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ADB:Ritschl, Friedrich

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Artikel „Ritschl, Friedrich Wilhelm“ von Otto Ribbeck in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 28 (1889), S. 653–661, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ritschl,_Friedrich&oldid=- (Version vom 11. Dezember 2024, 15:56 Uhr UTC)
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Band 28 (1889), S. 653–661 (Quelle).
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Ritschl: Friedrich Wilhelm R., berühmter Philolog. Seine ritterlichen Vorfahren (Ritschl v. Hartenbach) sind im 17. Jahrhundert wegen der Protestantenverfolgungen aus ihrer böhmischen Heimath ausgewandert. Der Großvater, der noch den vollen Namen führte, war Pastor in Erfurt und Professor am dortigen Gymnasium. Auch der Vater, Friedrich Ludwig, hat dem geistlichen Beruf angehört. Als Pfarrsubstitut in Groß-Vargula bei Erfurt vermählte er sich mit Ferdinande Louise, verw. Händeler, geb. Cramer, einer [654] umsichtigen und thatkräftigen Frau, welche ihn am Ostersonntag, den 6. April 1806, während der Predigt mit dem erstgeborenen Sohn, Friedrich Wilhelm, beschenkte. In Erfurt, wohin der Vater 1815 als Diakonus an der Augustinerkirche berufen wurde, besuchte der feurige, lerneifrige Knabe, der schon früh den Wahlspruch αἰὲν ἀϱιστεύειν καὶ ὑπείϱοχον ἔμμεναι ἄλλων führte, das Gymnasium. Als aber im Frühling 1824 Franz Spitzner, der bekannte Homeriker, einen Ruf als Director des Gymnasiums zu Wittenberg annahm, folgte der eigentlich schon für die Universität reife Primaner seinem verehrten Lehrer dahin, um noch ein Jahr unter seiner unmittelbaren Leitung mit verdoppeltem Eifer zu arbeiten. Zu der grammatischen Schärfe Spitzner’s trat hier der milde Idealismus von Gregor Wilhelm Nitzsch. Aber mehr noch als durch den Unterricht dieser Männer wurde der wissenschaftliche Sinn des Jünglings geweckt durch die Freiheit eines wohlorganisirten Privatstudiums. Dazu gestattete die damalige Lehrverfassung noch eine gesunde Concentration auf Lieblingsfächer, welche dem jugendlichen Geist Kraft und Schärfe gibt. Schon in Wittenberg hat sich R. die ungewöhnliche Sicherheit und Eleganz im schriftlichen wie mündlichen Gebrauch der lateinischen Sprache sowie die bei manchen Gelegenheiten schon damals bewährte Gewandtheit in der Anfertigung griechischer und lateinischer Verse erworben, welche auf wirklicher Vertrautheit mit den classischen Dichtern beruhte. So bezog er, trefflich ausgerüstet, nach glänzend bestandenem Examen zu Ostern 1825 die Universität Leipzig, um Philologie zu studiren. Hier ergab er sich zunächst einem flotten Studentenleben, verdiente sich indessen doch im zweiten Semester die Aufnahme in die berühmte Societas Graeca G. Hermann’s. Dennoch siedelte er schon zu Ostern 1826 nach Halle über, um sich aus den Leipziger Corpsverhältnissen ganz loszureißen. Mit voller Begeisterung schloß er sich dem dort wirkenden genialen Karl Reisig an, dessen hervorragendster und liebster Schüler er geworden ist. Als jener im Herbst 1828 seine verhängnißvolle Reise nach Italien angetreten hatte, hielt R., von seinen Commilitonen als futurus Reisigius anerkannt, dessen societas philologa als die Seele derselben noch zusammen, während er in weiteren akademischen Kreisen Ansehen erwarb durch sein mannhaftes und siegreiches Auftreten bei öffentlichen Disputationen, welche noch unter lebhafter Betheiligung von Professoren und Studenten betrieben wurden. Der unerwartete Verlust des geliebten