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ADB:Osiander, Johannes

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Artikel „Osiander, Johannes“ von Theodor Schott in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 24 (1887), S. 489–492, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Osiander,_Johannes&oldid=- (Version vom 4. November 2024, 23:10 Uhr UTC)
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Osiander: Johannes O., geb. am 22. April 1657 in Tübingen, † am 18. October 1724 ebendaselbst, Sohn von Johann Adam O. (s. S. 488) und Anna Magdalena geb. Schüpper, evangelischer Theologe, würtembergischer Geheimrath und Kriegsrathsdirector, der vielseitigste, wol auch begabteste, jedenfalls liebenswürdigste und interessanteste dieser berühmten Gelehrtenfamilie, ein sprechender Beweis zu dem viel angeführten Satze, daß ein würtembergischer Theologe (Stiftler) den verschiedensten Aemtern und Geschäften gewachsen sei. Sein Leben bildet eine Kette interessanter merkwürdiger Ereignisse und Abenteuer, die sich oft wie ein Roman lesen und in welchen er sich stets durch Klugheit, Muth und Gewandtheit auszeichnete, auch bei den schwierigsten Verhältnissen den makellosen Ruf eines Ehrenmannes und frommen Christen bewahrte; der Mangel einer tüchtigen Biographie, welche der seltene Mann wohl verdiente, gestattet nur ein unvollkommenes Bild seiner vielfachen und merkwürdigen Wirksamkeit zu geben. – Der sehr begabte Knabe war der Tradition des Hauses gemäß zum Theologen bestimmt, mit 14 Jahren bezog er die Universität und zeichnete sich bald so aus, „daß man schon frühe wahrnahm, daß dieser kleine Zweig den Osiander’schen Stamm herrlich fortpflanzen werde“; er verstand trefflich Latein, Griechisch, Hebräisch, Syrisch und Arabisch, auch in den neuen Sprachen war er sehr wohl bewandert, hatte eine hübsche musikalische Anlage und war in allen körperlichen Uebungen sehr gewandt. Nach Beendigung der Universitätsstudien wollte ihn der Tübinger Magistrat zum Spitalprediger wählen, aber der lebensfrohe, mit „sonderbarer Vivacität“ begabte Theologe zog vor, in großen Reisen die Welt kennen zu lernen; Liebenswürdigkeit, gediegene Kenntnisse und Gewandtheit machten es ihm möglich und leicht, überall die vornehmsten und bedeutendsten Persönlichkeiten kennen zu lernen und ihnen näher zutreten. 1681 ging er nach Altorf und Nürnberg, wo er Sigmund v. Birken traf, auf einer zweiten Reise desselben Jahres kam er über Heidelberg (Professor Heiland), Frankfurt (Spener), Gießen, Marburg, Hannover nach Hamburg, wo er bei Edzardi hebräische Studien trieb. Nach einjährigem Aufenthalt nahm er eine Hofmeisterstelle [490] bei dem Grafen Bengt-Horn an, dem Sohn des schwedischen Feldmarschalls Heinrich Horn; bei einem Abstecher nach Berlin wurde er dem großen Kurfürsten vorgestellt, dann reiste er mit seinem Zögling über Heidelberg (Kurfürst Karl Ludwig) nach Tübingen, da derselbe im collegium illustre, der dortigen berühmten Erziehungsanstalt für Adelige, ein Jahr zubringen sollte. 1683 ging er über Basel zu längerem Aufenthalte nach Genf (Tronchin, Turretini), 1684 über Besançon nach Paris. Während des dortigen zweijährigen Aufenthaltes kam der junge Schwabe, der sich auch durch hohe Gestalt und ein feines intelligentes Gesicht bemerklich machte, mit allen Berühmtheiten der Weltstadt zusammen, er war bei mehreren Audienzen Ludwigs XIV. zugegen, lernte Condé, den jüngeren Colbert, Le Tellier, Boufflers, ebenso Bossuet, La Chaise kennen, war ein besonderer Liebling des schwedischen Gesandten v. Lilienroth, der ihn öfters als Secretär gebrauchte. Besonders nahe trat er den Häuptern der Hugenotten, deren grausame Bedrückung er tagtäglich mit ansehen mußte; der Marschall Schomberg, der Herzog de la