An der Gnadenstätte von Marpingen

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Autor: M. L.
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Titel: An der Gnadenstätte von Marpingen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 666–669
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[666]
An der Gnadenstätte von Marpingen.


„Station St. Wendel!“ erscholl die Stimme des Schaffners, auf dessen Ruf eine gewaltige Menschenmenge aus den geöffneten Waggons des endlos langen von Bingerbrück kommenden Zuges strömte. Während eine gleich große Volksmasse auf dem Perron des Bahnhofes wartete, um in der Richtung nach Saarbrücken weiter befördert zu werden. Ein Blick auf die Rosenkränze und zahlreichen zur Aufbewahrung des Wunderwassers bestimmten Blechgefäße läßt uns nicht in Zweifel, daß es Wallfahrer seien, welche nach dem in der frommen Welt so schnell berühmt gewordenen Marpingen wollen oder von da zurückkehren. Wie aus den verschiedenen Trachten zu ersehen ist, haben sämmtliche benachbarte Länder: Frankreich, Lothringen, Pfalz, selbst Altbaiern, Württemberg und Baden ihr Contingent gestellt. Den Kenner würde diese Musterkarte von Volkstrachten: hirschlederne Unaussprechliche des Schwarzwälders neben der Blouse des Franzosen, zierliche weiße Lothringer- und bunte Elsässer-Häubchen neben gewaltigen schwäbischen Gimphauben und einem halben Dutzend anderer Nationaltrachten entzücken, wenn sie nicht fast durchweg von Leuten getragen würden, deren stupides Aussehen sofort verräth, daß sie den untersten Ständen und zwar nicht dem intelligenteren Theile derselben angehören. Städtisch Gekleidete waren etwa fünfzig bis sechszig zu bemerken, und zwar gehörten diese fast ausschließlich dem schöneren Geschlechte in dem Alter an, in dem man „zu alt ist, um nur zu spielen, zu jung, um ohne Wunsch zu sein“. Da sich diese bald naserümpfend von dem „Pöbel“ absonderten und sich instinctmäßig zueinander gesellten, so entstand eine hübsche Collection schnatternder alter Jungfern, wie ich sie in solcher Reichhaltigkeit noch nie an einem Punkte vereinigt gesehen hatte.

Der dichte schreiende und lärmende Knäuel löste sich endlich auf. Die an dem früher so einsamen Bahnhof in großer Anzahl aufgestellten äußerst zudringlichen Rosselenker nahmen den kleineren Theil der angekommenen Reisenden in ihre aus weiß Gott welch alten Rumpelkammern hervorgezogenen antediluvianischen[WS 1] Gefährte auf und humpelten gemächlich die Anhöhe hinauf, während die übrigen Wallfahrer zu Fuß die Richtung nach Marpingen einschlugen, zum Theil von schwarzberockten Geistlichen geführt, deren wachsames Auge jeden Abstecher, den etwa einzelne durstige Seelen in die benachbarten Kneipen machen wollten, zu vereiteln wußten. Aus dem etwas unsicheren Gange und dem lauten Gespräche mancher Pilger und Pilgerinnen konnte man unschwer den Schluß ziehen, daß sie bereits tüchtig gefrühstückt hatten. Ich überzeugte mich bald, wie dies gekommen sei, nämlich daß die frommen Wallfahrer in ihren Blechkannen erhebliche Quantitäten Wein und verschiedene Schnäpse zur Stärkung mit sich führten und, so oft das Auge des gestrengen Seelsorgers sich zur Seite [667] wandte, einen tüchtigen Schluck hinter die Binde gossen. Mußte man ja doch die Gefäße leeren, um sie als Rückfracht mit dem heilkräftigen Marpinger Wasser füllen zu können.

