfaßten, ist die Quelle aller weiteren Biographien geworden. Ihm folgen, als die hauptsächlichsten, die Arbeiten von Adam Hiller in seinen „Lebensbeschreibungen berühmter Musikgelehrter und Tonkünstler“ I. 1784 und E. L. Gerber im Lexikon 1790 und die Biographien von J. N. Forkel, 1802, J. K. Schauer, 1850 C. L. Hilgenfeld, 1850, C. H. Bitter, 1865 und, sie alle an umfassender und sebständiger Bearbeitung des Stoffes weit überragend, Phil. Spitta: Joh. Seb. Bach, Th. I. (bis zum Schluß der Cöthener Periode; leider erschien bis jetzt noch nicht mehr) 1873.

B. bezeichnet mit Händel den Wendepunkt zweier kunstgeschichtlicher Epochen. Er ist neben Jenem der letzte große Meister der herrschenden Kirchenmusik und der erste große Prophet jener Herrschaft der deutschen Instrumentalmusik, welche die zweite Hälfte des 18. Jahrh. charakterisirt. – Seit dem Mittelalter hatte die Tonkunst ihre Heimath fast ausschließend in der Kirche gefunden, und auch B. und Händel suchten und lösten ihre höchsten Aufgaben auf religiösem Gebiete. Allein Händel nahm seinen Weg durch die Oper zum Oratorium, Bach’s Passionen, Cantaten und Messen hingegen wären in ihrer eigensten Form gar nicht denkbar ohne den von Anbeginn mitwirkenden Einfluß der instrumentalen Concert- und Hausmusik des Meisters. Die bedeutensten Werke Bach’s sind vielmeht religiöse Musik als kirchliche Cultusmusik, wenn sie auch ihrer Zeit den Cultus schmückten. Die objective Stimmung und streng typische Form der Palestrina-Periode macht einer farbenvollen musikalischen Dramatisirung des Textes Raum, oder einer subjectiv lyrischen Auffassung. Der reine Vocalsatz a capella erscheint nur noch ausnahmsweise in einzelnen Chören, Chorälen und Motetten, während B. in der Regel ein sehr reiches und selbständiges Orchester mit dem Gesange verbindet und gerade hierdurch seine eigensten Wirkungen erzielt. Aber selbst die Harmonisirung seiner unbegleiteten Choräle zeigt uns, wie weit er sich bereits von der gemessenen Ruhe des alten Kirchensatzes entfernt hatte; denn das besonders Bach’sche liegt hier in dem kühnen Wechsel überraschender Modulationen, welche der Componist auf den engsten Raum zusammenzudrängen weiß, um die gemessen einherschreitende Melodie zu individualisiren. Beim Aufbau seiner Passionen und Cantaten hat er dann auch die dramatischen Formen des Recitativs, der Arien und Duette zu nicht minderer Bedeutung erhoben, wie den polyphonen Chorgesang, und in der Kraft des dramatischen Ausdrucks, erhöht durch orchestrales Colorit, stehen Bach’s wie Händel’s große geistliche Tonwerke weit über allen Opern ihrer Zeit. Wenn B. darum auch noch die Herrschaft der religiösen Musik repräsentirt, so ist es doch die alte Kirchenmusik nicht mehr; er vollendet die geistliche Kunst, um ihre Herrschaft zu beenden.

Von allen großen deutschen Tonmeistern des 18. Jahrh. wurzelt B. am entschiedensten im confessionellen Boden. Er ist den lutherische Cantor; allein er erhebt sich zum tiefsinnig universellen religiösen Tondichter, indem er bescheiden seiner Kirche dient. Seine geistliche Musik steht im innigen Zusammenhange mit den theologischen Bewegungen, welche gleichzeitig das protestantische Deutschland aufrütteln. B. hat den Kampf des gefühligen, zur Mystik gesteigerten Spener’schen Pietismus mit der Orthodoxie künstlerisch durchgelebt, aber auch [737] zur Versöhnung geführt. Hierin schwingt er sich über die damaligen Theologen, und seine Werke zeigen uns die schlummernde Geisteskraft jener Gegensätze weit gewaltiger als die Thatsachen der Kirchengeschichte, Sein Todesjahr, 1750, welches eine kirchliche Kunstepoche abschließt, fällt andererseits mit dem Anfangspunkt des protestantischen Rationalismus in Deutschland zusammen.