und bewunderten Lehrers, der zu Anfang des Jahres 1829 in Venedig gestorben war, veranlaßte R. seine eigene Zukunft fester ins Auge zu fassen. Schon am 4. Juni bestand er summa cum laude in Halle das Doctorexamen. Da aber der Druck der sehr umfangreichen Abhandlung De Agathonis vita Disputation und Promotion allzusehr verzögert haben würde, schrieb er in 3 Tagen und Nächten die Schedae criticae, welche blätterweis frisch aus seinen Händen in die Druckerei wanderten. Bald darauf, am 15. August, erfolgte die Habilitation. Die Eröffnung seiner Vorlesungen im Herbst war ein akademisches Ereigniß: die Zuhörer (etwas 300 im Publicum) stiegen zum Theil durch die Fenster in das Auditorium. Nachdem er im April 1832 zum Professor extraordinarius ernannt war, aber ohne Gehalt, erlöste den Unbemittelten ein Ruf nach Breslau im Frühjahr 1833 aus ziemlich drückender Noth; im Herbst 1834 kam die ordentliche Professur dazu; schon seit seinem Amtsantritt war er an der Leitung des philologischen Seminars neben C. E. Schneider betheiligt. Seine eingreifende Wirksamkeit wurde vom Herbst 1836 bis Herbst 1837 unterbrochen durch eine wissenschaftliche Reise nach Italien, welche in erster Linie der Untersuchung Plautinischer Handschriften gewidmet war. Mit der Berufung nach Bonn zu Ostern 1839 an die Stelle von Ferdinand Näke beginnt die eigentliche Glanzzeit seiner äußerst fruchtbringenden Lehrthätigkeit. Mit immer steigendem Erfolge hat er dieselbe in verständnißvoller [655] Gemeinschaft mit Welcker über 5 Lustra hinaus geübt. Trotz wiederholter, zum Theil glänzender Anträge von außen ist er der rheinischen Universität, welche ihre wachsende Blüthe zum guten Theil dem unvergleichlichen Lehrer verdankte, treu geblieben, bis ein Conflict mit dem auf seinen Betrieb 1854 berufenen Collegen O. Jahn und kränkende Behandlung von Seiten des Curators Beseler wie des Ministeriums Mühler den hochverdienten Mann nöthigte, im Mai 1865 seine Entlassung aus dem preußischen Staatsdienst zu fordern, und trotz aller Bemühungen der Facultät, deren Majorität auf seiner Seite stand, der Schüler, Freunde und Verehrer nah und fern, darauf zu bestehen. Der König selbst bedauerte den Verlust einer so ausgezeichneten Kraft und verzögerte die Gewährung des Abschiedsgesuches; der Ministerpräsident von Bismarck sprach in einem Schreiben vom 29. Juli die Hoffnung aus, daß eine nicht ferne Zukunft den scheidenden dem Dienste des engeren Vaterlandes wieder zuführen werde. Inzwischen hatte sich das königlich sächsische Ministerium (v. Falkenstein) im vollen Einverständniß mit der Facultät beeilt, R. in ehrenvollster Form für die Universität Leipzig zu gewinnen. So trat denn der bald sechzigjährige Mann da, wo er seine Studien gleichsam spielend begonnen hatte, als berühmter Meister ein, um noch ein Decennium lang einen weit zahlreicheren Schülerkreis, als er je in Bonn gehabt hatte, um sich zu versammeln. Bewundernswerther Geisteskraft freilich bedurfte es, um des lähmenden und schmerzhaften Nervenleidens Herr zu werden, welches den von Jugend auf zarten und reizbaren Organismus zuerst mit großer Gewalt im J. 1854 ergriffen und seitdem nie mehr ganz losgelassen hatte, dagegen in wiederholten, seit 1867 wieder heftiger auftretenden Anfällen allmählich zerrüttete. Auf den Armen eines Dienstmannes wurde er im Sommer 1876 (seinem vierundneunzigsten Semester) in und aus dem Wagen und auf das Katheder getragen. Im Herbst entwickelte sich ein rasch zehrendes Lungenleiden, welchem der tapfere Kämpfer in der Nacht vom 8. zum 9. November erlag.

