Aus Robert Blum’s Leben (1)
In den folgenden Blättern soll damit begonnen werden, die interessantesten Abschnitte aus dem Leben Robert Blum’s dem großen Leserkreis der „Gartenlaube“ vorzuführen, um so einen guten Theil des deutschen Volkes, ja der deutschen Leserwelt in allen Erdtheilen, aufmerksam zu machen auf die in Kürze erscheinende, zusammenhängende und, soweit es möglich ist, erschöpfende Geschichte dieses reichen Lebens.
Einer langen Einleitung bedarf das Unternehmen, einzelne Bilder aus dem Leben Robert Blum’s zu veröffentlichen, nicht. Obwohl beinahe dreißig Jahre seit seinem Tode verflossen sind und Deutschland seither in allen seinen öffentlichen Verhältnissen sich von Grund aus verwandelt hat, ist Robert Blum dennoch bei der großen Mehrzahl des deutschen Volkes unvergessen. Viele seiner Mitstreiter und Gegner aus der ersten deutschen Nationalversammlung haben ihn überlebt und seither hervorragenden und rühmlichen Antheil an der politischen Arbeit des deutschen Volkes genommen: Präsident Simson, Biedermann, Grumbrecht, Löwe, Ruge etc. Aber dennoch kann sich kaum Einer von ihnen mit der Popularität des todten Robert Blum messen. Mit rührendster Beharrlichkeit und Zähigkeit hängt das deutsche Volk an dem Andenken dieses Todten.
Der Grund der unverwelklichen Liebe und Verehrung, die das Volk an diesen Namen heftet, ist einfach genug. Robert Blum hat in seiner Kindheit und Jugend die Leiden der Armuth gekostet, wie selten ein Anderer. Er hat schon als ganz junger Mensch lange schmerzliche Blicke gethan in die tiefsten Tiefen leiblichen und geistigen menschlichen Elends. Ihm ist der herbste Schmerz nicht erspart geblieben, der eine reichbegabte wissensdurstige Natur erfüllen kann: der Schmerz, aus Armuth dem Lernen, jeder höheren Bildung entsagen, mit einfacher Handarbeit sein Brod verdienen zu müssen. Robert Blum ist mit eigener Kraft aus diesem ihm von einem harten Schicksal vorgezeichneten, scheinbar unübersteiglichen Lebenskreise immer freier und größer herausgewachsen. Er hat begonnen, mit unvergleichlicher Ausdauer an seiner eigenen geistigen Fortbildung, seiner Befreiung aus den Banden der Armuth und Unbildung zu arbeiten. Er hat mit jedem Schritte, der ihn unabhängiger stellte und seine Gesichtspunkte erweiterte, auch weitere Ziele in’s Auge gefaßt. Von den Interessen seiner Person, seiner freien Seele, seiner Familie, seines Standes, seiner Stadt, seiner Religionsgenossen ist er vorgeschritten zu dem Streben, die heiligsten und wichtigsten Angelegenheiten seines ganzen Volkes zu vertreten. Die Leiden und Kümmernisse wie die berechtigten Forderungen des Arbeiters haben niemals einen beredteren und uneigennützigeren Anwalt gefunden, als Robert Blum.