Orthodox ist B., sofern die feste Zuversicht des Glaubens den religiösen Grundton seiner Werke bildet und sofern die weit überwiegende Mehrzahl derselben den Bedürfnissen des lutherischen Cultus entsprungen und auf die typisch überlieferten Formen des Chorales und des Fugenchores fundamentirt ist. Den Schlüssel zum Verständniß seines gesammten kirchlichen Schaffens geben die Kirchen-Cantaten, welche er für alle Sonn- und Festtage des Jahres geschrieben hat. Textlich ruhen dieselben auf dem Sonntags-Evangelium und einem entsprechenden Liede des Kirchen-Gesangbuchs, wie denn B. überhaupt in den Evangelien und dem Gesangbuche fort und fort seine reichste Textquelle fand, schon hierdurch von Händel wesentlich unterschieden. Bach’s Cantaten beginnen zumeist mit der ersten Strophe eines älteren Kirchenliedes, als fugirtem oder frei contrapunktirtem großem Chore und schließen mit dessen letzter Stophe, als Choral. (Mitunter componiert er aber auch einen Vers des Sonntags-Evangeliums zum Anfangschor). Während nun aber solchergestalt das Kirchenlied (oder der Bibeltext) Anfang und Ende der Cantate bildet, bewegt sich der Componist in den Recitativen, Arien, Duetten etc. der mittleren Sätze mit voller Freiheit und zwar mehrentheils auf der Textes-Grundlage zeitgenössischer geistlicher Dichter, die auch im Worte schon oft genug den subjectiv pietistischen Charakter jenem objectiv orthodoxen des Anfangs- und Schlußverses gegenüberstellen. Eine charakteristische Ausnahme macht die Cantate „Christ lag in Todesbanden“. Hier hat der Componist nicht blos die Verse des Kirchenliedes durch alle Nummern beibehalten, sondern auch die Choralmelodie als thematische Grundlage jedes Satzes benützt. Es handelt sich eben um einen Text Luther’s, angesichts dessen der lutherische Cantor durchaus orthodox geblieben ist. Bezeichnend für die bewußte Art, in welcher B. die Glaubensgrundlagen auszuzeichen sucht, ist auch der Umstand, daß er dem ersten Satze des Credo in der Hohen Messe, welches er „Symbolum Nicenum“ überschreibt, das Thema des gregorianischen Gesanges unterlegt und den Satz, unbeschadet der zwei Violinen und des Continuo, streng a capella durchführt. Die Doppelnatur des typisch kirchlich gebundenen Elementes und der freien subjectiv religiösen Tondichtung geht von Bach’s Cantaten auch in seine übrigen Kirchenwerke und kennzeichnet ihn als den Meister im Wendepunkte zweier Epochen. Nach der einen Seite enfaltet er die ganze Strenge, Tiefe und technische Meisterschaft seiner Kunst, nach der andern den unendlichen Reichthum des Empfindens, der mystischen Phantasie und der lyrischen und dramatischen Charakteritik. Und wie B. aus seinen weltlichen Compositionen mancherlei Sätze in die mittleren Theile seiner Cantaten aufnahm, so ist auch hier die Einwirkung auf die viel mehr weltliche Kunst seines bedeutendsten Schülers, Philipp Emanuel B., und überhaupt der Folgezeit am deutlichsten erkennbar.

