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ADB:Schütz, Heinrich

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Artikel „Schütz, Heinrich“ von Philipp Spitta in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 33 (1891), S. 753–779, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sch%C3%BCtz,_Heinrich&oldid=- (Version vom 10. Oktober 2024, 21:23 Uhr UTC)
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Schütz *): Heinrich S. (Henricus Sagittarius, auch Enrico Saettario) ist nach urkundlicher Angabe der Pfarrregister zu Köstritz an der Elster am 9. October 1585 daselbst getauft worden. Da die Taufe entweder am Tage der Geburt selbst oder an dem nächstfolgenden vollzogen zu werden pflegte, so wäre er am 9. oder 8. October geboren. Man hat sich aber für das letztere Datum zu entscheiden, da der gedruckte „Lebenslauf“, welcher seiner Leichenpredigt angehängt ist, berichtet, er sei geboren „am 8. Tage des Octobris, Abends umb 7 Uhr“. Auffälligerweise muß sich Schütz über seinen eignen Geburtstag im Irrthum befunden haben, da er in einem Gesuch an den Kurfürsten Johann Georg I. von Sachsen, datirt vom 14. Januar 1651, schreibt, er sei am Tage Burkhardi geboren, was der 14. October wäre. Der Name Schütz kommt noch heute in der Umgegend von Köstritz sehr häufig vor, und manche Anzeichen deuten darauf hin, daß auch die Familie Heinrich Schützens von Alters her in dieser Gegend seßhaft war. Der Großvater indessen, Albrecht S., hauste zur Zeit in Weißenfels, war Eigenthümer des noch heute stehenden Gasthofs „Zum Schützen“, welcher vielleicht von ihm erbaut worden ist, und hatte zugleich das Amt eines Rathskämmerers inne. Der Vater, Christoph S., war Besitzer des Gasthofs „Zum goldenen Kranich“ in Köstritz und eine Persönlichkeit, welche in der Gemeinde allgemeines Ansehen und Vertrauen genoß.

Köstritz gehörte schon damals zur Herrschaft Reuß-Gera und aus Gera hatte sich Christoph Schütz die Gattin geholt. Sie hieß Euphrosina und war die Tochter des Rechtspraktikanten und Bürgermeisters Johann Berger daselbst. Aus der Ehe gingen, soweit es sich hat feststellen lassen, vier Söhne hervor: Andreas, welcher seiner Zeit das Besitzthum des Vaters in Köstritz übernahm, Heinrich, Valerius und Georg. Die beiden letzteren schlugen die Gelehrtenlaufbahn ein: Valerius erwarb die Magisterwürde, scheint aber nicht zu hohem Alter gekommen zu sein, da er schon 1632 gestorben ist; Georg, der Jurist wurde und welchem Heinrich besonders nahe gestanden haben muß, wird uns noch weiter begegnen. Auch eine Schwester wird erwähnt, die sich in Weißenfels verheirathet hatte.

Als Albrecht S. im J. 1591 gestorben war, siedelte Christoph nach Weißenfels über, um die ihm als Erbe zugefallenen väterlichen Güter in eigne Verwaltung zu nehmen. Sein Name und die Jahreszahl 1616 sind bis heute am Gasthause zu lesen. Vierzig Jahre noch hat er hier gelebt und in hohem Ansehen gestanden, auch das Amt eines Bürgermeisters bekleidet; am 9. Oct. 1630 (nicht am 25. Aug. 1631) ist er gestorben. Seinen Kindern ließ er die sorgfältigste Erziehung zu Theil werden. Daß sein Sohn Heinrich ein ungewöhnliches Talent zur Musik besitze, wurde schon früh bemerkt, da dieser in kurzer Zeit sich zu einem Discantsänger von „besonderer Anmuth“ entwickelte. Gute Discantisten waren in einer Zeit, da man Frauengesang bei öffentlichen Veranstaltungen noch nicht kannte, ein sehr gesuchter Gegenstand. Es fügte sich im Jahre 1598, daß Landgraf Moritz von Hessen-Cassel durch Weißenfels kam und in dem Gasthofe Christoph Schützens Nachtquartier nahm. Bei dieser Gelegenheit hörte er den dreizehnjährigen Knaben singen und fand so großes Wohlgefallen an ihm, daß er ihn am liebsten gleich mit sich genommen hätte. Die Eltern mochten sich von dem zarten Kinde nicht trennen. Als aber der Landgraf von Cassel aus seine Anträge wiederholte, ihn nicht nur als Sängerknaben gebrauchen, sondern zu „allen guten Künsten und löblichen Tugenden auferziehen“ wollte, als die Eltern merkten, wie den phantasievollen Knaben selbst die eröffnete Aussicht reizte, stellten sie einsichtsvoll und selbstverleugnend ihre persönlichen Wünsche zurück, und Heinrich wurde am 20. August 1599 von seinem Vater an den Hof zu Cassel gebracht.

[754] Diese Wendung entschied über den Gang seiner Entwicklung und sein Leben. Moritz’ des „Gelehrten“ glänzende, vielseitige Gaben, sein feuriger Eifer, sie zum Besten des Landes zu verwenden, sind bekannt. Seine zahlreichen geistlichen und weltlichen Compositionen, welche die ständische Landesbibliothek in Cassel aufbewahrt, bezeugen eine ungewöhnliche musikalische Begabung und künstlerische Einsicht. Er spielte Orgel und andre Instrumente mit Beherrschung. Die Hofcapelle wurde von ihm erweitert und gebessert, für die drei Kirchen der Residenz schaffte er neue Orgeln an, und führte in den Kirchen und Schulen seiner Herrschaft zwei von ihm selbst bearbeitete Choralbücher ein. Daneben wandte er auch dem Schauspiel eifrige Pflege und selbstschöpferische Theilnahme zu. Erstaunlicher noch waren seine wissenschaftlichen Gaben, seine Kenntnisse in den alten und neuen Sprachen, in der Theologie und Philosophie, seine Gewandtheit im Disputiren, seine pädagogische Einsicht. Was er den Eltern Schützens versprochen hatte, hielt er vollauf. Die Sängerknaben der fürstlichen Capellen pflegten in Convicten oder ähnlichen Anstalten von dem Capellmeister oder seinem Vertreter in der Art erzogen zu werden, daß sie hier nicht nur den musikalischen, sondern auch den elementaren wissenschaftlichen Unterricht erhielten. S. erfuhr ein Besseres: er empfing seine Bildung im Collegium Mauritianum, welches der Landgraf 1599 gründete. Da es vorzugsweise ein Erziehungsinstitut für junge Edelleute sein sollte, war es für S. eine große Auszeichnung, als Alumne in dasselbe aufgenommen zu werden. Der vornehme Charakter, welcher der Bildung des gereiften Mannes in unverkennbarer Weise aufgeprägt erscheint, hat in dieser Schule augenscheinlich seine Wurzeln, in welcher nicht nur den Wissenschaften und Künsten obgelegen, sondern auch der Körper durch ritterliche Uebungen gekräftigt wurde. Es währte nicht lange, so that sich S. glänzend hervor, zunächst im Lateinischen, Griechischen und Französischen, dann aber auch in den andern Fächern dergestalt, daß er keinen Lehrer gehabt haben soll, der nicht gewünscht hätte, der Schüler möge das von ihm vertretene Fach zu seinem Hauptstudium erwählen.

Von seinen musikalischen Studien während der Casseler Zeit erfahren wir nichts weiter, als daß er als „Capellknabe mit aufgewartet habe“. Lange kann auch dies nicht gedauert haben, da er mit 14 Jahren nach Cassel kam, also bald ins Mutationsalter getreten sein muß. Ob er alsdann eingehender sich mit Composition und Instrumentenspiel beschäftigt hat, muß man auf Grund später hervortretender Erscheinungen ebenfalls bezweifeln. Jedenfalls aber waren die Männer, an die er behufs seiner musikalischen Ausbildung gewiesen war, der fürstliche Capellmeister und sein Vertreter. Letzterer hieß Andreas Ostermaier, ihm fiel ein Theil der Singchorübungen zu. Capellmeister war Georg Otto aus Torgau. S. selbst thut in einer handschriftlich erhaltenen autobiographischen Skizze weder des einen, noch des andern Erwähnung. Georg Otto, schon durch Landgraf Wilhelm den Weisen vom Cantorat zu Salza als Capellmeister nach Cassel berufen, war indessen ein tüchtiger Meister, der auch unter dem anspruchsvolleren Moritz als fleißiger Kirchencomponist seine Stelle mit Ehren behauptete. Seine vollstimmigen Compositionen – es sind deren noch acht-, zehn- und zwölfstimmige vorhanden – verrathen den Einfluß der venetianischen Schule, welcher, wie die folgenden Ereignisse lehren, auch der Landgraf zugethan war. Es mag hiermit zusammenhängen, daß dieser ein Mitglied der Hofcapelle, Christoph Cornett, im Jahre 1605 zur Vollendung seiner musikalischen Ausbildung nach Italien schickte. Cornett wurde später Otto’s Nachfolger im Capellmeisteramt, und S. zeigt sich ihm dauernd befreundet.

Nach Beendigung seiner Studien auf dem Mauritianum beschloß S., sich der Rechtswissenschaft zu widmen und begab sich um das Jahr 1607 in Gesellschaft [755] seines Bruders Georg und eines Vetters auf die Landesuniversität Marburg, wo er es durch seinen Fleiß bald dahin brachte, eine Disputation de legatis rühmlich durchzuführen. Im Landgrafen muß aber die günstige Meinung von seinem Musiktalent tiefe Wurzel gefaßt haben, und er verlor ihn nicht aus dem Auge. Als er 1609 nach Marburg kam, überraschte er S. mit dem Anerbieten eines zweijährigen Stipendiums von jährlich 200 Thalern, um in Venedig bei Giovanni Gabrieli Musik zu studiren. Natürlich schlug S. das Anerbieten nicht aus. Allein es scheint, als ob ihn mindestens eben so sehr die Ausfahrt in die weite Welt, als die Lehre Gabrieli’s gelockt hätte. Wenigstens ging er mit dem Vorsatz davon, nach seiner Rückkehr die wissenschaftlichen Studien wieder aufzunehmen. Er befand sich hiermit im Einklang mit dem Wunsche der Eltern, welchen es durchaus nicht in den Sinn wollte, daß der Sohn Musiker würde, und die daher auch die Excursion nach Venedig nur ungern zugaben.

S. ist von allen großen deutschen Componisten am spätesten zur Musik gekommen. Als er den ersten gründlichen Compositionsunterricht erhielt, war er 24 Jahre alt. Wenn er die anfängliche Unsicherheit des Selbsturtheils über seine schöpferische Begabung mit Gluck und Schumann theilen mag, so ist ihm ganz eigenthümlich der offenbare Mangel an Lust, den Pfad der Kunst zu beschreiten. Die Umstände waren es, welche ihn dahin drängten, mehrfach betont er selbst, wie er es als eine ganz besondere Fügung Gottes ansehe, daß er Musiker geworden sei. Er bekennt auch ganz unbefangen, daß es ihm zuerst fast leid geworden, Marburg verlassen zu haben, nachdem er als Gabrieli’s Schüler habe einsehen lernen, wie schwer das Studium der Musik sei und wie gering und unsicher seine Vorkenntnisse. Zunächst war es nur das Gefühl der Pflicht, was ihn Geduld lehrte und bei der einmal begonnenen Arbeit festhielt. So mühte er sich zwei Jahre lang und überraschte dann die Welt und vermuthlich auch sich selbst durch ein Werk der Meisterschaft und des Genies.

Es waren die fünfstimmigen Madrigale über italienische Dichtungen, welche er 1511 (nicht 1512, wie er verwunderlicher Weise 40 Jahre später selbst angibt) bei Gardano in Venedig erscheinen ließ und dem Landgrafen Moritz widmete (Werke, Band IX). Mit diesem Werke überholte er nicht nur sofort die jüngeren Männer, welche wie er in Venedig sich der Tonkunst beflissen, sondern zog auch die Aufmerksamkeit der gereiften Meister auf sich. Sein Lehrer Gabrieli, G. C. Martinengo, der damals Capellmeister an S. Marco war, und andere angesehene Musiker Venedigs ermunterten ihn und redeten ihm zu, die Musik als Lebensberuf zu wählen. Sie hatten wenigstens soweit Erfolg, als S., dessen Stipendium abgelaufen war, sich entschloß, auf eigne Kosten noch länger in Venedig zu bleiben. Ihn lockte noch manches andre dort, als nur die Musik. Seine reiche Natur, gepflegt und angeregt in Verhältnissen, wie sie günstiger für ihn vielleicht im ganzen Deutschland damals nicht zu finden waren, öffnete sich jetzt zum ersten Male den vielfarbigen Erscheinungen der großen Welt. Mit durstigem Blicke sog er sie ein, sinnend durchschritt er die Stätten großer Begebenheiten, bedeutenden Männern suchte er sich zu nähern und von ihnen zu lernen. Zu Gabrieli aber trat er in ein inniges Verhältniß bewundernder Verehrung, welche dieser mit warmer Theilnahme für den genialen Jüngling erwiderte. Noch auf dem Todtenbette gab er seinem Beichtvater, einem Mönch aus dem Augustinerkloster zu Erfurt, wo einst Luther geweilt hatte, den Auftrag, dem lieben Schüler, welcher ihm zur letzten Ruhe das Geleit gegeben hat, einen Ring aus seinem Nachlasse zum Andenken zu überreichen. S. vergleicht in der Zueignungsschrift seiner Madrigale den Gabrieli einem goldführenden Strome, wie es im Alterthum der Tagus und Paktolus waren: reichlich habe er ihm von seinen geistigen Schätzen mitgetheilt. Als er nach [756] 20 Jahren zum zweiten Male Venedig wiedersah, überkam ihn die Erinnerung an Gabrieli und die goldne dort verlebte Jugendzeit mit solcher Gewalt, daß selbst aus den gezierten Phrasen der lateinischen Zueignung der Symphoniae sacrae (Werke, Band V) uns ihr warmer Hauch entgegenströmt.

Nach Gabrieli’s Tode verließ S. Venedig, nicht ohne viele Freunde dort zurückzulassen. Die Zeugnisse stimmen darin überein, daß er 1613 wieder in Deutschland war. Genaueres würde sich sagen lassen, wüßten wir das Datum von Gabrieli’s Tod. Aber in diesem Punkte widersprechen sich die Angaben. Wenn er 1609 nach Italien ging, und quadriennio toto die Unterweisung Gabrieli’s genossen haben will, müßte dieser erst 1613 gestorben sein. Auch in der autobiographischen Skizze ist 1613 das Jahr der Heimkehr, im gedruckten Lebenslauf wird dagegen 1612 als Gabrieli’s Todesjahr angegeben. Vielleicht hat hier der abweichende venetianische Kalender eine Verwirrung angestiftet.

