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ADB:Schlippenbach, Ulrich Freiherr von

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Artikel „Schlippenbach, Ulrich v.“ von Heinrich Diederichs in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 31 (1890), S. 522–525, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schlippenbach,_Ulrich_Freiherr_von&oldid=- (Version vom 14. November 2024, 20:09 Uhr UTC)
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Band 31 (1890), S. 522–525 (Quelle).
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Schlippenbach: Ulrich v. S., Dichter und Schriftsteller, war am 18. Mai 1774 auf dem väterlichen Gute Groß-Wormsahten in Kurland geboren. Sein Vater war ein wackerer Landwirth ohne höhere geistige Interessen, seine Mutter, eine geborene v. Blomberg, zeichnete sich dagegen durch zartes Gemüth, tiefes Gefühl und hohe Bildung aus; sie hat auf die geistige Entwicklung des Sohnes großen Einfluß ausgeübt. Als Knabe war S. unbändig und ausgelassen, scheute jede Anstrengung und duldete keinen Zwang; seine schwächliche Gesundheit hielt strenge Zucht in der Jugend von ihm fern. Der Hauslehrer, dem seine geistige Bildung übertragen wurde, förderte ihn zwar in den Wissenschaften, übte aber sonst keinen günstigen Einfluß auf die Entwicklung seines Charakters aus. Darauf besuchte er 1789 die Academia Petrina in Mitau, die dem Carolinum in Braunschweig sehr ähnlich, ein Mittelding zwischen Gymnasium und Hochschule war. Von den Professoren dieser Anstalt übte vorzüglich Kütner (s. A. D. B. XVII, 442) anregende Einwirkung auf S. aus; er erkannte die [523] Anlagen des Jünglings und munterte ihn eifrig zu dichterischen Versuchen auf. Durch seine Neigung zur Satire, die sich nicht bloß gegen seine Cameraden, sondern auch gegen seine Lehrer wandte, zog sich S. viel Feindschaft zu. In dem heftigen Streit zwischen dem Adel und dem Herzog Peter, der damals Kurland erregte, nahm S. lebhaft für seine Standesgenossen Partei und ließ sich sogar durch seine Heftigkeit dazu hinreißen, das Bild des Herzogs in der Aula der Akademie mit dem Degen zu durchstoßen. Für dieses Vergehen relegirt, ging er 1790 nach Königsberg auf die Universität und studirte hier, da es ihm an den nothwendigen Vorkenntnissen sehr fehlte, ganz planlos, hörte Kant und andere Professoren, beschäftigte sich aber meist mit poetischen Versuchen, die ihn bald in weiteren Kreisen bekannt machten und seine Aufnahme in die deutsche Gesellschaft bewirkten. Mehr als durch alle seine Lehrer fühlte er sich durch den vertrauten Umgang mit Zacharias Werner gefördert, der an seinen dichterischen Bestrebungen lebhaften Antheil nahm; S. bewahrte ihm stets ein dankbares Gedächtniß. Mehrere Gedichte von ihm erschienen damals im preußischen Archiv; auch das erste von ihm selbständig veröffentlichte Poem: „Die Wunderquelle“, entstammt dieser Königsberger Zeit, wenn es auch erst 1792 ans Licht trat. Dieses Produkt des Achtzehnjährigen zeigt nicht geringe Formgewandtheit, sonst ist es natürlich werthlos und der Verfasser selbst hat später nichts von ihm wissen wollen. 1791 ging S. nach Leipzig, wo er ein eifriger Besucher der Vorlesungen von Platner und Heydenreich war; bei dem letzteren, der sehr anregend auf ihn wirkte, hörte er ein Privatissimum über Aesthetik, dem er noch später viel zu verdanken erklärte. Daneben studirte er, wenn auch ohne besondere Neigung, die Rechte. Als der russische Feldzug gegen Polen 1794 begann, trat er in russische Kriegsdienste, blieb darauf nach Beendigung des Krieges eine Zeitlang in der Garde zu Petersburg, nahm aber nach dem Tode Katharina II. 1796 seinen Abschied und kehrte nach Kurland zurück. Hier übernahm er die Verwaltung des väterlichen Gutes und vermählte sich mit Amalie v. Medem. 