Ich selbst schloß mich einem alten Weiblein an, das neben einem Kropfe von bemerkenswerther Größe und einer äußerst beweglichen Zunge die für mich schätzenswerthe Eigenschaft besaß, des Weges kundig zu sein. Im Verlaufe des Gespräches vertraute mir meine Begleiterin an, daß sie schon zweiundzwanzig Mal in Marpingen, sieben Mal in Mariaeinsiedeln, zwölf Mal in Alt-Oetting und unzählige Male in verschiedenen kleineren Wallfahrtsorten gewesen sei. Ein Compliment über ihren frommen Eifer lehnte sie aber mit pfiffigem Lächeln und der Bemerkung ab, daß sie nicht für sich, sondern ausschließlich im Auftrage Anderer wallfahre und zwar schon seit mehr als dreißig Jahren, daß sie also das Wallfahren handwerksmäßig betreibe. Ihr Mann habe sich, erzählte sie weiter, dem Trunke ergeben und sei jung gestorben. Um die gleiche Zeit sei in ihrem Dorfe die frühere Wallfahrtsbesorgerin, die Heiliggeist-Margreth – so genannt, weil sie neben dem Wallfahren in ihrer freien Zeit sich mit der Anfertigung und dem Verkaufe von Bildern des heiligen Geistes beschäftigte – durch einen bösen Fall dienstuntüchtig geworden; sie sei dann in ihre Fußstapfen getreten und befinde sich ganz wohl dabei. Von ihren Auftraggebern, die ruhig zu Hause bleiben und doch aller Gnadenschätze theilhaftig werden können, ohne sich im geringsten anstrengen zu müssen, werde sie reichlich mit Lebensmitteln für die Reise versehen und erhalte überdies noch eine Baarsumme, die sich nach der Größe der Entfernung richte, sowie auch darnach, ob sie die Eisenbahn benutze oder zu Fuß gehe. Die mit letzterer Reiseweise verbundenen Strapazen geben dem Auftraggeber natürlich ein Anrecht auf erhöhte Verdienste, und es ist daher nur billig, wenn er dafür eine höhere Taxe bezahlen muß. Am meisten trage ihr das Wunderwasser ein, mit dem sie sich jedes Mal befrachte und nach dem überall große Nachfrage sei, da es sich bei Menschen und Thieren in den verschiedenartigsten Krankheiten bewährt habe, wenn nur der rechte Glaube an die Wunderkraft bei den Betreffenden vorhanden sei. Auch der Handel mit Amuletten, Kreuzen, Medaillen, Rosenkränzen, Heiligenbildern etc. gewähre ihr eine hübsche Nebeneinnahme.

Unterdessen waren wir, häufig unterbrochen durch singende und betende Pilgerzüge, welche uns begegneten, auf der Höhe angelangt, von der aus man das anmuthig in einem Thalkessel gelegene stattliche Dorf Marpingen, das neue Lourdes, überblicken kann. Die umliegenden sich sanft abdachenden Anhöhen sind theils bewaldet, theils angebaut. Das Dorf selbst ist fast ganz in einem Walde von Obstbäumen versteckt. Die inmitten des Kirchhofes gelegene Ortskirche mit plumpem Thurme befindet sich am jenseitigen Thalabhange. Links vom Beschauer, einige hundert Schritte hinter dem Dorfe, zieht sich der Härtelwald hin, in dem die Muttergotteserscheinungen statthatten und der daher das erste Ziel sämmtlicher Pilger bildet. Auch ich wendete zuerst meine Schritte dahin.

Das Betreten des Waldes ist in Folge der Aufläufe, die sich darin sammelten und des daselbst getriebenen Unfugs verboten. Gensdarmen sind beständig neben dem Walde postirt und bewachen den Platz Tag und Nacht. Doch kann man sich auf einem Umwege von wenigen Schritten der dicht am Walde gelegenen sogenannten Erscheinungsstelle bis auf eine kleine Entfernung nähern. Von da aus bemerkt man drei Kiefern, welche sich neben einer kleinen Schlucht erheben und die von der Menge andächtig angestarrt werden, ohne daß sich aber etwas Außerordentliches ereignete. Zwischen diesen drei Kiefern wollen die drei achtjährigen Kinder Margaretha Kunz, Susanna Leist und Katharina Hubertus aus Marpingen die Muttergottes am 3. Juli vorigen Jahres, dem Tage, an welchem in Lourdes die Krönungsfeierlichkeit des dortigen Muttergottesbildes stattfand, wahrgenommen haben. Auch an den folgenden Tagen hatten die Kinder dieselbe Vision; später wurden auch vier pensionirte Bergleute mit der Erscheinung begnadigt. Hier war es auch, wo im Juli vorigen Jahres durchschnittlich jeden Tag fünfzehn- bis zwanzigtausend Pilger aus Nah und Fern versammelt waren und tumultuarische Scenen vorkamen, die aller Beschreibung spotten. Alle Höhenwege wimmelten von Pilgern, welche zu Fuß und zu Wagen angezogen kamen. Unter Stoßen, Schreien und Schlagen suchte sich Jeder dem Erscheinungsplatze, auf dem übrigens außer einer Anzahl brennender Kerzen nichts zu sehen war, zu nähern und die andern davon wegzudrängen; schwächliche und kranke Personen geriethen in Gefahr, erdrückt zu werden. Manche kletterten auf Bäume, um bequemer sehen zu können. Auf weite Entfernung konnte man das Toben der Menge von Sonnenaufgang bis tief in die Nacht hinein wahrnehmen. Dazwischen hörte man einzelne Gruppen Wallfahrtslieder singen und immer lauter und lauter wiederholen, da die Muttergottes sich hartnäckig weigerte vor der Menge zu erscheinen. Einzelne warfen sich auf den Boden und zerrauften sich die Haare – alles vergebens. Andere schlugen sogar im Walde ihr Nachtquartier auf. Von Seiten der Geistlichkeit geschah nichts, um diesem Tollhäuslertreiben ein Ende zu machen.