Auf der Rückfahrt muß S. in Weißenfels vorgesprochen und mit den Eltern über seine Zukunft Rath gepflogen haben. Diese waren nach wie vor der Ansicht, er solle die Musik nur nebenher treiben. Der Sohn schlug einen vermittelnden Weg ein: er suchte die Bücher wieder hervor, das juristische Studium fortzusetzen, stellte sich zugleich aber dem Landgrafen in Cassel zur Verfügung. Dieser übertrug ihm vorläufig, mit einem Gehalt von 200 Thalern, das Amt des Hoforganisten, als welcher er in der Schloßkirche zu spielen und nach damaliger Sitte auch die Aufführungen der Capelle zu accompagniren hatte. Daß er aber höheres mit ihm beabsichtigte wurde offenbar, als er ihn 1616 zum Hofmeister seiner heranwachsenden Kinder, Anfang 1619 zum Capellmeister an Stelle des kurz vorher verstorbenen Georg Otto bestimmte. Seine Pläne kamen nicht zur Verwirklichung. Von Weißenfels aus war die Kunde von Schützens Künstlerthum nach Dresden gedrungen. Er selbst vermuthet, es sei durch den Kammerrath v. Wolfersdorff, Hauptmann zu Weißenfels, oder den Hofmarschall, Geheimen Rath v. Loß geschehen. Die kursächsische Hofcapelle ermangelte damals einer frischen führenden Kraft. Der Capellmeister Rogier Michael war alt und leistungsunfähig, der Kurfürst Johann Georg aber liebte es, die Feste seines Hofes durch die Kunst verschönt zu sehen und hörte auch sonst in der Kirche und bei Tafel gern gute Musik. Schon hatte der wolfenbüttel’sche Capellmeister Michael Praetorius mehrfach aushelfen müssen. Als nun im September 1614 die Taufe des Herzogs August, des zweiten Sohnes Johann Georg’s, welcher später Administrator des Erzstifts Magdeburg und Begründer der Linie Sachsen-Weißenfels wurde, mit großem Aufwande gefeiert werden sollte, erbat sich der Kurfürst vom Landgrafen den S., dabei mit seinem Musiktalente „aufzuwarten“. Es geschah dies in Gemeinschaft mit Michael Praetorius; dieser componirte die Musik für die kirchliche Feier, S. wird für die Tafelmusik in Anspruch genommen worden sein. Bei dieser Veranlassung wurde die Bedeutsamkeit und das Gewicht seiner Persönlichkeit sofort voll empfunden. Der Kurfürst wünschte ihn an seinen Hof zu fesseln, und nun entspann sich eine Jahre hindurch fortgeführte Correspondenz zwischen Sachsen und Hessen, deren keines auf den Mann verzichten wollte. Zunächst erbat der Kurfürst im April 1615 sich den S., welcher im October 1614 nach Cassel zurückgekehrt war, für ein paar Jahre, bis andre geeignete Kräfte zur Hebung der Capelle herangebildet seien. Er wurde im August für zwei Jahre nach Dresden beurlaubt, sollte aber vorkommenden Falls mit seiner Kunst auch dem landgräflichen Hofe zu Diensten stehn. Ende 1616 aber verlangte ihn Moritz schon zurück, da er ihn zum Prinzenerzieher machen wolle. Johann Georg antwortete darauf mit dem Begehren, jener möge ihm den Künstler gänzlich abtreten. Zögernd und mit sichtlicher Ueberwindung entschließt sich Moritz hierzu, nachdem er die Versicherung erhalten hat, es solle S. nicht [757] gehindert werden, sich gelegentlich auch ferner noch dem Landgrafen mit seiner Kunst willfährig zu erweisen. Moritz suchte aus politischen Gründen sich mit Kursachsen gut zu stellen; dies und die Erwägung, daß S. in gewissem Sinne des Kurfürsten Unterthan sei – die Herren von Reuß waren Kursachsen lehnspflichtig – mochte ihm den Entschluß erleichtern. S. reiste nun im Februar 1617 nach Cassel zurück, seine Angelegenheiten dort zu ordnen und endgültig nach Dresden zur Uebernahme des Capellmeisteramtes überzusiedeln. Wie schmerzlich aber Moritz den Pflegling vermißte, dem er beim Abschied unter warmen Worten sein Bildniß mit einer Kette schenkte, geht daraus hervor, daß er im Januar 1619 nach Georg Otto’s Tode noch einen letzten Versuch machte, ihn zurückzugewinnen. Begreiflicherweise schlug der Versuch fehl, und die S. zugedachte Stelle erhielt nunmehr Christoph Cornett.

S. aber trat auf den Platz, auf welchem ihm bestimmt war bis ans Ende seines langen Lebens zu verbleiben. Nicht weniger als 55 Jahre hat er der kurfürstlichen Musik als oberster Leiter vorgestanden. In drei Abschnitte gliedert sich dem überschauenden Blicke diese Zeit. Der erste reicht bis zum Jahre 1633. In ihm entfaltete sich der jugendliche Meister zur vollen Kraft, sah er die unmittelbarsten Wirkungen seines Strebens, lächelte ihm am holdesten das Glück. Die Fähigkeit zu organisiren, zu lehren und zu leiten war ihm angeboren. Ohne vorhergegangene praktische Erfahrung, deren doch die wenigsten bei solchen Dingen entrathen können, gelang es ihm in wenigen Jahren, die kursächsische Capelle zu einer der besten und angesehensten Deutschlands zu machen. Das geistige Niveau des Hofes zu Dresden stand freilich unvergleichlich viel tiefer als dasjenige, welches er von Cassel her gewohnt sein mußte. Aber Johann Georg kargte nicht mit den Mitteln, ließ seinen Capellmeister gewähren und freute sich, Ehre mit ihm einzulegen. Die regelmäßige Beschäftigung der Capelle war eine doppelte: für die Kirche und für die Kammer. Unter letzterer ist in jener Zeit an den deutschen Höfen fast ausschließlich die Tafelmusik zu verstehen. Wir sträuben uns gegen die Vorstellung, den ästhetischen Genuß im Dienste des sinnlichen zu sehen; aber es war so. Und zwar wurde bei Tafel keineswegs nur mit Instrumenten musicirt, sondern auch gesungen, und nicht nur Weltliches sondern auch Geistliches. Ab und zu müssen jedoch in den fürstlichen Gemächern auch erbauliche Versammlungen mit Musik (der eigentliche Nährboden für das Oratorium) stattgefunden haben; man wüßte sich sonst den Titel von Schütz’ „Auferstehungs-Historie“ (Werke, Band I) nicht zu erklären. Außerordentliche Veranlassungen zu Musikaufführungen gaben die am Hofe gefeierten Tauf– und Hochzeitsfeste, oder der Besuch fremder Fürstlichkeiten; für solche Zwecke wurde auch wohl einmal eine theatralische Vorstellung gewählt, ein ständiges Opernhaus besaß der Hof damals noch nicht. Außerdem aber liebte es Johann Georg, wenn er außerhalb des Landes zu politischen Zwecken erschien, seine Capelle mit sich zu führen, und solche Gelegenheiten werden es nicht zum wenigsten gewesen sein, die ihren Ruhm verbreiteten. Von den Kindern Johann Georg’s waren es nur die beiden ältesten, deren Tauffeierlichkeiten S. durch seine Kunst nicht verschönern half; Hochzeitsmusiken hat er für sämmtliche zehn geschrieben. Eine solche ist die vielgenannte Oper „Daphne“. Sie kam Freitag den 13. April 1627 zu Torgau zur Aufführung, als des Kurfürsten älteste Tochter mit dem Landgrafen Georg II. von Hessen-Darmstadt Hochzeit machte. Opitz hatte nach Ottavio Rinuccini’s Muster den Text gedichtet, Schützens Musik ist verloren gegangen. Seine reiche Bildung gestattete ihm übrigens, in solchen Fällen nicht nur als Componist, sondern auch selbst als Dichter aufzutreten. Als am 25. Juli 1617 Kaiser Matthias mit dem böhmischen König Ferdinand und dem Erzherzog Maximilian zum Besuch in Dresden eintraf, hatte er und einige Localpoeten [758] mehre lateinische und deutsche Begrüßungsgedichte seiner Erfindung drucken lassen, die er dann, mit eigner Musik versehen, gewiß auch aufgeführt hat. Eines derselben hat die Form des Wechselgesprächs und läßt Apollo und die neun Musen auftreten; es würde dies die früheste dramatische Composition Schützens sein, von der wir wissen, die Musik selbst ist auch hier nicht mehr erhalten.

Nach der Schlacht am Weißen Berge hatten allein die schlesischen Stände gezögert, sich dem Kaiser Ferdinand zu unterwerfen. Es gelang der Vermittlung Johann Georg’s und seiner Räthe, sie zum Aufgeben des Widerstandes zu bewegen. Amnestie wurde zugesagt und der Dresdener Accord vollendete am 18. Februar 1621 den Vertrag. Nun blieb nur der Act erneuter Huldigung übrig. Johann Georg vollzog ihn im Namen des Kaisers: mit einem Gefolge von 855 Personen mit 878 Pferden brach er am 5. October von Dresden auf und traf am 14. in Breslau ein. S. war mit 16 Mitgliedern der Capelle im Gefolge. Er hatte ein dreichöriges Stück componirt, welches bei der Huldigung zur Aufführung kam und erhalten ist (Werke, Band XV, Nr. 1). Aus dem Titel kann vermuthet werden, daß er auch den Text verfaßt hat: in tadellosen, freilich stark rhetorischen lateinischen Distichen preist er den kurfürstlichen Friedebringer, fordert Schlesien auf, sich seines Geschicks zu freuen und ihm seine Gelübde zu weihen. S. ließ das Werk in Breslau drucken und widmete es den schlesischen Fürsten und Ständen. Solcher Compositionen, die man politische nennen kann, besitzen wir von ihm noch mehre. Auch zum Kurfürstencollegtag in Mühlhausen (4. October bis 5. November 1627) ist er und eine Auswahl der Capelle in „2 Kutschen und einem Rüstwagen vor die Instrument und ander Bagage“ mitgezogen. Das „Da pacem, Domine“ seiner Composition (Werke, Band XV, Nr. 2), welches er hier musicirte, offenbart auf’s greifbarste die bahnbrechende Kraft des Meisters. Ein drittes Chorstück: „Teutoniam dudum belli atra pericla molestant“ (Werke, Band XV, Nr. 3) bezieht sich wieder auf ein Staatsfest in Schlesien; auf welches, hat sich noch nicht feststellen lassen. Auch beim Convent der protestantischen Fürsten und Stände, welcher vom 10. Februar bis zum 2. April in Leipzig gehalten wurde, war S. mit der Capelle anwesend, ohne daß sich nachweisen ließe, was er für diesen Zweck componirte.

Unter den Besuchen an fremden Fürstenhöfen ist als auszeichnend und folgenreich für S. zunächst ein solcher in Bayreuth zu erwähnen. Er hat im Sommer 1619 stattgefunden. Zum ersten Male, soviel wir wissen, traf S. hier mit dem Fürsten zusammen, dem er von Geburt als Landeskind zugehörte: Heinrich Reuß Postumus. Samuel Scheidt, der nebst Michael Praetorius ebenfalls anwesend war, hat die Begegnung erzählt. Sie musicirten im Schloß vor einem Kreise von Fürsten und Adligen, und hier zeigte der reußische Herr ein so hohes Interesse und Verständniß für die Musik, eine so liebenswürdige persönliche Betheiligung an dem Auftreten und den Leistungen des Gesangschors, daß er – sagt Scheidt – wie ein Obercapellmeisier aller Musiker erschien (Vorrede zu den Concertus sacri, Hamburg 1622). In der Folgezeit stand S. bei ihm in besonderer Gunst, seine Compositionen wurden von ihm vor andern hochgeschätzt und an Huldbeweisen ließ er es nicht fehlen. Als Johann Georg ihn am 17. Aug. 1627 auf Schloß Osterstein bei Gera besuchte, ist S. zweifellos im Gefolge gewesen. Das schönste Denkmal seines Verhältnisses zu dem bedeutenden Fürsten, dessen Vorzüge ihm durch den Vergleich mit Johann Georg nur um so heller erscheinen mußten, hat er ihm nach seinem Tode (3. December 1635) gesetzt. Heinrich Postumus hatte sich, als er sein Ende nahe fühlte, in der Stille einen Sarg anfertigen lassen, welcher auf dem Deckel und an den Seiten mit denjenigen [759] Bibelsprüchen und Liedstrophen bedeckt war, welche der fromme Mann besonders liebte. S. faßte sie alle als Text zu einer Chorcomposition zusammen, welcher er die Form einer deutschen Messe gab. Die Psalmworte: „Herr, wenn ich nur Dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde“, welche Heinrich als Text seiner Leichenpredigt, und die Worte Simeon’s „Herr nun läßest Du Deinen Diener in Friede fahren“, die er zum Grabgesang bestimmt hatte, verwendete S. ebenfalls zu zwei achtstimmigen Chorgesängen. Mit dem letzten verband er aus eigner Bewegung ein „Selig sind die Todten“, das, von hohen Stimmen vorgetragen, den Gesang der Engel versinnlichen sollte, welche den aufschwebenden seligen Geist empfangen. Am 4. Februar 1636, dem Tage der Beisetzung, brachte er diese tief in den Duft der Poesie getauchten „Musikalischen Exequien“ in Gera zur Aufführung (Werke, Band XII). Keinem deutschen Fürsten ist von einem großen Componisten jemals solch ein deutsches Requiem gesungen worden.

Wenngleich S. am Hofe zu Cassel seit 1617 kein Amt mehr bekleidete, so fühlte er sich doch dem Landgrafen Moritz viel zu tief verpflichtet, als daß er ihn nicht die Früchte seiner Kunst hätte genießen lassen so oft er konnte und willkommen zu sein glaubte. Dies bezeugen die zahlreichen handschriftlichen, zum Theil autographen Compositionen, welche die ständische Landesbibliothek zu Cassel noch heute aufbewahrt. Manche derselben dürften freilich wohl schon zwischen 1613 und 1615 entstanden sein, da er die aus Italien heimgebrachten Keime pflegend, still in Cassel arbeitete und die Zeit erwartete, wo er als Componist mit einem gewichtigen Werke hervortreten könnte. Viele der mehrchörigen mit instrumentalen und vocalen Füllstimmen im Geiste Gabrieli’s prächtig ausgestatteten Compositionen, auch manche der weltlichen Madrigale mögen hier noch geschaffen sein. Dagegen hat er sich in jener Art der concerthaften Composition, durch welche er recht eigentlich den deutschen Musikstil seines Jahrhunderts bestimmte, in diesen frühen Jahren wohl noch nicht versucht. Was derartiges in Cassel vorhanden ist, wird er von Dresden aus überschickt haben, doch schwerlich später als 1632, da mit dem Tode des Landgrafen die Bande sich lockerten, oder gar lösten, welche ihn an den hessischen Hof knüpften. Nicht wenige der Concerte, welche er zwischen 1636 und 1650 im Druck erscheinen ließ, finden sich hier in abweichender und zwar älterer Gestalt, was zu dem Schlusse nöthigt, daß zwischen ihrer ersten Conception und der Herausgabe eine Reihe von Jahren verstrich. Auch seine bedeutsame Composition der Sieben Worte Christi am Kreuz (Werke, Band I), die einzig in einer Casseler Handschrift überliefert ist, möchte aus obigem Grunde, dem sich stilistische Gründe gesellen, noch in die zwanziger Jahre zu setzen sein. Aeußere Zeichen directer Bestimmung für Cassel sind nur an zwei Werken wahrnehmbar, einer mächtigen vierchörigen Composition über den Hymnus Veni, sancte Spiritus (Werke, Band XIV, Nr. 2) und einem Concert „Herr, nun läßest Du Deinen Diener in Friede fahren“ (Werke, Band VII, Nr. 12), das dem Capellmeister Cornett gewidmet ist.

