Aus New-York
[259] Aus New-York geht uns nachstehende Schilderung eines entsetzlichen Unglücks zu. Der Schreiber des Briefes ist Alexander Wallner, Franz Wallner’s ältester Sohn, der nach zurückgelegten Studien an der Universität Jena eine geachtete Stellung als Journalist in New-York einnimmt. Derselbe schreibt:
„Es ist die Zeit des Jahres, in der in allen katholischen Kirchen Festlichkeiten begangen werden. Um mir in einer solchen einen persönlichen Eindruck zu verschaffen, machte ich mich letzten Sonntag auf den Weg nach der St. Andreaskirche in der Douane-Street. Trotz des schlechten Wetters hatte sich eine große Menschenmenge vor der Kirche angesammelt, so daß ich einige Minuten aufgehalten wurde. Ich sah mir mechanisch die Umgebung der Kirche an. An dieselbe grenzt ein hohes, vielleicht sechsstöckiges Gebäude, das früher als Glaswaarenniederlage gedient hat. In letzter Woche jedoch hatte es in dem Gebäude gebrannt, und zwar so stark, daß nur die nackten Wände der Seitenmauern in die Höhe ragten. Die der Kirche zunächst befindliche Mauer zeigte bedenkliche Risse und war nothdürftig durch Eisenklammern etc. gestützt. Der Wind raste um die Ruine und brachte sie hin und wieder zum Schwanken. Unwillkürlich kam mir der Gedanke: ‚Wie, wenn die Mauer umstürzte und uns Alle erschlüge?‘ Doch ich hatte nicht Zeit, den Gedanken auszudenken; die Menge schob mich vorwärts, und ehe ich mich versah, befand ich mich auf der Empore. Der Gottesdienst begann, und ich dachte nicht mehr an meinen närrischen Einfall. Zudem fesselte mich der Pfaffe, der auf der Kanzel stand und seiner Gemeinde ordentlich einheizte. Er beschrieb die Schrecken der Hölle mit einer wahrhaft teuflischen Phantasie, und das dumme Volk lauschte andächtig diesen von Pech und Schwefel triefenden Expectorationen. Eben schilderte er markvoll die Qualen der zum ewigen Flammentode verurtheilten Unglücklichen, als urplötzlich ein furchtbares Gepolter ertönte. Meine flüchtige Befürchtung von vorhin war eingetroffen. Das sechs Stock hohe Gebäude war auf das Kirchendach gestürzt und hatte dasselbe in einem Umfange von mindestens vierzig Quadratfuß durchschlagen. Gewaltige Balken und Steine regneten förmlich herab, zumeist auf uns, die wir uns unglücklicher Weise auf der Empore befanden. Unmittelbar vor mir schlug ein kolossaler Ziegel mit solcher Wucht gegen die Brüstung, daß er dieselbe wie ein Schwefelholz zerknickte und mitsammt einem Stücke des Bodens in die untere Kirche hinabriß. Ich rettete mich vor den folgenden Geschossen nur durch einen entschlossenen Sprung in die Tiefe. Glücklicher Weise kam ich ohne jedwede Verletzung davon.
Die ganze Geschichte dauerte nicht halb so lange Zeit, wie ich zum Niederschreiben brauche. Der ersten Ladung folgte keine zweite, doch war Gefahr vorhanden, daß schließlich noch das ganze baufällige Nebengebäude auf uns niederrasseln könnte. Es war also nicht angenehm, in der Kirche bleiben zu müssen. Ich versuchte deshalb, mir einen Ausweg zu bahnen. Vergeblicher Versuch! Ebenso leicht hätte ich versuchen können, direct durch die Wände zu gehen.