In wunderbarem Maße war ihm die Macht der Rede gegeben: niemals hat ein Mann so wie er verstanden, aufgeregte Massen zu beschwichtigen, als wären Tausende seines Sinnes, als geböte ein milder Vater dem ungeberdigen Kinde. Und dieses reiche, kraftvolle Leben, dessen letzter Theil, mit Aufopferung und großherziger Verleugnung aller eigenen Interessen, nur seinem Volke gewidmet war, hat Robert Blum gekrönt durch seinen in der Blüthe seiner Jahre muthig erlittenen Tod. Dieser Tod vor Allem macht ihn noch der Gegenwart theuer. Denn Robert Blum ist nicht erschossen worden wegen irgend einer persönlichen Handlung, welche auch nur den Vorwand eines Todesurtheils gegen ihn gerechtfertigt hätte. Vielmehr geben die heute bekannten Acten seines sehr kurzen Processes volle Gewißheit darüber, daß jener Schrei der Entrüstung vollkommen berechtigt war, der bei der Nachricht von seiner Hinrichtung Deutschland durchzitterte: daß in Robert Blum nicht die Person, sondern der Vertreter des deutschen Volkes, die Unverletzlichkeit des deutschen Reichstagsabgeordneten habe gerichtet werden sollen; daß mit einem Worte die allgemeine siegreiche Reaction an dieser Tödtung symbolisch zeigen wollte, daß sie Alles, was seit dem März des großen Jahres 1848 geschehen, nicht anerkenne und nun die Stunde gekommen erachte, um Deutschland wieder das Joch des alten tiefverhaßten Bundestages auf den Nacken zu legen. So gilt denn Robert Blum noch heute mit Recht als eines der edelsten Opfer, welche Deutschland jemals seiner nationalen Freiheit und Einheit gebracht hat.
Auch die Geschichte der Familie, aus der dieser bedeutende Mann hervorging, ist schnell erzählt. Auf eine lange Ahnenreihe konnte Robert Blum nicht zurückblicken. Das Wenige, was hierüber bekannt ist, muß auch berichtet werden, da es für die Kindheit und Jugend Robert Blum’s von Wichtigkeit wurde.
Aus dem Dorfe Freelsen, zwei Stunden von Köln, siedelte der Faßbindermeister Johann Blum und dessen Frau um die Mitte des 18. Jahrhunderts nach Köln über. Von sieben Söhnen übernahm der älteste, Robert Blum, das Geschäft des Vaters und wohnte als fleißiger Meister auf dem Fischmarkte in Köln. Er hatte drei Kinder: Engelbert, Heinrich und Agnes. Der im Jahre 1780 geborene älteste Sohn Engelbert war zu schwächlich, um sich dem Geschäfte des Vaters widmen zu können; namentlich hatte er eine schwache Brust und taugte daher für schwere Arbeit nicht. Auch hätten die ziemlich wohlhabenden und streng katholischen Eltern gern gesehen, wenn ihr ältester Sohn Theologie studirt hätte und „geistlich“ geworden wäre. Er besuchte daher das Kölner Gymnasium und hatte fünf Classen desselben absolvirt, als Untersuchungen und Verfolgungen gegen die Schüler stattfanden, die verdächtig waren, sich den verruchten Lehren ketzerischer Freigeister zugewendet zu haben. Engelbert Blum war in dieser Hinsicht bei den frommen Vätern sehr schlecht angeschrieben. Er hatte für die Verbreitung ketzerischer Irrlehren Propaganda gemacht und wurde von nun an streng bedroht und scharf beobachtet, sodaß ihm die Studien ernstlich verleidet wurden. Er schwankte, ob er freiwillig abgehen, sich wegschicken lassen oder heucheln solle, und war – wohl hauptsächlich mit Rücksicht auf die kirchliche Treue und die für ihn getroffene Berufswahl der Eltern – über seinen Entschluß noch nicht im Reinen, als die Franzosen in Köln einzogen, der Staatsherrlichkeit des Krummstabes daselbst ein Ende bereiteten und das Gymnasium schlossen.