Die Aufgabe der classischen Philologie hat R. von Jugend auf in großem Sinne erfaßt. Er war der schulmeisterlichen Richtung auf rein formale Technik ebenso abgeneigt wie einer flachen Universalität, die nirgends eigentlich zu Hause ist. Als das Ziel der Wissenschaft als solcher hat er die „Reproduction des classischen Alterthums durch Anschauung und Erkentniß aller seiner Aeußerungen“ bezeichnet und von diesem Gesichtspunkt aus die Gliederung und Stellung der einzelnen Disciplinen sowohl in seinen Vorlesungen über Encyklopädie als auch in einem anonymen Artikel über „Philologie“ im Brockhaus’schen Conversationslexikon (1833) zu bestimmen gesucht. Für den einzelnen Arbeiter dagegen empfahl er den Grundsatz: „in der Beschränkung zeigt sich erst der Meister“, forderte aber als unentbehrliche Grundlage für Alle methodische Ausbildung in grammatischer Hermeneutik und Kritik. „Wer die Sprache nicht kennt, keine Grammatik weiß und nicht der Wortkritik Herr ist, kann kein Philolog sein; aber alles Dreies macht allein noch nicht den rechten Philologen“. Während er noch in Breslau, den dortigen Verhältnissen und Bedürfnissen dienend, den Kreis seiner Vorlesungen auch auf reale Disciplinen, wie Alterthümer und Archäologie, ausdehnte, hat er, je mehr er sich seiner eigenen Meisterschaft und Methode bewußt wurde, sich als Lehrer auf Grammatik, Metrik und kritische Behandlung der alten, besonders der poetischen Litteratur beschränkt.

Die großen Arbeitspläne der Halle’schen Periode lagen auf griechischem Gebiet: Geschichte der griechischen Poesie, einschließlich der metrischen Kunst, und Geschichte der griechischen Grammatiker. Dort begann er mit der umfassend angelegten Monographie De Agathonis vita, arte et tragoedia cum reliquiis, von der nur ein Stück des ersten Theils, die verwickelte Untersuchung über die [656] Lebenszeit, zum Zweck der Habilitation gedruckt ist; Spuren der Fortsetzung reichen nicht über die Anfänge der Breslauer Zeit hinaus. In die Geschichte der griechischen Lyrik gehören die Artikel (bei Ersch und Gruber) über das Volkslied = Ode (1830) und über Olympus den Auleten, wo die Bedeutung der enthusiastisch-asiatischen Musik, deren Elemente zu den apollinisch-dorischen nach und nach hinzutreten, entwickelt wird. In Breslau trat, für die Vorlesungen zunächst, die vielverzweigte homerische Frage in den Vordergrund. Das von R. in Rom 1836 entdeckte sog. scholion Plautinum bot für die Geschichte der Redaction des homerischen Textes eine neue Grundlage. Der interessante Inhalt wurde nach allen Seiten verarbeitet in der frischen und ergebnißreichen Schrift über die Alexandrinischen Bibliotheken, welche nebst einer Reihe von Beigaben und weitern Ausführungen weitreichenden Untersuchungen über antikes Buchwesen (Ordnung und Katalgoisirung der alexandrinischen Bücherschätze, Stichometrie, Zeitfolge der Bibliothekare) die Fackel vorantrug. Hier reichen sich die Studien über Geschichte der Poesie und der Grammatiker die Hand. Die kritische Erwägung der Zeugnisse, verbunden mit der Betrachtung des überlieferten Textes nach Form und Inhalt hat R. zu einer selbständigen Ansicht über die allmähliche Entstehung von Ilias und Odyssee geführt, welche die Gegensätze von Nitzsch und Lachmann zu vermitteln strebte. Das endgültig zusammengefaßte Ergebniß findet sich opusc. I. 59. Geschichte der Grammatiker fällt zusammen mit Geschichte der Gelehrsamkeit, d. h. der mittelbaren Quellen des Alterthums. Eine unumgängliche Vorarbeit dazu ist die Herstellung kritisch beglaubigter Texte der erhaltenen Grammatikerschriften und Untersuchung ihrer historischen Grundlagen. Auf diesem seit Hemsterhuis in Angriff genommenen Felde erwuchs in der Halle’schen Zeit Ritschl’s musterhafte Ausgabe des Thomas Magister mit Prolegomena (1831/32). In die Untersuchungen über die Geschichte der altgriechischen Lexika und Lexikographen griff die Breslauer Habilitationsschrift De Oro et Orione (1834) förderlich ein.

