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Aufhebung der universitären Gerichtsbarkeit der Universität Marburg durch Einrichtung der Friedensgerichte

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Textdaten
Autor: Präfekt des Werradépartements Reiman, Justiz- und Innenminister des Königreichs Westphalen Joseph Jérôme Siméon
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Titel: Aufhebung der universitären Gerichtsbarkeit der Universität Marburg durch Einrichtung der Friedensgerichte
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Entstehungsdatum: 1808
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Erscheinungsort: Marburg
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Quelle: Archiv der Philipps-Universität Marburg, Bestand 305a Nr. 6640; pdf bei Commons
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Einleitung

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Bei den vorliegenden Schriftstücken handelt es sich um einen Aktenvorgang aus dem Altbestand 305a („Rektor und Senat”) des Universitätsarchivs der Philipps-Universität Marburg, welcher sich mit Angelegenheiten der universitären Verwaltung befasst. Die Akte trägt dort die Ordnungsnummer 6640.
Die in UniA 305a Nr. 6640 enthaltene Korrespondenz entstand im März 1808. Ein Jahr zuvor stellte die Einverleibung der ursprünglich dem Kurfürstentum Hessen zugehörigen Institution durch das Königreich Westphalen eine bedeutende Zäsur in der Geschichte der Hochschule dar. Per Dekret und Verfassung des nach dem Frieden von Tilsit 1807 gegründeten[1]Satellitenstaats des französischen Kaisertums wurden Verwaltungseinheiten nach französischem Vorbild geschaffen; auch die universitäre Verwaltung erfuhr in diesem Zuge eine entsprechende Anpassung an die vorgesehenen hierarchischen Strukturen.[2]

Als privilegierte Körperschaften waren Universitäten im deutschsprachigen Raum rechtlich autonom und somit für Professoren, Studierende und sog. Universitätsverwandte Gerichtsstand in zivil- und strafrechtlichen Rechtssachen.[3] In diesem Zusammenhang entstand der Begriff der civitas academica; dieses Verständnis der akademischen Bürgerschaft und somit eines universitätseigenen Rechtsraums war jedoch in der postrevolutionären französischen Staatsstruktur, welcher das Königreich Westphalen nachempfunden war, nicht vorgesehen.[4] Mit Bekanntgabe der neuen Gerichtsverfassung wurde somit das forum privilegiatum der Universität Marburg zum 27. Januar 1808 aufgelöst.[5]  Es handelt sich vorliegend um eine diesbezügliche Korrespondenz zwischen dem damaligen Präfekten des Werradépartements August von Reiman und dem Justiz- und Innenminister Joseph Jérôme Siméon. Siméon hatte die genannten Ämter zum Zeitpunkt dieses Vorgangs noch in Personalunion inne. In Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Verfassung, die in Art. 47 die Einführung von Friedensgerichten vorsah, erläutert er in seinem Schreiben an den Präfekten, die Universitätsgerichte entsprächen nicht den Grundsätzen, die der König im Rahmen seiner Gesetzgebung verfolge. Der Aktenvorgang enthält zudem nähere Erläuterungen über Disziplinarmaßnahmen, die die Universität trotz Aberkennung der Gerichtsbarkeit weiterhin zu ergreifen ermächtigt war.
Im Modellstaatcharakter Westphalens inbegriffen war die Verwendung der französischen Sprache. In einer Region, die historisch nicht durch deutsch-französische Bilingualität geprägt war, spielte die deutsche, bzw. französische Sprachverwendung insofern eine zentrale Rolle in der Abgrenzung von Selbst- und Fremdbild.[6]Im vorliegenden Aktenvorgang sind sowohl ein deutschsprachiges als auch zwei französischsprachige Schreiben enthalten. Anhand schlichter Veränderungen, wie der Verwendung von "c" statt "k" in bestimmten Begriffen ("Project", "communizieren"), wird der Prozess des sprachlichen Assimilierens deutlich. Abseits der Verwaltungsebene entstanden durch diese Assimilierungsvorgänge oftmals Stigmata.[7]

Editionsrichtlinien

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  • Klein- und Großschreibung wurden übernommen.
  • Rechtschreibung und Zeichensetzung wurden ebenfalls originalgetreu beibehalten.
  • Sofern die Formatierung bedeutungstragend ist, wurde sie dem Original angepasst.