Im Dorfe selbst waren alle Bande der Ordnung gelöst; Niemand wollte mehr seinen täglichen Arbeiten nachgehen, Niemand mehr gehorchen. Der Bürgermeister konnte der fanatischen Menge gegenüber unter solchen Umständen nichts mehr ausrichten, und es blieb nichts anderes übrig, als eine Compagnie Soldaten zur Wiederherstellung der Ordnung zu requiriren. Diese traf am 13. Juli Abends ein und säuberte mit vieler Mühe den Wald. Hierbei zeigten sich die Wallfahrer in solch fanatischer Aufregung, daß sie erst wichen, nachdem die Soldaten vor ihren Augen die Gewehre geladen und die Bajonnette aufgepflanzt hatten. Einige Heißsporne, welche sich thätlich widersetzten, konnten erst entfernt werden, nachdem von Kolben und Bajonnetten Gebrauch gemacht worden war. Nur dem besonnenen Vorgehen der Truppen ist es zu verdanken, daß größeres Blutvergießen vermieden wurde. Erst nach vierzehn Tagen war die Ordnung so weit wieder hergestellt, daß die Soldaten, welche bei der Bürgerschaft einquartiert worden waren, wieder abziehen konnten.

Wäre die bis heute aufrecht erhaltene Absperrung des Waldes nicht erfolgt, so würde jetzt wohl kaum mehr eine Spur von ihm vorhanden sein, da die Gläubigen in ihrer frommen Wuth allerlei Andenken, einen Baumzweig, einige Blätter, ein Stückchen Holz oder Rinde mit nach Hause nehmen wollten. Das in der Nähe des Erscheinungsplatzes befindliche Gesträuch, sowie sämmtliches Gras in weitem Umkreise ist bis auf die Wurzeln verschwunden. Eine Anzahl von Kiefern ist dem Absterben nahe, weil man sie bis über Manneshöhe der Rinde beraubt hat. Ja sogar die Erde war vor den frommen Leuten nicht sicher. Ist es doch gebräuchlich geworden, den von den Schuhen so vieler Tausende weichgekneteten Koth auf Brod zu streichen, das dann von den Kranken gegessen werden mußte. Diesem unappetitlichen Gebrauch trat zwar die Geistlichkeit entgegen, aber ohne Erfolg. Sie begünstigte anfänglich das ganze Treiben, ist aber jetzt einfach nicht mehr Herr der Bewegung, die ihr längst über den Kopf gewachsen ist; sie sieht sich auch außer Stande, sonstige Ausschreitungen des rohesten Fanatismus, der unter Anderem jeden an der Echtheit der Wunder Zweifelnden thätlich bedroht, zu verhüten.

Eine Zeit lang hatte der Zuzug der Pilger etwas nachgelassen. Es war nämlich die ebenfalls im Härtelwald befindliche wunderthätige Quelle von den Truppen verschüttet und der Zutritt dem Publicum verwehrt worden. Schon schien es, als ob die Sache im Sande verlaufen werde, als plötzlich zur rechten Zeit ein neues Wunder eintrat und den frommen Eifer wieder belebte. Etwa fünfzig Schritte von der Ortskirche befindet sich nämlich ein Brunnen, neben dem unter einer Baumgruppe ein Muttergottesbild steht. Das Wasser dieses früher gar nicht beachteten Brunnens zeigte sich nun auf einmal heilkräftig und wirkte ganz so, wie das der unzugänglich gemachten ursprünglichen Gnadenquelle. Die Wunderkraft der letztern war – so erklärte man die Sache – durch das Zuschütten entwichen und auf die neue Quelle übergegangen, welcher, nach den daselbst geopferten Beinen, Armen, Herzen und Kindern aus Wachs zu schließen, bereits außerordentliche Wunder zu verdanken sind.