Auch für lateinische Sprachwissenschaft hatten schon Reisig’s Vorlesungen den empfänglichen Zuhörer mächtig angeregt. Daß eine wissenschaftliche Darstellung der lateinischen Grammatik noch ausstehe und daß eine kritische Sammlung des gesammten lateinischen Sprachmaterials, namentlich auch der Fragmente, die wichtigste Vorarbeit hierfür sei, sprach der junge Breslauer Professor in einer Recension des von Förtsch neu herausgegeben Vossischen Aristarch (1833) aus. Schon in Halle hatte er über Plautus gelesen, in Breslau warf er sich auf umfassende Untersuchungen über die Geschichte des Textes, zunächst der Ausgaben („Ueber die Kritik des Plautus“, 1835), welche ihn zu der Erkenntniß führte, daß die beiden Pfälzer Handschriften die maßgebenden Urkunden seien. Dieses Ergebniß an einem vorläufigen Beispiel, soweit es mit gedruckten Mitteln möglich war, gleichsam ad oculos zu demonstriren sollte die Breslauer Ausgabe der Bacchides (1835) dienen, welche auf Verbesserung der Ueberlieferung noch keinen Anspruch machte. Die Untersuchung des Mailänder Palimpsestes überzeugte ihn von der Gesetzmäßigkeit auch des Plautinischen Versbaues, welchen nach Bentley’s Vorgang nur G. Hermann’s divinatorischer Blick bisher geahnt hatte. Unmittelbar nach der Heimkehr Ritschl’s aus Italien, im Sommer 1837, legte der offene Brief an G. Hermann die von diesem Standpunkte aus gewonnen Grundsätze für die Herstellung des Plautinischen Textes in großen Zügen dar. Diese Frage trat hiermit in eine neue Epoche. Der Ausgabe selbst ging eine lange Reihe wichtiger Einzeluntersuchungen sowohl kritischer als litterarhistorischer Art vorher, welche durch Schärfe der Methode wie durch die Fülle fruchtbarer Ergebnisse Bewunderung erregten. Namen, Zeit und Lebensumstände des Dichters, die Verhältnisse, welche seine Bühnenwirksamkeit bedingten, die Organisation [657] der Bühnenspiele und des Theater, Zeitfolge und Originale der einzelnen Stücke, die ursprüngliche Gestalt verstümmelter oder in Verwirrung gerathener Komödien, die spätere Ueberarbeitung, die Prologe, die Scheidung echter und untergeschobener Stücke, die hierauf bezüglichen Forschungen Varro’s, die alten Commentatoren des Plautus, die Entwicklung der gesammten fabula palliata der Römer, dies Alles und noch viel mehr wurde nach und nach in helles Licht gesetzt und ins Reine gebracht. Der erste Band der 1845 erschienenen Parerga in Plautum et Terentium, welcher diese vorher theils als Universitätsprogramme theils im Rheinischen Museum für Philologie zerstreuten Abhandlungen zusammenfaßte, rechtfertigte vollkommen alle Hoffnungen, welche das philologische Publicum auf den sospitator Plauti setzte, den G. Hermann die einst ihm durch Reiz verlobte Braut (die Plautinische Muse) lubens merito abgetreten hatte. Die eigentliche Textausgabe begann erst mit dem Jahr 1848 ans Licht zu treten, zuerst der Trinummus mit kritischem Apparat und den berühmten Prolegomena, welche außer der Rechenschaft über die Handschriften, ihr gegenseitiges Verhältniß, ihren Werth, die hieraus sich ergebende Methode der Kritik besonders die durch Gewohnheiten der täglichen Rede und Aussprache bedingten Grundregeln der römischen Bühnenverse in ihren mannichfachen Spielarten mit seltener Feinheit und Klarheit entwickeln. In ziemlich rascher Folge erschienen nun Miles gloriosus, Bacchides, Stichus, Pseudulus, Menaechmi, Mostellaria, Persa, Mercator, bis heftige Krankheitsanfälle im Herbst 1858 die mühselige Arbeiten mitten im Poenulus unterbrachen. Die Behandlung des Textes war eine kühn und consequent durchgreifende, aber der Natur der Sache nach keine abschließende. Erst jetzt gerieth die Erforschung Plautinischer Sprache und Manier recht in Fluß, der Herausgeber selbst schritt in unablässiger Beobachtung des Einzelnen und lebhafter Discussion principieller Fragen Allen voran und wurde von Entdeckung zu Entdeckung Schritt für Schritt in die weite, noch kaum betretene Bahn der Entwicklungsgeschichte des alten Latein