Engelbert verzichtete nun definitiv auf seine Ausbildung zum Theologen und versuchte abermals, sich der Faßbinderei zu widmen, um das väterliche Geschäft zu übernehmen. Aber auch diesmal zeigte sich, daß ihm hierzu die nöthige Körperkraft mangle. Das nährende Gewerbe des Vaters ergriff der jüngere Sohn Heinrich, ein stämmiger Bursche, mit Kraft und Umsicht. Er ist in hohem Alter wohlhabend gestorben. Die Tochter, Agnes Blum, hat, wie wir sehen werden, ein Zufall zur Lehrerin gemacht. Ihr werden wir später noch einmal begegnen. Der halbstudirte, zu dem Gewerbe seines Vaters zu schwächliche Engelbert Blum aber hatte seine liebe Noth, sich sein tägliches Brod zu verdienen. Er suchte nach Beschäftigung, die seinen Kennwissen entspräche, doch ohne Erfolg, und mußte endlich für kargen Lohn eine Schreiberstelle an einem Kölner Lagerhause annehmen, die er nach einiger Zeit mit der Aufseherstelle in einer Stecknadelfabrik vertauschte. Das tagelange Sitzen am Schreibtisch war jedoch seiner schwachen Brust kaum nachtheiliger gewesen, als die verdorbene Luft, die er in seinem neuen Beruf den ganzen Tag athmen mußte. Denn in engem Raume mußte er hier mit einer großen Anzahl arbeitender Kinder aus den niedrigsten Ständen sich aufhalten. Für Ventilation war so wenig gesorgt, wie für Reinlichkeit der armen Kinder. Schulzwang und Verbot der Kinderarbeit in den Fabriken waren noch unbekannte Dinge. Kinder im zartesten Alter wurden von ihren Eltern schon als Erwerbskräfte ausgebeutet.
Als Engelbert nach dem Schiffbruche seiner theologischen Hoffnungen zum zweiten Male den Versuch gemacht hatte, Küfer zu werden, hatte er ein junges Mädchen kennen gelernt, das mit sechszehn Jahren nach Köln gekommen war, bei verschiedenen Herrschaften gedient hatte und in den Jahren 1804 und 1805 bei einer wohlhabenden Faßbinderfamilie Wolff, die mit Blum’s verwandt war und in deren Nachbarschaft wohnte, in Diensten stand. Dieses Mädchen hieß Maria Katharina Brabender. Sie war über ihren Stand gebildet, etwas romantisch veranlagt, aber voll tüchtigen Selbstgefühls. Die jungen Leute liebten sich, und trotz des heftigsten Sträubens der Eltern Engelbert’s wie der [200] Familie Wolff – weshalb sich die letztere sträubte, ist etwas räthselhaft – heiratheten sich die jungen Leute am 25. November 1806. Sie wohnten in den ersten Jahren im Hause der Eltern Engelbert’s in der zweiten Etage des sehr schmalen Hauses Fischmarkt Nr. 1490 und erfreuten sich trotz ihrer Armuth des freundlichsten Familienlebens. Der junge Ehemann verdiente freilich nur achtzig Pfennige (einen Franken) den Tag. Die junge Frau aber nähte für die Leute, und da sie geschickt und fleißig, gut und gefällig war, so war sie überall gern gelitten, und es fehlte ihr nie an Arbeit.