Bei den hohen Vorzügen unerschöpflicher Mannigfaltigkeit, welche die besprochene Doppelnatur den Kirchenwerken Bach’s verleiht, darf aber andererseits nicht vergessen werden, daß durch dieselbe ein Parallelismus erzeugt wird, welcher dem planmäßigen Hinarbeiten auf eine stetig sich steigernde Gesammtwirkung hemmend entgegentritt. Sehr häufig ruht die musikalische Wucht seiner Cantaten im ersten Chor, dem sich der Schlußchoral ganz anspruchslos gegenüberstellt, während die zwischen inne liegenden Arien, wenn auch in der orginalsten Weise, einen ganz anderen Kunstideale zustreben. So beginnt die Matthäus-Passion [738] mit einem Chore, der das Mysterium des Leidens Christi musikalisch so groß und tiefsinnig veranschaulicht, daß die Schlußpartien des Werkes nichts Größeres mehr sagen können, und bei der Hohen Messe gipfelt die Musik viel mehr in der Mitte als am Schluß. Die Kunst des Gesammtbaues, d. h. der planvoll vorschreitenden Wirkung eines vielgliederigen Werkes war einer späteren Generation vorbehalten, welche durch Symphonie und Oper hier eine ganz andere Schule machte. B. besitzt unter allen Tonmeistern vielleicht den größten Reichtum der Formen und Gedanken, nur eine Kunst war dem reichen Manne versagt – die Kunst des Aussparens.

Die Passionsmusiken und Messen Bach’s stehen im engsten Zusammenhange mit seinen Cantaten und das sogenannte „Weihnachtsoratorium“ ist selbst äußerlich aus 6 Cantaten zusammengesetzt. In die Hohe Messe sind das Gratias, Crucifixus, Ossana und Agnus Dei aus früheren Cantaten herübergenommen und theilweise umgearbeitet und auch in den vier kleinen Messen finden sich manche frühere Cantatensätze wieder. Doch ist dieser äußere Zusammenhang minder wichtig als jener innere, welcher sich in den Passionsmusiken Bach’s geltend macht. Dieselben erscheinen nicht sowol als quantitativ erweiterte Cantaten (wie das Weihnachtsoratorium), sondern als die potenzirte, qualitativ zu weit höherem Inhaltsreichthum entwickelte Cantatenform. Zu dem beschaulichen und erbaulichen Inhalt der Cantaten gesellt sich hier die episch-dramatische Schilderung der Leidengeschichte Christi. Der Evangelist erzählt im Recitative; Jesus, Petrus, Judas etc. greifen dramatisch ein, gleichfalls in kurzen Recitativ-Sätzen oder in knapper Cantilene; in musikalisch gesteigerter Dramatik spricht der Chor der Juden, der Jünger dazwischen; andererseits sind zahlreiche betrachtende, subjectiv beschauliche Arien und Chöre eingewoben und der Choral der Gemeinde stützt und festigt das ganze vielgliederige Werk. B. fand die Passionsmusiken der Charwoche als ein uraltes katholisches wie protestantisches Herkommen vor, allein kraft der Vorstudien, welche er in den Cantaten gemacht, war es ihm möglich, die dürftige alte Form zu einer ganz neuen Kunstgattung zu erweitern. Die Extreme, die B. glücklich zu vermeiden wußte, lassen sich in der ihm öfters, aber wol irrthümlich, zugeschriebenen „Lucas-Passion“ nachweisen und andererseits in Reinhold Keiser’s „Sterbendem Jesus“. In jener Lucas-Passion stellt sich der einseitig orthodoxe Typus dar durch das Vorherrschen des erzählenden Recitativs und der Summe von 25 Chorälen bei sehr wenigen betrachtenden Chören und Arien; in Keiser’s Passionswerk dagegen fehlt der erzählende Evangelist, die Bibelverse und Choräle gänzlich und eine subjectiv lyrisch-dramatische Poesie und Musik erfüllt das Ganze. Wenn irgendwo dann zeigt B. schon in der Johannis- und weit mehr noch in der Matthäus-Passion, wie tief er den ewigen und allgemeingültigen Gehalt der religiösen Gegensätze seiner Kirche und Zeit zu erfassen, zu versöhnen und künstlerisch verklärt auszusprechen wußte.

