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Airolo und die Stalvedroschlucht

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: J. H.
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Titel: Airolo und die Stalvedroschlucht
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 860, 861
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Airolo und die Stalvedroschlucht.

(Zu dem nebenstehenden Bilde.)

Der Zug rasselt und prasselt mit metallischem Getöse durch den Gotthardtunnel. Zwanzig Minuten dauert die Fahrt im Unterirdischen. Wir vergegenwärtigen uns, was an Wassern hoch über unsern Köpfen schäumt, an Bergen sich darüber türmt. Erstlich die unter der Teufelsbrücke hindurch polternde Reuß, dann der St. Annagletscher jenseit des grünen Plans von Andermatt, dann die fast 3000 m hohen Gipfel des Kastelhorns und Tritthorns, die sich ungefähr über der Mitte des Tunnels erheben, darauf der in stiller Gebirgsöde träumende Sellasee. Jetzt, nachdem wir schon zwei Drittel des Tunnels zurückgelegt haben, neigt sich der bisher sanft ansteigende Zug, mit leichtem Gefälle geht es dem Tunnelausgang zu, die Räder ersausen über dem Viertelkreis einer Kurve, die die Bahn aus dem von Norden nach Süden verlaufenden schnurgeraden Tunnel in das von Westen nach Osten gerichtete Livinenthal hinausführt. Zwischen hohen Böschungen blitzt der Tag herein – noch zwei Stöße der Lokomotive – wir sind in Airolo, der auf 1144 m Meereshöhe gelegenen Südstation des Gotthardtunnels. Zur Rechten schnellt der junge Tessin an uns vorbei, zur Linken liegt, an die alte Gotthardstraße hingereiht, in etwas erhöhter Lage das Dorf mit echt italienischer Silhouette unter den verwitterten Felsen des Sasso rosso.

Die südliche Bauart der Häuser, die Thürbogen und Loggien und die Sprache der Bewohner sind das einzige, was uns daran mahnt, daß wir in „Südeuropa“ sind. Die Natur des Hochthales aber ist nicht milder als die irgend einer Alpengegend im Norden, höchstens eine stärkere Lichtfülle der Luft giebt der Phantasie der Reisenden recht, die mit einer gewissen Selbstverständlichkeit jenseit des Gotthards gleich Italien „riechen“ wollen. Es kann sogar geschehen, daß über dem Nordportal des Gotthards blendender Sonnenschein fliegt, uns aber Airolo auch im Sommer mit einem Schneegestöber empfängt, das einer deutschen Weihnacht alle Ehre machen würde. Vom Oktober bis in den Mai liegt das Dorf im Schnee, oft unter dem Schnee, denn es fallen hier unglaubliche Massen, so daß manchmal die Schneedämme zu beiden Seiten der Gotthardbahn den Rauchfang der Lokomotive überragen. Dazu giebt es 20 und mehr Grad Kälte. Airolo ist, von der Sonne überleuchtet, ein unvergleichliches Winterbild. Von Zeit zu Zeit aber unterbricht der Schreckensruf des Unglücks die starre Ruhe. Es hat weit und breit im Alpengebiet kaum ein Dorf mit einer so großen Chronik von Lawinen-, Bergsturz- und Brandunfällen aufzuwarten wie Airolo. Im Jahr 1877 ist es fast vollständig abgebrannt, in den ersten Tagen des Jahres 1895 haben Lawinen, in den letzten des Jahres 1898 ein Bergsturz vom Sasso rosso eiueu Teil seiner Häuser und je auch einige Menschenleben vernichtet und der Ort schwebt in ewiger Gefahr.

Umsonst aber hat man den fast 4000 Einwohnern schon den Gedanken nahe gelegt, die Heimstätten preiszugeben und sich nicht weit vom alten, im sicheren Schutz vor Lawinen und Steinschlag, ein neues Dorf zu gründen. Sie hangen an dem Fleck Erde, wo die Eltern und Voreltern gewohnt haben, und ob ihm die Gotthardbahn die ehemaligen Lebensquellen, die mühselige Offenhaltung der Gotthardstraße in Sturm und Schnee und den Fuhrdienst über den Paß, entzogen hat, ob die Naturgewalten es immer und immer wieder schädigen, so versteht es das zähe Bergvolk doch, dem Dorf das Gepräge schöner Wohlhabenheit zu bewahren. Viele Airolesen verdienen in der Fremde mit Fleiß und Sparsamkeit in Jahrzehnten ein kleines Vermögen, das sie später behaglich in ihrer Heimat verzehren, und seit Jahren lockt das sonnige, ruhige und frische Dorf, das aus der Zeit des Paßverkehrs eine Reihe alter guter Gasthöfe besitzt, im Sommer eine wachsende Schar von Bergfreunden an. Es ist Ausgangspunkt für eine Anzahl sehr dankbarer Ausflüge und Bergtouren im schönheitsreichen Gotthardgebiet. Und malerisch belebt sich der Ort hier und da mit Abteilungen der Festungstruppen des Gotthards, von dessen Flanken zwei Forts, Stuei und Fondo del Bosco, auf Airolo niedergrüßen. Die seitwärts auf dem Kopf ruhende baskische Mütze und der starke Bergstock, der sich zu dem Gewehre gesellt, kennzeichnen die braungesengte Mannschaft, die in Sonne und Wind, in Nacht und Wetter einen überaus harten und gefährlichen Dienst verrichtet.

Airolo ist nur ein flüchtiger Augenblick auf der Fahrt über den Gotthard und der Schnellzug hält seinetwegen nicht einmal an. Horcht man genau auf den Schlag der Räder, so singen sie in einförmiger Kraft: „Südwärts – südwärts!“ Nach der Hochgebirgsidylle von Airolo führt uns die Bahn in die Stalvedroschlucht, deren zerklüftetes Gestein in abenteuerlicher Weise die Gestalt riesenhafter Schloßruinen nachahmt und treffliche Theaterdekorationsvorbilder für die Ausstattung von Raubritterstücken liefern kann. Feucht und kühl weht der Wasserstaub des Tessins über kletternde Tannen zu der hohen Brücke empor, auf der der Zug über den nördlichen Eingang der Schlucht setzt, und eine Weile ist uns, die Naturbilder im Süden des Gotthards seien nur eine Fortsetzung dessen, was wir an Schlucht und Fels schon zur Genüge auf seiner Nordseite genossen haben. Doch getrost! Die Stalvedroschlucht ist die letzte nordische Episode der Fahrt, in raschem Flug erreichen wir Gegenden, wo wir nicht nur mit dem geographischen Bewußtsein, sondern mit Auge und Herzen im Süden sind. Bei Faido gelangen wir schon in den Bereich der Walnußbäume und Edelkastanien, bei Giornico klettert schon der Wein an Feigenbäumen empor, und in den Gärten von Bellinzona, das nur eine Schnellzugstunde unterhalb Airolo liegt, behält Konrad Ferdinand Meyer recht:

„Nun, Herz, beginnt die Wonnezeit
Auf Wegen und auf Stegen,
Mir strömt ein Hauch von Ueppigkeit
Und ew’gem Lenz entgegen.“

J. H.     


[861]

Airolo und Stalvedroschlucht.
Nach der Natur gezeichnet von E. T. Compton.