Hier, im Hause seiner Großeltern, wurde am 10. November 1807 dem jungen Paare der erste Sohn, Robert Blum, geboren. Nichts charakterisirt wohl so sehr die damalige Lage des Vaterlandes, dessen kraftvoller Streiter der Neugeborene später werden sollte, als die Thatsache, daß der Geburtsschein dieses deutschen Kindes in der französischen Stadt Köln französisch ausgestellt wurde. Er lautet (Nr. 1421 vom Jahre 1807):„Acte de naissance de Robert Blum, né le dix novembre entre huit et neuf heures du matin, fils d’Engelbert Blum, tonnelier, et de Catharine Brabender, époux, demeurant rue Fischmarkt No. 1490.“
Das Kind war der Abgott der ganzen Familie. Vergessen war der Groll über die Heirath Engelbert’s. Der Großvater und Taufpathe Robert’s, der damals schon kränkelte, fühlte sich in dem Enkelchen wieder verjüngt und glücklich und wünschte sich nun noch ein langes Leben, das ihm indessen nicht beschieden sein sollte, denn im Jahre 1810 starb er. Der kleine Robert wuchs indeß herrlich heran; ungemein früh lernte er sprechen. In zartester Jugend schon entwickelte er außergewöhnliche Anlagen. Mit drei Jahren bekam er die Masern, an denen er so heftig erkrankte, daß man ihn bereits verloren gab. Von dieser Krankheit behielt er schlimme Augen und wurde schließlich blind, neun Monate lang; Alles versuchten die Eltern, um ihm das Augenlicht wiederzugeben. Zuletzt riefen sie die Hülfe eines Dr. Bracht an, der ihnen als Augenarzt gerühmt worden war und der den Kleinen mit der größten Sorgfalt behandelte. Immer sprach er den Eltern Muth und Hoffnung ein und bestellte endlich eines Tages die ganze Familie auf den kommenden Morgen zusammen. Der Arzt erschien pünktlich, nahm den kleinen Robert auf den Schooß, spielte mit ihm, erzählte ihm und schwenkte dazwischen, wie spielend, ein weißes Tuch hin und her. Zur unaussprechlichen Freude der Seinen griff Robert nach dem Tuche und gab so den ersten Beweis wieder erlangter Sehkraft. Doch blieben seine Augen immer schwach, eine Schwäche, die ihm auf seiner Lebensbahn recht hinderlich ward; um so höher steht jener eiserne Fleiß und Muth, mit welchem später der Mann, ohne Schonung seiner schwachen Augen, in durchwachten Nächten den Lücken seiner Bildung abzuhelfen bemüht war.
Das gute Gedächtniß, welches Robert sehr frühzeitig bekundete, veranlaßte seinen Vater, ihm das Meßdienen, das Knaben in lateinischer Sprache verrichten, zu lehren. Bald konnte Robert, kaum vier Jahre alt, die ganze lateinische Messe auswendig. Sein Vater zeigte ihm nun auch in der Nähe eines Altars, an dem gerade Messe gelesen wurde, was die Knaben dabei zu beobachten hätten. Und als Robert sich auch das eingeprägt, ließ der Vater ihn, unter Beihülfe eines größeren Knaben, am Altar mit dienen, und Robert sagte sein auswendig gelerntes Latein so schön und deutlich her, daß der Geistliche, ein gutmüthiger alter Herr, den Vater bat, ihm doch das liebe Kind täglich zum Meßdienen zu senden; den kleinen Robert aber beschenkte der freundliche alte Herr häufig mit Bildern, Büchern, Bonbons etc. Von dieser Zeit an ging der Kleine täglich in die Messe, bis er später wirklicher Meßdiener wurde.
Aber auch irdischere Künste brachte der Vater seinem Kinde bei: er lehrte ihm Lesen, Schreiben und Rechnen in sehr frühen Jahren. Sicher ist, daß Robert zu der Zeit, als sein Vater im letzten Viertel des Jahres 1814 am Ende seiner Kräfte in seiner aufreibenden Thätigkeit angelangt war und für immer auf’s Krankenlager geworfen wurde, also mit sieben Jahren, bereits in allen diesen Künsten, ganz tüchtig Bescheid wußte. Nach neunmonatlicher Krankheit, am 24. Juni 1815, starb Engelbert Blum. Er hinterließ eine Wittwe mit drei Kindern, Robert, Johannes und Gretchen, von denen Robert beim Tode des Vaters noch nicht acht Jahre zählte.