Es könnte Wunder nehmen, daß B. auch Messen componirt, ja daß er sogar seinen höchsten Flug in einer katholischen Messe genommen hat. Allein es war altlutherischer Brauch, das Kyrie und Gloria auf dem Kirchenchore zu singen und man nannte diese abgekürzten Messen, deren wir vier von B. besitzen, auch protestantische Messen. Selbst bei seiner sogenannten „Hohen“ oder „Katholischen“ Messe in h-moll scheint B. ursprünglisch nur das Kyrie und Gloria componirt zu haben, welche beiden Sätze er auch in der eigenhändigen Partitur als „No. I. Missa“ überschreibt, und denen er wol erst später die andern Theile hinzufügte. Bekanntlich hat B. das gesammte Werk dem katholischen Kurfürsten von Sachsen überschickt, mit der Bitte, ihm „ein Prädicat von Dero Hoff-Capelle zu conferiren“ und dabei die Musik nicht „nach der schlechten Composition sondern nach [739] Dero Welt berühmten Clemenz anzusehen“. Es wäre höchst thöricht, wenn man in diesem Anlaß zugleich den inneren Entstehungsgrund des gewaltigen Werkes oder selbst nur seines zweiten Theiles suchen wollte. Gerade in der katholischen Messe folgte der lutherische Cantor am freiesten dem Zuge seines Genius, und der uralte Messetext bot ihm eine unvergleichliche Grundlage, die Mystik seines religiösen Dichtens und Sinnens neben der festen Glaubens-Aussprache der Gemeinde musikalisch zu entfalten. Auch hierbei ist der Einfluß seiner Cantaten unverkennbar, und wie er sich dort über die Gegensätze innerhalb der Confession erhoben hat, so hier über die confessionellen Schranken der Kunstformen als solche, zu einem Werke von allgemein menschlichem Gehalt, mit welchem sich in seiner Art nur noch Beethoven’s Missa solennis vergleichen läßt.

Wenn B. übrigens auch kein einziges seiner vocalen Kirchenwerke geschrieben hätte, so wäre er dennoch einer unserer größten Tonmeister wegen seiner instumentalen Concert- und Hausmusik. Er hat zuerst in Deutschland die Instrumental-Composition zu vollkommen ebenbürtiger Geltung neben den höchsten Leistungen des Vocalsatzes gebracht, die Arbeit seines Lebens war fast gleichgetheilt zwischen beiden Gattungen, und wenn wir die äußerst reiche und selbständige Orchestrirung fast aller seiner größeren Gesangwerke mit in Anschlag bringen, so war sogar die überwiegende Summe seines unermeßlichen Fleißes den Instrumenten zugewandt. Diese Thatsache muß scharf betont werden; denn sie bezeichnet eben wiederum einen Wendepunkt unserer Musikgeschichte. Die Periode Palestrisna’s fand alle höhere musikalische Kunst nur im Gesange, bei B. vollendet sich die Gleichberechtigung der instrumentalen und vocalen Musik. Und so nur konnte es geschehen, daß in der folgenden Epoche die Instrumentalwerke den Schwerpunkt jener classischen Kunst bildeten, welche in Beethoven gipfelt. Diese durch B. entscheidend vorbereitete Emancipation der Instrumentalmusik begründete zugleich eine Musikherrschaft Deutschlands über Italien und Frankreich, welche uns auf instrumentalem Gebiet unbestritten geblieben ist.

Bach’s tiefste und großartigste Leistungen gehören jener gemischten Gattung an, wo Gesang und Instrumente gleichberechtigt zusammenwirken; universeller dagegen erscheint er in seiner reinen Instrumentalmusik.