1799 wurde er Landnotarius des Piltenschen Kreises und war 1800 Mitglied der Commission, welche aus Deputirten der verschiedenen Ritterschaften zum Zwecke der Berathung über die Gründung einer Universität in den Ostseeprovinzen gebildet war. 1807 wurde er zum Landrath des Piltenschen Kreises erwählt. Der Piltensche Kreis oder das Stift Pilten gehörte damals politisch nicht zum Herzogthum Kurland, sondern war eine selbständige Adelsrepublik, die unmittelbar unter der Krone Polen stand; die Leitung des Kreises lag in den Händen eines Landrathscollegiums, das zugleich die oberste Justizbehörde war, und seinen Sitz in Hasenpoth hatte. S. lebte hier in den angenehmsten Verhältnissen, genoß das schönste Familienglück und gab sich in den ihm reichlich vergönnten Mußestunden ganz dichterischer Beschäftigung hin. Einzelne Gedichte von ihm erschienen in einheimischen Blättern wie der Ruthenia, andere in auswärtigen, so in der Zeitung für die elegante Welt, im Morgenblatt, in der Dresdener Abendzeitung und in Becker’s Erholungen. Dann aber unternahm er es, ein eigenes Organ für alle poetischen Kräfte der baltischen Heimath zu schaffen. Er gab zu diesem Zwecke die „Kuronia, eine Sammlung vaterländischer Gedichte“ heraus, von der drei Sammlungen 1806–1808 in Mitau erschienen, an die sich als vierte „Wega, ein poetisches Taschenbuch für den Norden“, Mitau 1809, schloß. Eine Sammlung seiner Gedichte gab S. 1812 in Mitau heraus, die jedoch bei weitem nicht alles enthält, was er vorher veröffentlicht hat. Nach seinem Tode ist dann eine zweite Sammlung unter dem Titel; „Nachgelassene Gedichte“ 1828 dem Druck übergeben worden. S. war seiner Zeit der gefeiertste Dichter der baltischen Provinzen. Es gab keine [524] festliche Gelegenheit, sei es die Eröffnung eines Theaters, die Begrüßung hoher Gäste, die Jubiläumsfeier verdienter Männer, kein frohes Ereigniß im Kreise seiner Familie oder seiner Freunde, bei welchem S. nicht freiwillig oder aufgefordert in die Saiten seiner Leyer griff. Daß es ihm fast immer gelang, etwas Sinniges, Ansprechendes, häufig Schwungvolles und Gedankenreiches in dichterischer Form bei solchen Gelegenheiten zu sagen, beweist am besten, daß er eine wirklich poetische Natur war. Auch seine übrigen Gedichte verdanken fast alle bestimmten Anläßen äußerer oder innerer Art ihre Entstehung; er warf die Erzeugnisse seiner poetischen Stimmung rasch und ohne Mühe aufs Papier. Wie er meisterhaft auf der Guitarre, dem Lieblingsinstrumente jener Tage, improvisirte, so improvisirte er auch im frohen geselligen Kreise und beim Becher aufs glücklichste und leichteste in Versen und den Charakter des Improvisirten tragen mehr oder weniger alle seine Gedichte. Er vermochte es nicht, seinen Gedichten durch spätere Feile und Correctur, durch Kürzung und Umschmelzung eine größere Vollendung zu geben; daher entspricht der Schluß in ihnen nicht immer dem gelungenen Anfang und seine Phantasie schweift oft vom eigentlichen Thema ab. S. lebte und webte in den deutschen Dichterwerken vom Ende des vorigen und dem Anfange dieses Jahrhunderts. Er war ein begeisterter Verehrer Jean Paul’s und ein leidenschaftlicher Anhänger der Romantiker; nicht nur las er selbst alle neuen Erscheinungen dieser Richtung, er verbreitete sie auch eifrig im Kreise seiner Bekannten. Goethe übte auf ihn geringere Wirkung aus, dagegen hing er an Schiller mit begeisterter Bewunderung. Dieser und Matthisson haben am meisten auf seine Dichtung eingewirkt. Sie ist vorzugsweise Reflexionspoesie, das eigentlich lyrische Element tritt nur selten hervor und ein eigentliches Lied ist ihm kaum je gelungen. Die Einwirkung der Romantik auf S. zeigt sich fast nur in der Wahl des Stoffes und in der Färbung der Stimmung, nur höchst selten in der Form. Der aristokratische Bildungscharakter der Deutschen in den Ostseeprovinzen brachte und bringt es mit sich, daß das eigentlich Volksthümliche bei S., wie überhaupt in ihrer Dichtung, nicht zur Erscheinung kommt. Gewandte, oft vollendete Form und großer Wohllaut zeichnen Schlippenbach’s Gedichte aus. Nicht wenig trug zu der großen, dem Dichter in der Heimath gezollten Anerkennung auch die angesehene gesellschaftliche Stellung bei, die er einnahm. Es war ein nicht geringes Verdienst Schlippenbach’s, daß er durch seine eigene dichterische Thätigkeit der Beschäftigung mit Poesie und Litteratur unter seinen Standesgenossen, die am Ende des vorigen Jahrhunderts meist sehr geringschätzig davon dachten, Anerkennung und Geltung verschaffte. Sein Roman in Briefen: „Lebensblüten aus Süden und Norden, Wahrheit und Traum“, zwei Bände 1816 und 1817, ist mißlungen; zum epischen Dichter fehlte es ihm an der erforderlichen Gestaltungskraft und der Kunst der Darstellung. Von seinen übrigen Schriften seien hier hervorgehoben: „Malerische Wanderungen durch Kurland“, Mitau 1809, worin er einen Theil Kurlands mit dichterischem Sinn beschreibt; das Buch ist auch heute noch von Werth. Ferner „Beiträge zur Geschichte des Krieges zwischen Rußland und Frankreich in den Jahren 1812 und 1813“, 4 Hefte, sie sind