Aus dem Beamtenleben/Nr. 7. Die schlimme Hand

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Autor: Lothar S.
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Titel: Aus dem Beamtenleben - Nr. 7. Die schlimme Hand
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aus: Die Gartenlaube, Heft 50, S. 842–847
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[842]
Aus dem Beamtenleben.
Nr. 7. Die schlimme Hand.


Am 22. Mai 1875 stand ich in unserem Büreau hinter dem Pulte und trug Journalnummern ein, als der Chef mit einem Briefe in der Hand eintrat und auf mich zukam. „Herr College,“ sagte er, „Sie können wieder den Polizisten spielen; hier empfange ich die Nachricht, daß in T. zweihundertfünfundfünfzigtausend Mark gestohlen worden sind und die dortige Polizei den Thäter nicht ermitteln kann. Man ersucht uns, einen Criminalbeamten dorthin zu senden. Ich will wieder Ihnen die Vollmacht geben, aber ich bitte mir aus, daß Sie nicht so viel Zeit brauchen wie das letzte Mal. Unser Ruf leidet darunter, und die Diäten werden zu hoch.“

Ich verbeugte mich hocherfreut, und nachdem ich meine Deputirungs-Verfügung in Ausfertigung erhalten hatte, reiste ich voll Spannung nach T. ab. Dort angekommen, meldete ich mich unter Vorzeigung meiner Legitimationen sofort bei dem Polizeiverwalter, dem Bürgermeister, und erfuhr nun folgenden höchst einfachen Thatbestand.

Vor dem Thore des Städtchens, das ungefähr viertausend Einwohner zählt, wohnte in einer kleinen Villa die Wittwe eines Rentiers Friedow. Frau Friedow besaß ein sehr ansehnliches Vermögen und hatte den Hauptstamm desselben, bestehend aus Prioritäten, Coupons und einigem baaren Gelde, im Ganzen fünfundachtzig- bis neunzigtausend Thaler, bisher stets in einer in ihrem Schlafzimmer stehenden Commode aufgehoben. Das Schlafzimmer lag im ersten Stocke und hatte nur ein Fenster, welches auf den Hof hinausging. Obwohl ihr vertraute Freunde öfter gerathen hatten, das Geld an einem sichereren Orte zu verwahren, war sie diesen Rathschlägen doch nie gefolgt. Einem Banquier wollte sie das Geld nicht anvertrauen. Den Mangel eines Geldschranks hatte sie mit der [843] Behauptung entschuldigt, wenn einmal Diebe bei ihr einbrächen, hätte der Geldschrank nur zur Folge, daß die Herren etwas mehr Arbeit haben würden; wenn ihr treuer Friedrich und ihr Hund nicht Acht gäben, könne ein Schrank auch nichts helfen. Friedrich war ihr Factotum und die einzige männliche Person im Hause.

In der Nacht vom 7. auf den 8. Mai war die Wittwe Friedow etwa gegen zwölf Uhr plötzlich erwacht. In ihrem Schlafzimmer war es hell, und vor ihrem Bette stand ein schmächtiger kleiner Mann, der in der linken Hand eine Laterne, in der rechten ein Beil trug und der zum Tode erschrockenen Frau mit verstellter Stimme zurief, wenn sie auch nur einen einzigen Laut von sich gebe, werde er ihr sofort die Hirnschale einschlagen. Frau Friedow war so außer sich vor Entsetzen, daß es ihr unmöglich war, auch nur ein Wort hervorzustoßen, und so ließ sie denn in den nächsten Secunden ihre Augen mit Todesangst im Zimmer umherwandern. Sie sah, daß der vor ihr stehende Mensch eine schwarze Hose und eine blaue Blouse trug, daß er eine Maske vor dem Gesichte hatte und daß zwei Männer, deren Gestalt und Kleidung die Ueberfallene nicht genau unterscheiden konnte, im Hintergrunde des Zimmers damit beschäftigt waren, ihre Commode aufzubrechen. In der hintersten Schieblade derselben stand, bedeckt von Strümpfen, Garn und Leinen, ein rundes blechernes Kästchen, das ihre Papiere enthielt. Als sie wieder soweit zu sich gekommen war, um den Entschluß fassen zu können, zu schreien, ertönte draußen das merkwürdig heiser klingende Gebell des Hundes. Jetzt aber hatten schon die beiden Diebe das Blechkistchen gefunden, sprangen mit demselben zum Fenster, dessen einer Flügel offen stand, hinaus und kletterten eine an das Fenster gelehnte Leiter im Nu hinunter, während der maskirte Mann ruhig vor ihrem Bette stehen blieb. Sie stieß dann den lauten Ruf: „Zu Hülfe! zu Hülfe!“ aus; der Mann vor ihrem Bette brummte etwas wie: „Jetzt kannst Du schreien!“ wandte sich um und folgte den Anderen.