Ein panischer Schrecken hatte sich der ohnehin durch die Predigt schon furchtbar aufgeregten Versammlung bemächtigt. Jeder glaubte, das jüngste Gericht sei nahe. In blinder Furcht hatte sich Alles nach den Thüren gestürzt, und da dieselben unglücklicher Weise nach innen schlossen, konnte Keiner heraus. Resignirt suchte ich mir einen möglichst sichern Platz unter der Kanzel und stellte meine Betrachtungen an über den groben Egoismus und die Rohheit der menschlichen Natur, die hier wieder so classisch an den Tag trat. Keiner bekümmerte sich um die Verwundeten, die auf dem Boden lagen. Ueber sie hinweg hatte sich der wüthende, wahnsinnige Strom gewälzt und die Unseligen zerstampft und zertreten. Da lagen sie todt hingestreckt. Die offenen Augen hatten noch den Ausdruck angstvoller Starrheit, der sich ihnen bei ihrem furchtbaren Tode eingeprägt hatte. Ein kleiner Junge war gefallen. Auch über ihn hatte sich die Menge hinweggestürzt und ihn getödtet. Die kleinen Hände waren noch wie flehend über dem Gesichte zusammengefaltet. Ringsumher lagen blutbespritzte Trümmer, Gebetbücher, Schirme, Hüte, Alles mit Blutflecken. Vor dem Altare stand eine große Blutlache.
Ein furchtbarer Moment folgte. Die Frauen kreischten, die Männer fluchten. Einer derselben schleuderte einen eichenen Schemel gegen das hohe Fenster, dessen Brüstung er herausbrach, um sich so zu retten. Er wurde verhindert. Man hing sich an seine Schöße. Die Bestie wollte nicht, daß sich Einer allein rette. Diejenigen, die noch auf der Galerie waren, sprangen herab, unbekümmert, ob sie auf die Köpfe der unten Zusammengedrängten trafen, oder nicht. Jeder kämpfte nur für das eigene Bischen Leben. Von allen Seiten die entsetzlichen Verzweiflungsschreie Derer, die, erdrückt, dem wüthenden Drängen der Menge zum [260] Opfer fielen. Es war furchtbar! Noch jetzt höre ich sie träumend und wachend in meinen Ohren gellen.
Endlich – eine Ewigkeit! – kam Hülfe. Die Thüren wurden erbrochen, und die Menge wälzte sich hinaus. Die frische Luft, der Gedanke der Rettung brachten Jeden wieder zur Besinnung. Man dachte jetzt nicht mehr an sich; jetzt, wo man gerettet war, gedachte man der Angehörigen. Da sah man Jammerscenen, welche die Feder zu schwach ist zu schildern. Mütter kreischten nach ihren Kindern; eine Tochter, die selbst durch einen fallenden Balken eine schwere Wunde davon getragen, suchte weinend nach ihrem bejahrten Vater. Die Polizei hatte die größte Mühe, die Menge von einem abermaligen Eindringen in die Kirche abzuhalten. Der Jammer und die Verzweiflung wollten kein Ende nehmen. Gar rührend war es aber, wenn einzelne Familienglieder, die sich im Gedränge verloren hatten, sich wieder fanden und einander lautlos und mit hellen Freudenthränen in die Arme fielen.
