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ADB:Tscharner, Johann Baptista von

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Artikel „Tscharner, Johann Baptista von“ von Fritz von Jecklin in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 38 (1894), S. 705–708, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tscharner,_Johann_Baptista_von&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 14:26 Uhr UTC)
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Tscharner: Johann Baptista v. T., geb. am 20. Januar 1751, † am 1. October 1835 in Chur, erhielt seinen ersten Unterricht im Philanthropin zu Haldenstein, studirte später an der Universität Göttingen und bereiste nach Abschluß seiner Studien die wichtigsten Länder Europas. Die gesammelten Kenntnisse verwendete er, nach Hause zurückgekehrt, vorerst im Dienste seiner Vaterstadt, indem er, namentlich im Armen- und Schulwesen, durchgreifende Neuerungen einführte. Nachdem seine Söhne das schulpflichtige Alter erreicht hatten, gründete er 1786, wegen Mangel einer öffentlichen Lehranstalt, unter der Leitung seines ehemaligen Lehrers, Professor Nesemann, hauptsächlich für seine Familie eine Privatschule in Jenins, verlegte dieselbe später, als er Mitbesitzer des Schlosses Reichenau geworden war, in die dortigen günstigeren Räume. Unter der bewährten Leitung Nesemann’s, sowie der regen Aufsicht Tscharner’s entfaltete die Anstalt bald eine segensreiche Wirksamkeit, indem dieselbe nicht nur von Bündnern beider Confessionen, sondern auch von Ausländern besucht wurde, die dort in allen Gymnasial- und Realfächern der damaligen Zeit Unterricht erhielten.

In den Staatsdienst wurde T. durch Theilnahme an der Verwaltung der Unterthanenlande eingeführt. Die Art und Weise, wie er 1775–77 als Podestat zu Tirano, von 1783–85 als Landvogt der Herrschaft Maienfeld seiner Aufgabe oblag, verschaffte ihm den Ruf eines pflichttreuen, charakterfesten Mannes. Zu einer Zeit, da der rätische Freistaat in gleichem Maaße wie die alte Eidgenossenschaft durch innere Parteiungen und unheilvollen Einfluß von außen her uneinig und schwach war, sollte T. zur zeitweisen Leitung der Republik der drei Bünde berufen werden. Als T. 1795–97 als Bundespräsident dem Gotteshausbunde vorstand, begannen Bünden’s politische Verhältnisse immer schwieriger und verwickelter zu werden. Die durch fremdes Geld und religiösen Fanatismus in eine österreichische (aristokratische) und französische (demokratische oder patriotische) Partei gespaltene Bevölkerung sollte vornehmlich durch zwei Ereignisse der nächsten Zeit in die größte Aufregung versetzt werden. Durch Decret vom 10. October 1797 erklärte Napoleon, „daß es den Völkern des Veltlins, von Cleven und Worms freistehe, sich mit der cisalpinischen Republik einzuverleiben“ und durch ein weiteres Decret vom 22. gleichen Monats schlug das cisalpinische Directorium das Veltlin und die beiden Grafschaften zur cisalpinischen Republik, erklärte auch, „daß alles auf Veltliner, Clevener und Wormser Gebiet befindliche bündnerische Privateigenthum (damals auf acht Millionen Mailänder Lire gewerthet) zur Vergütung des durch die vielen Ungerechtigkeiten und Bedrückungen [706] früherer bündnerischer Regenten und ihrer Beamten der Nation verursachten Schadens confiscirt sein solle.“