Darauf kam Friedrich herbei, der durch Geräusch aufgeweckt worden war, stürzte zur Leiter und fand unten nichts mehr vor, als den offenbar mit einer Schlinge eingefangenen und an seine Hütte gefesselten, halb erdrosselten Hund. Die Verfolgung der Diebe durch Friedrich und die Nachbarn blieb völlig resultatlos. Auch die späteren Tage, in denen die eifrigsten Nachforschungen gehalten wurden, ergaben nicht das Mindeste über Herkunft und Person der Einbrecher. Die ganze Polizei von T., ja sogar die Pfahlbürger und die Straßenjugend hatte sich die verzweifeltste Mühe gegeben, irgend eine Spur zu finden, aber umsonst.

So standen die Sachen, als ich in T. ankam. Mein zweiter Besuch galt selbstverständlich der Frau Friedow. Ich suchte am Orte der That nach Indicien, aber was ich fand, war verzweifelt wenig. Zunächst constatirte ich, was übrigens auch schon Andere gethan hatten, daß der Diebstahl von Leuten ausgeführt sein mußte, welche mit der Localität vertraut waren, denn die Diebe waren durch ein kleines Hofthor eingedrungen, dessen Existenz nicht einmal alle Nachbarn kannten; die Leiter, die man an das Fenster gelehnt hatte, war ferner von einem Orte entnommen, der ziemlich versteckt lag. In das Schlafzimmer war man gekommen, indem eine Scheibe eingedrückt und dann der Fensterriegel zurückgeschoben worden war. Fußspuren hatte man nur einzelne gefunden, und diese hatten ein besonderes Kennzeichen nicht gehabt; sie verliefen auf dem Wege, den man gewöhnlich einzuschlagen pflegte, wenn man vom Hof auf die Landstraße kommen wollte. Die Einbrecher waren also unter den vier bekannten Kategorien: Nachbarn, Dienstleuten, Freunden oder Verwandten zu suchen. Auf Dienstleute konnte kein Verdacht fallen – das lehrte der erste Anblick des alten Friedrich, ebensowenig auf die Nachbarn. Es blieben also die Freunde oder Verwandten, die das Haus öfter betreten hatten, übrig. Ich ließ mir von der untröstlichen Bestohlenen, die auf das Bestimmteste versicherte, daß sie auch nicht den leisesten Verdacht gegen irgend eine ihr bekannte Person hegen könne, ein Verzeichniß aller Freunde und Verwandten geben und fing nun meinen Dienst an. Aber alle Mühe schien umsonst. Ich arbeitete im Schweiße meines Angesichts; ich lief umher wie ein hungriger Hund; ich telegraphirte ganze Bogen in die Welt hinaus, aber – nichts, nichts, nichts! Ich hatte bisher noch in keiner Sache solch ein elendes Resultat erzielt.

