Auch eine Rabenmutter
[832] Auch eine Rabenmutter. Am 15. Mai d. J. ging ich, wie gewöhnlich, nach dem eine halbe Stunde von meinem Wohnorte entfernt liegenden Gute Volkhausen, um daselbst Privatunterricht zu ertheilen. Mit den Worten: „Ich kann Ihnen etwas Neues zeigen, was Sie nicht alle Tage sehen,“ empfing mich Herr Volkhausen, ein sinniger Beobachter der Natur; „in der Nähe lasse ich eine Eiche fällen, auf der sich ein Rabennest befindet; wollen wir nicht sehen, wie sich die Alten verhalten werden?“
Sehr gern ging ich mit. Eben kamen wir noch zu rechter Zeit; denn die Eiche konnte den gewichtigen Axtschlägen nicht lange mehr widerstehen. – Schon von Weitem hatten wir gesehen, wie der Rabe – es war nur einer da – in immer engern Bögen das bedrohete Nest umkreisete. Jetzt neigt sich der Baum. Die Jungen mögen ihre Mutter – sie war es, wie sich nachher ergab – um Hülfe gefleht haben; denn pfeilschnell senkt sich der alte Rabe auf sein Nest. Noch ein paar Hiebe – und der Baum liegt an der Erde. „Wo ist das Rabennest?“ fragten selbst die rohen Arbeiter. Es war noch da, und auf ihm der alte Rabe, von einem Aste erschlagen, im Tode noch zwei seiner Jungen mit seinen Flügeln deckend!
Retzen bei Lemgo, den 2. Dec. 1860.