Noch mehr. Man sandte Wasser und Blätter aus dem Marpinger Wald nach Bois d'Haine und erhielt die jeden Zweifel an der Echtheit der Marpinger Wunder niederschlagende Mittheilung, daß der dortige Pfarrer Niels der stigmatisirten Louise Lateau die obigen Gegenstände während einer Verzückung in die Hand gegeben und daß sie dabei freudig gelächelt habe, gerade [668] so, wie sie es bei Berührung von Lourder Wasser thue. Schon bei der bloßen Nennung des Namens Marpingen habe sie gelächelt. Wen erinnert dies nicht an die römischen Auguren, welche, wenn sie einem Collegen begegneten, das Lachen nicht verbeißen konnten!

Dazu kam noch, daß die Visionen der Kinder immer zahlreicher und mannigfaltiger wurden. Da der Wald nicht mehr betreten werden durfte, so ließ man die Muttergottes einfach an anderen Orten erscheinen. Bald sahen die Kinder dieselbe im elterlichen Hause, bald in der Kirche und Schule und hielten förmliche Gespräche mit ihr. Schließlich begnügen sie sich nicht mehr mit Madonnenerscheinungen; zur Abwechselung erblicken sie die heilige Dreifaltigkeit, den heiligen Geist, glänzende Sterne und eine Unzahl von fliegenden Engeln, die merkwürdiger Weise dieselben Lieder singen, welche die Kinder in der Schule gelernt haben. Die Luft bevölkert sich förmlich mit allerlei Gestalten; hoch am Himmel sehen sie schwarze und weiße Männer, Engelprocessionen, ganze Leichenzüge mit Hunderten von Personen. Zuguterletzt bemerken sie auch noch in ihren Visionen den leibhaftigen Gottseibeiuns in höchst eigener Person mit Hörnern und Schweif. Auf geistliches Anrathen wird die Erscheinung mit geweihtem Wasser besprengt, worauf sie alsbald verduftet, nicht ohne den bekannten diabolischen Gestank zu hinterlassen.

Man sollte meinen, daß jetzt der Menge die Augen aufgegangen wären, doch war gerade das Gegentheil der Fall. Der Ruf der Marpinger Wunder drang in immer weitere Kreise. Hausirende Händler trugen das Wunderwasser und die phantastisch ausgeschmückten Erzählungen von angeblichen Heilungen in alle Welt hinaus. Aus allen Richtungen der Windrose strömten Andächtige herbei, und das ist bis heute so geblieben.

Gegenwärtig beträgt die Zahl der Wallfahrer täglich im Durchschnitt fünf bis sechs Tausend. Von Seiten der Bevölkerung glaubt man, daß für die nächsten Jahre diese Ziffer sich nicht vermindern, sondern eher vergrößern werde, ja man hofft bald die Concurrenz mit Lourdes aufnehmen zu können. Die erforderlichen Mittel zu einer Kirche – eine solche soll auf ausdrücklichen Wunsch der heiligen Jungfrau durch Beiträge der Pilger erbaut werden – dürften wohl bald zusammen sein, da die aufgestellten Opferstöcke Tag für Tag einen schönen Ertrag abwerfen. Wie in einem in Mode kommenden Badeorte werden Hôtels ersten Ranges, elegante Verkaufsmagazine und hübsche Anlagen wie Pilze aus dem Boden schießen. Ein industrieller Kopf hat bereits den Plan gefaßt, in der Nähe des Härtelwaldes ein Hôtel „mit Aussicht auf die Erscheinungsstelle“ zu erbauen. Wie in den Badeorten von einer guten oder schlechten „Cur“, so wird auch hier von guter oder schlechter „Wallfahrtssaison“ gesprochen werden.