Am vierten Tage nach meiner Ankunft begab ich mich abermals zu der Bestohlenen, die mich erwartungsvoll empfing. „Frau Friedow,“ sagte ich, „es ist gar nicht möglich, daß Sie keinen bestimmten Verdacht gegen Jemand haben; es muß Ihnen der Verdacht auf irgend eine Person durch den Kopf gegangen sein.“

„Ich versichere Ihnen,“ erwiderte sie, „daß ich auch nicht den Schatten einer Ahnung von der Person des Thäters habe.“

„Ist Ihnen denn gar nichts bei den Einbrechern aufgefallen, außer dem, was Sie mir bereits erzählten, nichts an der Stimme derselben, an der Art zu stehen, an den Händen? Haben Sie nicht etwa einen Ring gesehen? Wie war die Haut der Hand des Mannes, der das Beil hielt?“

„Ach ja,“ entgegnete sie, „ich habe Etwas wahrgenommen, was ich Ihnen schon längst erzählt haben würde, wenn ich es nicht für zu geringfügig gehalten hätte.“

„Und das war?“

„Als die beiden Diebe, die das Kästchen aus der Commode genommen hatten, durch das Fenster kletterten und die Leiter hinunter rutschten, schlug der Flügel zu, in welchem sich die Glasscheibe befunden hatte, die zum Oeffnen des Fensters von außen her zerbrochen worden war. Der schmächtige Mann, der bis zuletzt vor meinem Bett stehen blieb und dann den beiden Andern nacheilte, ergriff den Rahmen des Flügels, um den letzteren aufzuklappen, dabei muß er aber wohl gerade in die zersplitterte Fensterscheibe gegriffen haben – bei seiner Eile fortzukommen, wäre das erklärlich – denn sowie er an den Rahmen gefaßt hatte, stieß er ein halblautes ‚Au, verdammt!‘ im Tone großen Schmerzes aus.“

„Haben Sie kurz nachher Blutspuren gesehen?“

„Nein.“

Nachdem die Thatsache der verwundeten Hand hinzugekommen, begann ich meine Thätigkeit von Neuem. Nun tauchte nach langem vergeblichem Bemühen ein Schimmer zur Lichtung des Dunkels auf. Der alte Sanitätsrath Meiling, mit dem ich mich gelegentlich in ein medicinisches Gespräch über Handwunden und namentlich solche, die durch Glassplitter verursacht seien, eingelassen hatte, erzählte, er sei vor etwa drei Wochen auf seinem frommen Klepper über Land geritten. Da sei ein fremder Mensch plötzlich auf den Weg gesprungen und auf ihn zugegangen. Der Fremde habe ihn auf das Dringendste gebeten, ihm doch einige Glassplitter aus der rechten Hand zu ziehen, da er es vor Schmerzen gar nicht mehr aushalten könne. Er, der Sanitätsrath, habe auf das dringende Bitten des Menschen die Verbandtasche herausgezogen und ihm vielleicht fünf Glassplitter aus der Hand genommen, die sehr tief in derselben gesessen hätten. Der Fremde habe dabei wie ein altes Weib gewimmert und angegeben, er sei unterwegs in Glasscherben gefallen.

„Welche Kleidung trug der Mensch?“ frug ich mit athemloser Spannung.

„Eine blaue Blouse und eine schwarze Hose.“

„Und Sie erinnern sich dessen genau?“

„Allerdings; denn der Mensch fiel mir wegen seines Gesichtes auf, das zu der Blouse gar nicht paßte.“

„Und wie war denn sein Gesicht?“

„Nun, so wie Sie es in jedem Steckbriefe beschrieben finden: Stirn gewöhnlich, Nase gewöhnlich und Mund gewöhnlich. Der Gesammteindruck war aber der eines ziemlich feinen Kopfes, wie ihn Tagelöhner oder sonst Leute, die in einer Blouse gehen, nicht auf den Schultern zu tragen pflegen. Aber warum erkundigen Sie sich so angelegentlich danach?“

„Haben Sie die Erscheinung dieses Menschen denn nicht mit einer Thatsache in Verbindung gebracht, die hier allgemeines Interesse erregte?“

„Nein, wie sollte ich dazu kommen?“

„Können Sie mir nicht sagen, wo der Fremde geblieben ist, nachdem Sie ihm die Splitter aus der Hand gezogen hatten?“