Force, der Marquis von Ruvigny, der Admiral du Quesne, die Gräfin du Roy zogen ihn in ihren Umgang. Er war Zeuge von der Aufhebung des Edicts von Nantes, von der Zerstörung des protestantischen Tempels in Charenton, und mit Befriedigung hebt sein Biograph hervor, daß er manchem Reformirten, besonders in Angers, zur Flucht verholfen, auch die Kostbarkeiten der Flüchtlinge bis zu seiner eignen Abreise verwahrt und nicht ohne Gefahr für sich selbst unter seinem eignen Gepäck mitgenommen habe. Was die damalige Hauptstadt der Welt zu sehen bot, lernte er kennen, auch die Gefahren der großen Stadt blieben ihm nicht fremd, aber allen Nachstellungen und Abenteuern wußte er mit Muth und Klugheit zu entgehen. Ueber Brüssel, Antwerpen, Amsterdam, Leyden (Gronov) kehrte er nach Stade zurück, wo er seinen Zögling wohlbehalten dem Vater überlieferte, 1686; die ihm als gebührenden Lohn angetragene Consistorialrathsstelle im Herzogthum Bremen schlug er aus und reiste „vergnüglich“ nach Tübingen, wo ihm in demselben Jahre die Professur der hebräischen und unmittelbar darauf die der griechischen Sprache übertragen wurde. Eine Ausgabe von Thucydides mit Anmerkungen hatte er eben begonnen, der erste Bogen war schon in Amsterdam gedruckt, da machte der Einfall der Franzosen im J. 1688 allen friedlichen Studien ein Ende, gab ihm aber die glänzendste Gelegenheit, seine sprachlichen Kenntnisse, seine Bekanntschaft mit der französischen Aristokratie, seine rednerische Begabung und diplomatische Gewandtheit im Dienste seines Vaterlandes, zur Rettung und zum Schutze seiner Vaterstadt auf das trefflichste zu verwerthen. Eine aufgeregte vielbeschäftigte Zeit begann für ihn, die Streit- und Schlagfertigkeit der Osiander, welche die früheren Glieder der Familien in litterarischen Fehden und Gesprächen bewiesen hatten, zeigte sich bei O. in diesen höchst schwierigen Verhältnissen als echte soldatische Unerschrockenheit und Tapferkeit. Den französischen General Peysonel, welcher von Monclar zur Besetzung von Tübingen abgesandt war, verstand er durch taktvolles und festes Auftreten so zu gewinnen, daß derselbe von der Plünderung der Stadt abstand, auch von der Contribution nachließ und strengere Ordnung als sonst beobachtete. Die von Monclar befohlene Sprengung der Hauptbasteien und Thürme des stark befestigten Schlosses vereitelte O. dadurch, daß er mit Lebensgefahr aus den gelegten Minen einige Pulverfäßchen entwandte, so daß die Minen nur noch geringe Wirkung hervorbrachten. (In einem officiellen Berichte ist eigenthümlicher Weise dies nicht erwähnt; die Sache ist nicht ganz aufgeklärt.) In Herrenberg und Stuttgart war seine Vermittlung ebenfalls von großem Erfolge, überhaupt war er von dort an eine zu militärischem und diplomatischem Dienste vielbegehrte und stets bereite Persönlichkeit. 1689 versah er Generaladjutantendienste bei dem Administrator Herzog Friedrich, bei der [491] Krönung Josefs I. zum römischen König in Augsburg war er würtembergischer Gesandter; 1690 zum Kriegsrath propter summam injuriam temporis ernannt, geleitete er die wilden ungarischen Kriegsvölker, welchen sonst Niemand entgegen gehen wollte, in ungarischer Kleidung durch Franken, wohnte auch dem Treffen von Waghäusel bei, unternahm im Auftrag seiner Regierung mehrere Reisen nach Bern, Tirol, Mailand etc. Friedlichere Arbeiten brachte die Bekleidung des Universitätsrectorats 1692 und die Ernennung zum Ephorus des evangelischen Seminars; aber schon das Jahr 1693 führte ihn bei dem neuen Einfall der Franzosen in ihr Lager. 