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ADB:Spitta, Philipp

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Artikel „Spitta, Philipp“ von Max Seiffert in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 415–418, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Spitta,_Philipp&oldid=- (Version vom 8. Dezember 2024, 13:30 Uhr UTC)
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Band 54 (1908), S. 415–418 (Quelle).
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Spitta: Johann August Philipp S., der Bachbiograph, wurde am 27. December 1841 zu Wechold (bei Hoya, Hannover) als Sohn des Dichters von „Psalter und Harfe“ (s. A. D. B. XXXV, 204 ff.) geboren. Nach absolvirtem Gymnasium bezog er 1859[WS 1] die Universität Göttingen, um classische Studien zu betreiben. Nach ihrer Vollendung erhielt er 1864 die erste Anstellung an der Ritter- und Domschule zu Reval, wurde jedoch 1866 von hier ans Gymnasium zu Sondershausen berufen. Die musikalischen Fähigkeiten des Knaben waren im Elternhause schon frühzeitig gepflegt worden; in der fröhlichen Studentenzeit begründete und leitete S. einen kleinen akademischen [416] Gesangverein. In diese Zeit, der die Romantiker und die Kämpfe R. Wagner’s das musikgeschichtliche Gepräge gaben, fiel auch die Gründung der Bachgesellschaft, deren Arbeiten und Ziele den musikalischen Pfarrersohn aufs lebhafteste beschäftigten. In Reval trat er dem Getriebe des öffentlichen Musiklebens näher; Persönlichkeiten, wie die des damaligen Syndikus O. v. Riesemann, weiteten den Blick des jungen Gymnasiallehrers. Im Herzen Thüringens angelangt, sah S. alle Bedingungen aufs glücklichste vereint, welche die Erreichung des ihm nun klar vor Augen stehenden Lebensideals sichern mußten: er war in festem Amt, das ihm doch bei bester Pflichterfüllung Mußestunden genug gewährte, um in den nahegelegenen Stätten von Seb. Bach’s Wirken mit bisher unbekannter Gründlichkeit die Archive nach biographischem Material zu durchforschen. Im J. 1873 legte er die Ergebnisse der langen, stillen Arbeit im ersten Bande seiner Bachbiographie der musikalischen Welt vor, dessen Erfolg für seine äußere Laufbahn entscheidend wurde. Man berief ihn 1874 als Professor ans Nicolaigymnasium der Bachstadt Leipzig, wo er alsbald im Verein mit Franz v. Holstein, Alfred Volkland und H. v. Herzogenberg den dortigen „Bachverein“ gründete. Im Jahre darauf, 1875, erfolgte seine Berufung nach Berlin. Nach mancherlei Kämpfen um das junge Institut der neugegründeten Hochschule für Musik kam es hier 1875 zu einer durchgreifenden Reorganisation der gesammten Akademie der Künste, derzufolge S. als Secretär der musikalischen Section ihr ständiger zweiter Secretär, dazu stellvertretender Director in den Verwaltungsangelegenheiten der Hochschule neben Joachim und Lehrer der Musikgeschichte wurde. Die Berliner Universität schuf für ihn neben H. Bellermann eine neue außerordentliche Professur für Musikgeschichte. Das provisorische Statut der Akademie von 1875 wurde am 19. Juni 1882 durch Cabinetsordre zu einem definitiven und damit S. Vorsteher der gesammten Verwaltung der Kgl. Hochschule. Trotz der außerordentlichen Inanspruchnahme durch seine Ämter, deren gewissenhafte Verwaltung ihm 1891 die Ernennung zum Geh. Regierungsrath brachte, fand S. immer noch Zeit zu umfassender musikwissenschaftlicher Arbeit: 1880 erschien der 2. Band der Bachbiographie; 1885 eröffnete er im Verein mit Fr. Chrysander und G. Adler die „Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft“; in zwei Bänden, „Zur Musik“ (1892) und „Musikgeschichtliche Aufsätze“ (1894) sammelte er die Hauptmasse seiner kleinen Schriften, die er außer in der „Vierteljahrsschrift“ in der „Allg. musik. Zeitung“, in den „Monatsheften für Musikgeschichte“, den „Grenzboten“, der „Deutschen Rundschau“, der „A. D. B.“ publicirt hatte. Hand in Hand damit ging eine Anzahl von Neuausgaben: 1876 erschienen Buxtehude’s gesammelte Orgelwerke in zwei Bänden, 1885 begann die von Chrysander angebahnte und großenteils vorbereitete Ausgabe von H. Schütz’ gesammten Werken in 16 Bänden, 1889 erschien eine Auswahl der musikalischen Werke Friedrich’s des Großen, 1892 begannen die „Denkmäler deutscher Tonkunst“, deren Verwirklichung zum großen Theile Spitta’s Verdienst ist, ihr Erscheinen. Den Sommer 1888 über mußte sich S. beurlauben lassen; dem Ansturm der Pflichten und Arbeiten waren seine anscheinend unverwüstlichen Körperkräfte doch erlegen. Wiederhergestellt kehrte er aus Montreux zurück; aber nach dieser Heimsuchung überkamen ihn zuweilen trübe Ahnungen; beinahe fatalistisch erwartete er, das Schicksal seines Vaters zu theilen. Schmerzlich für viele sollte sich seine Erwartung erfüllen; vor dem Schreibtisch sitzend, auf dem die Schlußcorrectur des letzten Schützbandes lag, starb er am 13. April 1884[WS 2] Mittags am Herzschlag. –