„Ich glaube, er ging in der Richtung auf die Emsfähre weiter.“

Der nächste Morgen fand mich an der Ems. Ein alter Stamm, der sich oben gabelte und in der Gabel eine Glocke trug, stand auf einer Höhe am Ufer und bezeichnete so die Stelle, auf welcher man läuten mußte, um den Fährmann herbeizurufen, [846] der abseits in seinem unter Weiden versteckten Häuschen wohnte. Ich ging gerades Weges in das Häuschen hinein und traf dort nur eine hünenhafte Person an, welche erklärte, sie sei die Tochter des Fährmanns und setze die Reisenden über, wenn ihr Vater, wie heute, abwesend wäre. Ich suchte ihr Vertrauen zu gewinnen, brachte das Gespräch auf den Verkehr über die Fähre und fragte sie, ob in der letzten Zeit nicht ein guter Freund von mir die Fähre passirt hätte. Er sei sehr eilig gewesen, nach Holland zu kommen, um nicht Soldat werden zu müssen. Die Antipathie, die dort in der Gegend in Beziehung auf das Soldatwerden herrscht, löste ihr sofort die Zunge.

„Ja, ja,“ sagte sie, „da war wohl neulich einer, der es sehr eilig zu haben schien.“

„Er trug eine blaue Blouse und schwarze Hosen – nicht wahr?“

„Das kann wohl sein, aber – jetzt fällt es mir wieder ein – er muß mit mehreren zusammen durchgebrannt sein.“

„Ja wohl, mit zwei Anderen.“

„Ganz recht, erst kam der Eine, schon in der Morgendämmerung und ließ sich übersetzen. Dann, vielleicht eine Stunde nachher, kam der Zweite, forderte sich einen Schnaps und fragte ängstlich, ob ein Anderer nicht schon hinüber wäre. Als ich dies bejahte, ließ auch er sich nach drüben fahren. Dann wieder eine Stunde später kam der Dritte, Ihr Freund, der mit der Blouse, fragte, ob er der Erste sei, und nachdem ich ihm gesagt hatte, ich hätte schon zwei hinübergefahren, schien er sehr beruhigt und setzte sich auch in’s Schiff.“

„Einer von den Dreien hatte ein Blechkistchen bei sich – nicht wahr?“

„Das habe ich nicht gesehen; ich habe nur bemerkt, daß der Letzte von den Dreien etwas Rundes unter dem Arme trug, das in ein rothes Schnupftuch gewickelt war.“

„Ja, ja,“ sagte ich, „das werden seine Haarbürsten und Pommaden gewesen sein; er ist ein eitler Bursche. Sah er nicht sehr fein aus?“

„Ja wohl, er sah sehr nobel aus.“

„Das muß er gewesen sein,“ rief ich im Tone ungeheuchelter Freude. „Es freut mich, daß er entkommen ist. Aber, um ganz sicher zu gehen – wieviel Fährgeld hat er Ihnen gegeben?“

„Zehn Pfennige, wie Jeder.“

„Mit der rechten Hand?“

„Warum denn nicht?“

„War seine rechte Hand nicht verbunden?“

„Eine verbundene Hand habe ich nicht gesehen; ich weiß nur, daß er die eine Hand immer in der Tasche hielt, ob das aber die linke oder die rechte war, das weiß ich nicht mehr.“

Ich hätte die dicke Person trotz ihrer vierzig Sommer und obwohl sie in ihrer Dummheit irgend eine weitere Beschreibung ihrer Fahrgäste nicht zu liefern vermochte, herzlich umarmen mögen. Es war ja gar kein Zweifel – die drei Spitzbuben hatten sich getrennt, damit sie im schlimmsten Falle nicht zusammen getroffen werden konnten, und der letzte war der Rädelsführer und Hauptmann, da er das Kästchen getragen hatte. Während seines Gespräches mit dem Arzte mochte er es hinter eine Hecke gestellt haben. Ich war auf der Fährte, und auf was für einer prachtvollen Fährte! Nun weiter auf der Jagd! Bald mußte ich ja das Hallali blasen können. –