1697 wurde er zum Prälat in Königsbronn, 1699 von Hirsau ernannt, mit dem Rechte, seinen Wohnsitz in Tübingen behalten zu dürfen. An Reisen mit würtembergischen Prinzen (z. B. 1701 nach Genf) schlossen sich große Reisen im Auftrage des Herzogs nach Schweden (1701), Polen (1702 und 1703), Italien (1705), bei den späteren Einfällen der Franzosen im J. 1707 trat er treulich für sein Land ins Mittel, insbesondere wußte er den Marschall Villars zu bewegen, die Contribution bedeutend zu ermäßigen und die in Straßburg gefangen gehaltenen Geiseln freizugeben. In „importanten Affairen“ wurde er endlich im Sommer 1721 von seinem Landesherrn nach London geschickt, auch diese Reise wurde glücklich überstanden und die „verschiedenen negotia cum successu approbirt“, seine diplomatische Laufbahn war damit zu Ende. Ueber seine kirchliche Wirksamkeit ist zu erwähnen, daß er im October 1708 zum Director des Consistoriums ernannt wurde; die ganze Leitung des evangelischen Kirchen- und Schulwesens war ihm dadurch unterstellt; als die bleibendste Frucht seines Thuns ist die Einführung der Confirmation hervorzuheben (herzogliches Decret vom 11. December 1722), welche trotz des Widerstandes der gegen jede Neuerung in religiösen Dingen mißtrauischen Bevölkerung in den Jahren 1722–23 überall durchgeführt wurde. Mehrfach Visitator der Universität, im weiteren und später im engen Ausschuß der Landschaft, liebte der vielbeschäftigte Mann in seinen Mußestunden sich in seinen bescheidenen Landsitz, Osiandrium genannt, nach Tübingen zurückzuziehen. Seiner Ehe mit Anna Susanna Camerer (geschlossen am 31. August 1686) waren vier Kinder entsprossen, von welchen nur ein Sohn Johann Rudolf O., Doctor und Professor der Theologie in Tübingen, den Vater überlebte. In der Morgenfrühe des 18. October 1724 schloß der rastlos thätige, fromme und bescheidene Mann sein vielbewegtes und gesegnetes Leben; die zahllosen Ehrenbezeugungen, welche ihm von Fürsten und Ständen des In- und Auslandes zugekommen waren (z. B. Porträts fürstlicher Personen, 1703 der Titel eines schwedischen Kriegsraths und eines sächsischen Consistorialraths, 1713 der eines wirklichen würtembergischen Geheimraths), hatten seinen einfachen Sinn nicht geändert, er blieb freundlich und dienstfertig gegen Jedermann und gab noch in seiner letzten Verfügung „ohne Pomp begraben zu werden“ Ausdruck von dieser Gesinnung. Von seiner Freimüthigkeit und seltenen, nie angezweifelten Uneigennützigkeit gab sein ganzes Leben den Beweis; die schwerste Probe hatten diese Eigenschaften zu bestehen nicht im Verkehr mit den fremden Kriegsbanden, sondern mit einem Hofe, an welchem eine raubgierige, gewaltthätige Maitresse, die Gräfin von Grävenitz, Jahrzehnte lang ein ebenso verhaßtes und verderbliches, als beinahe unumschränktes Regiment führte. O. wußte sich an demselben in Achtung zu halten und seine Stellung zu wahren, ebenso wie er auch das Mißfallen seiner Landsleute nicht scheute und für die Beibehaltung der nur für die Kriegszeiten bewilligten Truppen, dem Anfange eines stehenden Heeres, gegen die übrigen Landstände eintrat. Sein Biograph wird nicht müde eine ungezählte Menge von wunderbaren Errettungen aus allen möglichen Lebensgefahren anzuführen, die er auf seinen Reisen bestand (öfters beinahe ertrunken, von Räubern angefallen, von einer Lawine verschüttet, von streitsüchtigen Duellanten angefallen [492] etc.; einmal fiel er von der Stadtmauer hinab, eine Stückkugel nahm ihm Hut und Perrücke etc.). In einem einfachen frommen Gebet, mit welchem er seinen (handschriftlich noch vorhandenen?) Lebenslauf schließt, hat er dem Gefühle der Dankbarkeit gegen Gott, der alles wohl gemacht in seinem ganzen Leben, Ausdruck gegeben, es ist der schöne würdige Schluß eines reichen, gesegneten, frommen Lebens. Schriftstellerische Leistungen von ihm sind mir nicht bekannt.

Hauptquelle: Leichenrede von G. C. Pregitzer, Tüb. 1725, leider ohne Porträt; aus ihr schöpfte [Abel,] Lebensbeschreibung J. O., Tüb. 1795.