Die schlichten Aufzeichnungen, die mir vorliegen, über das Elend der Armuth, das die lange Krankheit und der Tod des Ernährers über die Familie brachte, und das Verhalten dieses jungen Knaben seiner Mutter und seinen Geschwistern gegenüber, als er in so zartem Alter Waise geworden war, gehören zu dem Rührendsten und Ergreifendsten, was man lesen kann, und lassen namentlich die ganze Verlogenheit der socialistischen Declamationen erkennen, wenn diese heutzutage danach trachten, die vergleichsweise beneidenswerthe Ueppigkeit einer heutigen Arbeiterfamilie, bei den jetzigen Löhnen, Lebensbedürfnissen und Lebensgewohnheiten auch der ärmsten Classen, als den Gipfel des Elends und der Würdelosigkeit zu bezeichnen. Robert erkannte mit seinem klaren Verstande, seiner herzlichen Liebe für Mutter und Geschwister viel schärfer als sonst Kinder in seinen Jahren, wieviel mit dem Vater für die arme Familie verloren war. Aber statt seiner Mutter Schmerz durch die Offenbarung seiner frühreifen Erkenntniß zu vergrößern, suchte er seine Mutter zu trösten durch die treuherzige Versicherung, er sei schon groß und stark und werde deshalb fleißig mit ihr arbeiten; nur solle sie nicht mehr weinen, sonst werde sie auch noch krank. Er that aber mehr. Er ließ die scheinbar prahlerischen Worte zur That werden. Die Mutter gewann mit ihrer Nadel den ganzen Unterhalt der Familie – kümmerlich genug. Damit sie keine Minute versäume, holte Robert die Arbeit von den Kunden und trug das Fertige wieder fort. Er rathschlagte ernstlich mit der Mutter darüber, was jeweilig zuerst beschafft werden müsse, ganz wie ein ordentlicher Finanzminister, und holte das Nöthige herbei. Er unterhielt und ermahnte die jüngeren Geschwister, damit die Mutter ja beim Nähen bleiben konnte. Er blieb auf, wenn die Jüngeren im Bette waren, und strickte für die Geschwister und für sich selbst, weil die Mutter darauf keine Zeit verwenden konnte. Er verrichtete freudig und geschickt aus freien Stücken die meisten Hausarbeiten. Und als sein Bruder Johannes zu kränkeln anfing, pflegte ihn Robert mit rührender Geduld und Ausdauer.
Aber so traurig es der armen Familie ergangen war seit der Erkrankung und dem Tode des Familienhauptes, so sollte doch nun eine noch viel traurigere Zeit über sie kommen. Bisher hatte es wenigstens am Besten nicht gefehlt: an dem Frieden des Hauses. Die Ehegatten hatten sich aus Liebe geheirathet und sich herzlich geliebt, bis der Tod Engelbert’s sie trennte. Das Verhälniß zwischen Eltern und Kindern war das beste gewesen. In der Liebe, dem Gedeihen und dem Gehorsam ihrer Kinder sah auch die arme Wittwe einen unermeßlichen Schatz. Aber dieser Schatz wurde ihr mehr und mehr auch zu großer Sorge, namentlich als Johannes’ Krankheit sich verlängerte und als böses väterliches Erbtheil sich ankündigte. Da glaubte die arme Frau, sie werde doch auf die Dauer ihren Kindern das Brod nicht allein mit ihrer eigenen Kraft verdienen können, und nahm den Antrag an, den der Schiffer Kaspar Georg Schilder ihr machte, seine Frau zu werden.
Schilder hatte einen etwas stürmischen Lebenslauf hinter sich. Er war zuerst Schmuggler gewesen, ein Beruf, der die Betheiligten nicht immer mit den Spitzen der Gesellschaft zusammenführen soll. Dann, vor acht Jahren, war er als Soldat mit Napoleon nach Spanien gezogen und dort bis jetzt verblieben, ohne auch hier unablässig an der Spitze der Civilsation zu marschiren. Nun war er eben aus dem Kriege zurückgekehrt und hatte zwar ein hübsches Stück Geld, aber auch eine kleine Schwäche mitgebracht, welche geeignet war, einer zu großen Ansammlung von Ersparnissen mit der größten Aussicht aus Erfolg energisch entgegenzutreten, nämlich eine liebevolle Anhänglichkeit an alkoholhaltige Flüssigkeiten. Es ist begreiflich, daß diese mit dem Charakter eines alten Troupiers sonst keineswegs unvereinbare Leidenschaft nicht an Liebenswürdigkeit gewann, als der spanische Krieger, der dort gewöhnt gewesen war, die ältesten, feurigsten Klosterweine im Namen des einen und untheilbaren französischen Kaiserreiches à discrétion durch die rächende Gurgel zu gießen, sich, nach seinem geliebten Heimathlande zurückgekehrt, gezwungen sah, für weit saurere oder gemeinere Getränke sein gutes Geld Zug um Zug hinzugeben. Sehr bald konnten sich die besten Freunde Schilder’s der Erkenntniß nicht länger verschließen, daß der einstige Bändiger Hesperiens nicht blos dem Trunke, sondern sogar einem bösen Trunke ergeben sei.