Aber welche Täuschung! Jenseits der Ems war die Spur verloren. Ich lief landein, landaus; ich belagerte jedes Kötterhaus am Wege und suchte zu erfahren, ob man nicht mein Wild gesehen habe. Ich schloß Freundschaft mit allen Leuten, die viel auf die Landstraße kommen, mit Briefträgern, Botengängern und Chausseewärtern, aber wieder nichts, nichts! Und dennoch – ich mußte sie erreichen. Ich dehnte meine Forschungen zuletzt sogar bis in die kleine Stadt V. aus, die etwa sechs Meilen von jener Fährstelle entfernt liegt, aber hier fand ich erst recht nichts.

Doch endlich sollte meine Mühe belohnt werden. Müde und matt – es war etwa der neunte Tag nach meiner Ankunft in T. – ging ich in V. des Abends in eine Bierwirthschaft, welche vorzugsweise, wie mir gesagt war, von den Honoratioren des Ortes besucht wurde. Im Garten derselben befand sich eine Kegelbahn, die hell erleuchtet war und in welcher augenblicklich etwa zehn Herren kegelten. Ich nahm einen Stuhl, setzte ihn außen ungefähr in der Mitte der Bahn hin, sodaß ich im Dunkeln war, stützte den Kopf in die Hand und dachte in sehr gedrückter Stimmung darüber nach, in welches Licht mich meine Resultate dem Chef und den Collegen gegenüber bringen würden. Plötzlich sprang eine ungeschickt aufgesetzte Kugel von der Bahn ab und rollte so dicht an mir vorbei, daß sie fast meinen Fuß berührte.

„Sandhase, Sandhase!“ riefen mehrere Stimmen laut durcheinander, und eine setzte näselnd hinzu:

„Na, Böttcher, Deine Hand ist wohl noch nicht zurecht?“

„Ach,“ sagte da eine andere Stimme, „die muß längst geheilt sein, Du wimmerst ja gar nicht mehr.“

Man befindet sich auf der Jagd; man weiß, der Fuchs ist im Walde; man hört ihn ab und zu im dürren Laube rascheln, aber im Augenblicke ist er wieder fort und muß nach einer andern Seite gelaufen sein. Da – horch! – da raschelt es wieder im Laube; es ist, als ob sich zwischen den Blättern etwas bewegt. Man späht, ohne auch nur ein Glied zu rühren, die Flinte an der Wange, und siehe da, Freund Reinecke steckt, vorsichtig lugend, seinen Kopf über den Graben. Ein Schuß – da liegt er.

Ja wohl, ich sollte noch lange nicht zu Schuß kommen. Obwohl ich instinctiv überzeugt war, daß ich den Fuchs endlich vor mir hatte, galt es doch, für diese innere Gewißheit einen vernünftigen Anhalt zu finden. Ich erkundigte mich daher vorsichtig nach dem Namen des Herrn mit der schlimm gewesenen Hand, erfuhr, daß es der Kaufmann Böttcher sei, und sah dann in die Personenliste der Frau Friedow. Herr Böttcher figurirte dort als der Fünfte unter ihren Verwandten, der auch öfter in ihr Haus gekommen war. Dann, am andern Tage, holte ich mir meinen Doctor, der damals jenem Manne in der Blouse die Hand verbunden hatte. Ich brachte ihn im Wirthshause an einen Ort, wo er Herrn Böttcher sehen konnte, ohne von diesem gesehen zu werden, und bat ihn hoch und theuer, er möge den Kaufmann doch scharf und genau betrachten, ob dieser nicht derselbe Mann sei, dem er die Glassplitter aus der Hand gezogen habe. Der Doctor that sein Möglichstes in dem Studium des Kaufmanns, aber seine Prüfung war resultatlos. Er schwor Stein und Bein, er könne ihn nicht recognosciren, es sei wohl ungefähr dieselbe Gestalt, aber das Gesicht erkenne er nicht wieder. Wenn der Arzt ihn nicht wieder erkannte, dann brauchte ich die Fährmagd gar nicht zu holen. Ich war also auf mich allein angewiesen.