Drei Hauptinstrumente sind maßgebend für Bach’s instrumentale Technik; Orgel, Clavier und Violine, und er behandelt sie alle drei mit gleich selbständiger Meisterschaft. Dabei hat er die Formen des Präludiums, der Fuge, der Phantasie, Toccata und Sonate, des Concertes und der Suite, wie der Einzelsätze seiner „Inventionen“ und „Sinfonien“ mit gleicher Liebe gepflegt. Was die drei musikalischen Hauptnationen seiner Zeit an eigenthümlichen Formen für das Concert, die Kirche und Kammer und das Haus besaßen, das umfaßt, durchdringt und veredelt er Alles mit schöpferischem Geiste, kosmopolitisch und national zugleich. Die ganze ältere instrumentale Kunst bewegte sich zwischen den beiden Polen der Kirchenmusik und Tanzmusik, welch letztere auf die volksthümliche Liedesform zurückgreift, wie die erstere auf die contrapunktische Polyphonie. In diesem Sinne gehört auch noch B. zur alten Zeit; denn die beiden Pole seines instrumentalen Schaffens sind die Orgelfuge und die Suite, aber er weiß diese Extreme derart zu versöhnen, daß z. B. die Tanzform seiner großen Passacaglia in C-moll auf der Orgel selbst wieder zum Kirchensatze wird und gar manche Sarabanda seiner Claviersuiten uns mit dem Geiste religiöser Erhebung anmuthet. Ueberhaupt charakterisirt es seine Person wie seine Zeit, daß die strengen Formen des Kirchensatzes noch überwiegend die instrumentale Kunst beherrschen, wie auch die Technik der Orgel bei B. so tief in die Claviertechnik hinübergreift, daß er Clavier- und Orgelwerke unter dem gemeinsamen Titel „Clavier-Uebung“ veröffentlichte und daß es zweifelhaft bleibt, ob z. B. seine [740] „Sechs Sonaten für zwei Claviere und Pedal“ ursprünglich für Pedal-Clavier oder für Orgel gedacht sind.

Hat nun B. die instrumentale Kunst ebenbürtig neben die Vocalmusik gestellt und also gleichsam äußerlich emancipirt, so blieb es doch einer späteren Zeit vorbehalten, den höheren Instrumentalsatz, auch innerlich zu emancipieren, d. h. der Symphonie und Sonate ihr Centrum in sich selbst zu geben und zur vollen Selbständigkeit von Stil und Form zu entwickeln. Schon Philipp Emanuel B. deutet in seinen Sonaten auf diesen Umschwung, der sich dann in der Periode der classischen Wiener Meister vollendete. Von diesem Standpunkte erscheint dann Sebastian B. als der Vollender der alten Epoche, ähnlich vor- und rückwärts schauend wie Dante im Wendepunkt von Mittelalter und Renaissance.

Aber gerade in der gebundenen Form bewährt sich die orginale Phantasie und vielseitige Schöpfungskraft Bach’s am wunderbarsten. Ein Denkmal dessen ist namentlich das „Wohltemperirte Cavier“, welches uns in 48 Präludien und Fugen durch alle Dur- und Molltonarten führt. Unter den Schülern und Freunden Bach’s während des vorigen Jahrhunderts in zahlreichen Abschriften verbreitet, wurde dieses Werk schon um 1800 gedruckt, so daß es neben den wenigen bei Bach’s Lebzeiten gedruckten Werken wol am meisten beitrug, die Kenntniß von des Meisters Claviertechnik und unvergleichlicher Satzkunst bis zur Zeit der Wiederherstehung seiner übrigen Hauptwerke lebendig zu erhalten.