Das Meisterwerk aber, mit dem er sich im deutschen Vaterlande würdig einführen wollte, ließ er unter dem 1. Juni 1619 im Selbstverlage ausgehen. Es war nicht das Erste, was er in Deutschland drucken ließ: schon 1618 hatte er zwei mehrchörige Hochzeitsgesänge mit Instrumenten veröffentlicht. Aber sie waren als Gelegenheitscompositionen für einen kleinen Kreis bestimmt. Mit den „Psalmen David’s sampt etlichen Moteten und Concerten“ wendete er sich an die Welt. Dem äußeren Umfange nach bilden diese 26 mehrchörigen Compositionen, bei denen die Zahl der zusammenwirkenden Stimmen bis auf 21 steigt, das größte Werk, welches S. je herausgegeben hat. Der Inhalt bietet das Höchste dar, was zu leisten er sich damals im Stande fühlte. Eine prächtige [760] Ausstattung sollte den gewichtigen Eindruck der Erscheinung erhöhen. Nicht weniger als neun lateinische Lobgedichte sind beigegeben. Entsprach dies auch einer, wie uns dünkt, unfeinen Sitte der Zeit, die für dergleichen Dinge einen Haufen von Phrasen stets im Vorrath hatte, so bleibt nach Abzug alles Conventionellen in jenen Gedichten immer noch ein Rest übrig, der uns die zwingende Gewalt ahnen läßt, mit welcher der geniale Künstler sich die Geister seiner Umgebung unterworfen haben muß. Den Psalmen folgte 1623 die „Historia der fröhlichen und siegreichen Auferstehung unsers einigen Erlösers und Seligmachers Jesu Christi“, nach dieser kamen 1625 die „Cantiones sacrae“, 40 vierstimmige Gesänge, welche der Componist dem Fürsten Johann Ulrich v. Eggenberg widmete, dem er 1617 beim Kaiserbesuch bekannt und werth geworden war. Von ihrem Erscheinen nimmt Schützens Ruhm seinen eigentlichen Anfang, der nun stetig wuchs, sodaß er, wie ein Musiker gegen Ende des Jahrhunderts schrieb, um 1650 „für den allerbesten teutschen Componisten gehalten worden“ ist.

Neben dem reichen künstlerischen Erntefeld dieses Lebensabschnittes blühte ihm auch das menschliche Glück der Liebe und Freundschaft. Es ist ein rührender und für S. bezeichnender Zug, daß das Datum, mit welchem er die Vorrede seines großen Psalmwerkes unterzeichnet, zugleich das seiner Hochzeit ist. Am 1. Juni 1619 vermählte er sich mit Magdalene Wildeck, der Tochter eines kurfürstlichen Beamten, des Land- und Trank-Steuer-Buchhalters Christian Wildeck zu Dresden. Sie scheint der Augapfel der Eltern gewesen zu sein, denn, wie der Kurfürst an Landgraf Moritz nicht ohne Behagen schreibt, S. erhielt sie von ihnen nur gegen die Verpflichtung, daß er Dresden nicht verlassen wolle. In dem Hochzeitsgedichte Konrad Bayer’s ist von den Madrigalen die Rede, die sie ihm dichten helfen werde; sie mag also nicht ohne Kunstbegabung gewesen sein. Zwei Töchter, Anna Justina und Euphrosina, gingen aus dieser Ehe hervor. Nur wenige Monate nach seinem eignen Hochzeitstage, am 9. August, trat auch sein Lieblingsbruder Georg in die Ehe, der sich als Rechtsgelehrter in Leipzig niedergelassen hatte und die nächste Veranlassung sein mochte, daß auch Heinrich in den Juristenkreisen Leipzigs und Dresdens manchen genaueren Freund besaß. Jetzt componirte dieser ihm zum Hochzeitsfeste den 133. Psalm: „Siehe, wie fein und lieblich ist’s, daß Brüder einträchtig bei einander wohnen“ (Werke, Band XIV). Die Wahl dieses Textes, welche ohne der hochzeitlichen Bestimmung der Composition zu achten nur das innige Zusammenleben der Brüder betont, beleuchtet ebenso zart wie deutlich das Verhältniß, in dem sie zu einander standen. Auf dem Titel des Werkes, das S. zu Ehren des Bruders drucken ließ, finden sich einige lateinische Distichen seiner Feder, in denen er der eben ausgegebenen Psalmen gedenkt: mit ihnen habe er sich an das Volk der Deutschen gewendet, dieses Stück gehöre dem treuen Bruder ganz allein. Zwei Charaktergrundzüge Schützens treten uns in diesem Gedicht vor Augen. Er hat den Bruder lange überlebt. 13 Jahre nach seinem Tode, 31 Jahre nach der Entstehung jenes Psalms nahm er denselben erinnerungsvoll in den dritten Theil seiner Symphoniae sarae auf (Werke, Band XI. Nr. 5).

Das Jahr 1625 wurde ein Wendepunkt in doppeltem Sinne. Mit den Cantiones sacrae, deren Vorrede den 1. Januar als Datum trägt, lenkte S. in die Bahn des Ruhmes ein. Der Stern seines Familienglücks aber begann alsbald zu sinken. Anna Maria Wildeck, eine Schwester seiner Gattin, war als Braut am 15. August unerwartet und plötzlich gestorben. Ein Zeichen der Innigkeit, mit welcher S. Freud und Leid der ihm Nahestehenden theilte, ist es wieder, daß er dem Andenken der Geschiedenen eine schöne Composition über das Kirchenlied „Ich hab’ mein Sach’ Gott heimgestellt“ widmete und alsbald in Druck erscheinen ließ (Werke, Band XII, Nr. 3). Aria de vitae fugacitate [761] hatte er sie überschrieben. Wie flüchtig das Leben sei, sollte er aber sogleich noch in viel herberer Weise erfahren. Schon am 6. September starb seine Gattin der bräutlichen Schwester nach. Sechs Jahre nur hatte das Glück ihrer Vereinigung gedauert. Die übrigen 47 Jahre hat S. allein durchlebt, in erschütterndem Gegensatze zu der wachsenden Verehrung der ihn wie Kinder umgebenden deutschen Kunstgenossen in seiner Familie ebenso rasch fast ganz und gar vereinsamend. Während der Zeit tiefer Trauer, die dem Tode der Lebensgefährtin folgte, nahm er das Psalmbuch Cornelius Becker’s zur Hand. Schon früher hatte er aus diesem Gegenstück zum Lobwasser’schen Psalter, der an dem streng lutherischen Hofe nicht wohlgelitten war, einige Stücke componirt. Als Capellmeister mußte er in der Zeit, da er einen eignen Hausstand besaß, stets mehre Capellknaben, die bei ihm wohnten, erziehen und unterweisen: mit ihnen pflegte er einfache musikalische Morgen- und Abendandachten zu halten. Ein tieferes Interesse hatte er für die Erfindung schlichter liedartiger Tonsätze bisher nicht gefühlt. Jetzt, da ihm jede andere Arbeit verleidet war, schien es ihm, Gott habe ihn von neuem über den Psalter Becker’s gerathen lassen, damit er Trost im Schmerze fände. So schuf er nach und nach zu der Mehrzahl der strophenmäßig gereimten Psalmen Melodien in vierstimmigem Satze und ließ mit ihnen versehen Becker’s Arbeit 1628 in Druck ausgehen. Das Bild der Gattin lebt gewissermaßen in diesem Tonwerk fort, wie das der Schwester in der Aria über des Lebens Flüchtigkeit; S. hatte gethan, was ihm Opitz in einem Trostgedichte zurief: „Laß erschallen deine Lieder … Soll sie auf das Neue leben Und sich selbst dir wiedergeben. Gieb ihr durch dein lieblich’s Singen, Was der Tod hat hingebracht“. Noch als 76jähriger Greis veranstaltete er eine neue Ausgabe, die er dergestalt erweitert hatte, daß sie nunmehr für sämmtliche Psalmlieder Musik enthielt.

Es steht gewiß im Zusammenhang mit jenen traurigen Erlebnissen, wenn S. nicht lange nachher den Plan faßte, Dresden auf einige Zeit zu verlassen. Nachdem er im Jahre 1627 wieder mit voller Kraft seines Amtes gewaltet hatte, kam er um Urlaub ein für eine Reise nach Italien. Man machte einige Schwierigkeiten, gewährte ihn aber doch. Ende August 1628 reiste er ab und blieb über ein Jahr fort. Zunächst zog es ihn nach Venedig; ob er auch andre Städte Italiens besucht hat, wissen wir nicht. Die Fortschritte des neuen Musikstiles, welcher sich an die Namen Viadana und Monteverdi knüpft, konnten ihm auch von Deutschland aus nicht verborgen geblieben sein. Da seine eigne Kunst in die italienische tief eingewurzelt war, mußte er wünschen, jene Fortschritte an der Quelle zu studiren. Hierzu war in Venedig, wo jetzt Monteverdi die herrschende Stellung einnahm, die beste Gelegenheit. Die Eindrücke, welche er empfing, wirkten so lebhaft auf seine eigne Schöpferkraft, daß er in kurzer Zeit 20 größere Stücke componirte und als Symphoniae sacrae unter dem 1. September 1629 in Venedig bei Bartolomeo Magni herausgab. Er hat sie dem damals sechzehnjährigen Kurprinzen von Sachsen gewidmet, bei dem er ein tieferes Musikinteresse wahrzunehmen glaubte, und die Folgezeit hat bewiesen, daß er nicht im Irrthum gewesen ist. Immer bedacht, den Zuwachs eignen Vermögens auch für die Zwecke seines Amtes zu verwerthen, kehrte er mit einem werthvollen Vorrathe neu-italienischer Musik gegen Ende des Jahres 1629 in sein verödetes Dresdener Heim zurück. Der „Lebenslauf“ sagt, wenn auch in andrer Beziehung, der liebe Gott habe ihm jedesmal das Glück, welches er in der Fremde erfahren, „bey seiner Zurück-Kunfft mit Traurigkeit versaltzen.“ Am 19. November 1630 starb ihm ein lieber Freund und Kunstgenosse, der hochbegabte Thomascantor in Leipzig, Johann Hermann Schein. S. hatte ihn noch in seiner letzten Krankheit besucht; da nahm ihm Schein, des nahen Todes gewiß, das Versprechen ab, [762] die Worte des Paulus „Das ist je gewißlich wahr und ein theuer werthes Wort, daß Christus Jesus kommen ist in die Welt, die Sünder selig zu machen“ in Musik zu setzen und zur Erinnerung an seinen Tod zu veröffentlichen. Der Freund hat das Versprechen treu gehalten: unter dem 9. Januar 1631 erschien die sechsstimmige Motette zu Dresden im Druck (Werke, Band XII, Nr. 2). Als S. 19 Jahre später eine große Motettensammlung herausgab und dem Rath der Stadt Leipzig für deren Thomanerchor widmete, hatte er die Parentationsmotette auf den verstorbenen Thomascantor der Sammlung einverleibt. (Werke, Band VIII, Nr. 20). Aber des Salzes der Traurigkeit war noch nicht genug: 1631 starben ihm auch der Vater und Schwiegervater. Inzwischen hatten sich die Wetter des Kriegs über Sachsen zusammengezogen. Die Mittel der Hofcasse wollten zu regelmäßiger Soldzahlung für die Mitglieder der Capelle nicht mehr reichen und die ersten Zeichen ihres Verfalls treten hervor. S. selbst, der ein Jahresgehalt von 400 Gulden erhielt, hatte schon seine italienische Reise ganz aus eignen Mitteln bestreiten müssen, und im Jahre 1630 schuldete ihm die kurfürstliche Rentkammer nicht weniger als 500 Gulden, die er während der folgenden Jahre nur langsam in Abschlagssummen nachgezahlt erhielt. So ging ihm der erste Abschnitt seines Dresdener Lebens nach sonnigen, reichgesegneten Jahren trüb, unter Sorgen und mit zerstörten Hoffnungen zu Ende.

Wie der dreißigjährige Krieg allmählich alle geordneten Verhältnisse aus den Fugen trieb, das spiegelt sich auch in Schützens Leben zwischen 1633 und 1650 deutlich ab. Er war Hofcapellmeister zu Dresden, aber der Schwerpunkt seiner Thätigkeit lag an andern zum Theil außerdeutschen Stätten, wo man die Kunst besser in Ehren hielt. So lange die Unterhaltung der Capelle dem Kurfürsten keine Sorge machte, vergnügte er sich an ihren Leistungen und dem Lob, das er ihretwegen erntete. Als die Jahre der Bedrängniß kamen, ließ er sie rücksichtslos verfallen und die Mitglieder, soweit sie ihm nicht davon liefen, in Hunger und Elend verkommen. Vergebens strengte S. sich an, den Ruin aufzuhalten und den Jammer unter den Capellisten selbst durch Unterstützungen aus eigner Tasche zu lindern. 1639 war die Zahl derselben, die in guten Zeiten 36 betragen hatte, auf 10 gesunken, eine nur halbwegs befriedigende Figuralmusik konnte gar nicht mehr gemacht werden. Die Capelle hätte sich vollständig aufgelöst, wäre es S., dessen organisatorischer Weitblick sich auch in diesen kritischen Zeiten bewährte, nicht 1641 gelungen, wenigstens das Capellknabeninstitut auf etwas erweiterter Grundlage sicher zu stellen. Er wollte mit dieser Einrichtung, wie er selbst sagt, nur einen Samen der Musik ausstreuen, der für bessere Zeiten aufgehen sollte. Wie einem Manne von seinen Eigenschaften unter den kläglichen Trümmern des einst so glänzenden Baues zu Muthe sein mußte, ist leicht vorzustellen. Aber wie er hier seine Hoffnung auf das nachwachsende Geschlecht setzte, so that er es auch beim Kurprinzen. Er hatte dessen musikalischen Neigungen stets seine Theilnahme bewiesen und ihn vielleicht selbst in der Composition unterrichtet. Eine neue dramatische Arbeit seiner Feder war bei des Kurprinzen Vermählungsfeier am 20. November 1638 zur Aufführung gekommen: Orpheus und Eurydike, ein sogenanntes Ballett, gedichtet von August Buchner, dessen Musik aber ebenso, wie die der beiden früher genannten dramatischen Werke verloren gegangen ist. Da der Kurprinz nun einen eignen Hausstand führte, unternahm er mit Schützens Beihülfe die Einrichtung einer eignen Capelle. Obgleich auch er sich oft in Geldnoth befand und 1649 sogar zur Verpfändung seiner Pretiosen, seines Gold- und Silbergeschirrs schreiten mußte, hatte die Capelle doch Bestand, kam sogar zu einer gewissen Höhe, und leistete wenigstens besseres als die kurfürstliche.