Transkription

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[1]
P(rae)s(en)t(atum). Marburg am 25ten März
1808.


ad Num. 105.

Herr Prorector!

In Gemäsheit des in vidimirter Abschrift hiebey kommenden Ministerial-Schreibens d. d. [dicto die] Cassel den 19ten. So ist nunmehro bestimmt erklärt, dass durch die Organisirung der Friedens-Gerichte das Universitäts-Gericht hieselbst aufgelöst worden, und die Universität weiter kein forum privilegiatum zu genießen habe. Indem ich mich beehre, Sie hiervon zu benachrichtigen, eröffne ich Ihnen zugleich auch und zwar[drei getrichene Buchstaben, evtl. 'von'] in Beziehung auf mein Schreiben vom 4ten d., wodurch ich Sie zur Fortdauer der Universitäts-Jurisdiktion per modum commissionis authorisirte, diese nach den Bestimmungen S[eine]r Excellenz des Herrn Ministers Simeon nicht weiter fortzusetzen. Inzwischen soll die hiesige Universität, so wie jede andere öffentliche Anstalt die Statuten, die die Disciplin der Studirenden betrifft, beybehalten, und ich ersuche Sie daher mir gefälligst darüber ein Project zu einem Reglement zu communiciren, was demnächst durch den Staatsrath und General-Director sämtlicher öffentlicher Anstalten Herrn von Müller[8] dem gedachten Herrn Minister zugestellt werden soll.
Genehmigen Sie bey dieser Gelegenheit die Versicherung

[2]



meiner vorzüglichen Hochachtung.
Marburg den 21ten März 1808
Der Praefect des Werra-Departements
Reiman[9]


An
Den Professor und
dermaligen Prorector
der Universität Herrn
Weis Wohlgeb[oren]
 Hierselbst.


|2
[Regest: Der Präfekt wird davon in Kenntnis gesetzt, dass die universitären Gerichte per Dekret durch die Friedensgerichte ersetzt würden; die traditionsreiche Universitätsgeschichte rechtfertige keine Ausnahme von der Gesetzgebung. Man sehe die Jugend nicht als Entschuldigungsgrund für Sonderbehandlung oder Übermaß an und nehme Studierende nicht von der Rechtsprechung aus, da der Erfolg ihres Studiums nicht maßgeblich vom universitären Gerichtsstand abhänge. Die Studierenden kämen nicht aus ganz Deutschland und Europa, um guten Richtern vorgeführt zu werden, sondern um bekannte Professoren zu hören.]

Copie

Cassel le 19. Mars 1808

Ministère
de la
Justice et de l'Intérieur
M. 268


Il n'y a point de doute, Monsieur le Préfet, que les tribunaux des universités ne sont supprimés par le Décret de Sa Majesté, qui institue les cours de Justice.[10]Les considérations que l'académie de Marbourg invoque en faveur de son ancienne jurisdiction, et que vous appuyez, ne me paraissent point assez fortes pour déterminer une exception à la loi commune. On se fonde, principalement, sur le besoin d'un appui particulier pour les jeunes-gens qui suivent les cours de l'université. La jeunesse est pour tous les citoyens en général un titre à la protection et à l'indulgence. Les éleves des academies, comme les autres jeunes gens ont droit d'attendre des tribunaux toute la bienveillance compatible avec leurs devoirs, et je ne puis concevoir la nécessité d'accorder, à cet égard, aux étudiants une garantie spéciale, que n'avouerait pas la Justice. Je ne pense pas, non plus, que la prospérité des académies soit attachée à leurs tribunaux. Les jeunes gens qui, des toutes les contrées de l'Allemagne, et de l'Europe, accourent à ces institutes, n'y sont surement pas attirés par le desir d'y trouver les Juges, mais par la celebrité des Professeurs, et par l'espoir

de

[3]



[Regest: Die Studierenden besuchten die Universität zudem in der Hoffnung auf einen zügigen Studienfortschritt. In Frankreich mache man nicht die Beobachtung, dass aufgrund der nicht vorhandenen akademischen Gerichtsbarkeit Schulen und Universitäten weniger besucht würden. Die Rechtsprechung der akademischen Gerichte werde Westphalen keine Umstände mehr bereiten; der Präfekt wird gebeten dem Universitätsgericht mitzuteilen, dass sein Betrieb einzustellen sei. Weiterhin wird der Präfekt gebeten mit der Universitätsverwaltung über eine Verwaltungsstrategie für die Übergangsphase zu konferieren und diese dem Bildungsminister vorzulegen.]