Spitta’s unvergessene Verdienste liegen auf dem Gebiet der Musikwissenschaft. An Bedeutung allem voran steht hier die zweibändige Bachbiographie, [417] die ihren Verfasser mit einem Schlage in die erste Reihe deutscher Musikgelehrter neben C. v. Winterfeld, O. Jahn und Fr. Chrysander rückte. An Versuchen, Leben und Wirken des Thomascantors zu schildern, hat es vor S. nicht gefehlt, alle aber stellte er in den Schatten durch die Weite seines Arbeitsplanes, die Gründlichkeit seiner historischen Untersuchungen und die Tiefe seiner darauf basirten musikalksch-ästhetischen Analysen. Die Wurzeln von Bach’s Künstlerthum sind weit durch’s 17. Jahrhundert der deutschen Musik verzweigt; mit ungeheurem Aufwand selbständiger neuer Forschung hat S. dies große, damals so gut wie völlig unerschlossene Gebiet erhellt. Mit philologischer Zähigkeit und Umsicht durchstöberte er die Archivacten bis zu den Kirchenbüchern der kleinsten Ortschaften nach Zeugnissen über Bach und spürte dem Verbleib der Originalhandschriften nach, deren diplomatische Kritik ihm eine neue Handhabe zur Feststellung ihrer Entstehungszeit bot. Nach Bloslegung des feinen Geäders der historischen Vorbedingungen und Beziehungen konnte er dem Inhalt der Werke selbst in einer Weise gerecht werden, die sich weit über die bisher gewohnte formale Auffassung erhob; seine Analysen verrathen ein warmes, künstlerisches Nachempfinden und lassen den Strom des musikalischen Inhalts vorm inneren Auge des Lesers sichtbar fließen. – Mit diesem Standardwerk stehen alle späteren Arbeiten Spitta’s, die sich mit Vorliebe nach der modernen Zeit der Romantiker hin bewegen, in mehr oder weniger deutlichem Zusammenhange. In allen, selbst in den kleinsten Aufsätzen, offenbaren sich die fesselnden Eigenschaften des wissenschaftlichen Schriftstellers: umfassendes, aus eigener Anschauung geschöpftes Wissen, ruhige, vornehme, klare Darstellung und gewählte Diction.

Nächstdem hat die deutsche Musikwissenschaft S. ihre endliche Anerkennung als Universitätsdisciplin zu danken. Vorher war es um sie in Berlin und anderswo nur dürftig bestellt gewesen; Universitätsmusikdirectoren und Lectoren hielten vorwiegend practische Kurse. S. setzte sein ganzes Streben daran, der jungen Musikwissenschaft, die in verschiedene andere und selbständige Gebiete der Wissenschaft hinübergreift, aber weder diesen noch den Kunstausübenden zunächst genehm und bequem war, wenigstens einen bescheidenen Platz zu erobern. S. brachte hervorragende Eigenschaften zum Universitätslehrer mit. Die Lichtklarheit seiner sachlichen Darstellungen, die harmonische Verschmelzung aller Einzelangaben und Thatsachen zu großen, zusammenhängenden Ideen, die Kunst, bei noch so tiefem Eindringen in das innere Wesen einzelner Erscheinungen doch stets den großen Ueberblick über weite Strecken der Geschichte hinweg festzuhalten, diese Vorzüge gewannen ihm einen begeisterten, stetig wachsenden Hörerkreis. Mit pädagogischem Geschick wußte er die jungen, frischen Arbeitskräfte auf die ihnen am meisten zusagenden Gebiete zu lenken und bahnte so gleichzeitig eine möglichst umfassende Inangriffnahme der Musikgeschichte an. S. selbst hat den vollen Erfolg dieses seines Strebens nicht mehr erlebt; er hatte vielmehr unter manchem Angriff zu leiden, der eigentlich den Schwächen der noch jungen Disciplin hätte gelten müssen. Aber seinem mannhaften Eintreten ist es zu danken, wenn jetzt allerorten unter den Händen seiner Schüler und Freunde die Musikwissenschaft ruhig ihren Zielen nacharbeiten kann.

In der Kgl. Hochschule war S. die Seele der Verwaltung und ein wohlthuender Factor in ihrem musikalischen Betriebe. Alles lastete auf ihm und ging durch seinen Kopf; er vertrat die vielverzweigten Interessen der Anstalt nach oben und unten hin. Und er war ganz der Mann dazu: gewinnend in seinem Entgegenkommen, mit seinem klaren Ueberblick und seinem tiefen Einblick immer auch Herr jeder Situation, pflichttreu und arbeitsam.

[418] Als Forscher, als Lehrer, als Beamter hat S. nicht umsonst gelebt. Vor allem die Musikwissenschaft wird seines Namens nur in Dankbarkeit gedenken.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. richtig: 1860
  2. richtig: 1894