Wir Criminalbeamten haben zwei Grundsätze bei unserer Verfolgung, die wir nach der Art des Falles bald einzeln, bald abwechselnd anwenden. Den einen nennen wir die „lange Leine“, den andern die „kurze“. Die lange Leine besteht darin, daß man den Verfolgten nichts merken läßt, daß man im Gegentheil ihn zu der Annahme zu verführen sucht, er sei dem Verfolger höchst gleichgültig, daß man Alles vermeidet, was ihn stutzig machen könnte, daß man die Miene der größten Harmlosigkeit annimmt, sich möglichst weit von ihm entfernt hält und Alles, was man gegen ihn in’s Werk setzt, mit der größten Heimlichkeit vornimmt. Die kurze Leine dagegen besteht darin, daß man den Verfolgten ahnen läßt, man sei hinter ihm, daß man ihn in Schrecken setzt, ihm auf dem Nacken bleibt und ihn so zu Handlungen treibt, die ihn verrathen. Ich brachte zuerst die „lange Leine“ in Anwendung.

Um Böttcher vertraulich zu machen, ging ich zunächst zu dem Wirthe des Gasthofes, in welchem ich wohnte, und stellte mich ihm vor, aber nicht als Denjenigen, der ich war, sondern als einen Hamburger Agenten, welcher Loose verbotener Lotterien hier abzusetzen wünsche. Der Wirth zog ob meiner Eröffnungen ein ziemlich schiefes Gesicht, und als ich ihn um strengste Geheimhaltung bat, sicherte er mir dieselbe mit einer Miene zu, aus der ich deutlich entnahm, wie wenig Mühe er sich um sie geben würde. In der That sah ich schon am nächsten Morgen zu meinem großen Vergnügen, daß mich mein lieber College, der städtische Polizeisergeant, mit äußerst feindseligen Blicken beobachtete und daß, wenn ich in eine anständige Wirthshausgesellschaft kam, die Herren meine Fragen ziemlich kurz beantworteten. Traf ich in einer solchen den Gegenstand meiner Gedanken, so nahm ich an seiner Miene Gott sei Dank wahr, daß er seinen Argwohn aufgegeben hatte und, wie die Uebrigen, mich für ein „schäbiges“ Individuum hielt.

Inzwischen war ich rastlos thätig. Aber was ich erfuhr, war wieder verteufelt wenig. Ich hörte wohl, Herr Böttcher lebe in schlechten Verhältnissen jedoch ich entdeckte nicht, [847] daß er in der letzten Zeit irgend eine bedeutende Zahlung gemacht oder Verbindlichkeiten getilgt hätte. Ich hörte wohl, daß er vor etwa drei Wochen eine kurze Reise gemacht habe, aber ich konnte nicht herausbekommen, wohin. Eine Thatsache jedoch, die mir anfänglich von großem Werth schien, kam mir zu Ohren, nämlich die, daß Herr Böttcher in der letzten Zeit öfter des Nachts wegen Schlaflosigkeit aufstehe und in seinem Garten spazieren gehe.

Die Folge davon war, daß ich zwei Nächte im Garten hinter dem Böttcher’schen Hause auf der Lauer lag. Es befand sich viel Gebüsch in demselben, und ich versteckte mich derart, daß Niemand, der in der Nacht in den Garten kam, mich hätte finden können. Aber wer in der Nacht nicht in den Garten kam, war Herr Böttcher, und im Garten selbst war auch keine Spur davon zu sehen, daß dort irgend Etwas vergraben war. Ich befand mich in reiner Verzweiflung. Was sollte ich thun? Auf der einen Seite die feste Gewißheit, daß ich den Schurken entdeckt hatte, auf der anderen kein Anhaltspunkt, der sicher genug gewesen wäre, um zu einer Verurtheilung zu führen! Hatte ich doch nicht einmal die nöthigen Indicien erbracht, um bei diesem bisher ganz unbescholtenen Manne eine Haussuchung vornehmen zu können.