[763] Christian II., Johann Georg’s I. älterer Bruder, dem dieser in der Regierung nachfolgte, war mit Hedwig, einer dänischen Prinzessin vermählt gewesen. S. hatte der liebenswürdigen Fürstin unter dem 6. September 1627 seine Compositionen der Beckerschen Psalmen zugeeignet. Sie dürfte es gewesen sein, durch welche die Aufmerksamkeit des dänischen Königshauses auf Schütz gelenkt wurde. Der Kronprinz Christian überraschte ihn mit der Einladung, für einige Zeit Dresden mit Kopenhagen zu vertauschen. Schon länger hatte sich S. mit dem Gedanken getragen, dem Kriegsgetümmel zu entweichen und Dresden zu verlassen, wo ihm nichts mehr Freude machte, er sich entbehrlich und überflüssig fühlte. Auch in seiner Kunst konnte er, wie die Dinge lagen, hier nur zurückkommen und war doch in den Jahren der besten Kraft und verlangend, sie als Componist zu bethätigen. Er plante, sich nach Niedersachsen zu begeben, doch erfahren wir nicht, welcher Ort ihm im Sinne lag. Mehrfache Urlaubsgesuche hatte der Kurfürst unberücksichtigt gelassen. Da nun aber der Kronprinz von Dänemark, sein bestimmter Schwiegersohn, Interesse an S. zeigte, wurde diesem auf eine Eingabe vom 9. Februar 1633 sein Wunsch erfüllt. Er hatte nicht versäumt zu bemerken, daß er auf jede Geldunterstützung, selbst die Auszahlung seines wieder rückständig gebliebenen Gehaltes verzichte; ganz bescheiden und mit jenem milden Humor, der ihm eigen war, hatte er nur gebeten, daß wenn überhaupt während seiner Abwesenheit Zahlungen an die Capelle erfolgen sollten, man ihn nicht vergessen möge. Wenn er die Reise, wie er gewünscht hatte, noch im Frühling antrat, muß er unterwegs irgendwo längeren Aufenthalt genommen haben, denn erst am 18. December wird seine Anwesenheit in Kopenhagen sichtbar. Vielleicht weilte er am Hofe des Herzogs Johann Albrecht von Mecklenburg-Güstrow, da er 1637 einmal gegen seinen Kurfürsten verlauten läßt, er habe nicht nur vom dänischen Kronprinzen, sondern auch anderwärts noch Einkünfte zu erwarten, und da 1640 der Herzog Adolf Friedrich desselben mecklenburgischen Fürstenhauses den Schütz-Becker’schen Psalter aus eigenen Mitteln neudrucken ließ. Am 18. December aber giebt König Christian von Dänemark Schützens Anstellung als Capellmeister bekannt; es war also nicht auf eine oberflächliche Berührung, sondern auf die Herstellung eines dauernden Verhältnisses abgesehen. Die bevorstehende Vermählung des Kronprinzen mit Johann Georg’s jüngster Tochter und die hierfür in Aussicht genommenen Festlichkeiten mögen diesen Entschluß nahegelegt haben. S. wurde mit umfassenden Vollmachten behufs Schulung der Musiker ausgestattet und mit Auszeichnung behandelt. Seine Wohnung hatte er in der Stadt, die Uebungen aber wurden auf Schloß Croneburg, neben dem Gemache des Königs abgehalten. Ein halbes Jahr vor der im October 1634 gefeierten Hochzeit begannen schon die Vorbereitungen zu den Aufführungen; für Schauspiel (zwei Komödien von Joh. Lauremberg), Ballet und Maskenball hatte S. mit Musik zu sorgen. Nach dem Feste blieb er noch 7 Monate am dänischen Hofe, dessen Gunst er in hohem Grade erworben hatte. Bei seiner Abreise am 4. Mai 1635 beschenkte ihn der König mit einer goldenen Kette im Werthe von 100 Thalern, und einer Summe von 200 Thalern; er gab ihm auch „ein Grußbrieflein“ an den Kurfürsten mit, des Inhalts, daß er seinen „besonders lieben“ Heinrich Schütz gern noch länger behalten hätte, und wenn der Churfürst ihn entbehren könne, möge er ihn bald wieder beurlauben, damit er die Einrichtung der Musik am dänischen Hofe vollends zu Stande bringe. Ein Brief des Kronprinzen, der die „höchstrühmlichen Dienste“ Schützens hervorhob, folgte unter dem 25. Mai nach. Der Meister selbst war in der sicheren Erwartung baldiger Wiederkehr geschieden.

Nach der Herausgabe der „Symphoniae sacrae“ in Venedig hatte S. eifrig fortgefahren, die Form des concerthaften Sologesanges, die er damals in [764] Italien kennen gelernt hatte, für seine eigene Kunst zu verwerthen. Eine Anzahl größerer Gesangscompositionen war entstanden, welche er mit nach Kopenhagen genommen und nebst solchen, die er etwa dort noch hinzucomponirte, auch in Kopenhagen gelassen hatte. Wußte er doch, daß in Dresden für solche Musik jetzt keine Verwendung sei. Man wird seine Mitwirkung zur Feier des Prager Friedens (Juni 1635) in Anspruch genommen haben. Im übrigen fand er Muße, eine Reihe kleinerer Stücke zu schreiben, die er, weil für Größeres jetzt kein Verleger zu finden war, unter dem 29. September 1636 gleichsam als Vorboten aussandte. „Kleine geistliche Concerte“ nannte er sie. Ihre schäbige Ausstattung durch den Verleger Große in Leipzig ist auch ein Zeichen der Zeit. Am Schlusse dieser Sammlung steht jene „Aria de vitae fugacitate“ von 1625, nach der gereifteren Einsicht des Componisten umgestaltet. Im Stil hebt sie sich dennoch von den andern Stücken ab. S. mochte das Werkchen, das als schwachlebiger Einzeldruck nur in weniger Hände gelangt war, nicht haben untergehen lassen wollen. Sich des Inhalts zu erinnern, hatte er Grund genug: 1635 war seine Mutter, 1636 die Mutter seiner früh dahin gegangenen Gattin gestorben. In diese Zeit fällt auch die Composition der „Musikalischen Exequien“ für Heinrich Reuß Postumus.

Die zweite Reise nach Kopenhagen kann nicht vor dem Frühjahr 1637 vor sich gegangen sein, da S. erst unter dem 1. Februar nachsucht, ihn wieder dorthin zu entlassen. Aus seiner Sehnsucht fortzukommen wird er wohl auch gegen andere kein Hehl gemacht haben; er fühlte sich in Dresden „fast weder Gott noch Menschen, am allerwenigsten aber sich selbst etwas nütze“. Vielleicht munkelte man, er kehre überhaupt nicht zurück. Darüber beruhigte er den kurfürstlichen Herrn: er lasse seine Kinder, lasse Haus und Hof dahier und – „allerhand ziemliche Anforderung“, d. h. den ihm zukommenden Gehalt, dessen Rückstand chronisch geworden war. Der Aufenthalt in Dänemark scheint dieses Mal nur ein Jahr gedauert zu haben, weil, wie der „Lebenslauf“ glaubwürdig berichtet, S. im J. 1638 einer Einladung an den herzoglichen Hof zu Wolfenbüttel gefolgt ist, und wir ihn um Pfingsten 1639 in Dresden finden. Auch durch die Reisen dieser Jahre schlingen die Sterbefälle in seiner schon auf wenige Häupter zusammengeschmolzenen Verwandtschaft ihr schwarzes Band. Der treue Bruder Georg ging 1637 dahin und 1638 gar die ältere seiner beiden Töchter, Anna Justina, vielleicht in Abwesenheit des Vaters. Nun war ihm nur noch ein Kind geblieben, und auch dieses sollte er im J. 1655 begraben. Da die Möglichkeit, seine größeren Werke drucken zu lassen, sich immer noch nicht bot, ließ er 1639 einen zweiten Theil der „Kleinen geistlichen Concerte“ erscheinen. Sie sind dem Prinzen Friedrich von Dänemark gewidmet, jüngerem Bruder des Kronprinzen Christian, welcher, da dieser schon 1647 kinderlos starb, nach Christian’s IV. Tode den Königsthron bestieg. Auch zu Friedrich war S. schon bei seinem ersten Besuch in Kopenhagen in freundliche Beziehungen gekommen. Um das Jahr 1640 wurde S. von einer lebensgefährlichen Krankheit niedergeworfen. Er kam wieder auf und verließ im März 1641 Dresden, wahrscheinlich um nach Weißenfels zu gehen, dem alten Familiensitz, wo ihm noch eine Schwester lebte, und für den er nun eine immer stärker werdende Vorliebe zeigt. Der „Lebenslauf“ läßt ihn dann 1642 sich wieder nach Dänemark begeben und wir wissen nicht anders, als daß er von dort erst im Mai 1645 nach Dresden zurückkehrte. Er war nun vollständig als königlich dänischer Capellmeister „von Haus aus“ mit 200 Thalern Jahresgehalt in Dienst genommen. Bei seinem Abschiede hatte er dem Kronprinzen Christian eine umfangreiche Sammlung von Gesangscompositionen im Manuscript überreicht, die er endlich zwei Jahre später als zweiten Theil der „Symphoniae sacrae“ erscheinen [765] lassen konnte, da zwei seiner jüngeren Verehrer, die Organisten Klemm und Hering, den Verlag übernahmen. Das Dresdner Amt aber wünschte S. nach der Heimkehr aus Dänemark nicht wieder in vollem Umfang anzutreten. Zur Verrichtung des regelmäßigen Dienstes fühlte er sich nicht mehr frisch genug. Für außerordentliche Fälle und zur Führung der Oberaufsicht wollte er sich auch ferner zur Verfügung halten und gegen eine solche Vergünstigung gern auf einen Theil des ihm zustehenden Gehalts verzichten. Er sehnte sich nach Ruhe und Freiheit, um ganz der Vollendung seiner angefangenen Werke zu leben. Er war nur ein Gast im eignen Haus, das er an einen „guten Mann“ vermiethet hatte, bei dem während seiner Abwesenheit die Tochter Euphrosina lebte. Gern wäre er ganz nach Weißenfels gezogen. Im Herbst 1645 scheint dies wenigstens vom Kurfürsten für eine Weile zugestanden zu sein. Eine Einladung an den Hof Herzog Wilhelm’s zu Weimar, wo er vom 7. bis 13. Februar 1647 glückliche Tage verlebte (S. Werke, Bd. XV, Nr. 11), lieferte ihm einen neuen Beweis, wie man ihn an fremden Fürstenhöfen zu schätzen wußte. Aber von seinen Amtspflichten in Dresden wurde ihm keine erlassen. Es half ihm nichts, daß er in zahlreichen Gesuchen auf sein Alter und lange Dienstzeit hinwies, auf die um ihn her in die Höhe kommende junge Generation, welche seine Weise nicht mehr verstehe und geringschätze, auf die Abnahme seines Gesichts und häufigen Schwindelanfälle, auf den erbärmlichen Zustand der Capelle, der trotz aller seiner Vorschläge nicht wirksam gebessert werde. „Ich befinde es weder löblich noch christlich“, schreibt er am 19. August 1651, „daß bei so löblichen großen Landen nicht 20 Musikanten können und wollen erhalten werden und lebe der unterthänigsten Hoffnung noch, Ihre Churfürstliche Durchlaucht sich eines andern besinnen werden.“ Die Hoffnung trog, wie immer. Auswärtige Verehrer lockten ihn, dem unwirthlichen Sachsen für immer den Rücken zu kehren. Als die Tochter Euphrosina sich am 25. Januar 1648 mit dem Juristen Christoph Pinckert zu Leipzig vermählt hatte, übersandte Christoph Kaldenbach aus Königsberg ein Gedicht, in welchem er beklagt, daß S. den rechten verdienten Lohn seiner Kunst noch nicht erhalten habe. Warum suche er keinen andern Aufenthaltsort? Auch in Königsberg lebten kunstgesinnte Leute, mit Freuden werde man ihn empfangen, und dorthin reiche der Krieg nicht mehr. S. äußert in diesen Jahren selbst einmal, er möchte sich „zu seiner letzten Herberge auf dieser Welt irgend eine vornehme Reichs- oder Kunst-Stadt erwählen“. Er ist in Dresden geblieben. Aber nicht ohne Bewegung liest man, wie der größte deutsche Componist seines Jahrhunderts im 67. Lebeusjahre es zu bereuen versichert, daß er jemals die Leitung der kurfürstlichen Capelle übernommen und auf die in Deutschland mißkannte und geringgeschätzte Tonkunst die Kraft seines Lebens verwendet habe.

Gleichwohl gelang es ihm, das ihm unverrückt vorschwebende Ziel, seine Werke zu sammeln und herauszugeben, wenigstens zum Theil zu erreichen. 1648 erschien die „Geistliche Chormusik“, eine Sammlung von 29 meistens reich ausgeführten Motetten. Wieder war es der treue Dresdner Organist Johann Klemm, welcher die Herausgabe übernahm. Vollgereifte Aehren einer reichen Lebensernte wurden hier geboten; nicht nur die Parentations-Motette auf Johann Hermann Schein ist in sorgfältiger Ueberarbeitung aufgenommen, auch die sechsstimmige Motette „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“ dürfte aus den zwanziger Jahren stammen und wohl noch manches andere. Zu der Herausgabe des dritten Theils der „Symphoniae sacrae“ (1650) hatte sogar der Kurfürst selbst einen Theil der Kosten beigeschossen; S. dankt dafür in der Vorrede und widmet ihm, der es sonst nicht um ihn verdient hatte, dieses unvergängliche Werk. Wie viel noch im Vorrath war, ersieht man daraus, daß er die „Geistliche [766] Chormusik“ als einen ersten Theil ankündigte und auch in einem Verzeichniß von 1647 (Werke, Bd. VII, S. V) dem großen Psalmenwerke von 1619 den Vermerk „Erster Theil“ beifügt, der sich auf dem Titel des Werkes selbst nicht findet. Aber die Fortsetzungen sind nicht erschienen. Die wenigen neuen Compositionen von S., die späterhin noch gedruckt worden sind, haben andere herausgegeben. Er selbst war des Treibens müde geworden.