Wie genau B. die Wirkung der einzelnen Instrumente kannte und berechnete, das beweisen nicht nur seine Concerte und selbständigen Solostücke, sondern namentlich auch die charaktervollen Solis, welche er wechselnd fast jedem Orchester-Instrumente in den Cantaten, Passionen und Messen zugetheilt hat. Trotzdem ist seine Orchestrirung von der modernen wie auch von der gleichzeitig italienischen wesentlich verschieden. Schon in den meisterhaften Sonaten für Violine und Clavier zeigt sich dieser Unterschied. Sie sind als Trios gedacht und die Violine arbeitet in fast ununterbrochener Polyphonie mit den beiden Stimmen des Claviers; die stäte Vielstimmigkeit ist aber dabei dem Componisten so absolutes Bedürfniß, daß er zum Basse wol auch noch die Bezifferung setzt, also noch vollgriffige Accorde über den streng dreistimmigen Satz hinaus verlangt. Die gleichzeitigen Violin- und Claviersonaten der italienischen Meister tragen ein ganz anderes Gepräge. Da spielt die Violine – mit Ausnahme der Fugensätze – durchweg ihr Solo und das Clavier begleitet nur als bezifferter Baß. Erst der nachfolgenden classischen Periode der Deutschen war es vorbehalten, selbständige Effecte für beide Instrumente auszusparen und bald das eine bald das andere führend oder begleitend eintreten zu lassen, nicht nach den äußeren Gesetzen eines unerbittlichen Contrapunktes, sondern nach dem inneren Gebote der wechselnden Empfindung und des entsprechenden Charakters beider Instrumente.

Ähnlich verhält sich das volle Bach’sche Orchester dem damaligen italienischen Opernorchester und dem späteren Haydn’schen gegenüber. B. beschäftigt die einzelnen Instrumente aufs gleichmäßigste und consequenteste zur Erreichung äußerster Vollstimmigkeit, und oft dictirt ihm vielmehr die Natur der strengen Polyphonie die besondere instrumentale Phrase als die Natur des Instrumentes. Die Italiener dagegen und mehr noch Haydn und Mozart lassen das Orchester in Gruppen wirken, sie sondern weit klarer die Gruppe des Streichchores, dann der Holz- und Metallbläser, und weisen jener die hauptsächliche Führung des Satzes zu, diesen beiden den gesteigerten Auftrag von Farbe und Stimmung. Die durchsichtige Zeichnung und der Wechsel des Colorits steht ihnen über dem Vollgehalt strenger Polyphonie.

[741] Der große Abstand der Bach’schen Partitur von den Orchester-Partituren der folgenden Zeit bekundet sich auch in der Anwendung so vieler Instrumente, welche bald außer Gebrauch kamen und deren Klangwirkung wir uns jetzt kaum mehr vorstellen können. Dagegen sind die Instrumente des Haydn’schen Orchesters noch bis auf diesen Tag im Brauche; sie wurden vermehrt, verbessert, in der Anwendung gesteigert. Auch hier sehen wir die tiefe Kluft, welche B. von der unmittelbaren Folgezeit trennt. B., der selbst ein so großer Virtuose nicht blos des Satzes, sondern auch der Spieltechnik war, stellt fast durchweg die höchsten Anforderungen an den ausübenden Künstler. Ihm liegt das Ziel ferne, durch einfachste Mittel eine möglich durchsichtig klare, sicher und bequem erreichbare Wirkung zu erzielen, wie es die Haydn-Mozart’sche Periode anstrebte, mit den ausübenden Kunstfreunden in eine weit tragende Allianz tretend. Selbst wo B. bloße „Clavierübungen“ gibt, schreibt er für Musiker. Hier wie überall in seiner Musik ist der bürgerlich so bescheidene Mann ein strenger Aristokrat, dem die volksthümliche Kunst ferner lag als irgend einem Andern, selbst Gluck nicht ausgenommen. Jegliches Pathos war ihm gegeben, er konnte sogar musikalisch witzig und komisch sein; nur der Humor war ihm versagt; denn derselbe kann eines gemüthlich volksthümlichen Nebenzuges nicht entbehren. B. hörte seine großen Kirchenwerke schwerlich jemals von der Aufgabe gewachsenen Kräften ausführen; er schrieb sie zunächst für einen idealen Chor, für ein gedachtes Orchester, wie denn überhaupt seine tiefsten Werke oft mehr mit dem Geiste als mit dem Ohr gehört sein wollen. Hier berühren sich die Größe und die Schranken seines Genius.