Uebrigens profitirt jetzt schon das ganze Dorf bedeutend von dem starken Fremdenzudrang, was den festen Wunderglauben der Bevölkerung einigermaßen erklärt. In einer großen Anzahl von Privathäusern beschränken sich die Besitzer auf ein paar Gelasse und vermiethen den übrigen Theil der Wohnung an die Fremden. Eine Anzahl von Bürgern des sonst so fleißigen Marpingens hat den früheren geringen und mühsamen Verdienst mit einem einträglicheren und dabei weniger mühsamen vertauscht. Statt auf dem Felde oder in der Werkstätte im Schweiße ihres Angesichts zu arbeiten, lungern sie auf der Straße herum, um sich den Fremden als „Führer“ anzubieten. Andere sind Lohnkutscher geworden, während wieder andere sich auf den Handel verlegen und in zahlreichen längs den Straßen aufgestellten Buden den christlichen Wallfahrern zu ganz unchristlichen Preisen Madonnenbilder, Kerzen, Rosenkränze, Blechgefäße für das Wunderwasser und ähnlichen Kram verkaufen. Knaben fallen die Fremden mit Wunderwasser und heiliger Erde an. Am meisten Ursache, in's Fäustchen zu lachen, haben übrigens die Wirthe, welche bei den von ihnen verlangten Preisen bald ihr Schäfchen im Trockenen haben werden, zumal der Durst der Pilger ein nicht geringer zu sein scheint. Hat mir doch einer der Wirthe schmunzelnd erzählt, daß gegenwärtig in einem Tage mehr Bier vertilgt werde, als er früher im ganzen Jahre verzapft habe.

Ich stattete auch den „Gnadenkindern“, wie man sie im Dorfe nennt, einen Besuch ab. Eines derselben, das gerade aus der Schule kam, war mir bereits auf der Straße begegnet. Ein anderes liegt seit längerer Zeit krank; das massenhaft getrunkene Gnadenwasser scheint bei dem Kinde nicht helfen zu wollen. Aus ihm war nichts herauszubringen; vielmehr drehte es sich mit dem Bemerken, daß man es doch endlich in Ruhe lassen solle, mürrisch herum und zeigte den im Zimmer Anwesenden in nicht sehr höflicher Weise den Rücken.

Mehr Glück hatte ich bei dem dritten „Gnadenkinde“, Susanna Leist. Ich fand sie in der Küche sitzend und vergnüglich an einem Stück Kuchen kauend, das ihr einer der fromme Wallfahrer geschenkt haben mochte. Letztere starrten theilweise das Kind an, wie man etwa ein merkwürdiges Thier in einer Menagerie besichtigt, theils blickten sie in inbrünstiger Andacht zu dem begnadeten Wesen auf. Susanna Leist, welche derartige Scenen gewohnt sein mochte und daher vollständig unbefangen dreinschaute, zählte etwa neun Jahre und ist klein und schmächtig von Gestalt. Ihr Gesicht zeigt viel Intelligenz; vorübergehend macht sich ein gewisser Grad von Verschmitztheit bemerklich. Der Vater, ein Mann in den mittleren Jahren, schaute, aus einer langen Pfeife qualmend, mit Stolz auf sein Kind, dem schon in so zartem Alter in der frommen Welt Ehren angethan werden, wie einer Heiligen, während die prosaischer angelegte Mutter ab- und zuging und mich mit etwas mißtrauischen Augen musterte. Doch hinderte sie mich nicht, mehrere Fragen an das Mädchen zu richten.

„Also Susanna,“ fragte ich unter Anderem, „woher hast Du denn gewußt, daß die Erscheinung die Muttergottes sei?“

„Ich habe sie gefragt: 'Wäschen wer bint Ihr?' (Frauchen, wer seid Ihr?) und da hat sie mir geantwortet: 'Ich bin die unbefleckt Empfangene. Ihr sollt beten und nicht sündigen.'“

Und dann erzählte das Mädchen in einem Tone, der erkennen ließ, daß es dieselbe Geschichte schon hundertmal wiedergegeben habe, die ersten Visionen.

Ich stellte die weitere Frage: „Hat die Muttergottes auf alle eure Fragen geantwortet?“

„Nein, wir haben einmal gefragt, wann es regne und wann die Soldaten wieder fortgehen, und da hat sie nichts gesagt.“

Bei der Beschreibung der Kleidung der Muttergottes verwickelte sich das Kind nach verschiedenen Zwischenfragen sofort in Widersprüche. Es sagte auf die bezügliche Frage, daß das Kleid bis auf den Boden herabgegangen sei, sodaß es die Füße bedeckt habe, und kurz darauf gab es die Farbe der Strümpfe, die es also jedenfalls nicht wahrnehmen konnte, als weiß an. Die Umstehenden suchten zwar den offenbaren Widerspruch dadurch zu entschuldigen, daß die Kinder so viele Erscheinungen gehabt haben, bei denen die Kleidung fast jedesmal eine andere gewesen sei. Ich hatte jedoch nach diesen Proben genug und entfernte mich, um mich noch nach einigen der angeblich Geheilten zu erkundigen. Aber auch hier mußte ich die Ueberzeugung gewinnen, daß sämmtliche „Wunder“ sich nach der oberflächlichsten Prüfung sofort als die gröbsten Täuschungen herausstellten.