[201] Ob nun die arme Frau, die diesem Manne ihr Jawort gab, seine Schwäche weniger bemerkt hat, ob sie hoffte, ihn in dieser Hinsicht zu bessern, oder sich angezogen fühlte durch die wirklich guten Eigenschaften Schilder’s – denn er war kerngesund, gutmüthig, grundehrlich, treu und fleißig – sicher ist, daß sie vor Allem einen Ernährer ihrer Kinder in ihm zu heirathen meinte. Aber sie sah sich schwer getäuscht. Auch in nüchternen Stunden zeigte sich der neue Gatte argwöhnisch, eifersüchtig, jähzornig und nur zu geneigt, bösen Einflüsterungen ein williges Ohr zu leihen, mit denen seine Mutter und Schwestern ihn reichlich versorgten. Bedauert und aufgehetzt von seiner Familie, trug er dieser das verdiente Geld zu und gab murrend von dem Reste Weniges in den Haushalt seiner Frau. Während diese also schon wenige Monate nach Eingehung der neuen Ehe erkannte, daß sie nur den lieben Frieden ihres Heims geopfert habe, ohne irgend eine Erleichterung in ihrer vielen und schweren Arbeit zu gewinnen, im Gegentheile nach wie vor für ihre Kinder allein sorgen müsse, und ihre Verbindung mit Schilder tief bereute, brachte dieser eines Tages ganz plötzlich und unerwartet, zum größten Schrecken und Staunen seiner Frau, seine Mutter und drei Schwestern dauernd in’s Haus. Das häusliche Elend, welches dadurch für Robert, dessen Geschwister und vor Allem für dessen Mutter geschaffen wurde, war grenzenlos. Die neuen Ankömmlinge waren völlig ungebildete, rohe und zanksüchtige Menschen, die unter einander und mit Schilder’s Frau und Stiefkindern unaufhörlich haderten und stritten. Den Mann gegen die Frau aufzuhetzen, schien ihnen Lebensbedürfniß. Robert stand mit blutendem Herzen in dieser heillosen Wirthschaft. Das Leiden der Mutter erdrückte ihn fast. Inniger als je schloß sich Robert’s Herz an Mutter und Schwester. Stolz und ohne jede Heuchelei von Liebe, die er nicht empfand, trat er den neuen Tanten gegenüber. Mit Stichelreden und rohen Mißhandlungen wurde ihm von der Sippschaft vergolten. Unwirsch und gereizt durch das stete häusliche Gezänk, ward Schilder immer verdrießlicher und liebloser; zuletzt mißhandelte er im Trunke sein treues Weib, zum Lohne für ihre unendliche Anstrengung und Arbeit. Mehrere Monate dauerte dieses unselige Verhältniß – bis endlich Robert’s Mutter mit dem Muthe der Verzweiflung ihrem Manne die Wahl stellte: mit ihr ohne die Seinen, oder mit den Seinen ohne sie und ihre Kinder zu leben. Dieser Energie der Frau beugte sich der im Grunde gutmüthige Mann, indem er sie dauernd von seinen Angehörigen befreite.