Mit dem Tode Johann Georg’s I. (8. October 1656), da er nun schon über 70 Jahre zählte, trat endlich für ihn die Zeit der Ruhe ein. Der neue Kurfürst entlastete ihn, der dem Hingeschiedenen noch eine schöne Trauermotette componirt hatte (Werke, Bd. XII, Anhang) vom regelmäßigen Dienst. Die jüngere Capelle wurde mit der älteren vereinigt und die Hofmusik nahm einen neuen Aufschwung, an dem sich der greise Meister aber nicht stark mehr betheiligte. Italienische Künstler, die Johann Georg II. schon als Kurprinz begünstigt hatte, fingen an in der Capelle die erste Rolle zu spielen. Dem konnte S., seinem eignen Bildungsgange zufolge, sachlich nicht zuwider sein. Persönlich empfand er zuweilen schmerzlich die Wahrheit des Worts, daß die Jugend dem Alter gegenüber recht hat. Auch hielt er begreiflicherweise mit den Veränderungen, welche die italienische Musik in der Periode nach Monteverdi erfuhr, nicht mehr gleichen Schritt. Doch stand er zu den jüngeren italienischen Capellmeistern, die ihm beigeordnet waren, in guten Beziehungen; namentlich von Bontempi hatte er eine vortheilhafte Meinung, die dieser durch tiefe Verehrung erwiderte; als er 1660 eine Compositionslehre drucken ließ, eignete er sie dem alten Meister zu. Die Deutschen hingen ihm an wie einem Vater, und was er in den Zeiten bitterer Noth für sie gethan und mit ihnen gelitten, blieb ihm bei diesen unvergessen. Unter ihnen zählte er begabte Schüler, deren hervorragendster Christoph Bernhard war. Jetzt konnte er auch häufiger in seinem geliebten Weißenfels auf eignem Besitzthum weilen; schon im J. 1657 finden wir ihn dort und später noch öfter, auch hatte er seine Bibliothek dorthin schaffen lassen, wo er ungestört arbeiten konnte. Unthätig zu leben, war er weit entfernt. Schon in den vierziger Jahren hatten sich die Beziehungen zum braunschweigischen Hofe in Wolfenbüttel fester geknüpft. Herzog August war seit 1635 in dritter Ehe mit Sophie Elisabeth, einer Tochter des Herzogs Johann Albrecht von Mecklenburg-Güstrow vermählt. Wenn die Vermuthung zutrifft, daß S. schon auf seiner ersten Reise nach Kopenhagen an dessen Hofe Station gemacht hat, so erklärt sich leicht, wie er nach Wolfenbüttel kam. Die junge Herzogin war es, die ihn dorthin zog. Seit 1638 vergehen freilich sieben Jahre, ehe wir von einem neuen Besuche etwas merken. Aber auf der letzten Rückreise von Dänemark war er in Wolfenbüttel eingekehrt und hatte Vorschläge gemacht zur Gewinnung tüchtiger Musiker für die herzogliche Capelle. Ein Brief, den er am 17. März 1645 von Braunschweig aus an die Herzogin richtet, läßt schließen, daß er unmittelbar von Wolfenbüttel kam. Ihm lebte in Braunschweig ein befreundeter Künstler, Delphin Strunck, der treffliche Organist an St. Martini, welcher auch seine gedruckten Werke vertrieb. Daß S., von Kopenhagen rückkehrend, in Niedersachsen eine längere Station gemacht hat, sagt er unter dem 30. Juli 1646 selbst: an diesem Tage waren seine „Sachen“, d. h. die Musikalien eigner und fremder Composition, die er auf der Reise mit sich geführt hatte, noch daselbst rückständig. Den Ort nennt er nicht, es wird aber Braunschweig gewesen sein, wo er sich bei Strunck, oder einem befreundeten Kaufmann, Stephan Daniel, aufgehalten haben mag und von wo aus der herzogliche Hof in Wolfenbüttel immer leicht zu erreichen war. Der Verkehr mit diesem hat bis in Schützens hohes Alter angedauert und aus seinem Briefwechsel mit der musikverständigen Herzogin geht hervor, wie lieb und wohlthuend er dem alten, durch [767] seine Lebensschicksale so vielfach enttäuschten Manne war. Seit Ostern 1655 war er herzoglich wolfenbüttelscher Obercapellmeister von Haus aus mit 150 Thalern Gehalt. Einen Untercapellmeister hatte er in demselben Jahre in dem talentvollen Johann Jacob Löw aus Eisenach angeschafft, der vorher sich in Wien aufgehalten hatte, 1663 als Capellmeister nach Zeitz, 1682 als Organist an die Nicolaikirche nach Lüneburg ging, wo er Sebastian Bach noch erlebte und im September 1703 gestorben ist. S. nannte ihn seinen Sohn und vielgeliebten Freund. Wenigstens bis zum Jahre 1665, da er also 80 Jahre zählte, ist er noch am Wolfenbüttler Hofe thätig gewesen. Persönlich dahin begeben hat er sich 1660 vielleicht zum letzten Male. Die Nachwelt verdankt diesem seltenen Verhältniß die kostbare Sammlung gedruckter und handschriftlicher Werke Schützens, die, von ihm selbst in den Jahren 1664 und 1665 übersandt, die herzogliche Bibliothek zu Wolfenbüttel noch heute aufbewahrt.

In den letzten Lebensjahren litt er an rheumatischen Beschwerden, von denen er im Mai 1663 in Teplitz Heilung zu finden hoffte. Auch sein Gehör nahm ab. Aber obschon er dergestalt vom Verkehr mit der Außenwelt mehr und mehr geschieden wurde, sein inneres Leben erlitt hierdurch keine Verkümmerung. In frühere Zeiten reichen noch die „Zwölf Geistlichen Gesänge“ zurück (Werke, Bd. XII), welche Christoph Kittel nach und nach gesammelt und 1657 mit Schützens Genehmigung herausgegeben hatte. Aber eine Frucht seines höchsten Alters sind vier biblische „Historien“, deren eine, die Weihnachtshistorie, er auf Anordnung des Kurfürsten um 1664 componirte. In diesem Jahre ist sie in Druck erschienen, leider nur was den recitativischen Theil anlangt (Werke, Bd. I, S. 161 ff.). Sie war mit Anfangs- und Schluß-Chor, außerdem mit acht Intermedien im concerthaften Stile ausgestattet, welche sämmtlich verloren gegangen sind, aber durch ihre Inhaltsangaben einen Schluß auf die reiche Mannigfaltigkeit und Phantasiefülle des Werkes gestatten. Die andern drei sind Passionshistorien nach Matthäus, Lucas und Johannes und erschienen nicht mehr im Druck. Die Johannes-Passion trägt das Datum „Weißenfels den 10. Aprilis Anno 1665“, die Matthäus-Passion das Jahr 1666. Einzigartig wie der Anfang dieses Künstlerlebens war, ist auch sein Ausgang gewesen. Daß ein achtzigjähriger Greis Werke schafft, so voll von Leben, Wärme und Tiefe, wie diese evangelischen Historien, dafür kennt die Geschichte kein zweites Beispiel. Auch noch mehrere Psalmen waren „stattlich“ von ihm in Musik gesetzt, aber sie besitzen wir nicht mehr. Den Text zu seiner Grabrede hatte er voraus bestimmt und ihn auch von Christoph Bernhard, einem seiner Lieblingsschüler, als fünfstimmige Motette componiren lassen. Es ist der 54. Vers des 119. Psalms: „Deine Rechte sind mein Lied in meinem Hause“. Bernhard war damals Cantor an der St. Jacobikirche zu Hamburg und hatte von dorther seine Composition geschickt, über die ihm S. zurückschrieb: „Mein Sohn, er hat mir einen großen Gefallen erwiesen durch Uebersendung der verlangten Motette. Ich weiß keine Note darin zu verbessern.“ Am 6. November 1672, Nachmittags um 4 Uhr, ohne Todeskampf, unter dem Gesange der das Lager umgebenden Freunde, ging das Leben dieses großen, guten Mannes zu Ende. Kinder und Kindeskinder hatte er vor sich scheiden sehen, eine einzige Urenkelin stand an seiner Gruft, die man ihm in der Vorhalle der alten Frauenkirche neben der früh verstorbenen Gattin bereitet hatte. Bei der Trauerfeierlichkeit wurden Bernhard’s Motette und mehre von Schützens eigenen Compositionen gesungen. Die sein Grab deckende Marmortafel trug die Worte: Seculi sui Musicus excellentissimus, und eine an der südlichen Wand der Halle eingelassene Broncetafel verkündete ihn als Assaph Christianus, Exterorum Delicium, Germaniae Lumen, Saxoniae Electorum Capellae immortale decus. In der Kunstwelt blieb ihm der Name „Vater der [768] deutschen Musikanten“. S. besaß nicht die stolze Unnahbarkeit Händel’s, Gluck’s und Beethoven’s. Die milde Hoheit seiner menschenfreundlichen Natur erweckte Verehrung und Vertrauen zugleich. Friede und Ordnung gediehen unter seiner liebevoll pflegenden, behutsam glättenden Hand. Tief empfindend und klug erwägend, bescheiden und freimüthig, in seiner geistigen Ueberlegenheit dem Humor geneigt, viel gewandert und welterfahren, aber ebenso ernst und treu beharrend steht er wie eine tröstende Lichtgestalt in einer Zeit des Dunkels und der Wirrniß, ein guter Genius, welcher der deutschen Kunst den rechten Weg wies. –

Die Compositionen Schützens, welche zu seiner Zeit in Druck erschienen sind, dürften mit geringen Ausnahmen erhalten sein, wenngleich manche nur noch in einem einzigen vollständigen Exemplar vorliegen. Außer ihnen ist eine nicht unerhebliche Anzahl in Handschrift überliefert, theilweise gar in der eignen des Componisten. Aber sehr vieles und wichtiges ist in Dresden 1760, in Kopenhagen 1794 durch Feuersbrunst zu Grunde gegangen, und auch in Gera hat wahrscheinlich der große Brand von 1780, welcher sämmtliche Kirchen einäscherte, die dort gewiß zahlreich vorhandenen Compositionen Schützens vernichtet. In Dresden verbrannte sein gesammter musikalischer Nachlaß, welchen er der kurfürstlichen Capelle vermacht hatte. Betrachtet man sein langes, in rastlosem Fleiße hingebrachtes Leben, so kommt man zu dem Schlusse, daß die gedruckten Werke nur den kleineren Theil des von ihm Geschaffenen bilden können und daß jedenfalls ein sehr beträchtlicher Theil als verloren angesehen werden muß. Diejenigen von ihnen, welche zu uns sich hinüber gerettet haben, sind ausschließlich Vocalcompositionen. Daraus folgt noch nicht, daß nicht auch instrumentale dagewesen sein können. Gabrieli, Schützens Lehrer, war ein großer Orgelspieler und -Componist, es wäre verwunderlich, wenn der Schüler sich gegen diese Kunst gleichgültig verhalten hätte. Das scheint nun auch nicht der Fall gewesen zu sein. Mag aus dem Umstande, daß er in Cassel kurze Zeit Hoforganist war, nicht viel geschlossen werden können, da ihm diese Stelle offenbar nur übertragen wurde, um ihn am Casseler Hofe überhaupt zu beschäftigen, so ist doch sehr beachtenswerth, daß ihn der kursächsische Hofpoet Johann Seuße in mehreren Gedichten grade als Orgelmeister preist. Einmal führt dieser den Gedanken aus, daß der Geist beider Gabrieli, des Oheims Andrea und des Neffen Giovanni, in S. vereinigt sei: der eine beseele seine Stimme, der andere beflügle seine Hand. Wäre S. auf seinem Instrument nicht ein über das Mittelmaß hinausreichender Spieler gewesen, so würde es auch nicht leicht zu verstehen sein, wie ein Orgelvirtuos von der Bedeutung Matthias Weckmann’s aus seiner Schule hervorgehen konnte, über den wir erfahren, daß er die Kunst, eine Motette „aus dem bloßen Generalbaß auf zwei Clavieren zu variiren“, bei S. gelernt hatte. Daß dieser auch in der vollstimmigen Instrumentalsonate Giovanni Gabrieli’s sich versucht haben wird, lassen Sinfonien, wie sie z. B. in seinen „Sieben Worten“ vorkommen, vermuthen. Indessen daß er der Gesangsmusik den Vorzug gab, darüber würden schon seine Werke selbst keinen Zweifel bestehen lassen, wäre uns dies auch nicht ausdrücklich als sein künstlerischer Standpunkt von einem Zeitgenossen überliefert, dem er gestattete, es in einem Begleitgedicht zu seinen „Kleinen geistlichen Concerten“ auszusprechen (Werke, Bd. VI, S. VI).

Die italienischen Madrigale, mit welchen S. 1611 in die Componistenwelt eintrat, sind über sechs Dichtungen von Guarini, acht von Marini, eine von Alessandro Aligieri gesetzt; die Dichter der vier übrigen Madrigale haben bis jetzt nicht festgestellt werden können. Marini’s und Aligieri’s Gedichte entnahm er vielleicht einer Madrigalsammlung, welche im Januar 1611 unter dem Titel „Il Garregiamento poetico del confuso accademico ordito“ in Venedig bei [769] Barezzi erschien, woraus folgen würde, daß er diese 9 Madrigale sämmtlich in den ersten Monaten des Jahres componirte, da die Vorrede seines Werkes vom 1. Mai datirt ist. Guarini’s Poesien bestehen in Bruchstücken seines Hirtendrama „Il Pastor fido“, aus dem S. sie unzweifelhaft selbst ausgesucht hat. Als er diese seine Compositionen herausgab, gedachte er noch andere derselben Gattung folgen zu lassen. Dazu ist es nicht gekommen, und italienische Madrigale kennen wir weiter überhaupt nicht von ihm. Aber mit der Kunstform sich zu beschäftigen, hat er auch in Deutschland nicht aufgehört. Sehr empfindlich mußte ihm freilich sein, daß es in der deutschen Litteratur das Madrigal nicht gab, denn die anmuthige Zwanglosigkeit seines Baues machte es zur Composition besonders gut geeignet. Noch fast ein halbes Jahrhundert sollte vergehen, ehe Caspar Ziegler in Wittenberg, durch seine Schrift „von den Madrigalen, einer schönen und zur Musik bequemesten Art Verse“ (Leipzig, 1653) den Anstoß gab, daß auch bei uns diese Form eine nachträgliche Pflege erfuhr. S., der den Ziegler seinen Schwager nennt, begleitete dessen Versuch mit lebhafter Theilnahme. „Und habe ich zwar“, so schrieb er ihm am 11. August 1653 aus Dresden, „ein Werklein von allerhand Poesie bishero zusammengeraspelt, was michs aber für Mühe gekostet, ehe ich denselben nur in etwas eine Gestalt einer italienischen Musik geben können, weiß ich am besten.“ Hieraus geht hervor, daß S. damals eine Sammlung deutscher Madrigalcompositionen fertig daliegen hatte. Diese ist untergegangen, aber vielleicht gehörten zu ihrem Bestande die sieben Madrigale nebst einer Canzonette, die sich vereinzelt handschriftlich erhalten haben. Ein „Madrigale spirituale“ hat zum Text die 9. Strophe des Weihnachtsliedes „Vom Himmel hoch da komm ich her“ (Werke, Bd. XIV, Nr. 10). Ein anderes ist componirt über eine in Alexandrinern abgefaßte Verdeutschung des beliebten anakreontischen Gedichts: Ἡ γή μέλαινα πίνει. Fernere drei nehmen den poetischen Stoff aus den erotischen Ergüssen des Hohenliedes Salomonis, eines derselben versucht auch im Bau und Wechsel der Verszeilen die Madrigalform nachzuahmen (Werke, Bd. XV, Nr. 4) und vielleicht hat man darin Schützens eigne Hand zu erkennen. Die andern beiden sind als Gedichte strophisch gebaut und ebenso die übrigen noch vorhandenen Madrigale, unter welchen eines aus dem Jahre der Oper „Daphne“ (1627) stammt und auch lose mit den Festlichkeiten zusammenhängt, für welche diese bestimmt war. Johann Nauwach, ein Dresdner Kammermusikus, widmete den Neuvermählten eine Sammlung deutscher Villanellen, die er selbst gedichtet und componirt hatte, und eines dieser Gedichte („Tugend ist der beste Freund“) hat S. würdig befunden, von ihm als Madrigal behandelt zu werden (Werke, Bd. XV, Nr. 8). Als die wirkliche Madrigaldichtung in Deutschland in Aufnahme kam, war S. ein alter Mann. Nichtsdestoweniger hat er auch noch mit einem der ersten Nachfolger Ziegler’s darob Verkehr gepflogen, mit Ernst Stockmann, welcher 1660 seine „madrigalische Schriftlust“ herausgab. Von ihm hat der Greis einige Male Texte zur Kirchen- und Tafelmusik verlangt und, wie ein Gedicht Stockmann’s auf ihn anzudeuten scheint, auch componirt. Wer, wie S., die Gesangsmusik auf seine Fahne geschrieben hatte, sah sich dadurch natürlich auf die gleichzeitige Litteratur hingewiesen. Mit Opitz, Buchner, Johann Lauremberg, David Schirmer und andern hat er nachweislich Verkehr unterhalten; daß er dem Königsberger Dichterkreise nicht fernblieb, bewirkte schon sein Neffe Heinrich Albert. Aber bekanntlich war damals auf dem deutschen Parnaß nicht viel zu holen. Schon aus diesem Grunde würde es begreiflich sein, daß S. sich mehr der geistlichen Musik zuwandte, wo er aus der Poesie der lutherischen Bibel, empfindungstiefen Kirchenliedern und Gebeten sich Anregung holen konnte, wenn nicht auch der Zug der Zeit und die eigne Natur ihn dahin geführt hätten.