hineingeführt. Eine Reihe gelegentlich auftauchender Einzelfragen wurden während dieses Decenniums in der Form „Plautinischer Excurse“ frisch und äußerst anregend besprochen zu doppeltem Gewinn für den Plautinischen Text wie für die Sprachforschung. Am fruchtbarsten war die im Zusammenhang hiermit unternommene Bearbeitung der altlateinischen Inschriften. Die genaue Facsimilirung derselben ergab erst eine sichere Grundlage zur Feststellung der Buchstaben und Sprachformen, zur Datirung der Monumente und zum Aufbau einer Sprachgeschichte. Eine lange Reihe tiefgeschöpfter Abhandlungen lieferte überraschende Ausbeute. Ritschl’s uneigennütziger Energie gelang es, das stockende Unternehmen eines Corpus inscriptionum Latinarum in Fluß und in die Hände Th. Mommsen’s zu bringen. Er selbst hat in jahrelanger aufopfernder Arbeit (1852–1859) das Riesenwerk Priscae latinitatis monumenta epigraphica hergestellt, welches auf 111 Foliotafeln den gesammten lateinischen Inschriftenschatz der republikanischen Zeit in peinlich getreuen, auch künstlerisch vollendeten Nachbildungen vor Augen stellt. Leider vereitelte die Ungunst verdrießlicher Umstände die ursprünglich beabsichtige Beigabe ausführlicher commentarii grammatici, an deren Stelle eine knappere enarratio tabularum treten mußte. Die ganze Fülle des grammatischen Ertrages steckt in den bewunderungswürdigen indices, welche der Herausgeber selbst als ein zweiter Scaliger „mit Todesverachtung“ angefertigt hat, ein Kunstwerk besonderer Art. Die auf solchem Wege geförderte Erkenntniß des alten Latein und die auch für die Gesetze des Bühnenverses hieraus zu ziehenden Schlüsse kamen freilich erst 1871 in der gänzlich umgearbeiteten zweiten Ausgabe des Trinummus zur praktischen Verwendung, namentlich gewisse hiatustilgende Sprachformen, [658] vor allen das ablativische d, dessen massenhafte Wiederherstellung eine kunstvoll durchgeführte Induction schon 1869 zu rechtfertigen gesucht hatte. Eine der glücklichsten Entdeckungen über die Composition der Plautinischen Dramen brachte die herrliche Abhandlung über Canticum und Diverbium (1871). Eine neue ergiebige Quelle für die Herstellung des Plautus wie für die Sprachforschung erkannte R. in den alten Glossaren, namentlich in dem des Placidus, dessen Bedeutung ein ergebnißreicher Aufsatz (1870) nachwies. Für die Sammlung und Bearbeitung eines umfassenden corpus glossariorum latinorum ersah er die geeignete Kraft in seinem Schüler G. Loewe, an dessen vielversprechenden Vorarbeiten er noch seine Freude hatte.

Wer den weitreichenden Gesichtskreis dieser auf einen Mittelpunkt gerichteten, zugleich großartigen und feinen Arbeiten ermißt, wird hiernach nicht anstehen, R. als den größten Bahnbrecher und Bauherrn der lateinischen Sprachgeschichte zu bewundern.

Dem Plautusstudien schlossen sich schon seit der italienischen Reise kritische Vorarbeiten zu einer künftigen Ausgabe des Terenz an. Das Breslauer Programm De emendatione fabularum Terentianarum (1838/39) wies zum ersten Mal das gegenseitige Verhältniß und den Werth der beiden Hauptrepräsentanten der handschriftlichen Ueberlieferung kurz und schlagend nach. Den doppelten Ausgang der Andria stellte ein Bonner Proömium (1840) in das rechte litterarhistorische Licht. Der Reifferscheid’schen Ausgabe der Sueton-Fragmente (1860) diente eine kritische Bearbeitung der vita Terentii nebst Commentar als wahres Cabinetstück zu hoher Zierde. Mit Sueton und Plautus hingen Untersuchungen über die litterar-historischen Artikel in der Chronik des Hieronymus, besonders aber über die vielseitige Schriftstellerei des Varro zusammen. Composition und Inhalt der Encyklopädie (Disciplinarum libri, 1845) dieses großen Polyhistors, seine logistorici, sein merkwürdiges Bilderalbum, die Imagines wurden, zum Theil in lebendiger Discussion mit Genossen, in helles Licht gestellt, und das neuendeckte Verzeichniß Varronischer Schriften wurde in einem höchst anregenden Commentar (1848) nach allen Seiten ausgebeutet.