Eines Nachmittags ging ich in meinem Zimmer mit langen Schritten auf und ab. Plötzlich klopfte es, und auf mein „Herein!“ trat der Postbote ein. Er brachte eine Depesche von meinem Chef, welche lautete: „Sofort zurückkehren; wenn noch nicht genug ermittelt, aufgeben; Ihre Anwesenheit hier nothwendig. Z.“

Das Telegramm traf mich wie ein Donnerschlag. Der Chef war offenbar mißmuthig über mein langes Ausbleiben. Sollte ich einfach abreisen oder noch einen Wurf wagen? Ich beschloß das Letztere. Heute Abend mußte noch ein entscheidender Schritt gethan werden, damit ich am andern Morgen abreisen könnte.

Im Club des Städtchens saßen etwa zwölf Herren hinter dem Schoppen. Ich gesellte mich zu ihnen, setzte mich neben meinen Verbrecher, der über diese Ehre ziemlich erstaunt schien, und begann mit ihm Gleichgültiges zu reden. Als diejenigen, welche dicht neben Böttcher gesessen hatten, zu meiner großen Freude aufgestanden und nach Hause gegangen waren, rückte ich an ihn heran und flüsterte ihm in’s Ohr:

„Herr Böttcher, ich habe Ihnen eine wichtige Mittheilung zu machen.“

„Das wäre?“ fragte er sehr ruhig.

„Sie glauben, ich sei Jemand, der hier Lotterielose vertreiben will. Das bin ich nicht. Ich bin Beamter der preußischen Criminalpolizei.“

Herr Böttcher nahm diese Eröffnung mit einer für mich höchst bedeutsamen Miene auf. Er wußte offenbar im Augenblicke nicht, welchen Ausdruck er seinen Zügen geben sollte. Es zuckte in seinem Gesichte, als wolle er erstaunt aussehen, und dann zog er Falten um seinen Mund, als sollten sie die größte Gleichgültigkeit zur Schau tragen. Nach einer Secunde, während welcher ich ihn wie die Schlange das Kaninchen studirt hatte, sagte er in sehr gezwungenem Tone:

„Ja, was geht mich denn das an, lieber Herr?“

„Hören Sie! In T. lebt eine Wittwe Friedow, die um ihr ganzes Vermögen bestohlen worden ist. Die Spuren des Diebstahls zeigen hierhin. Wie ich weiß, sind Sie Verwandter der Wittwe Friedow und an der künftigen Erbschaft betheiligt.“

Während ich diese Worte sprach, hatte ich ihm starr in die Augen gesehen; sie funkelten, wie die einer gehetzten Katze, und als er jetzt mit heiserem Tone ausstieß: „Und darauf hin wollen Sie mich verhaften?“ wäre ich ihm am liebsten sogleich an die Gurgel gesprungen und hätte mein „Im Namen des Gesetzes“ gerufen. Aber ich bezwang mich und mit einer Harmlosigkeit, über die ich heute noch verwundert bin, sagte ich blos:

„Wie können Sie solches Zeug reden? Weil Sie an der Erbschaft betheiligt sind, haben Sie das größte Interesse, mir bei der Entdeckung des Thäters zu helfen.“

„Mit dem größten Vergnügen,“ unterbrach er mich – er hatte sich ganz merkwürdig schnell wieder gefaßt – „so viel in meinen schwachen Kräften steht, bin ich natürlich dabei, aber wenn ich Sie unterstützen soll – was wünschen Sie zunächst von mir?“

„Zunächst möchte ich zu Ihnen kommen, womöglich morgen früh; ich setze Ihnen die Sache auseinander und operire auf Grund Ihrer Kenntniß der hiesigen Personen.“