Elend blieb auch so genug noch übrig. Johannes starb im ersten Jahre der neuen Ehe an Schwindsucht, bis an’s Ende von Robert treu gepflegt und nach Kräften erheitert. Der lange Zwist, Verdruß und Kummer hatten tief am Herzen der Mutter genagt. Viermal nacheinander hat sie nach Eingehung der neuen Ehe zu früh geboren. Fortdauernde Kränklichkeit und Entkräftung waren die Folgen. Gicht und Lähmung traten schon jetzt bei ihr ein, um sie niemals mehr zu verlassen.
Mit besonderer Liebe wandte sich Robert nach dem Tode seines Bruders dem Schwesterchen zu. Er war der Schutzgeist ihrer Kindheit und Jugend; er unterrichtete sie, spielte mit ihr, darbte sich oft einen guten Bissen ab, um ihr eine Freude zu machen, und hatte er Kleinigkeiten an Geld, so wurden sie zu einem Spielzeug, einer Leckerei etc. für die Kleine. War Gretchen einmal unartig, so brauchte er nur zu sagen: „Lieb’ Gretchen, thue das nicht mehr!“ und das Verbotene wurde keinesfalls wieder gethan. Bei schönem Wetter führte er, so oft er Zeit fand, sein Schwesterchen nach dem fast dreiviertel Stunden entfernten Friedhof, an das Grab ihres Vaters, das durch ein einfaches schwarzes Holzkreuz bezeichnet war, in dem sich hinter Glas ein Todtenzettel des Vaters befand. Hier hielt er Gretchen an zu beten und erzählte ihr jedesmal, wie gut der Vater und wie glücklich sie Alle bei seinen Lebzeiten gewesen. Bei einem solchen Besuche auf dem Friedhofe bemerkte Robert Nachbarn, die sich zugleich mit den beiden Kindern von dort entfernten und in einen Wagen stiegen, um nach Hause zu fahren. Er trat an die gutmüthigen Leute heran und sagte, daß Gretchen so müde und außerdem noch nie in einem Wagen gefahren sei. Sie würden ihr wohl ein Plätzchen einräumen und ihr einmal diese Freude machen. Die Leute – eine Faßbinder-Familie Namens Merzenig – meinten, es sei auch für ihn noch ein Plätzchen übrig. Er aber war durchaus nicht zum Einsteigen zu bewegen, sondern eilte, so schnell er konnte, voraus, um das Schwesterchen in Empfang zu nehmen, brachte sie eilig nach Hause und erzählte der Mutter glückselig, wie es ihm gelungen sei, Gretchen in einem Wagen fahren zu lassen.
Ein anderes Mal sahen die Kinder, gleichfalls auf einem ihrer Gänge nach dem Friedhofe, am Wege einen Judenknaben, der ein Murmelthierchen zeigte und dafür Pfennige einsammelte. Um ihn hatte sich eine Schaar Buben zusammengerottet, die den Knaben verhöhnten, schimpften und mit Stöcken nach ihm und selbst nach dem Thierchen schlugen. Robert trat, voller Entrüstung über dieses Gebahren, auf die theilweise viel größeren Knaben zu und redete sie mit seiner lauten Stimme also an: „Schämt Ihr Euch denn gar nicht, den armen Jungen und selbst das unschuldige Viehchen zu mißhandeln? Das Kind ist arm und hat gewiß zu Hause noch kleinere Geschwister, die auf seine Pfennige mit Hunger warten. Braucht Eure Stöcke zu was Anderem und gebt dem Knaben was!“ und damit gab er dem Kinde einen halben Stüber (etwa zwei Pfennig), den ihm die Mutter zum Ankauf einiger Brezeln mitgegeben hatte. Unterdessen hatten sich auch mehrere Erwachsene um den Judenknaben und Robert versammelt und riefen: „Der Knabe hat Recht. Gebt dem armen Kinde was und mißhandelt es nicht!“ und der arme kleine Jude wurde reichlich beschenkt. Ein Herr aber sagte zu Robert: „Das hast Du gut gemacht, mein Junge. Sage Deinen Eltern, sie sollen Dich Pastor werden lassen! Predigen kannst Du schon jetzt.“
Mißhandlungen Seiten seines Stiefvaters hat Robert, obwohl das vielfach behauptet und auch in biographischen Arbeiten über Robert Blum zu lesen ist, nie erfahren. Die Mutter hielt ihre Kinder so streng und folgsam, auch ihr selbst gegenüber, daß der Vater, auch in seinen reizbarsten Augenblicken, nie Veranlassung fand, gegen die Kinder auszufallen.