In seinem Einflusse auf Mit- und Nachwelt ist B. ein kunstgeschichtliches Phänomen der eigensten Art. Ein schöpferischer Geist ersten Ranges, mit Riesenfleiß auf den verschiedensten Gebieten rastlos thätig, vermochte er bei Lebzeiten doch nur in engen örtlichen Schranken zu wirken. Von dem großen Orgelspieler und Contrapunktisten B. wußten die unterrichteteren Zeitgenossen wol, aber der große musikalische Denker, der tiefsinnige Interpret der höchsten religiösen Geheimnisse war nur einem kleinen Kreise von Freunden und Schülern bekannt. Es wäre ungerecht und unhistorisch, den Mitlebenden darum besondere Gleichgültigkeit oder Undankbarkeit vorwerfen zu wollen. Die deutsche Musik war damals überhaupt noch örtlich begrenzt, und selbst Componisten wie Hasse, die in leicht eingänglicher Kunst dem Geschmack des Tages huldigten, hatten kein deutsches Publikum. Erst den großen Wiener Meistern war es vorbehalten, diese Schranken zu durchbrechen, ganz Deutschland wie Frankreich und England ihren Quartetten und Symphonien erobernd. Bach’s größere Werke blieben Manuscript, wie fast alle umfangreicheren deutschen Partituren jener Zeit. Bei seinem Tode befanden sie sich nicht, wie es uns jetzt recht und billig dünkte, in den Händen der Nation, sondern sie bildeten das kostbarste Privat-Erbtheil, welches er seinen Söhnen Philipp Emanuel und Wilhelm Friedemann hinterließ. Der Eine bewahrte den Schatz, der Andere veräußerte ihn, wodurch nachgehends so manches Werk verloren ging. Für den Meister selber brachte der Umstand, daß er niemals seine Hauptwerke im Hinblick auf ein großes Publikum entwerfen konnte, Vortheil und Nachtheil. Er bildete bereits fertige Arbeiten weiter, übertrug und verschmolz Stücke des einen Werkes in das andere, was schwerlich geschehen wäre, wenn sie im Drucke fest gestanden hätten. Unbeeinflußt von einer außen stehenden Kritik blieb er naiv seiner Eigenthümlichkeit oft bis zum Eigensinn getreu; aber auch Bach’s Eigensinn ist genial. Selbst die unversiegbare Fülle seines Schaffens erklärt sich zum Theil aus dem Umstande, daß er niemals angesichts eines großen Publikums und theoretisirender Kritiker arbeitete und also auch nicht seine „sämmtlichen Werke“, sondern nur das jeweilig vorliegende Einzelwerk ins Auge zu fassen brauchte.