als lebendiges Spiegelbild der Stimmung jener Zeit sehr anziehend und für die Geschichte der zeitweiligen Besitznahme Kurlands durch die Franzosen auch jetzt noch von Bedeutung. S. war 1814 Mitglied der Commission zur Verbesserung des Zustandes der Bauern, welche die Vorbereitung zur Aufhebung der Leibeigenschaft in den Ostseeprovinzen treffen sollte; S. nahm um so eifriger an ihren Arbeiten theil, als er schon längst ein Gegner der Leibeigenschaft war. 1815 wurde er mit einer Anzahl gleichgesinnter Männer Stifter der Gesellschaft für Litteratur [525] und Kunst in Mitau; er hatte die Idee zu dieser Vereinigung gefaßt, von der sein Enthusiasmus sich eine außerordentliche Wirkung für die Förderung der geistigen Cultur in seiner Heimath versprach. Hat auch diese Gesellschaft den anfänglichen hochfliegenden Erwartungen nicht entsprochen, so ist sie doch immerhin stets ein Vereinigungspunkt für Männer von regem geistigen und wissenschaftlichen Interesse gewesen und hat die Bestrebungen zur Kenntniß der heimischen Vergangenheit und die Naturkunde Kurlands mannichfach gefördert. Als 1818 das Piltensche Landrathscollegium aufgelöst und der Kreis mit Kurland vereinigt wurde, ging S. als Rath des kurländischen Oberhofgerichts nach Mitau, wo er seine letzten, durch häufige Kränklichkeit getrübten Tage verbrachte; im Sommer verweilte er meist auf seinen Gütern Ulmahlen und Jamaiken. In seinem Hause bildete er den Mittelpunkt heiterer, angeregter Geselligkeit. Sein lebhafter Enthusiasmus für Freundschaft war ganz im Geiste jener Tage und in der geistreichen, witzsprühenden Unterhaltung mit seinen Freunden fühlte er sich am glücklichsten. Mit den deutschen belletristischen Zeitschriften blieb er fortwährend in Verbindung und stand in lebhaftem Briefwechsel mit vielen deutschen Dichtern und Schriftstellern, namentlich mit Fr. Perthes pflegte er eifrigen Gedankenaustausch; manche Stellen aus seinen Briefen sind in Perthes’ Leben abgedruckt. Als Jünger der Romantik zeigte er sich auch darin, daß er, sonst in christlicher Beziehung indifferent, gern die katholischen Kirchen besuchte und sich durch deren Cultus zu religiöser Stimmung angeregt fühlte. In seinem Charakter lag eine eigenthümliche Mischung, die ihn zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Verhältnissen als einen völlig andern Menschen erscheinen ließ. Er lebte bald ganz in der Welt des Ideals, sein Inneres war von den heiligsten und tiefsten Gefühlen himmelan getragen und dann war er wieder der genußliebende satirische Weltmann, der an alltäglicher Frivolität den größten Gefallen zu finden schien, kurz, ein beständiger Wechsel idealer Gefühle und irdischer Gewöhnlichkeit zeigte sich in seinem Wesen. Er liebte den Lebensgenuß in allen Formen, war ein Freund der Bequemlichkeit bis zum Egoismus und nicht frei von Eitelkeit, andererseits war er eine durchaus offene Natur, er verbarg seine wahre Meinung nie und war milde in seinem Urtheil, nur gegen Anmaßung richtete sich seine scharfe Satire. Er fühlte sich zwar als Edelmann, aber von Standeshochmuth andern Gebildeten gegenüber war er völlig frei. Sah man ihn in seiner amtlichen Geschäftsthätigkeit, so hätte Niemand den Dichter in ihm gesucht. Es erklärt sich aus dem Gesagten, daß über seinen persönlichen Charakter die verschiedensten Urtheile laut wurden. Er selbst hat die Disharmonie seines geistigen Wesens mehrmals sehr treffend dahin charakterisirt, daß der Baß und Diskant seines geistigen Instruments nicht zusammenstimmten. In der Incongruenz seiner Charaktereigenschaften, wie in der völligen Verschiedenheit des poetischen und des bürgerlich geschäftsthätigen Menschen erinnert er sehr an Hippel. Am 20. März (1. April) 1826 beschloß er zu Mitau im vollen Bewußtsein des nahenden Endes sein Leben. Ist sein Ruhm später in der Heimath auch verblaßt, hat Vieles, ja das Meiste, was er dichterisch geschaffen, nur noch litterarhistorischen Werth, nicht ganz weniges verdient auch heute noch fortzuleben. Und noch ein Umstand verleiht ihm dauernde Bedeutung. Die Dichtungen dieses kurländischen Edelmanns sind ein lebendiges Zeugniß dafür, daß die mächtige poetische Bewegung Deutschlands am Anfange dieses Jahrhunderts auch an der fernen Ostseeküste ein Echo gefunden hat.

G. S. Bilterling, Ulrich Freiherr von Schlippenbach in den Zeitgenossen, III. Reihe, Band II, Heft 7, 1830, S. 51–70. – Recke u. Napiersky, Schriftstellerlexikon IV, 82–86.