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ADB:Stegen, Johanna

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Artikel „Stegen, Johanna“ von Adolf Hofmeister in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 35 (1893), S. 560–562, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Stegen,_Johanna&oldid=- (Version vom 13. November 2024, 23:41 Uhr UTC)
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Stegen: Johanna St., „das Mädchen von Lüneburg“. Als im Jahr 1813 die Trümmer der großen Armee aus Rußland zurückflutheten und ihnen auf dem Fuße die als Befreier vom Joche des verhaßten Fremdlings jubelnd begrüßten Russen und die auf den Ruf ihres Königs voll Begeisterung zu den Waffen geeilten Preußen folgten, war auch Lüneburg am 18. März von der französischen Besatzung geräumt und am 21. März von einer kleinen Abtheilung Kosacken, zu denen bald mehr Truppen stießen, besetzt worden. Aber nur kurze Zeit dauerte die Freude der Bürger; schon am 30. März mußte die schwache Schaar vor dem mit großer Uebermacht heranrückenden General Morand zurückweichen. An zwei mit den Waffen in der Hand ergriffenen Bürgern wurde blutige Rache geübt, andere wurden theils als Geiseln, theils um sie vor das Kriegsgericht zu stellen, festgenommen. Am 2. April griffen die nunmehr erstarkten Verbündeten die Stadt an, trieben auch die Franzosen hinaus, hatten aber dann dem gegen das Neue Thor wieder andringenden Feinde gegenüber einen harten Stand, namentlich die preußischen Füsiliere des v. Borcke’schen Bataillons, deren Munition auf die Neige ging, als mit einem Male ein Mädchen in einfach bürgerlicher Tracht bei ihnen erscheint, das in seiner Schürze gerade das trägt, was sie am nöthigsten brauchen – Patronen, die es aus einem umgestürzten Munitionswagen aufgesammelt hatte. Auf weitere Nachfrage läuft sie selbst wieder dorthin und bringt, so viel sie nur tragen kann. Dreimal, nach anderer Angabe sogar fünfmal, legt sie in augenscheinlichster Lebensgefahr den Weg zurück und bleibt, obgleich ihre Kleider mehrfach durchlöchert wurden, mitten im Kugelregen unverletzt, bis der Fall des feindlichen Anführers General Morand den Sieg zu einem vollkommenen machte. Von den Kämpfern kannte sie natürlich keiner, nur ihr röthlich-blondes Haar war aufgefallen und durch dies wurde sie, als sie sich in der Stadt eifrigst an der Sorge für die Verwundeten betheiligte, als Johanna St., die am 11. Januar 1793 zu Lüneburg geborene Tochter des Sülzvogts Peter Daniel Stegen und seiner Ehefrau Sophie geb. Behrends ermittelt. Die Mutter, früh verwittwet und auf ein kärgliches Gnadengehalt angewiesen, [561] war nicht im Stande, ihrer Tochter außer einer einfachen auf Pflichttreue und Gottesfurcht gerichteten Erziehung etwas für das Leben mitzugeben und daher trat sie, wie es zu jener Zeit bei Mädchen aus kleinbürgerlichem Stande überhaupt üblich war, nach ihrer Einsegnung in Dienst. Bei Beginn des Straßenkampfes war sie mit ihrer Dienstherrin, der verwittweten Frau Zollverwalter Hentze, in den Keller eines Nachbarhauses geflüchtet, hatte von dort den Einzug der Freunde mit angesehen und die vorbeireitenden Kosacken mit Branntwein erquickt. Den weiterziehenden folgte sie bis vor das Thor, wo die unterwegs aufgelesene Last und ihre weitere Hülfeleistung den Vertheidigern die nachdrückliche Fortsetzung des Feuergefechts ermöglichte. Freilich blieb der schwergewonnene Sieg ohne dauernden Erfolg. Schon am nächsten Tage zogen sich die Verbündeten vor der 6000 Mann stark unter General Montbrun vorrückenden Vorhut Davoust’s wieder zurück und bis zum 16. September, wo die Franzosen endgültig die Stadt räumten, schwebte Johanna in der größten Gefahr; mehrmals entging sie den sie suchenden Häschern nur wie durch ein Wunder. General Tettenborn, der am 18. September Lüneburg besetzte, erwies ihr hohe Ehren, zog sie zur Tafel und stellte sie allen Anwesenden (darunter Varnhagen v. Ense, der dies berichtet) als würdigen Kampfgenossen vor. Mit Tettenborn war auch Major v. Reiche, der Führer eines Bataillons freiwilliger Jäger, nach Lüneburg gekommen, der sie bei dieser Gelegenheit kennen und schätzen lernte und seine Gemahlin veranlaßte, sie zu sich zu nehmen, nicht als Dienerin, sondern als liebe Hausgenossin. Dort in Berlin verlobte sie sich dem freiwilligen Jäger Wilhelm Hindersin. Nachdem dieser 1816 als Feldwebel seinen Abschied genommen und im neuerrichteten, seinem Gönner Major v. Reiche unterstellten königlichen lithographischen Institut eine Anstellung gefunden hatte (er war ein sehr tüchtiger Zeichner und führte die technische Leitung der Anstalt), fand am 28. September 1817 die Hochzeit statt, bei der Friedr. Ludw. Jahn, Major v. Reiche und Fr. Aug. v. Stägemann Trauzeugen waren. Ziemlich 25 Jahre lebte sie geachtet und geliebt von allen, die ihr nahe traten, in glücklicher, mit vier Kindern gesegneter Ehe und mancherlei Auszeichnungen wurden ihr zu Theil, bis sie am 12. Januar 1842 einem Herzleiden erlag. Die ersten Anfänge dieses Leidens weisen auf den 13. Juli 1813 zurück, wo sie in der Mittagshitze über drei Meilen Wegs wie ein gehetztes Wild vor den französischen Douaniers flüchtete, und schließlich noch viele Stunden in einem Keller sich verborgen halten mußte. Ihr Gatte, der sich 1846 zum zweiten Male vermählt hatte, starb am 31. Januar 1863.