Langsam wurden die Todten und Verwundeten aus der Kirche geschafft. Jetzt erst stellte sich das Schreckliche heraus, daß Niemand von der eigentlichen Katastrophe direct getödtet war, sondern alle Getödteten erst dem Wahnwitz der sinnlosen Menge zum Opfer gefallen waren. – Die Verwundeten wurden in’s Parkhospital geschafft, wenn sie nicht von Angehörigen reclamirt wurden oder der Transport in’s eigene Haus nicht ausführbar war. Die Scenen, die sich hier entwickelten, riefen in ihren Details einen herzzerreißenden Eindruck hervor. Hier wurden die Verunglückten genäht oder verbunden; dort lag ein Mensch in jener apathischen Ruhe, die dem nahenden Tode vorangeht. Andere stöhnten und wanden sich in furchtbaren Krämpfen; wieder Andere zeigten im Gesicht den unsagbaren Ausdruck des Entsetzens, der keine Worte findet und jedem theilnahmsvollen Frager ein schreckliches Schweigen entgegensetzt, das mehr Grauen erregt, als ein blutüberströmtes Antlitz. An dem Schmerzenslager eines bildhübschen, durch vielfache Wunden entstellten Jungen stand ein verzweifelnder Vater, aus dessen Brust sich nur der leise, markerschütternde Ruf löste: ‚Mein Junge, Herr.‘ Dort lag ein junges, schönes Weib von achtzehn Jahren in den qualvollsten Convulsionen, umgeben von den angsterfüllten Verwandten, die dem vom Todesschweiße perlenden Gesichte Kühlung zufächelten oder die zuckenden Glieder hielten, und die würdige, ergraute Aufseherin flüsterte mit zitternden Lippen und thränenden Augen: ‚Wenig Hoffnung, mein Herr, sehr wenig Hoffnung.‘ Wie ergreifend war das Bild der reizenden Schwester, die mit der einen Hand den um sich schlagenden Arm der gräßlich Leidenden gefaßt hielt, während sie mit der andern die eigenen aufgelösten Locken zusammenzubinden suchte, die sich über die Augen verdunkelnd ergossen! Hier riß sich ein schwer Verwundeter den Verband von der klaffenden Kopfwunde, und der schnell zur Stelle eilende Arzt hatte Mühe, den fast Wahnsinnigen zur Vernunft zu bringen, bis die eintretende Erschöpfung des unglücklichen Patienten ihn von der traurigen Pflicht erlöste, dem Armen die Hände binden zu lassen. Dort bemühte sich ein Wärter, einem Anderen den Rock mit größtmöglichster Schonung abzuziehen, und der Verletzte begleitete jeden Ruck mit dem jammervollsten Stöhnen. Dort lag ein Knabe von zehn oder zwölf Jahren, dem Anscheine nach ohne besondere äußere oder innere Verletzungen, aber die Angst hatte ihm die Zunge gelähmt, so daß er außer Stande war, seinen Namen zu nennen. Man konnte nur so viel aus ihm herausbringen, daß er Nr. 18 Oak-Street wohne, und wir begaben uns zu seinen Eltern, um ihnen über den Verbleib und die Rettung des Sohnes Auskunft zu geben.
Blutige Kleidungsstücke lagen in schauerlichem Durcheinander auf dem Boden. Blutige Lachen bezeichneten die Stelle einer eben erst vorgenommenen Operation. Blutige Umrisse an den Wänden wiesen auf den Fleck hin, wo der Kopf eines Verwundeten geruht hatte. Dazwischen sah man die entsetzten Gesichter von Angehörigen, die ihre Eltern, Kinder oder sonstige Verwandten aufsuchten.
Die plötzliche Angst, von der die Menschen bei derartigen Katastrophen erfaßt werden, macht sie vollständig kopflos, so daß bei dem durch den Schrecken eintretenden Gedränge mehr Opfer fallen, als der Einsturz selbst gefordert hat. Ebenso ist der Eindruck, welchen die wirklich Verwundeten hervorbringen, bei Weitem weniger peinlich als derjenige, den der Anblick der Qual der äußerlich nicht Verletzten, sondern innerlich Zerquetschten hervorruft. Und dann das widerliche Schauspiel, neugierige Menschen zu sehen, wie gestern im Stationshaus in Franklin Street, wohin die Leichen gebracht waren! Während der Regierungszeit Ludwig’s des Vierzehnten wurden die zahlreichen Hinrichtungen hauptsächlich von Frauen besucht, und auch gestern waren es wiederum Weiber, allerdings von der niedrigsten Sorte, die es sich nicht versagen konnten, das Bahrtuch aufzuheben, um sich die armen Verunglückten anzuschauen. Die Polizei hatte Mühe, den Pöbel von dem Eindringen in das Local abzuhalten, der sich drängte, eine Scene zu betrachten, von welcher der vernünftige Mensch nur im Nothfalle Augenzeuge wird.
Doch genug von den Schreckensscenen. Wie man stets den Sack zu macht, wenn die Katze heraus ist, so auch hier: Das baufällige Gebäude wird abgetragen und der Eigenthümer vor die Grand Jury gestellt. Das wird den Opfern etwas helfen!“