Geschichte der alten Geographie hatte schon den Hallenser Studenten angezogen. Der Einblick in die vaticanische Handschrift der Cosmographia des sogenannten Aethicus und die Huschke’sche Abhandlung über den zur Zeit der Geburt Christi gehaltenen Reichscensus (1840) gab die Anregung zu der lichtvollen Untersuchung über die Weltkarte des Agrippa (1842), welche als die Vorlage für jenes erläuternde Schulbuch erkannt wurde.

Mit seinem Collegen Ambrosch hatte sich R. in Breslau (seit 1836) zu gemeinschaftlicher Herausgabe des lange vernachlässigten Dionysius von Halicarnaß verbündet. Er wollte den Text mit kritischem Apparat besorgen, dem Genossen war der sachliche Commentar überlassen. Eine Probe der Textbearbeitung nebst Darlegung der kritischen Grundsätze erschien 1838 als Programm. In Bonn wurde ohne Ambrosch der Plan wieder aufgenommen, aber als ob sich die Schicksalsmächte dagegen verschworen hätten, schleppte sich durch mannichfache Umstände und fremde Verschuldungen die langwierige Ausführung von Jahr zu Jahr hin, ging endlich in andere und wieder andere Hände über, ohne zu eigentlich gedeihlichem Abschluß zu kommen. Jedenfalls hat R. durch sein Bonner Programm (1843) De codice Urbinate den Grund zu richtiger Schätzung der Ueberlieferung und ihrer beiden wichtigsten Urkunden gelegt.

Um eine verstümmelte römische Gesetzesurkunde des 7. Jahrhunderts d. St. kunstgemäß zu ergänzen, vertiefte er sich (1860) in die den jüdischen Alterthümern des Josephus eingefügten Actenstücke, erkannte deren heillose Verwirrung sowie den ungenügenden Stand des gangbaren Textes. Als Ergebniß umfassendster [659] Nachforschungen erschien 1872 die glänzende Abhandlung, deren Spitze in den Titel „eine Berichtigung der republikanischen Consularfasten“ auslief. Auch direct hat er die Anregung zu einer neuen kritischen Textbearbeitung des Josephus gegeben.

Unter den griechischen Dichtern, welche R. regelmäßig in Vorlesungen behandelte, ist es besonders Aeschylus gewesen, dessen Kritik er gefördert hat, und zwar vorzugsweise die Tragödie der „Sieben vor Theben“, sowohl durch eine für den Gebrauch in Vorlesungen mit zweckmäßigem Apparat sauber ausgerüstete Ausgabe (1853 und reicher ausgestattet 1875) als auch durch Verbesserung einzelner Stellen, vornehmlich aber durch die fesselnde Abhandlung über die sieben Redenpaare und deren symmetrische Composition (1858). Zahlreich und mannichfaltig sind die textkritschen Beiträge und Ausführungen zu anderen Schriftstellern, welche seit den schedae criticae bald hier bald da mitgetheilt sind: herauszuheben sind besonders die Verbesserung der Cicerostelle über die Servianische Centurienverfassung (1852), der Aufsatz über Grammatisches bei Quintilian (1867) und die Behandlung von Tibull’s vierter Elegie des ersten Buches (1866).