Viel gepriesen, viel erhoben wurde die heldenhafte That des „Mädchens von Lüneburg“, Rückert, Varnhagen, Maßmann haben sie in gut gemeinten Versen besungen, Wilhelm Scheerer machte sie zur Heldin eines 1829 erschienenen, mehrfach aufgeführten Nationalschauspiels in drei Acten. Dichtung und Sage haben die wirklich feststehenden, hier nach Möglichkeit wiedergegebenen Thatsachen mit einem Schleier umwoben, und selbst der Biograph Johanna’s, Hans Ferd. Maßmann, der noch in der Lage war, aus den besten Quellen zu schöpfen, scheint sich in der Jubelstimmung des Jahres 1863 von der Aufnahme einer Reihe an sich sehr wohl möglicher, aber unbeweisbarer Einzelzüge nicht freigehalten zu haben.

Der zweite April 1813 und Johanna Stegen, das Mädchen von Lüneburg. Zur fünfzigjährigen Jubelfeier ins Gedächtniß gerufen von H. F. Maßmann, Dr., Professor etc. Ein Buch für das gesammte deutsche Volk. Mit Bild. Lüneburg 1863, VIII, 72 S. 8°, worin die bis dahin erschienene, seitdem um nichts Wesentliches vermehrte Litteratur verzeichnet ist. Maßmann [562] stützt sich selbst besonders auf eingehende mündliche und schriftliche Berichte ihres ältesten Sohnes, des Bankdirectors Hindersin in Stettin, und des Appellationsgerichtsraths v. Reiche in Breslau, eines Sohnes des mehrfach genannten Majors v. Reiche, sowie anderer Zeitgenossen.