Eine der erste „Heilungen“ war die des Bergmannes Rektenwald aus Marpingen. Derselbe litt an Rheumatismus und gastrischem Fieber. Letzteres hat sich nach und nach verloren, nachdem auch noch nach dem „Wunder“ ärztliche Hülfe in Anspruch genommen worden war. Der Rheumatismus dagegen ist geblieben und quält den armen Mann nach wie vor bei jedem Witterungswechsel. Auch in Brust und Magen ist nach seiner eigenen Angabe ein Krankheitsrest zurückgeblieben. Das Aussehen des Mannes ist äußerst krankhaft, und unter solchen Umständen spricht man von „wunderbarer“ und „vollständiger“ Heilung.

Aehnlich verhält es sich mit dem achtjährigen Mädchen Magdalena Kirsch, ebenfalls aus Marpingen. Ein Arzt untersuchte das Kind nach der angeblichen „Heilung“ und constatirte, „es sei ein schwaches, kränkliches Kind mit einem Kartoffelleibe, den die schwachen Beinchen kaum zu tragen vermögen“.

Ich habe absichtlich diese beiden Fälle herausgegriffen, weil sie in den ultramontanen Blättern als die „hervorragendsten“ ausposaunt werden. Wie es mit den übrigen weniger „hervorragenden“ Wundern steht, läßt sich nach diesen Pröbchen denken. Verspürt unter tausend Kranken zufällig einer kürzere oder längere Zeit nach dem Besuche Marpingens einige, wenn auch nur vorübergehende Besserung, so schreit man in alle Welt hinaus von einem stattgehabten Mirakel. Von den anderen [669] neunhundertneunundneunzig Nichtgeheilten schweigt man oder beschuldigt sie gar, nicht die nothwendige Glaubensfestigkeit gehabt zu haben.

Bei meinem Besuche in Marpingen ist mir nur etwas als ein wirkliches Wunder erschienen: Die gerichtliche Untersuchung vor dem Landgerichte zu St. Wendel hat, nachdem Herr von Hüllesem aus Berlin als Geheimpolizist nach mehrwöchentlichem Aufenthalte in Marpingen hinlängliches Material beigebracht hatte, auf's Evidenteste ergeben, daß die Kinder nur am 3. und 4. Juli vorigen Jahres einen Schein oder eine weiße Frau gesehen haben wollen, während sie eingestanden, alles Uebrige erfunden, erlogen und erdacht zu haben; ebenso ist die Thatsache bekannt, daß, seit man in Krankheitsfällen nicht mehr die Hülfe des Arztes in Anspruch zu nehmen pflegt, sich die Sterblichkeit in Marpingen und Umgegend bedeutend erhöht hat. Trotz alledem – und das darf mit Recht als wunderbar bezeichnet werden – glaubt der große Haufe nach wie vor an die jedem auch nur einigermaßen vernünftigen Menschen in die Augen fallende Täuschung, die mindestens so groß ist, wie die der Lourder Erscheinung zu Grunde liegende Geschichte, in der eine hübsche Schloßfrau und ein Zollinspector, die sich manchmal in der jetzt wunderthätigen Grotte trafen, bis sich der Lockenkopf der kleinen Bernadette in das süße Geheimniß drängte, eine hervorragende Rolle spielen.

Wie lange wird es noch dauern, bis unter dem Einflusse einer gesunden Volksbildung die Vernunft den Sieg über den in den finstersten Zeiten des Mittelalters nicht crasser aufgetretenen Aber- und Wunderglauben davon getragen haben wird?

„Licht, mehr Licht!“ rief ich mit Goethe, als ich mit anbrechender Nacht das „deutsche Lourdes“ verließ, aus dem noch lange das Lärmen und Rufen der Nachtquartiere suchenden Wallfahrer in die friedliche Mondnacht hinausschallte.

     Metz.
M. L.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: antidiluvianischen