Die kritische Methode Ritschl’s war kühn und durchgreifend. Sie fußte auf der sorgfältigen Feststellung und Prüfung der Ueberlieferung, ohne sich dem Buchstaben gefangen zu geben. Von der Unzuverlässigkeit der Abschreiber war er durch reiche Erfahrung und unbefangenes Urtheil tief überzeugt. Die ratio, d. h. die durch gründliche Beobachtung gefundenen Gesetze der Sprache und des Versbau’s, die consuetudo, die Angemessenheit des Gedankens und des Zusammenhangs galt auch ihm wie Bentley mehr als 100 codices. Aus einer alle Momente der Betrachtung zusammenfassenden Intuition heraus sprang ihm blitzartig die evidente Verbesserung entgegen, – im Glücksfall natürlich, denn auch ihm hat Hermes nicht immer zur Seite gestanden. Ueberhaupt machte er aus der Conjecturalkritik als solcher keinen Beruf: er machte nicht Jagd auf Verbesserungen, sie bahnten ihm nur den Weg zu höheren Zielen. Auch nicht das Herausgeben von Texten gab ihm die höchste Befriedigung, sondern die methodische Lösung von Problemen, auf welchem Gebiete der Philologie es auch sein mochte. Nil tam difficilest quin quaerendo investigari possiet schrieb der junge Professor in Bonn unter sein Bild. Die künstlerisch aufgebaute und durchgeführte Untersuchung, die umsichtige und zwingende Beweisführung, die formvollendete Monographie war es, in der sich sein Lessing verwandter Geist am meisten genug that. Wie dieser verstand er die Leser finden zu lassen, was er selbst noch zu suchen schien. Und das eben war das Geheimniß seines Lehrvortrages: derselbe war nicht dogmatisch, sondern regte die Selbstthätigkeit der Hörer so zwingend an, daß auch Laien ihm mit Spannung folgten. Schon von dem Jüngling sagten seine Gefährten, daß er elektrisch auf sie wirkte. Dem Zauber, durch welchen er den eigenen Geistesfunken auf andere zu übertragen und wieder aus ihnen hervorzulocken wußte, der Kunst liebevoller und weiser Erziehung jeder sich ihm hingebenden jungen Kraft zu freier Bethätigung verdankt er die große Zahl und die Anhänglichkeit seiner Schüler. Die Symbola philologorum Bonnensium (1864) zur Feier seiner 25jährigen Wirksamkeit in Bonn vereinigt philologische Gaben mannichfachster Art von 43 ehemaligen Zöglingen, die alle in angesehenen Stellungen, zum beträchtlichen Theil als Universitätsprofessoren bereits thätig waren. In Leipzig gab er selbst (von 1870 bis 1876) gereiftere Arbeiten von Mitgliedern seiner „philologischen Gesellschaft“ in 6 Bänden unter dem Titel Acta societatis philologae Lipsiensis heraus: sie erstreckten sich über fast alle Theile der classischen Alterthumswissenschaft, und er selbst hat es an eigenen kleinen Beiträgen nicht fehlen lassen. Ueberhaupt aber ist R. inner- und außerhalb seines Schülerkreises nach Scaliger der größte Arbeitgeber für [660] die Philologie gewesen. Der weitreichende und segensreiche Einfluß, welchen er auf diesem Felde ausübte, war begründet auf dem Vertrauen, welches man auf seine uneigennützige Liebe zur Sache, seine klare Einsicht, seine praktische Gewandtheit und seine beharrliche Energie setzte. Jedes litterarische Unternehmen, jedes Institut, jeder Verein, an dessen Spitze er trat, gedieh unter seinen Händen, wenn nicht unüberwindliche Mächte entgegenstanden. So hat das Rheinische Museum für Philologie unter seiner Redaction, lange im Verein mit Welcker, von 1840 bis 1876 die vornehmste Ehrenstelle in der Zahl der philologischen Zeitschriften eingenommen, ganz besonders durch die Fülle kostbarer und erfrischender Gaben, womit seine eigene Feder fast jeden der 31 Bände ausstattete. Als Präsident des rheinischen Alterthumsvereins von 1863 bis zu seinem Abgang von Bonn hat er dieses 1841 gestiftete, aber bereits alternde Institut durch kräftiges Eingreifen verjüngt, auch die Behandlungen und Jahrbücher desselben durch interessante Beiträge bereichert. Die arg verwahrloste Bonner Universitätsbibliothek hat er als deren Oberbibliothekar (seit 1854) mit wahrhaft herkulischer Energie und bewundernswerthem Organisationstalent von Grund aus reformirt und gleichzeitig durch Heranziehung von Amanuensen eine Generation wohlgeschulter Bibliothekare geschaffen. Auch dem Auslande hat er noch in Leipzig seine alternde Kraft als Leiter des neugegründeten russischen Seminars (seit 1873) gewidmet.