[770] Sieht man seine weltlichen Madrigale auf das an, was sie als Musik bedeuten, so muß man ihnen zum Theil einen sehr hohen Rang einräumen. Dasselbe gilt von den lateinischen Staats-Compositionen. Unter dem musikalischen Gesichtspunkt läßt sich Geistlich und Weltlich bei ihm überhaupt nicht scharf trennen; es ist ein und derselbe starke Strom, von dem beide Schiffe getragen werden. Dieser Strom bedeutet das, was wir, wenn S. heute lebte, die moderne Richtung nennen würden. Ihr gab er sich um so entschiedener hin, als er erst verhältnißmäßig spät zur Musik kam, in Jahren, da die Lust zu eignem Schaffen schon mächtig zu sein und das Neue den stärksten Reiz auszuüben pflegt. Hätte ihn Landgraf Moritz nicht nach Venedig, sondern nach Mantua zu Monteverdi geschickt, vielleicht hätte die Reife seiner allgemeinen Bildung die gesunde Entfaltung seines rein musikalischen Talentes gehindert. Gabrieli verband in sich aufs glücklichste Altes und Neues, und S. erstarkte unter seiner Leitung zu einem musikalischen Neuerer, der sich fest auf die erprobte Solidität der älteren Kunst stützt. Allerdings geht er gleich in seinem ersten Werke weit über das Aeußerste hinaus, was Gabrieli jemals gewagt hatte, ja er gab sich den Reizen der neuitalienischen Kunst mit einem Enthusiasmus hin, von dem er später selbst um etwas zurückgekommen ist. In dieser Beziehung sind seine italienischen Madrigale ein rechtes Jugendwerk. Chromatische Schärfungen und antiharmonische Hebungen und Senkungen der Gesangsmelodie, welche den Empfindungsausdruck der Sprachmelodie möglichst treu wiederzuspiegeln sucht, treten hier mit verblüffender Kühnheit nicht nur in einer einzigen Stimme, sondern auch contrapunctisch auf. Sprungweise erreichte disharmonische Intervallschritte, wie Septimen, verminderte Quinten, dissonirende Quarten, Umgehung der regelrechten Auflösung einer Dissonanz sind voll jenes Empfindungsüberschwanges allerpersönlichster Art, der in Monteverdi’s „Lamento d’Arianna“ hinreißenden Ausdruck gefunden hatte. Durch Umspielung einfacher Intervallschritte, durch Durchgangstöne auf schwach oder selbst weniger schwach betonten Zeiten gab er der Melodie ein flüssiges und geschmeidiges Wesen, das ihr gestattete, die leidenschaftlichen Accente des Sängers in den verschiedensten Abstufungen aufzunehmen. Dergleichen vollbringen, ohne in ein wüstes Tongewirr zu gerathen, konnte nur ein Talent, welchem zugleich ein lebhaftes Gefühl innewohnte für die logische Ordnung der Grundharmonien, zwischen denen sich die Melodiengewinde hinzuziehen hatten. S. zeigt in den italienischen Madrigalen, daß er dieses Gefühl besaß; auch in gewissen verharrenden Tönen, die vorübergehend harmoniefremd werden, offenbart es sich deutlich. Freilich war von hier bis zur Harmonien-Ordnung im Sinne Bach’s noch ein weiter Weg. Noch gehörten die chromatischen Erhöhungen einzelner Töne nicht wesentlich zum System, es waren vorübergehende, zufällige Erscheinungen zur Steigerung des Affects und der Theorie nach galten c und cis, f und fis immer noch als dieselben Töne. So konnte es ihm beikommen, den natürlichen und den chromatischen Ton in verschiedenen Stimmen unbekümmert zusammenklingen zu lassen; die hieraus entstehende Wirkung, für unsere Ohren verletzend und kaum verständlich, sollte ihm eine besonders süße Gefühlsschwelgerei bedeuten. Er wurde so auf Zusammenklänge geführt, welche eine spätere Zeit nicht mehr gutheißen konnte, weil sie von andern Grundanschauungen ausging, und wenn zufällig erhöhte Töne als Grundlage von Dreiklängen benutzt wurden, mußten Harmonienfolgen entstehen, denen nach moderner Auffassung der Zusammenhang fehlt. Aber die Inbrunst der Empfindung und der energische Tiefsinn, mittelst welcher S. beim ersten Anlauf schon weit über das hinausdrang, was je ein Italiener in diesem Betracht erreicht hat, sichert seinen italienischen Madrigalen für immer den Werth einer der bedeutsamsten Erscheinungen jener Zeit.

[771] Die deutschen Madrigale weichen mit Ausnahme des einen geistlichen von der Form der italienischen wesentlich ab. Sie sind nicht unbegleitete mehrstimmige Gesangsstücke, wie es die Madrigale überhaupt bisher gewesen waren, sondern verwenden den Generalbaß und auch andere Instrumente. Sie nähern sich der Form, welche man damals in Italien Canzonetta zu nennen anfing, und auch der Empfindungsart derselben, sind aber meistens weiter und reicher ausgeführt. Die Anlage mehrer dieser Stücke ist bedeutsam durch die Rolle, welche in ihnen das Instrumental-Ritornell spielt: eingangs führt es eine Anzahl musikalischer Gedanken in ununterbrochenem Zuge vor, die später zwischen den vocalen Abschnitten vereinzelt wieder auftauchen, diese verbinden und das so entstehende Ganze gleichsam nur als Erweiterung des Vorspiels erscheinen lassen (Werke, Bd. XV, Nr. 8 und Anhang). Die im 17. Jahrhundert hervorkommende selbständige Instrumentalmusik suchte Formen anzunehmen, welche durch symmetrische Anordnung und Wechselbeziehung der Theile auch ohne den Regulator der Poesie rein musikalisch verständlich wären. An diesem Werk hat S. durch seine deutschen Madrigale mannigfach mitgearbeitet; wenn schon sie Gesangsmusik sind, bilden sie doch Einheiten, die keineswegs nur durch die Form der Dichtung vorgezeichnet waren. Der leichten, canzonettenhaften Empfindung begegnet man auch in den wenigen weltlichen Liedern, die von S. übrig geblieben sind. Schon der Name Aria, welcher dieser Form in Deutschland während des Jahrhunderts eigen blieb, zeigt, daß die Italiener das Muster lieferten. Um uns von der Musik in Schützens Opern eine deutlichere Vorstellung zu machen, fehlen zwar sichere Anhaltspunkte; aber vermuthen läßt sich, daß auch für sie die Canzonette und namentlich die Aria von Bedeutung waren. Einem dramatischen Talente gaben sie, so scheint es, nicht eben reichliche Gelegenheit, sich zu zeigen. Dagegen ist die in gleichem Jahre mit der „Daphne“ entstandene Festcomposition zum Mühlhäuser Kurfürsten-Convent eine dramatische Scene von erstaunlicher Lebendigkeit und Neuheit. Die Vorstellung ist offenbar diese, daß in der Kirche von der Gemeinde um Frieden gebetet wird, während draußen eine Volksmasse sich mit profanen Jubelrufen auf die versammelten Kurfürsten gütlich thut. Jeder der beiden Chöre ist mit großer Kraft charakterisirt, und beide werden eben so scharf auseinander gehalten wie kunstvoll in einander gefügt. Schwerlich hat sich früher schon jemand an eine Aufgabe wie diese gewagt, welche zugleich in ihrer Mischung von kirchlich und weltlich jene freiere Anschauung gewahren läßt, die dem Oratorium zu Grunde liegt.

Auf geistlichem Gebiete schließen sich an die italienischen Madrigale von 1611 die Cantiones sacrae von 1625 und die geistliche Chormusik von 1648. Die drei Werke liegen zeitlich scheinbar weit auseinander. Allein die beiden letzteren fassen nur zusammen, was im Laufe der Jahre allmählich geschaffen war, so daß sie sich in einzelnen Bestandtheilen berühren, ja ineinander übergreifen könnten. Im übrigen bezeichnen sie, als Ganzheiten betrachtet, in der That verschiedene Stationen in des Künstlers Entwicklungsgang und tragen demgemäß unterschiedenes Gepräge. In den Cantiones zeigt sich der ungestüme Jugenddrang beschwichtigt und die gährende Kraft geläutert. Aber in der vollsaftigen Empfindungsweise stehen sie den Madrigalen nicht nach. Wenn man sie den Texten nach als Motetten bezeichnen müßte, so sind sie doch als Musikstücke in der Mehrzahl vielmehr geistliche Madrigale zu nennen, so bis zum Rande gefüllt sind sie mit subjectivem Pathos. S. sagt, sie seien zum Theil im älteren, zum Theil im neueren Stile geschrieben. Der letztere überwiegt stark, doch darf man auch bei ersterem nicht an archaisirende Schulstudien denken. Auch sie, die man leicht herauserkennt (Nr. 9, 10, 19, 20, 29), enthalten Züge voll persönlichen Ausdrucks und frappirender Erfindungskraft, während sie zugleich den [772] Beweis führen, wie sicher S. die ältere contrapunctische Technik handhabte. Einige wenige Stücke sind noch darin, die weder älteren noch neueren Motetten- oder Madrigalstil, sondern vielmehr den Charakter des neuaufgekommenen geistlichen Concerts tragen (Nr. 32, 33, 34, 35) und dadurch auf eine weit über jene Formen hinausführende Entwicklungsbahn der Tonkunst hinweisen. Umfängt uns bei den Cantiones sacrae das berauschende Gefühl, als sei man in den Frühling einer neu entdeckten Welt eingetreten, so bietet die geistliche Chormusik gereifte Früchte eines gesegnetes Herbstes. Der vollkommene Ausgleich, zu welchem sich die polyphone Vocalkunst des 16. Jahrhunderts in dem ganzen Umfange ihrer Eigenthümlichkeiten mit der vocal-instrumentalen, auf die Monodie und die Harmonieverwandtschaft gegründeten Musik des 17. Jahrhunderts verbindet, erhebt die geistliche Chormusik zu dem schönsten Motettenwerke ihrer Zeit. Neigen die Cantiones mit dem blühenden Gewoge ihrer Empfindungen mehr dem Weltlichen zu, so die Chormusik mit ihrer mildernsten Zurückhaltung dem Kirchlichen, wie denn auch die Ordnung der einzelnen Stücke sich an den Gang des evangelischen Kirchenjahres erkennbar anschließt und die Texte ohne Ausnahme der lutherischen Bibel und deutschen Kirchenliedern entnommen sind. Den kirchlichen Charakter kehrt auch die Mehrzahl der zwölf geistlichen Gesänge von 1657 mit Entschiedenheit hervor.

Wo wir S. als Componisten deutscher geistlicher Werke begegnen, zeigt sich sein Sinn vorzugsweise auf die Psalmen der lutherischen Verdeutschung gerichtet und manche derselben hat er mehr als einmal in Musik gesetzt. Die meisten Psalmen waren wegen ihrer Länge zur motettenartigen Behandlung nicht geeignet; oder man mußte sie in eine Anzahl selbständiger Stücke zerlegen, wie S. beim 116. Psalm wirklich gethan hat, dann aber ging der Psalm als poetische Einheit verloren. Darum versuchte er es mit einer zwar chorischen, aber mehr recitativischen Art der Composition, die rascher von Satz zu Satz fortschritt und nur zuweilen von breiter entwickelten polyphonen Partien unterbrochen wurde. Das Vorbild für diese Behandlung war im einstimmigen kirchlichen Psalmengesange gegeben, und das „Ehre sei dem Vater“ (Gloria patri), welches der Mehrzahl dieser Compositionen angehängt ist, beweist, daß S. die kirchliche Bestimmung vor Augen hatte. Stücke solcher Art sind es, die größtentheils den Inhalt seines Psalmwerkes von 1619 bilden. Er schuf mit ihnen für die deutsche Musik etwas neues, das um so kühner gedacht erscheinen muß, als er die Psalmen nicht für einen einfachen vierstimmigen Chor setzte, sondern für deren mindestens zwei, denen meistens noch einer oder mehre ergänzende Chöre hinzugefügt wurden. War schon respondirende Zweichörigkeit eine Eigenthümlichkeit venetianischen Stils, so vollends jene gewissermaßen im Hintergrund gehaltenen Chormassen, die an den entscheidenden Stellen mit ihrem Glanz hervorbrechen und auf seinen Wellen die Hauptchöre dahin tragen sollten. Indem es für solchen Zweck dem Componisten nicht mehr darauf ankommen konnte, jede Stimme der Ergänzungschöre in ein contrapunctisch selbständiges Verhältniß zu den Stimmen der Hauptchöre zu setzen, ergab sich eine neue Satzweise, welche Aehnlichkeit mit der des classischen Sinfonie-Orchesters hat. Den Kern des Satzes bilden die Hauptchöre, in ihnen sind alle Stimmen selbständig geführt. Die Complementchöre oder Capellen dagegen müssen zwar in sich auch rein gesetzt sein, können aber nach Belieben bald die Stimmen der Hauptchöre verstärken oder verdoppeln, bald deren Zusammenklänge durch selbständige Tongänge bereichern, und von strenger Correctheit der Stimmenfortschreitungen wird hierbei zu Gunsten der klanglichen Fülle abgesehen. Sie sind es vor allem, in denen nun die Instrumente: Zinken, Posaunen, Fagotte, Geigen, ihre Wirkungen entfalten, während in den Hauptchören die Menschenstimme herrscht oder doch vorherrscht. Doch findet sich, daß [773] auch in die Capellchöre Menschenstimmen hineinsingen, und umgekehrt die Hauptchöre durch eine instrumentale Beimischung gefärbt werden; die Aufstellung der verschiedenen Chorkörper, welche S. immer mit besonderer Aufmerksamkeit beachtet wissen will, thut dann das weitere, um alle Factoren zu einem vielfarbig glänzenden Gemälde zusammenfließen zu lassen. Mag S. in der breitwogenden Pracht des Klanges seinen großen Lehrer mindestens nicht übertroffen haben, stärker als dieser ist er in der Kühnheit, mit welcher er, gestützt auf den Generalbaß der Orgel, die Massen regiert, und auch in der Mannigfaltigkeit des Colorits. Nicht weniger als 19 vollständig componirte Psalmen sind in der Sammlung von 1619 enthalten. Den übrigen Stücken liegen kürzere Bibelabschnitte zu Grunde, einem ein Kirchenlied. Indessen herrscht in den vollständigen Psalmen nicht immer die gleiche Compositionsart. Die ersten 17 sind sämmtlich für zwei Hauptchöre gesetzt, während bei den übrigen mehr als zwei verwendet und diese in ein künstlicheres Verhältniß zu einander gebracht werden. Davon abgesehen wird in einige durch Gegenüberstellung von Solostimmen und Chormassen ein stärkerer concerthafter Zug hineingetragen und um den Gegensatz recht wirksam zu machen, auch einmal von der rasch fortschreitenden declamatorischen Behandlungsweise abgesehen.

