Aus Rußland (Das Ausland, 1828)
Erscheinungsbild
[667]
Aus Rußland.
St. Petersburg, Mai 1828.
Es ist allerdings gegründet, daß die hiesigen Kaufleute, die mit England in genauer Handelsverbindung stehen, nachdem
[668] endlich energische Maßregeln gegen die Türken gefaßt worden sind, Besorgnissen Raum geben, als könne Großbritannien seine Aufmerksamkeit in derselben Weise auf den Sund und das baltische Meer richten, wie Rußland auf die Dardanellen und den Archipel. Man behauptet nämlich, das Cabinett von St. James habe das Besitzrecht der Insel Bornholm gefordert, die das Malta unserer Gewässer ist. Es scheint indessen ausgemacht, daß dadurch nicht allein Dänemark, sondern auch Schweden und Preußen sich auf das Tiefste verletzt fühlen würden; so wie anderer Seits die Britten alle Ursache haben, einen gänzlich nutzlosen Krieg zu vermeiden. Was aber hier, wie in Moskau, und überhaupt im ganzen Reiche unter allen Ständen und Classen der Nation die freudigste Theilnahme erregt, ist einerseits das kräftige Eingreifen des Kaisers in alle Zweige der Verwaltung, wobei er von einsichtsvollen Staatsmännern redlich unterstützt wird, andrerseits die in dem System der auswärtigen Angelegenheiten eingetretene Veränderung, da man von der Ueberzeugung ausgeht, daß Rußland zu einem gedeihlichen Aufblühen einer rein selbstständigen Politik bedürfe. So verfuhr Peter I, so Catharina II in ihrer glorreichsten Epoche, so geschah es 1812. – Daß seit dem Ausbruche des griechischen Aufstands das russische Volk Krieg mit der Türkei begehrt, daß die reichsten und edelsten Männer selbst zu Opfern, wie 1812, bereit sind, um der Regierung den Kampf für die Glaubensgenossen zu erleichtern, zeigt sich jetzt, da die Stimmen über diesen Gegenstand allenthalben laut werden, auf das Ersichtlichste. Die früheren Aeußerungen der Unzufriedenheit fanden bloß darin ihre Nahrung, daß sich Rußland von der Türkei Alles gefallen lasse; und wirklich muß man gestehen, daß die russische Geschichte kein Beispiel solcher ungemeinen Schonung gegen den Erbfeind darbietet. Die Geistlichkeit der griechischen Kirche, welche in der Regel auf die politischen Angelegenheiten wenig oder gar keinen Einfluß sucht, weil sie friedlich ihre angewiesene Bahn wandelt, theilt die allgemeine Entrüstung. Durch die von Alexander I gestifteten Bildungsanstalten hat die russische Geistlichkeit außerordentlich gewonnen, und mancher Pope, der im letzten Kriege die Truppen nach Deutschland und Frankreich begleitete, richtet jetzt den Blick weit mehr als vormals auch in die Ferne, und ich habe von mehr als einem dieser Geistlichen die Aeußerung gehört, es möchte wohl dem Pabste gar nicht unangenehm seyn, wenn die griechische Kirche in der Türkei gänzlich unterdrückt würde. Durch Stourdza’s Schrift ward der Eifer der römisch-katholischen Kirche, allenthalben als die herrschende aufzutreten, in Rußland bekannter; und bis in die untersten Stände verbreitete sich die Besorgniß, die Regierung, indem sie dem Geiste des europäischen Staatensystems huldige, möchte auch zugleich eine Kirche fördern, welche von jeher mit der griechischen in Zwiespalt war: ein Zwiespalt, der bekanntlich selbst die Eroberung von Konstantinopel durch die Türken herbeiführen half. Die in öffentlich bekannt gemachten Actenstücken ausgesprochene Abneigung gegen die griechische Insurrektion ward damals als ein Zeichen der Gleichgültigkeit gegen das Heil der griechischen Kirche betrachtet, welche, je mehr sie vom Geiste ächter Toleranz beseelt ist, mit desto größerem Eifer jedem Eingriff in ihre Rechte und in ihren Bestand sich entgegensetzt. Freilich ist es auch nicht zu leugnen, daß die spärlich besoldeten russischen Offiziere sehnlichst einen Krieg wünschten, welcher ihnen die Hoffnung der Beute und der Beförderung gewährt. Alle, nach Persien bestimmte Regimenter gingen gerne dahin, obgleich ihnen wohl bekannt ist, daß ein Feldzug in dem Innern von Asien ungeheure und ganz eigenthümliche Beschwerden mit sich führt. Es zeigte sich in der letzten Zeit ein großes Mißtrauen in der Nation gegen die deutsche Partei, d. h. gegen die vielen Staatsbeamten deutschen Ursprungs, die man schon nach der in Rußland herrschenden Vorstellung vom deutschen