[742] Nach Bach’s und Händel’s Tode schien es zunächst, als ob die deutsche Tonkunst sich erschöpft habe. Bach’s Schüler hielten zwar seine Kunst hoch und pflegten sie in ihrer Weise und Philipp Emanuel bildete sie neuen Gestaltungen entgegen, allein die Erinnerung an den alten B. schwand so sehr, daß man nun Philipp Emanuel den „großen Bach“ nannte, zunächst freilich zum Unterschied von seinen Brüdern. Da kam eine ganz neue Zeit. Bach’s Kirchenmusik war in der protestantischen Kirche ihrer eigenen Wucht erlegen und der Concertsaal bot ihr keine Stätte. Der Rationalismus hatte die alte Strenggläubigkeit sammt der pietistischen Gefühlsseligkeit überwunden, und die musikalischen Rationalisten lehnten sich, wo sie noch kirchlicher Formen bedurften, vielmehr an den verstandsscharfen Dramatiker Händel als den Mystiker B. Die katholische Kirchenmusik des Südens gewann, verdeutscht und reicher geschmückt, auf einige Zeit wieder die Vorhand über die protestantische des Nordens. Gluck und Haydn eröffneten eine neue Epoche der gesammten Tonkunst. Der Schwerpunkt des deutschen Musiklebens wurde von Norddeutschland nach Wien verlegt. Es ist hier nicht der Ort, den ungeheuren Gegensatz zu schildern, der die Periode der Wiener Classiker von der alten Bach’schen Zeit scheidet. Die herrschenden Kunstformen, die Technik, das Ideal, das Verhältniß der Kunst zum Publikum, die sociale Stellung der Künstler, alles wurde anders. In der ganzen Musikgeschichte, weder vor- noch nachher, gibt es keinen Meister, der so radical eine neue Periode begründete wie Joseph Haydn. Dazu drängten sich die schöpferischen Talente derart, daß man die Vorgänger vergaß. Bach’s Schule trat in eine Opposition, wie sie Forkel in seiner gar mannigfach treffenden Kritik Gluck’s am bedeutendsten durchführte, aber vergebens. Der Name des alten B. blieb zwar mit Staunen und Verehrung genannt, aber seine Werke waren zum größten und besten Theile verschollen. Der Druck des „Wohltemperirten Claviers“ erschloß ihm beim Beginn des Jahrhunderts wieder eine treue größere Gemeinde, da kam das hundertjährige Jubiläum der Matthäus-Passion und die Wiedererweckung derselben durch die Aufführung Mendelssohn’s in Berlin (12. März 1829). Sinn und Verständniß für Bach’s große Kirchenwerke begann sich neu zu beleben, bis die hunderjährige Feier von des Meisters Todestag 1850 das vollständige Wiedererstehen von Bach’s Gesammtwerken zur That reifte. Durch den seitdem ununterbrochen fortgesetzten Druck der noch erhaltenen Compositionen des Meisters durch die Bach-Gesellschaft hat die Welt eigentlich erst Kenntniß erhalten von seinem unvergleichlichen Schaffen, welches sie bis dahin nur ganz fragmentarisch gekannt und geahnt hatte. So wurde denn auch Bach’s Einfluß auf die Gegenwart ein weit tieferer und umfassenderer als er’s auf seine eigene Zeit und die nächsten hundert Jahre nach seinem Tode jemals gewesen ist, und wir wissen jetzt erst recht, daß wir in B., neben Händel, einen Propheten der Wiedergeburt der deutschen Nation zur Zeit des tiefsten Verfalls, einen Charakter voll deutschen Geistes, deutschen Gemüthes und deutscher Thatkraft zu verehren haben, deß Gleichen unsere Culturgeschichte nur Wenige aufzuzeigen weiß.

Die Herausgabe der Werke Bach’s durch die Bachgesellschaft führte zur Heranbildung einer philologisch-strengen musikalischen Textkritik, die inzwischen auch für andere ältere Meister fruchtbar geworden ist und welche wir bis dahin nicht kannten. Es gilt durch Vergleichung der Handschriften und Drucke die echten Lesarten festzustelllen, und da B. an vielen seiner Arbeiten im Kleinen fortbildete und änderte, so gewährt uns die kritische Ueberschau der Varianten einen Einblick in das Schaffen des Meisters, wie wir ihn kaum mehr gewinnen könnten, wenn er die Manuscripte selber hätte drucken lassen. So wird die Verwahrlosung der alten Zeit uns wieder zur heilsamen Zucht und Schule, und [743] in diesen kleinen Dingen wie in den größeren ward Sebastian B. erst recht lebendig ein volles Jahrhundert nach seinem Tode.