„So so,“ sagte er mühsam nach Athem ringend. „Jedoch, ich – ich – es thut mir von Herzen leid, aber ich habe eine Depesche bekommen, die mich zwingt, morgen in der frühesten Dämmerung von hier abzufahren; vielleicht finde ich zu Hause ein zweites Telegramm vor, das mich diese Nacht schon fortzugehen veranlaßt. Es handelt sich um einen Schuldner, der seine Zahlungen einstellen will; vielleicht kann ich eine größere Forderung noch beitreiben, wenn ich früh genug zu ihm komme. Sie wissen: Zeit ist Geld.“ Bei diesen Worten hatte er ängstlich bald mein Gesicht, bald meine Uhrkette betrachtet. Mir kostete es die größte Mühe, meine Freude zu unterdrücken. Der Lasso, den ich auf ihn geworfen hatte, war ihm auf das Schönste um den Hals geflogen, und ich wußte, daß es nur noch eines Ruckes bedurfte, um die Schlinge zuzuziehen.

„Geniren Sie sich um Gotteswillen nicht, Herr Böttcher!“ erwiderte ich möglichst gleichgültig auf seine Lüge. „Ich habe sehr viel Zeit; ich brauche erst in acht Tagen wieder in T. zu sein, und wenn Sie innerhalb dieser acht Tage wieder zurückkommen, kann ich immer noch mit Ihnen über die Sache sprechen.“

„Ja, ja,“ erwiderte er eifrig, „ich werde hoffentlich schon übermorgen zurück sein und stehe Ihnen dann vollständig zu Diensten, aber beantworten Sie mir vorher gütigst die Frage: Steht der Doctor Meiling in Beziehung zu der That?“

„Kennen Sie den?“

„Von Ansehen.“

„Er sollte mir helfen,“ sagte ich, ihm offen in’s Gesicht blickend, das jetzt entsetzlich alt, spitz und verstört aussah, „er sollte mir helfen, den Verbrecher zu recogcosciren.“

„Und ist ihm das gelungen?“

„Vollständig; er hat in einem hiesigen Arbeiter einen Mann wieder erkannt, den er am Tage nach der That in der Nähe des Wohnortes der Bestohlenen gesehen hat.“

„Wie heißt der Arbeiter?“ fragte Böttcher in athemloser Spannung.

„Ebbing.“

„Den kenne ich nicht,“ sagte er aufathmend.

„Das glaube ich wohl; er hält sich hier auch nur vorübergehend auf.“ Dann brach ich das Gespräch ab, stand auf, schüttelte ihm auf das Herzlichste die Hand und ging, anscheinend höchst ruhig, um mich in die Nähe seines Hauses zu schleichen.

Ich mußte hier eine starke Viertelstunde in der Dunkelheit harren, dann fuhr richtig ein Einspänner vor. Böttcher sprang heraus, eilte in’s Haus und kam nach einigen Minuten, irgend einen Gegenstand unter dem linken Brusttheil seines Rockes festhaltend, wieder heraus. Es mochte etwa um neun Uhr sein.

Kaum war er von der einen Seite in die Droschke gestiegen, als ich auch schon von der andern hineinsprang, ihn am Arm ergriff und dem Kutscher zurief: „Fort!“ Der Gefaßte schien plötzlich stumm geworden; er machte nicht die geringsten Widerstandsversuche und saß wie eine Bildsäule da. Als ich ihm jetzt leise sagte: „Sind das die Papiere der Wittwe Friedow, die Sie da unter dem Rock haben?“ entgegnete er gepreßt: „Ja, sie sind es.“ Ich ließ den Kutscher halten und brachte den Arrestanten in sicheren Gewahrsam. Keine Dummheit ist so groß, daß sie nicht von dem Verbrecher, der plötzlich entdeckt, daß man ihn verfolgt, ausgeführt werden könnte. Auf diese Dummheit hatte ich gerechnet, und wie richtig ich gerechnet, das zeigte die Thatsache, daß mein Opfer mir geradezu in die Hände lief. – Die Geschworenen verurtheilten Böttcher zu sechs Jahren Zuchthaus. Seine Helfershelfer sind nie ermittelt worden.
Lothar S.