Ungefähr einen Monat nach stattgehabter Losreißung der Unterthanenlande beriefen die Leiter der französischen Faction einen außerordentlichen Bundestag zusammen, der hauptsächlich gegen die Einverleibung des Veltlins zu Cisalpinien remonstriren sollte. Am 27. November 1797 trat dieser Landtag zusammen und wählte T., Amtsbürgermeister in Chur, zu seinem Präsidenten. Sofort wurde die alte Regierung entlassen und den Mitgliedern derselben, denen man Unredlichkeiten mancher Art vorwarf, bis auf weiteres verpflichtet, die Stadt nicht zu verlassen. Sodann wurden Gesandtschaften nach Paris und Mailand abgeordnet, namentlich um dort die Herstellung der alten Landesgrenzen anzustreben, d. h. gegen die Abtrennung der Unterthanenlande vorstellig zu werden; vergebens, beide Botschaften brachten nur den Bericht nach Hause, daß die Einverleibung der bündnerischen Unterthanenlande mit Cisalpinien eine ausgemachte und unabänderliche Thatsache sei. Nun tritt im Januar 1798 der Landtag abermals unter Tscharner’s Vorsitz zu einer sehr stürmischen Sitzung zusammen. Die Doppelstellung als Bürgermeister und als Standespräsident schuf für T. einen schwierigen Conflict, den er nur dadurch zu lösen im Stande war, daß er ersteres Amt zeitweise niederlegte. Nun sollte gegen diejenigen, denen man den Verlust des Veltlins vorwarf, strafrechtlich vorgegangen werden, doch dagegen widersetzte sich die österreichische Partei mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln, was an vielen Orten zu tumultuarischen Auftritten führte. Das unparteiische Gericht, dem T. als „Examinator“ beigegeben war, erließ gleichwol gegen 32 Personen im Ganzen 25 Strafurtheile mit Geldbußen im Gesammtbetrage von 63,725 Gulden.

Am 5. März 1798 Nachmittags 1 Uhr ziehen die französischen Sieger in Bern ein. Damit war der Fall der alten Eidgenossenschaft besiegelt, „eine willenlose Leiche jeder Beraubung preisgegeben, einem französischen General zu Füßen, den ihre eigenen Kinder herbeigeführt hatten.“ Schon am 10. April drängte der französische Gesandte Gujot die Bündner zum Anschluß an die Schweiz, und unterm 26. April gelangte, nachdem am 13. gleichen Monats die Verfassung der einen und untheilbaren helvetischen Republik in allen beigetretenen Theilen der Schweiz feierlich proclamirt worden war, von Seite des helvetischen Directoriums auch an Graubünden eine Einladung zum Beitritt. Durch Ausschreiben vom 10. Mai wurden die Gemeinden hinsichtlich des Anschlusses um ihre Willensmeinung angefragt. Nun entbranute allerorts heftiger Parteihader. T. äußerte sich über diesen Gegenstand dahin, daß eine beförderliche Vereinigung mit der Schweiz für beide das einzige Rettungsmittel sei. „Wir können, sagte er, der Einverleibung mit der Schweiz nicht ausweichen. Jeder gute Patriot würde wünschen, Bündens Unabhängigkeit zu retten, es durch eine eigene gute Verfassung zu ehren, aber Jeder muß auch die Einverleibung als das kleinste unter den vielen Uebeln ansehen. … Zwischen zwei schrecklichen Uebeln, entweder directe österreichische Unterthanen, oder, unter dem Namen freier Schweizer, französische Unterthanen zu werden, scheint mir gleichwol die Wahl für Letzteres zu entscheiden.“ Am 6. Juli wurden die Gemeinden angefragt, „ob die Deputirten in Paris beauftragt werden wollten, unter französischer Vermittlung mit den Bevollmächtigten der helvetischen Republik über eine Vereinigung mit der Schweiz unter möglichst vortheilhaften Bedingungen in Unterhandlung zu treten.“