Die größte Hingebung und Aufopferung für die Seinen bewies Robert in den schweren Hungerjahren 1816 und 1817. Schilder verdiente damals täglich vierzig Stüber, anderthalb Mark. Die Familie brauchte aber jeden Tag sieben Pfund Brod, und diese kosteten achtundvierzig Stüber. Also nicht einmal zum täglichen Brode reichte der Verdienst des Vaters. Der tägliche Brodverbrauch der Familie mußte um die Hälfte reducirt werden. Und dieses theure Brod war zudem noch so selten, daß Robert im Winter schon um fünf Uhr Morgens, bei grimmiger Kälte und schlecht bekleidet, an den Bäckerladen gehen mußte, um nach langem Warten und Kämpfen das kloßähnliche, heiße, kaum genießbare Gebäck zu erhalten. Nicht selten wurde es ihm von Stärkeren entrissen. Denn Noth kennt kein Gebot. Bald aber war auch dieses Brod nicht mehr zu erschwingen, und die Familie mußte sich durch ein Gebäck aus Hafer und allen möglichen anderen halb ober ganz ungenießbaren Dingen vor dem Hungertode zu schützen suchen. Es gab Leute genug, die Robert deutlich zu verstehen gaben, er solle sich auf’s Betteln legen. Aber dagegen bäumte sich der ganze Stolz seiner edlen Natur. Er hungerte, aber er bettelte nicht. Als dagegen die Noth zu Weihnachten 1816 auf’s Höchste gestiegen war und das frohe Fest herannahte, freudlos und gramvoll wie die andern Tage, da leuchtete ein anderer Gedanke in dem Haupte des gesunden Buben auf. Er eilte zu einem alten, wohlhabenden, geizigen Großonkel, einem der sieben Söhne des Johann Blum, mit dem wir die Genealogie des Hauses eröffneten, erschien hier mit rothgefrorenen Backen und blitzenden Augen und begann ungefragt dem biedern Onkel mit der ganzen überzeugenden Kraft, der echten Gottesgabe der Rede, die er in sich trug, die Drangsal und Noth der Seinen ergreifend zu schildern. Der alte Geizhals that, was er seit Langem nicht gethan: er vergoß einige Zähren des Mitleids. Er that aber noch ein Uebriges, was Robert sehr viel werthvoller war: er beschenkte Robert mit einem Sack Erbsen und Kartoffeln, einem Stück geräucherten Fleisches und sechs Stübern. Außer sich vor Freude, keuchend unter der schweren Bürde, flog der Knabe athemlos die Straßen entlang, seiner Wohnung zu. Da stolperte er, stürzte hin, Erbsen und Kartoffeln rollten über das Pflaster; doch Robert las sie bis auf die letzte zusammen und trat mit den völlig unerwarteten reichen Gaben unter die Seinen, mit Jubel und hoher Festfreude Aller Herzen erfüllend.
[202] Keinen Stachel und keinen Schatten von Verbitterung hat diese überaus trübe Kindheit, welcher ebenso peinvolle Lehrjahre folgten, in Roberts Herzen zurückgelassen. Er hat daraus nur eine eiserne Charakterstärke und Willenskraft gewonnen, eine Aufopferungsfähigkeit, die keine Grenzen kannte, wenn das Gebot der Liebe sie ihm zur Pflicht machte.