Der Begriff „Concert“ war im zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts noch nicht zu voller Schärfe ausgeprägt. Ursprünglich sollte er nichts weiter andeuten als eine besonders lebhafte Wechselbeziehung der zusammenwirkenden Kunstorgane. Daher konnte am Ende des 16. Jahrhunderts schon ein lebendiger Wechselgesang zweier Chöre ein Concert genannt werden. Seit Viadana erscheint die Mitwirkung des Generalbasses erforderlich, da erst auf dessen Grundlage die einzelnen Factoren sich in voller individueller Freiheit ausgeben konnten. Immer bleibt der Charakter leidenschaftlicherer Bewegtheit, die der feierlichen Würde vorgängiger kirchlicher Kunst sich entgegensetzt, auch für die formale Entwicklung des Concerts maßgebend. S. hat mit den Psalmen einige Werke vereinigt, die er ausdrücklich Concerte nennt. Sie unterscheiden sich von jenen größeren Theils nur durch ein breiteres, mannigfaltigeres und vielfarbigeres Wesen. Ein tiefgreifender Unterschied ist meistens nicht vorhanden, und ebenso verhält es sich mit den zahlreichen Compositionen ähnlicher Gattung, die sich nebenher noch erhalten haben. Sechs Psalmen, mehre lateinische und deutsche Hymnen, vier Hochzeitsgesänge und anderes gehört dahin. Stücke, wie das Domini est terra (Werke, Band XIII, Nr. 1) sind von grandiosem Wuchs und überwältigender Klangpracht. Auch zeigt S. sich deutlich bestrebt, die Massen zu gliedern und durch rein musikalische Mittel in eine übersichtliche Form zu bringen. Mehrfach geschieht dies durch einen vollstimmigen kürzeren Tonsatz, der das Ganze einleitet und dann nach schwächer besetzten, gegensätzlich charakterisirten Abschnitten jedesmal als eine Art Ripresa wiederkehrt (z. B. Band III, Nr. 5 und Band XIV, Nr. 12). Es ist bemerkenswerth, daß S. diese Form unmittelbar der vollstimmigen Instrumentalcanzone Gabrieli’s nachgebildet hat. So früh schon macht die Instrumentalkunst ihren Einfluß auf die musikalische Formenwelt geltend, durch den diese in der Folgezeit von Grund aus verändert werden sollte. Das chorische Concert bot nun zwar auch für die Einfügung des Einzelgesanges Raum, und S. hat ihn nicht unbenutzt gelassen. Aber obgleich scheinbar alle musikalischen Mittel in ihm zur Geltung kommen konnten, welche jene Zeit verfügbar hatte, S. ist dieser Gattung des Concerts nicht dauernd treu geblieben. Nach seiner zweiten italienischen Reise dürfte sie für ihn abgethan gewesen sein. Wie in Italien auf die chorische Instrumentalsonate die schwach besetzte, durchaus solistische Kammersonate so unmittelbar folgte, daß man nicht sowohl von einem genetischen Zusammenhang, als von einem plötzlichen Umschlag zu reden hat, ebenso setzte sich der [774] vielstimmigen Gesangsmusik der Sologesang siegreich entgegen. Auch zeitlich laufen heide Erscheinungen durchaus parallel. Im Jahre 1628 war der Kampf schon entschieden, und diese Dinge sind es, auf welche S. hindeutet, wenn er 1629 von Venedig aus schreibt, daß eine neue Art der Musikübung in Italien aufgekommen sei. Von nun an stützt sich seine Concertcomposition eine lange Zeit fast ausschließlich auf den Sologesang, den er durch den Generalbaß und auch andere Instrumente begleiten läßt; unter diesen erhalten die Violinen bald die Oberhand, die vorher neben den Blasinstrumenten nur eine zweite Rolle gespielt hatten. Die beiden Theile der „kleinen geistlichen Concerte“ von 1636 und 1639, der erste und zweite Theil der Symphoniae sacrae von 1629 und 1647 sind mit Concerten dieser Gattung gefüllt. Hier öffnet sich zum Theil eine ganz neue Formenwelt, denn je weniger substantiell das Material, desto williger fügt es sich der bildenden Hand des Künstlers. Wenn aber Peri’s und Caccini’s erste Versuche in der Monodie ein Bruch mit der Vergangenheit sind, so hat S. die Verbindung wieder angeknüpft, und soviel, als möglich war, von den alten Formen in das solistische Concert hinübergeleitet. Wir finden Stücke von durchaus recitativischem Charakter; wo aber mehr als eine Stimme in Thätigkeit tritt, stellt sich doch der nachahmende Stil wieder ein, und auch die hinzugesellten Instrumente erweisen sich ihm unterthan. Wie in Motette und Madrigal schreitet die Composition satzweise mit dem Texte fort, aber um die Gruppen bestimmter hervor- und von einander abzuheben, treten instrumentale Vor- und Zwischenspiele, sogenannte Sinfonien, ein. Mehr noch: eine musikalische Architektonik wird angestrebt, welche Haupt- und Nebengedanken sondert und jene durch häufigere Wiederholung als die eigentlichen Stützpunkte des Ganzen erkennbar macht. Die Anlehnung an instrumentale Formen, schon im chorischen Concerte wahrzunehmen, erweist sich hier ganz besonders förderlich. Ein längerer Anfangsabschnitt kehrt am Schlusse wieder und umschließt ringartig den Mitteltheil. Eine kürzere Anfangsgruppe wiederholt sich in der Mitte und am Ende. Ein Text wird in verschiedenen Theilen componirt, denen allen derselbe Schlußsatz (Ripresa) angehängt wird. Oder dieser Schlußsatz erscheint in immer neuen Umwandlungen, die jedoch seine Urgestalt stets erkennen lassen. Oder gar eine weit ausgeführte Sinfonie macht den Anfang, und wenn sie cyklisch wiederkehrt, wird sie durch hinzutretende Singstimmen contrapunctisch bereichert (Werke, Band V, Nr. 15). Bedeutsame Sinfonien. die zum Theil einer besonderen Art von italienischen Instrumentalcanzonen nachgebildet sind, finden sich namentlich in den Symphoniae sacrae von 1629, welche in italienischer Umgebung entstanden. Im vocalen Theile stehen neben belebtem, energischem Sprechgesang langathmige Melodien von einer Schönheit und Tiefe, wie sie nicht nur der früheren Zeit, sondern auch den italienischen Zeitgenossen Schützens fremd waren, und als sein eigenster Besitz angesehen werden müssen. Verbraucht erscheint uns das Mittel der Affectsteigerung durch Wiederholung derselben Melodiephrase auf höheren Tonstufen; in jener Zeit war es das noch nicht, und es kommt wohl nur auf die Art des Vortrags an, der das einzelne im ganzen richtig zu gestalten weiß, um das Mittel auch für heute wieder annehmbar zu machen. Bei Concerten für nur eine Singstimme wird oft die Vertauschung einer Sopranstimme durch einen Tenor freigestellt. Hierin zeigt sich der Durchbruch einer ganz neuen Anschauung am einfachsten. Die ältere Kunstmusik abstrahirte auch die einzelne Stimme immer von einem mehrstimmigen Satze, konnte sie daher auch von ihrer ursprünglichen Tonlage nicht loslösen.

In dem dritten Theile der Symphoniae sacrae (1650) tauchen die ergänzenden Chöre wieder auf. S. zeigt dadurch, daß er die beiden Formen des chorischen und solistischen Concerts abschließend zu verbinden strebte, hat er doch [775] sogar eine vereinzelte Composition des Jahres 1619 in dieses Werk aufgenommen (Band XI, Nr. 5). Indem hierdurch die Massenmusik zum Einzelgesang, die allgemeine Empfindung zur persönlichen innerhalb eines und desselben Ganzen in lebhafteren Gegensatz gebracht wurde, ist der Grundriß für die gesammte kirchliche sowohl wie oratorienhafte Kunst der nächstfolgenden hundert Jahre fertig gestellt, wenn auch zunächst in kleinen Maßverhältnissen. Aber welche Entwicklung immer der Sologesang noch erlebte, er ließ sich in diesen Rahmen einfügen. Der Chorgesang nicht minder, doch hat dieser seine Formen nicht in gleichem Maße mehr geändert, da S. nicht nur den concerthaft leidenschaftlichen mehrstimmigen Satz für den chorischen Charakter empfänglich gemacht, sondern auch der strenger stilisirten Motette schon die Mitwirkung der Instrumente zugeführt hatte. Sowohl Bach wie Händel wurzeln in Schützens geistlichem Concert, doch dieser unmittelbarer und tiefer. Das Oratorium schließt sich um eine Begebenheit, welche es in erbauliche Betrachtung auflöst. Biblische Vorgänge hat S. mehrfach so behandelt: die Verkündigung des Engels Gabriel an Maria, den Knaben Jesus im Tempel, den Pharisäer und Zöllner im Tempel betend. Wenn er die biblischen Historien von Christi Geburt, Leiden und Auferstehung, zu denen auch die Composition der Sieben Worte zu rechnen ist, in Musik gesetzt hat, so ist es zu demselben Zwecke geschehen. Hier waren allerdings kirchliche Gebräuche und liturgische Formen vorhanden, auf die er sich stützen konnte, und in beschränktem Maße hat er es auch gethan. In der Absingung des biblischen Textes mit vertheilten Rollen, auch in der Art wie die Historie eingeleitet wird und ausklingt, folgte er der kirchlichen Tradition. Aber die Verwendung des Lectionstones ist doch nur eine scheinbare, da er in denselben das ausdrucksvollste Recitativ seiner Zeit hineingebildet hat, und wenn er in dem Werk seines Alters, den Passionen, auf jedes begleitende oder stützende Instrument verzichtet, so liegt darin nicht das Anzeichen einer resignirten Rückkehr zu bewährten kirchlichen Kunstformen, sondern vielmehr einer Steigerung seiner durchaus modernen dramatischen Anschauungsweise. Wenn man in unserer Zeit die eine und andere dieser Passionen wieder aufzuführen versucht hat, so hat man unwissentlich mit dem Schwierigsten begonnen, und erschien zu dem Zwecke die Hinzufügung einer Orgelbegleitung nöthig, so ist durch diese ein wesentlicher Charakterzug der Werke verwischt worden. Daß S. sich jeder Begleitung enthielt, dazu war die nächste Veranlassung wohl das Verbot, während der Leidenszeit in der Kirche mit Instrumenten zu musiciren. Aber der äußere Umstand wurde für ihn die Quelle besonderer künstlerischer Anregung, Diese drei Passionen (die Marcuspassion halte ich für unecht, da sie aus Schützens Stil gänzlich herausfällt) sollen, allerdings im Rahmen der Liturgie, die Begebenheit durch die Mittel des musikalisch-dramatischen Vortrags mit größtmöglicher Natürlichkeit versinnlichen. Für die Auferstehungshistorie äußert S. den Wunsch, man möge die Musicirenden so aufstellen, daß nur der Evangelist gesehen würde, alle übrigen aber den Blicken der Hörer entzogen wären. Er meinte dadurch die Phantasie der Zuhörerschaft, die nun ausschließlich auf die Eindrücke des Gehörssinnes angewiesen war, aufs intensivste anzuregen. Wegen der Passionen ist eine solche Vorschrift nicht bekannt geworden, und da sie vielleicht nicht vom Orgelchor herab, sondern im Altarraum gesungen werden sollten, möchte auch ihre Erfüllung schwer zu bewerkstelligen gewesen sein. Aber deutlich erkennt man doch des Meisters Absicht. Die Erzählung des Evangelisten rollt gleichsam die Bilder der Begebenheiten vor dem inneren Auge auf und ersetzt so die fehlende Scene. Ist die Phantasie des Hörers in diese Disposition gebracht, so sollen ihr die handelnden Personen durch Wort und Ton ohne jede Störung unterstützender musikalischer Organe [776] nahetreten. Der Versuch, die Passionen ganz originalgetreu aufzuführen, würde jedenfalls neue, eigenthümlich dramatische Wirkungen zu Tage fördern.

Das besondere evangelisch-kirchliche Element ist aber in diesen Historien schwach vertreten. Nur an einer einzigen Stelle, im Schlußchor der Johannespassion, hat S. eine gegebene Choralmelodie benutzt. Ueberhaupt nimmt er zum Choral eine unabhängige Stellung ein. Nicht selten componirt er Gesangstücke über Strophen von Kirchenliedern, kümmert sich dabei aber nicht um die zugehörige Melodie, sondern behandelt sie eben als brauchbare Dichtungen. In anderen Fällen nimmt er zwar Rücksicht auf die Melodie, aber nur ganz ausnahmsweise führt er sie motettenhaft als Cantus firmus durch. Sein Verhalten ist gewöhnlich jenes viel freiere, phantasievoll launenhafte, für das die Musiker des 16. Jahrhunderts den Ausdruck ad imitationem gebrauchten: die Choralmelodie erscheint mehr nur als Anregung zur eigenen Composition, nicht als herrschende und führende Macht in ihr. Manchmal begnügt er sich mit verstreuten Anklängen, die sichtlich nur den Zweck haben, den Stimmungshintergrund poetisch zu vertiefen. Oder er verwendet sie wohl vollständig, aber concerthaft pathetisch, mit gruppenweiser Anordnung und Wiederholung der Zeilen, mit Vor- und Zwischenspielen und überhaupt so reichlich untermischter freier Erfindung, daß man deutlich erkennt, die Choralmelodie war ihm eben nur ein Ingredienz neben anderen (s. z. B. Band VII, Nr. 14 und 15). Er treibt es hier nicht anders, als wenn er über ein Madrigal Monteverdi’s eine eigene Composition macht. Unrichtig aber ist es, dies Verfahren unkirchlich zu nennen und demgemäß den stilistischen Werth solcher Werke zu bestimmen. Es kann nicht stark genug betont werden, daß das Verhalten des evangelischen Künstlers zu dem Volksgesang seiner Kirche damals ein anderes sein mußte, als hundert Jahre später zu den Zeiten Bach’s. S. erwuchs und wirkte in einer Periode, da der weltliche Volksgesang noch unablässig in den geistlichen überging; so wenig wie die Grenzen zwischen beiden genau zu bestimmen waren, standen sie auch unter sich im Gegensatz. In Bach’s Zeiten hatten sich die Hauptchoralmelodien zu kirchlichen Symbolen vertieft und forderten demgemäß ihre besondere Behandlung. Für S. war davon noch keine Rede. Eine Choralbehandlung im Sinne Bach’s wäre damals garnicht verstanden worden. Ohne Frucht für die Entwicklung der Kunst sind aber Schützens Choralarbeiten nicht geblieben. Merkwürdigerweise war es das Gebiet weltlicher Instrumentalmusik, wo sie gebrochen werden sollte. Es gibt von ihm einige Compositionen über Kirchenlieder, deren Text er vollständig benutzt, während er die Melodie nur bei der ersten (einmal auch noch der letzten) Strophe beibehält. Dagegen bleibt der Grundbaß, über dem sie auftrat durch alle Strophen derselbe; dieser regulirte die Harmonie und hält nun im Hörer die Erinnerung an die Melodie dergestalt wach, daß sie ihm innerlich weiterklingt durch all die wechselnden Gebilde, welche in der Folge sich über dem Grundbasse erheben (Band VI, S. 59 ff., S. 147 ff.; Band VII, Nr. 26). In einem dieser Stücke wirken noch zwei Violinen mit, die durch Zwischenspiele den Charakter der Aria markiren und im Vorspiele eine Probe davon geben dürften, wie der Orgelspieler Schütz gelegentlich eine Choralmelodie durchgeführt hat. Sonst sind sie die bedeutungsvollen Urbilder jener höchsten und kunstreichsten Form der Claviervariation, die Bach in einem Musterwerke vollendet hat, und Beethoven und Brahms nach ihm gepflegt haben.