Jetzt begann der Wettkampf der Parteien aufs neue. Flugschriften für und gegen die Vereinigung, sowie Gerüchte aller Art regten das Volk auf, so daß es am Abstimmungstage aller Orten zu Excessen schlimmster Art kam. Die Vereinigung mit der Schweiz wurde mit 34 gegen 11 Stimmen verworfen, [707] 16 Stimmen wollten den Entscheid verschieben. Hierauf dankte der zumeist franco-helvetisch gesinnte Landtag ab. Die Patrioten wurden überall verfolgt und verließen, allerorts Gegenstand der Volkswuth, das Land. Am 6. August schrieb T. einem Freunde: „Alles fällt über uns her, und wenn nicht einige Patrioten consequenter werden und Frankreich uns thätiger unterstützt, so sind manche von uns zu Grunde gerichtet, und die übrigen werden ihre Politik in der Folge mit ewiger Nachreue büßen müssen. Ueber ein halbes Jahr habe ich gekämpft und standhaft ausgehalten.“ Ragaz bildete fortan den Sammelplatz der Emigranten, die T. und Zschokke nach Aarau absandten, um für sich und die flüchtigen Patrioten Aufnahme ins helvetische Bürgerrecht nachzusuchen, welchem Begehren im August 1798 auch entsprochen wurde. Immer mehr neigte sich die bündnerische Politik Oesterreich zu und am 21. August bittet der Bundestag den Kaiser um bundesgemäßen Schutz. Am 17. October kommt betreffs kaiserlicher Hülfe ein schriftliches Einverständniß zu Stande, worauf seit dem 18. October 4000 Oesterreicher über den Lucisteig in Bünden einmarschiren. Während diesen letzten Vorgängen hatte T. am Zürichsee eine Zufluchtsstätte gefunden. Dort ging ihm seitens des helvetischen Vollziehungsdirectoriums die Ernennung zum Regierungsstatthalter des Kantons Bern zu. Gemäß der ersten helvetischen Verfassung vom 12. April 1798 stellte der Regierungsstatthalter die vollziehende Gewalt vor, hatte Aufsicht über alle Beamten, übermachte ihnen die Gesetze, war verbunden sich von Zeit zu Zeit in die verschiedenen Districte zu begeben, um seine Aufsicht zu üben, ernannte den Präsident des Tribunals, der Verwaltungskammer und der niederen Gerichte etc.

T. konnte sich mit dieser neuen Stellung nie recht befreunden, denn er wußte manche politischen und religiösen Ansichten seiner Oberen nicht mit seinem geraden und milden Sinne zu vereinigen. Er trat deshalb im März 1799 von seinem Posten zurück. Bei diesem Anlasse zeigt es sich wieder, welches Ansehen er sich in dieser schwierigen Stellung zu verschaffen gewußt hatte. Bei seinem Abschied schrieb ihm die Municipalität von Bern u. A.: „Wenn zur Zeit eines solchen allgemeinen Schwankens aller Dinge im Ort eine Gemeinde unter ihren öffentlichen Beamten Männer besitzt, deren Herz unwandelbar zur Freiheit und Rechtschaffenheit glüht, die mit Kenntnissen jeder Art ausgerüstet, die öffentlichen Geschäfte mit Glück und Weisheit verwalten, die mit Kraft und Würde den Gedrückten gegen den Unterdrücker, den stillen, fleißigen Bürger gegen den Friedenstörer schützen, die mit Aufopferung eigenen Wohls, selbst mit Gefahr ihres Lebens nur ihrer Pflicht leben, so kann sich dieser Ort, diese Gemeinde, gewiß nicht genug glücklich schätzen. Einen solchen Mann nun erkennt in Ihnen, Bürger Regierungsstatthalter, die Gemeinde Bern; in Ihnen siehet sie ihren Vater, ihren Freund und Bruder; in Ihnen verehret sie den wahren Patrioten, der von Stolz und Eigennutz gleich weit entfernt, keine andere Triebfeder zu seinen Handlungen kennet als Recht und Pflicht. Ihnen hat die Municipalität dieser Gemeinde die Aufrechthaltung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit, so manchen wichtigen Dienst, so manche Gefälligkeit zu verdanken.“

Graubünden war unterdessen ein Spielball der fremden Mächte geworden, mit wechselndem Glück konnten sich die Franzosen und Oesterreicher im Lande halten. Beide Mächte führten, sobald sie die Oberhand gewonnen hatten, eine Anzahl der angesehensten Männer als Geiseln hinweg, oft traf dies Schicksal solche, die niemals weder im Militär- noch im Staatsdienst eine Stelle bekleidet, oder durch ihre politische Thätigkeit sich Gegner geschaffen hatten. Für T. war es ein schwerer Schlag, als er, 1800 nach Hause zurückgekehrt, vernehmen mußte, daß auch sein 80jähriger Vater als Geisel weggeschleppt und bis nach Steiermark transportirt worden war, von wo er erst nach Verfluß von zwei Jahren [708] heimkehrte. Nach diesen folgenschweren Ereignissen zog sich T. vom öffentlichen Leben ganz zurück und lebte fortan ganz dem Bereiche seiner Familie, die Mußezeit zur Sichtung und Bearbeitung des reichhaltigen Familienarchives verwendend.

Archiv der Familie v. Tscharner. – Nekrolog in der Beilage zur Bündner Zeitung, 1835. – V. v. Planta, Die letzten Wirren des Freistaates der drei Bünde; Chur 1857.