de faire, tous des maitres habites, de plus rapides progrés dans l'étude des sciences et des lettres. On ne s’est point d’appercu en France, que le College imperial, et les écoles spéciales celebres puissent moins fréquentée parcequ’on y est soumis aux tribunaux ordinaires. La suppression des jurisdictions academiques n’aura pas plus d’inconvénient pour la Westphalie. Vous ne pouvez donc, Monsieur le Préfet, vous dispenser de notifier au tribunal de l’université de Marbourg, qu’il doit cesser ses fonctions. Mais cet institut, n’en doit pas moins, comme tout établissement public, conferer, pour son régime intérieur, des statuts de discipline; et je vous engage à vous concerter avec son administration pour me proposer, sur cet objet, un projet de reglement par l’intermédiaire de M(onsieu)r le Conseiller d’Etat, Directeur général de l’instruction publique. Je Vous renouvelle Monsieur le Préfet, l’assurance de ma considération.
  Le Ministre de la Justice et
     De l’Interieur
      Siméon.



  Pour copie conforme
  Le Sécretaire général de la Préfecture

[4]



[Regest: Die Generaldirektion öffentlicher Bildung beantwortet Fragen aus einem vorangegangenen Schreiben vom 3. September. Zunächst wird bejaht, dass die Universität weiterhin ermächtigt sei Arrest als Form der Sanktionieren anzuordnen; dies werde als Disziplinarmaßnahme angesehen. Daran anschließend wird bejaht, dass die Universität nach wie vor unter bestimmten Umständen die Immatrikulation verweigern dürfe. Die Universität dürfe in bestimmten Fällen das Verlassen der Stadt zwar anordnen, aber nicht durchsetzen; lediglich der Bürgermeister dürfe dies in solchen Fällen mit Hilfe der Polizei durchsetzen.]

Direction générale
de l’Instruction publique


No. 218 D’ORDRE
    Cassel, le 8[11] Sept(em)bre 1808
Extrait d’une lettre de son Exe(llence) le Ministre de la
Justice et de l’Interieur. Je reponds, M(onsieu)r, aux questions contenues dans Votre lettre du 3 Sept(em)bre.
1° L’Université peut sans forme juridique infliger les peines de détention comme dans toutes les écoles pour un terme d’un à 8 jours et même de deux semaines?
Si cette peine ne porte que sur des étudians je n'y vois aucune difficulté, c'est une peine de discipline.
2°. Si elle peut donner avis à des mauvais sujets de se retirer, ou même les y forcer?
Sans doute elle peut refuser son enseignement à ceux qu’elle en juge indignes: c’est encore une chose de discipline.
Si même le cas exige que les sujets, auxquelles la porte des écoles sera refusée, quittent la ville l'Université peut non pas l'ordonner, mais le requérir et le maire l’ordonnera par voie de police.
Quant aux informations qui devraient précéder

[5]



[Regest: Sanktionen dürften auch formlos angeordnet werden. Zeugen dürften, sofern von Notwendigkeit, formlos vorgeladen werden. Man vermute nicht, dass Bürgermeister, Richter oder Staatsanwalt Gründe haben könnten sich Entscheidungen der Universität entgegenzusetzen. Es handele sich schließlich nicht um die Ausweisung Auswärtiger aus dem Stadtgebiet, welches die Kompetenzen der Universität überschreiten würde, sondern vielmehr um die Ausweisung eines Bürgers aufgrund eines tribunalen Beschlusses.]



les peines. Elles doivent être faites sine strepitu et forma judicii. Les Temoins s’il est besoin d’en entendre doivent être invités et non point asignés, ou cités pour déposer conformement à l’article 378 du Code Napoléon, que Vous invoqués comme présentant une analogie à suivre, il ne doit y avoir aucune écriture, ni formalité judiciaire.