Eine Melodie, welche in den Volksmund übergegangen wäre, hat S. nicht erfunden. Dies steht nicht zu verwundern, da es seine Lebensaufgabe sein sollte, die deutsche Kunst gerade durch Zuführung fremdländischer Elemente zu bereichern, hat aber seinen Grund gewiß auch in dem Hinwelken des deutschen Volksgesanges an sich, das wir im Jahrhundert des großen Krieges bemerken. Er hat doch [777] manch ein Lied geschaffen, das mindestens das gleiche Recht besessen hätte, zum kirchlichen Volkslied zu werden, wie dies und jenes seiner Zeitgenossen. Eine köstliche Sammlung geistlicher Lieder bietet sein Psalter nach Becker’s Dichtungen (Werke, Band XVI). Die absichtlichen Anklänge an bekannte Melodien, welche in einigen Gesängen auftauchen, scheinen zu beweisen, daß er sich in ihnen bemühte, volksthümlich zu erfinden, und mehr als einmal ist ihm dies in schönster Weise gelungen. Die meisten Gesänge sind aber zu aristokratischen Wesens, als daß die Masse ihr Empfinden in ihnen hätte wiedererkennen können. Es ist erstaunlich, welch eine Fülle von Bildung und Geist auch diese kleinen Tonsätze in sich schließen. Nur ein auf der Höhe künstlerischer Herrschaft waltender Meister konnte den alten Tonarten, die schon im Abendroth ihres Tages standen, noch einmal einen solchen Reichthum von Wirkungen abgewinnen. Auch die ältere Rhythmik gehorcht ihm willig, wo er sie braucht. Aber in das Farbenspiel mischt sich zugleich das Licht einer neuen Zeit. In Stimmenführung und Harmonie macht es sich geltend, am meisten in der Melodieerfindung und dem Glanz des poetischen Erfassens. Die Mannigfaltigkeit des Empfindungsausdrucks und der Charakterisirung muß Bewunderung erregen. Stille Ergebung im Leid und feierliche Andacht, leidenschaftliches Rufen aus tiefer Noth, zornige Erregtheit und kriegerische Energie, Lobsingen Gottes in fast bacchantischem Schwung und wieder in tief innigem Genügen, für alles hat der Componist scheinbar unerschöpfliche Ausdrucksmittel bereit. Uebertroffen werden diese Vorzüge fast noch durch die plastische Kraft, mit welcher Schütz auch in dem engen Rahmen der Liedform Charakterbilder auszuführen vermag, welche die poetischen Vorstellungen musikalisch wiederspiegeln. Man hört nicht nur, man glaubt zu sehen. Und dies führt auf eine der größten Eigenschaften des Mannes. Das Eindringen der Musik in die Tiefen der dichterischen Schöpferkraft ist ein Hauptmerkmal jener neuen Kunstbewegung, die um 1600 von Italien aus begann. Sie hat keinen genialeren Apostel gehabt als S., und vielleicht wird man einmal sagen, daß er in dieser Richtung allen älteren und jüngeren Zeitgenossen weit voraus gewesen ist. Es geschah in ihrem Zuge, wenn er seinem Schüler Weckmann rieth, behufs Componirung von Texten aus dem Alten Testament Hebräisch zu lernen, und in seinen Passionen hat er gezeigt, wie tief er durch die lutherische Uebersetzung hindurch in die Urvorstellungen des Evangeliums einging. Er besaß die geheimnißvolle Gabe, jene herzbewegenden Accente und Tonbiegungen zu finden, welche, scheinbar den Modulationen der Sprache abgelauscht, uns in die Tiefen individuellen Empfindens hinabschauen lassen. Die inneren Vorstellungen und Anschauungen, welche die Poesie erzeugt, sog er gleichsam musikalisch aus, so deutlich läßt der Krystall seiner Töne deren ganzes Wesen durchscheinen. Der Stern, welcher den Weisen voranzieht und leuchtend über Bethlehem stehen bleibt, der Engel vom Himmel, der den Stein vom Grabe des Gekreuzigten abwälzt, der Beter, der mit andachtsvoller Bewegung vor Gott niedersinkt, das Klopfen des liebenden Mädchenherzens, die Thautropfen, welche aus den Locken des Geliebten niederfallen – hundertfältig stehen in Schützens Werken die Beispiele, welche derartige und andere Vorgänge, wo sie immer die Poesie darbietet, mit greifbarer musikalischer Plastik versinnlichen. Eine Begabung wie diese mußte naturgemäß zur dramatischen Scene hinziehen. S. hat sich mit ersichtlicher Vorliebe und feinem Takt Abschnitte solchen Charakters aus der Bibel ausgewählt. Einige derselben wurden schon erwähnt als Beispiele der oratorienhaften Tendenz, Begebenheiten ins Lyrische zu verallgemeinern. Die dramatisirende Behandlung ist für die Darstellung dieser Begebenheiten aber nicht die allein mögliche, und wenn S. sie vorzog, zeigte er dadurch, daß sie seinem Wesen am meisten entsprach. Die Scene, wo der selbstgerechte Pharisäer und der zerknirschte [778] Zöllner mitsammen im Tempel beten (Werke, Band XIV, Nr. 4), gehört, so knapp gefaßt sie ist, zu den größten dramatischen Meisterwerken des Jahrhunderts, und kaum weniger ergreifend, nur durch die Mehrstimmigkeit etwas gebundener im Ausdruck, ist das Wechselgespräch zwischen dem auferstandenen Jesus und der ihn erkennenden Maria (Band XIV, Nr. 5), oder zwischen der Braut und dem Bräutigam aus dem Hohenliede (Band V, Nr. 18). Auch für den dramatischen Monolog sind die Beispiele vorhanden. Ein Prophet tritt unter seinem Volke auf, um es zu lehren; ihm werden die Anfangsworte des 78. Psalms in den Mund gelegt (Band V, Nr. 14). Daß es S. nicht auf den Inhalt des Textes ankommt, sondern nur auf die Darstellung einer hoheitsvollen Persönlichkeit, ergibt sich daraus, daß der Bassist nichts weiter singt, als die Aufforderung, ihm zuzuhören. Ein Seitenstück ist die Klage Davids um Absalon (V, Nr. 13). Tongänge, Declamation, Gruppirung des Tonmaterials sind hier von so sprechender Natur, daß es durchaus keiner äußeren Zuthaten mehr bedurfte, um die Scene des leidenschaftlich um sein Lieblingskind klagenden königlichen Greises zu vervollständigen. Ganz und gar dramatisch erfaßt und hierin einen entschiedenen Gegensatz zu Bach bildend sind die Vorgänge in den Passionen, überdies hat es der Meister auch vermocht, seine Tonsprache je nach dem verschiedenen Charakter der drei Evangelisten abzustimmen. Daß sich diese Seite seines Talents auch in der Weihnachtshistorie mannigfach bewährt haben wird, können wir aus der Inhaltsangabe der concerthaften Intermedien wohl ahnen. Hier muß sogar manches zur musikalischen Darstellung gekommen sein, was nicht unmittelbar die agirenden Personen betraf, sondern die Scene, welche diese in der Vorstellung des Componisten umgab. Leicht ließe sich aus Schützens Werken eine lange Reihe von Stücken zusammenstellen, in denen seine Phantasie bis zu dieser höchsten Lebhaftigkeit und Vollständigkeit des inneren Schauens vordrang. Das berühmte Concert von der Bekehrung des Saulus (Band XI, Nr. 8) läßt uns nur die göttliche Stimme hören, aber wie in hundertfachem Echo von allen Seiten zurückgeworfen dringt sie auf den am Boden Liegenden ein, der, von der Majestät dieses Eindrucks bezwungen, verstummt. Das erste der Kleinen geistlichen Concerte von 1636 konnte nur der Vorstellung von einer in der Oede Verlassenen entquellen, die weithinaus nach einem Helfer ruft. Im Schlußsatze der musikalischen Exequien klingt Engelsgesang vom Himmel zur Erde nieder. Der Mühlhäuser Festcomposition liegt gleichsam die Vorstellung einer zweigetheilten Bühne zu Grunde: hier das Innere der Kirche, dort der freie Platz vor derselben, auf dem sich das Volk drängt, während in der Kirche fromme Gesänge ertönen. So voll von Poesie war Schützens Künstlerherz, daß nach Composition eines Werkes zuweilen ein Ueberschuß davon zurückblieb, den er dann in tief empfundenen Beischriften ausließ. Die schönen Verse, welche er an den Schluß der Auferstehungshistorie und vor den Anfang der „Sieben Worte“ setzte, der Bibelspruch, welcher das Titelblatt der Auferstehung ziert, und anderes geben davon Zeugniß.

S. hat natürlich eine große Anzahl hochbegabter Schüler gehabt, Bernhard, Weckmann, Adam Krieger, sein Neffe Heinrich Albert gehörten zu ihnen. Aber wenn man sie auch alle namhaft machen wollte und könnte, nicht im entfernten würde man damit die Grenzen seines kunsterziehlichen Einflusses angedeutet haben. So wie von ihm hat niemals von einem anderen das ganze musikalische Deutschland gelernt. Ob Künster von Beruf oder Liebhaber, alle sahen sie zu ihm auf als einer obersten Autorität, gingen ihn um seinen Rath und in Streitsachen um seine Entscheidung an, suchten seine Zustimmung und waren seiner Theilnahme froh. Eine stattliche Anzahl Aeußerungen, zu denen S. in diesem Sinne veranlaßt wurde, läßt sich sammeln, und vieles gleicher Art wird im Laufe der [779] Zeiten noch ans Licht treten. Ueberzeugender noch als aus solchen Aeußerlichkeiten offenbart sich sein unermeßlicher Einfluß aus den Kunstwerken des Jahrhunderts selbst. Bis in die zweite Hälfte desselben hinein stehen sie in unmittelbar zu erkennender Abhängigkeit von ihm, sofern es sich nicht um Gattungen handelt, denen er sich ferner hielt, wie Orgel- und Claviermusik, oder in welchen wir, wie in der Oper, seine Thätigkeit nicht mehr abschätzen können. Vielleicht ist seine erstaunliche dramatische Befähigung in den theatralischen Werken nicht einmal voll hervorgetreten; die Dichtungen waren nicht darnach, ihr den nöthigen Vorschub zu leisten. Im musikalisch-dramatischen Ensemble zeigt er sich seiner Zeit so weit vorausgeschritten, daß ein halbes Jahrhundert triebkräftiger Entwicklung noch nicht genügte, ihn einzuholen. Sein Verhältniß zu Händel und Bach kann nur ideell begriffen werden, ein Zusammenhang in dem Sinne, daß diese einst aus seinen Werken zu lernen versucht hätten, ist nicht nachweisbar. Große Züge hat er mit jedem von beiden gemeinsam: mit Händel die Neigung zum Oratorienhaften, Plastischen, Dramatischen, die freie Empfänglichkeit für die Vorzüge der italienischen Musik, wie für alles, was die weite Welt darbot, mit Bach das Fromm-Beschauliche und die tiefe Gefühlsinnigkeit. Kaum einer unserer größten Tonkünstler hat in gleicher Harmonie, wie Schütz, zu vereinigen gewußt: helle Ausschau ins Leben, unbefangene Würdigung aller seiner Erscheinungen, und stilles Versinken in die mystischen Tiefen des eigenen Gemüths; keiner ist gewesen, der solche künstlerische Eigenschaften in gleichem Maße durch Güte und Hoheit der menschlichen Gesinnung verklärt hätte. Als Vermittler zwischen zwei Kunstperioden von fundamentaler Gegensätzlichkeit hat er dem Verständniß unserer Zeit gegenüber einen schweren Stand. Es fällt leichter, die Kunst des 15. und 16. Jahrhunderts zu begreifen, bei der im voraus angenommen wird, daß auf eine Menge von modernen Voraussetzungen schlechthin verzichtet werden muß, als die Kunst einer Zeit, in welcher die Anschauungen der Gegenwart und fernen Vergangenheit sich unentwirrbar durchkreuzen. Kein Zweifel, daß um einer solchen Musik gegenüber als ästhetisch Genießender sich zu fühlen, eine Erziehung der künstlerischen Urtheilskraft von Nöthen ist, die sich nicht von heute auf morgen verwirklicht. Wir müssen uns zufrieden geben, wenn wir die Gestalt des großen Mannes inmitten der Jetztlebenden wieder haben ausrichten können. Ihn allseitig zu würdigen und innerlich ganz sich wieder anzueignen, wird eine Aufgabe des nächstfolgenden Jahrhunderts sein.

Von der Litteratur über S. kann hier nur einiges Wesentlichste genannt werden. C. v. Winterfeld, Johannes Gabrieli und sein Zeitalter. Berlin 1834. Desselben Evangelischer Kirchengesang. Zweiter Theil. Leipzig 1845. – Karl August Müller, Forschungen auf dem Gebiete der neueren Geschichte. Erste Lieferung. Dresden und Leipzig 1838. – Wilhelm Schäfer, Sachsen-Chronik. Erste Serie. Dresden 1854. – Moritz Fürstenau, Zur Geschichte der Musik und des Theaters. Erster Theil. Dresden 1861. – Friedrich Chrysander, Jahrbücher für musikalische Wissenschaft. Erster Band. Leipzig 1863. – Philipp Spitta, Heinrich Schützens Sämmtliche Werke. 16 Bände. Leipzig, seit 1885 (bis jetzt 11 Bände erschienen).

[753] *) Zu S. 125.