Charakter überhaupt als Gegner des Kriegs betrachtet; seit der Erscheinung des herrlichen Manifestes ist dieses Mißtrauen verschwunden und Jeder segnet laut und aufrichtig den Kaiser Nicolaus und seine erhabene Gemahlin, welche sich nicht nur durch den hohen Sinn, womit sie Gefahren verachten, sondern auch durch den Ruf der Sittlichkeit, der vor ihnen hergeht, die höchste Verehrung erworben haben. Nicolaus I hat in der Liebe seines Volkes Hülfsquellen, von denen man im Auslande wenig weiß; denn wahrlich, das russische Volk vermag Alles, wenn es will und dieser Wille recht gelenkt wird. Hat dieses nicht schon unter weit ungünstigern Umständen Peter der Große bewiesen? So aufrichtig dieser Heros der neuern Zeit die fortschreitende Cultur an andern Völkern achtete, so wenig ließ er sich durch Allianzen und Negoziationen in seinem politischen Wirken stören und ward dadurch der Abgott seines Volkes. Befolgt Nicolaus I standhaft diese Maxime der Selbstständigkeit, welche freilich die europäischen Cabinete nicht wenig in Verlegenheit setzen, und die „Geldmächte,“ welche zum Theil aufrichtige Freunde der Türken sind, nicht wenig in Harnisch bringen wird; so führt er sein Volk einem glänzenden Ziele entgegen und kann die stolze Hoffnung nähren, das ein halbes Jahrtausend lang vermauerte goldene Thor des alten Byzanz, so wie die Dardanellenstraße allen Nationen wieder zu öffnen. Freilich würde die Befreiung Konstantinopels auch die Befreiung der Küsten Kleinasiens, des alten Ioniens, von selbst herbeiführen. Ein Mann, der gut unterrichtet seyn will, zeigte mir neulich folgendes Theilungsproject der Türkei mit der Bemerkung: er sehe nicht ein, daß diese Theilung größere Schwierigkeiten habe, als die Theilung Polens; wobei doch ein christliches, nicht eingedrungenes und durch Friedsamkeit, wenigstens in der letzten Zeit, ausgezeichnetes Volk so beklagenswerth untergegangen sey, welches freilich jetzt, von dem Riesenstamme Rußlands gehalten, wieder zur Selbstständigkeit emporringe und vielleicht in der Folge der Zeit durch Herausgabe des Verlornen seine völlige Wiederherstellung zu erwarten habe. Jenes Theilungsprojekt, welches ich bloß als Kuriosität mittheile, wäre folgendes: Die Wallachei und Moldau treten als freie Fürstenthümer unter Rußlands Schutz. Bulgarien, Rumelien (mit Konstantinopel), die Inseln Lemnos und Tenedos, ohne welche die Dardanellen nicht zu behaupten sind, Kleinasien mit Lesbos und Macedonien, bilden ein unabhängiges Reich für einen Prinzen aus kaiserlich russischem Geblüt und bleiben in ähnlicher Verbindung mit Rußland, als worin dieses mit Polen steht. Die Stadt Smyrna nebst Scio könnte ein freier Handelsstaat werden. Thessalien, Livadien, Negroponte, Morea und alle Inseln des Archipels, also das eigentliche Hellas, würden Bestandtheile der griechischen Republik. Cypern, wovon der König von Frankreich längst den Titel führt und worauf er also gerechte Ansprüche hat, würde natürlich französisch. Rhodus könnte den Malthesern unter brittischem Schutze, Creta den Britten unmittelbar eingeräumt werden. Servien, Bosnien und Albanien würden Erbfürstenthümer, wie die Wallachei und Moldau, aber unter österreichischem Schutze. Wäre es möglich, das heilige Land zu erobern, so könnte man dieses dem Oberhaupte der römisch-katholischen Kirche zu Theil werden lassen und die syrischen Häfen für Freihäfen erklären. Es ist in der That nicht vorauszusetzen, daß durch eine solche Theilung das doch ewig schwankende europäische Gleichgewicht sonderlich leiden sollte. Diese Länder sind zu entfernt, als daß sie das europäische Staatensystem genau berührten; eine kleine Gebietsvergrößerung z. B., die Rußland gegen Preußen machte, wäre für seinen Machteinfluß auf den Mittelpunkt des Continents von bei weitem größerer Wichtigkeit, als der Besitz von ganz Kleinasien etc. etc. – Was hat nicht England dadurch in Bezug auf Deutschland gewonnen, daß es Ostfriesland an Hannover abtreten ließ? Das tapfere Preußen und das mächtige Oesterreich bilden fortwährend Europas Vormauer gegen Osten, die man wohl unüberwindlich nennen kann; denn so wie Rußland diese bedrohte, fiele es augenblicklich in eine Napoleonische Rolle und würde alle Welt gegen sich bewaffnen.