 On n’a point a craindre que le Maire prenne sous sa protection un étudiant dont l’Université requerrait l’expulsion; outre que le Magistrat n’a point d’intérèt a contrarier l’Université et à suspecter les motifs, celle-ci trouverait dans les autorités supèrieures un juste appui. Il est bien entendu qu’il ne s’agira que de l’expulsion d’étrangers de la ville, car l’expulsion d’un domicilié exigerait des motifs qui requerreraient l’intervention des tribunaux.
   Le Ministre signé Siméon.
 pour copie conforme
le Conseiller d’Etat, Directeur Gén(énerale) de l’Instruction publique. 

Anmerkungen

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  1. Westphälischer Moniteur Nr. 1, 29. Dezember 1807: Im ersten Moniteur Westphalien gab Napoleon am 29. Dezember 1807 den umgehenden Vollzug des Art. 19 des Tilsiter Friedensschlusses bekannt. Im Anschluss wurde die neue Verfassung des Königreichs Westphalen, verabschiedet am 15. November 1807 und im ersten Bulletin des Lois et Décrets du Royaume de Westphalie enthalten, abgedruckt.
  2. Bulletin des Lois et Décretes du Royaume de Westphalie, Nr. 15.
  3. Woeste, Peter: Akademische Väter als Richter. Zur Geschichte der akademischen Gerichtsbarkeit der Philipps-Universität unter besonderer Berücksichtigung von Gerichtsverfahren des 18. und 19. Jahrhunderts (= Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 22), Marburg 1987, S.1.
  4. Bulletin des Lois et Décrets du Royaume de Westphalie, Nr. 1: Artikel 10 des ersten Gesetzblatts setzt für alle sog. Untertanen die Gleichheit vor dem Gesetz fest. Artikel 11 hebt explizit alle zuvor gewährten Privilegien auf. Als bürgerliches Gesetzbuch wird in Artikel 45 vom 1. Januar 1808 an der Code Napoléon bestimmt.
  5. Bulletin des Lois et Décrets du Royaume de Westphalie, Nr. 19, Art. 1.
  6. Paye, Claudie: "Der französischen Sprache mächtig". Kommunikation im Spannungsfeld von Sprachen und Kulturen im Königreich Westphalen 1807-1813, München 2013, S. 20: Paye geht zudem auf das Verhältnis zwischen Sprache und Nation im Europa des 18./19. Jahrhunderts im Kontext früher moderner Nationalismen ein.
  7. Ebd.: Paye nimmt Bezug auf Diffamierungen wie "Franzosendiener" oder "deutsche Ausländer".
  8. Es handelt sich wohl um Johannes von Müller. Dieser war am 17. November 1807 ursprünglich in das Amt des Ministerstaatssekretärs berufen worden, hatte jedoch bereits im Dezember desselben Jahres ein Rücktrittsgesuch eingereicht. Seinem Gesuch wurde im Januar 1808 stattgegeben und von Müller stattdessen zum Generaldirektor des öffentlichen Unterrichts ernannt, in welchem Amt er hier aufgeführt ist. Dazu Rob, Klaus: Regierungsakten des Königreichs Westphalen 1807-1813, in: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten, Bd. 2, München 1992, S. 8-10 sowie auch Kleinschmidt, Arthur: Geschichte des Königreichs Westfalen, Gotha 1893, S. 34f.
  9. Signatur.
  10. Bulletin des Lois et Décretes du Royaume de Westphalie, Nr. 15: Der 15. Gesetzesbulletin enthält in sechs Teilen und 65 Artikeln die Verfassung der Gerichtshöfe und Tribunale. Damit wird eine einheitliche Gerichtsverfassung explizit vorgeschrieben; die (vorwiegend zivilen) Rechtsbelange, die zuvor in die Rechtsprechung der Universitätsgerichte fielen, waren somit vor den Friedensgerichten zu verhandeln.
  11. unsichere Lesung.


Quellen

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Literatur

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  • Berding, Helmut: Das Königreich Westphalen als napoleonischer Modellstaat (1807-1813), Kassel 2003.
  • Paye, Claudie: "Der französischen Sprache mächtig". Kommunikation im Spannungsfeld von Sprachen und Kulturen im Königreich Westphalen 1807-1813, München 2013.
  • Woeste, Peter: Akademische Väter als Richter. Zur Geschichte der akademischen Gerichtsbarkeit der Philipps-Universität unter besonderer Berücksichtigung von Gerichtsverfahren des 18. und 19. Jahrhunderts (= Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 22), Marburg 1987.