Von jeher bis zuletzt unterhielt er weitreichenden Verkehr mit Menschen persönlich und brieflich. Er wurde in Schul- und Universitätssachen wie in litterarischen Dingen viel befragt und war stets mit ausgiebigem, hingebendem Rath bei der Hand. Dazu kam eine treugepflegte, überaus lebhafte Correspondenz mit zahlreichen Freunden, die ihm seit der Studienzeit nahe blieben, wie mit solchen, die ihm später näher traten oder aus der Schülerzahl heranwuchsen. Seine stets flüssige Feder flog in königlich klarem Zuge dahin. Auch seine wissenschaftlichen Arbeiten führte er am liebsten im Gedenken an diesen oder jenen Freund oder Mitforscher aus, und hatte daher seine Freude an wohlgeformten lapidaren Widmungen. Nihil humani war ihm fern; was er einmal erfaßte, trieb er mit Liebhaberei: Musik, Gartenpflege, Drechseln. Es war eine Mischung vom naiven Kinde und vom πολύμητις Ὀδυσσεύς in ihm, aber zu seinem Nutzen hat er von der letzteren Ader keinen Gebrauch gemacht. Dennoch hat es ihm an Feinden und Gegnern nicht gefehlt, welche ihn nicht verstanden. Desto mehr haben ihn Männer wie Johannes Schulze und v. Falkenstein, G. Hermann und Lehrs zu schätzen gewußt. Er hat den „besten seiner Zeit genug gethan“. Seine Gattin Sophie, geb. Guttentag, welche er in Breslau (1838) heimführte, hat ihm zwei Töchter und einen Sohn geschenkt, welche sämmtlich in glücklichen Verhältnissen leben. Dem einen Schwiegersohn, Professor Curt Wachsmuth ist Ordnung und Abschluß des litterarischen Nachlasses zugefallen. Schon am Schluß der Bonner Periode trat der Gedanke an ihn heran, die Menge einzelner und verstreuter Abhandlungen und kleinerer Arbeiten in einer Sammlung zu vereinigen. In Leipzig begann er wirklich Hand daran zu legen. Mit gewohnter Sorgfalt und Umsicht hat er, unterstützt von seinem getreuen A. Fleckeisen, zwei Bände seiner Opuscula philologica noch selbst redigirt und herausgegeben, nicht ohne durch Hinweisungen und Zusätze den früheren Standpunkt mit dem Fortschritt der wissenschaftlichen Arbeit zweckmäßig zu vermitteln. Auch manches Neue kam hinzu. Der erste Band, in zwei Abtheilungen erschienen (1866. 1867), beschränkt sich ganz auf die griechische Litteratur, eingeschlossen auch „die Alexandrinischen Bibliotheken“ und einige archäologische Aufsätze. Der zweite starke Band (1868) „zu Plautus und lateinischer Sprachkunde“, ist das wichtigste Repertorium zur Kenntniß der von 1837 bis etwa 1857 fortschreitenden Forschung und Discussion über Plautinische [661] Sprache, Metrik und Kritik. Der dritte Band war schon weit gefördert, als er der Hand des Sterbenden entsank: das Weitere hat unter Fleckeisen’s fortdauernder Beihülfe Wachsmuth im Geist und nach Anordnungen des Verstorbenen besorgt. Auch dieser dritte Band (1877), ganz der römischen Litteratur gewidmet, gehört fast zur Hälfte noch Plautus und Terenz, er birgt als neue Gabe eine leider nicht vollendete, sehr eingehende Bearbeitung der Plautinischen Fragmente. Den vierten Band (1878) füllen sämmtliche Abhandlungen zur lateinischen Epigraphik nebst dem Rest anderweitiger Beiträge zur lateinischen Sprachkunde, z. B. die Aufsätze über die Geschichte des lateinischen Alphabets (1869) und „unsere heutige Aussprache des Lateinischen“ (1876). Der fünfte und letzte Band (1879) vereinigt Gemischtes aus allen Lebensperioden, über Begriff und Entwicklung der Philologie (namentlich eine höchst sorgfältige Untersuchung über Veit Werler und die Leipziger Plautusstudien im 16. Jahrhundert); ferner die Abhandlung über Josephus, Recensionen und Miscellen (zum Theil anonym oder pseudonym), akademische Reden, einige Proben lateinischer Diplome, Adressen, Dedicationen u. dgl., lateinischer und griechischer Gedichte. Das Hauptstück aber bildet der Abdruck der im Buchhandel vergriffenen Prolegomena aus der ersten Ausgabe des Trinummus, welchem Fr. Schöll sorgfältige Nachweisungen zu einzelnen Punkten hinzugefügt hat, über die R. später seine Ansicht geändert hatte. Den Beschluß des Ganzen macht als Anhang ein von Wachsmuth sehr zweckmäßig geordneter vollständiger Ueberblick über sämmtliche philologische Schriften Ritschl’s. Manches bisher Ungedruckte, Briefe, Concepte u. A. enthält auch die unter folgendem Titel erschienene Biographie: Friedrich Wilhelm Ritschl. Ein Beitrag zur Geschichte der Philologie von Otto Ribbeck. 2 Bde. 1879, 1881.