Aus der geheimen Geschäftswelt Londons

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor:
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Aus der geheimen Geschäftswelt Londons
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 31, S. 448
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[448] Aus der geheimen Geschäftswelt Londons. Ein schöner Morgen in der Mitte der Badesaison. Hotel zweiter Classe in Margate, dem nächsten, populärsten oder vielmehr plebejesten See-Badeorte der Londoner Familien, die in Stand und Casse den höchsten unter den niederen, oder den niedrigsten unter den höheren Ständen bilden: kleinere Groß-Kaufleute, größere Kleinhändler oder Shopkeepers, auch wohlhabend gewordene Arbeiter- oder ärmer gewordene reiche Familien, Künstler und Schriftsteller dritter Classe, Eltern mit zu viel heirathsfähigen Töchtern, anständige Junggesellen, denen es an Damengesellschaft fehlt, und so Summa Summarum eine Art Heirathsbureau am Strande des Meeres. In dem Hotel zweiter Classe sitzen eine große Menge junger Damen, denen es bisher an der nöthigen Herrenbekanntschaft fehlte, so daß sie Alle noch hoffen und sich über die Schwestern moquiren, die bereits ihren Mann gefunden.

An diesem schönen Septembermorgen hatte Laura ihren Mann gefunden: Mr. Thomson. Welche Aufregung, welches Kritisiren, welche Conjecturen unter den getäuschten, sitzengebliebenen Damen!

Kaum vor einer Woche waren Mr. Thomson und sein aristokratischer Freund Fortescue angekommen, und schon war Alles vorbei, denn Niemand hatte einen Augenblick geglaubt, daß der aristokratische Freund auch mit Heirathsgedanken umgehe. Die Art von Menschen, zu welcher Fortescue gehörte, war zu sehr bekannt, als daß sich eine Dame auf ihn hätte Hoffnung machen sollen. Diese Zugvögel, die bald hier, bald da herunterkommen, um hier ein Hippchen, dort ein Häppchen aufzupicken, und dann rasch, wie sie gekommen, fortfliegen, diese Kuckuks von einzelnen Herren ohne ein eigenes Nest, sind zu bekannt und kenntlich, als daß Mutter oder Töchter je auf einen solchen fahnden sollten. Aber Mr. Thomson, der geheimnißvolle, simple Mr. Thomson, ließ schon am ersten Tage keinen Zweifel mehr übrig, daß es ihm lediglich und ganz geschäftsmäßig um eine Frau zu thun sei. Er war schweigsam, formell und steif, dick und stark, ein Gefangener in seinen Feiertagskleidern, befangen und auf eine etwas ungeschickte Weise vornehmthuend, also ein Kaufmann aus der City. Auch hielt man ihn sofort für reich und deshalb für einen Gentleman, obgleich manches Gemeine an ihm, namentlich ein unheimliches, nervöses Zwinkern mit den Augen, sehr für das Gegentheil sprach. Wie konnte er unter diesen Umständen so schnell eine Braut finden? und noch dazu eine der schönsten und geistreichsten? Fortescue, der Aristokrat, war der Zauberer. Wenn bei Tische, am Strande, auf Spaziergängen ein Lord oder Bischof oder Millionär genannt ward, pflegte er zu bemerken: „Ich kenne ihn nicht, aber mein Freund Thomson hat seine Bekanntschaft gemacht, glaub’ ich,“ ohne dabei den Freund Thomson, dicht neben ihm, zu fragen. Zuweilen spielte er auch auf Freund Thomson’s Privatresidenz, dessen Besitzungen und Kunstschätze an, ohne sich auf bestimmte Angaben einzulassen. Bemerkte man auf Spaziergängen eine seltene Blume, warf der Aristokrat Fortescue wie bei Seite die Frage hin: „Thomson, Sie haben ja wohl ein Dutzend Varietäten davon in Ihrem Gewächshause?“, ohne daß Thomson deutlich antwortete.

So wurde Thomson, der dicke, gemeine, steife Thomson, berühmt gemacht und zu einer beneidenswerthen Partie erhoben. Die Damen und „zahlreichen Familienväter“ vollendeten, was noch fehlte, ganz nach dem üblichen System günstiger Vorurtheile. Seine Steifheit war Würde, seine Unbeholfenheit Bescheidenheit, seine Schweigsamkeit vornehme Zurückhaltung, sein Augenzwinkern versteckter Witz und Humor. Zwar blieben noch manche bedeutende Zweifel und Mysterien, aber das erhöhte den Reiz nur. Aus den halben Andeutungen und geheimnißvollen Anspielungen des Aristokraten Fortescue reimten sich scharfsinnige Tanten und Mütter folgende Schlüsse zusammen: Thomson hat ein Engros-Geschäft in der City, eine Villa, eine Residenz mit Garten, Treibhaus, Weinkeller u. s. w. in einer reichen, heitern Vorstadt, wie jeder City-Kaufmann, als solcher 800 bis 1000 Pfund jährliches Einkommen, wenn nicht mehr, und ist Willens, sich hier eine Lebensgefährtin zu wählen. – Niemand hatte je eine bestimmte Versicherung für diese ermittelten Thatsachen vernommen, aber die Badegesellschaft war darüber einig. Zweifel galt für Verleumdung. Die seltsamen Winke und Andeutungen des Aristokraten Fortescue waren zu festen Mauern der Ueberzeugung geworden.

Mr. Thomson hatte von nun an blos noch die Wahl. Die jungen Damen waren immer in seiner Nähe, und die älteren in schrecklicher Nähe der Dreißig (darunter und darüber) drängten sich nicht selten einander thatsächlich zurück, um Mr. Thomson’s Rath und Entscheidung über wichtige Tagesfragen einzuholen. Der Kampf wüthete mehrere Tage zweifelhaft, bis er endlich plötzlich entschieden und entschlossen war. Laura Crompton, die beste Sängerin und schönste Sirene der Badegesellschaft, eine der fünf Töchter eines simplen Mr. Crompton, war eines Morgens plötzlich seine Braut. Niemand wußte, wie’s gekommen war, Niemand erfuhr es, da Mr. Crompton mit Familie und Schwiegersohn schon am Tage nach der Verlobung abreiste. Auch der Aristokrat Fortescue war verschwunden.

Genaue Nachfragen der Zurückbleibenden ergaben, daß die Hochzeit schon nach vierzehn Tagen gefeiert werden sollte. Liebe aus Badeorten ist Treibhauspflanze, nicht stark genug, lange Wind und Wetter im Freien zu ertragen. Und so kniete das Liebespaar an einem trüben Octobermorgen vor dem Altare einer Kirche, um sich durch das unlösliche Band der Ehe aneinander zu fesseln, „bis der Tod sie scheide“. Diese Zwei, mühsam sich überredend, daß sie nun Eins seien, fuhren, beneidet von ledigen Dienstmädchen und alten Jungfern, umjubelt von Neugierigen und im Gefolge der Familie Crompton und ihrer Angehörigen, aus der Kirche zum Hochzeitsschmauße, wo Mr. Thomson in feurigen Reden gepriesen und das von Gott vereinte Paar mit Glückwünschen überschüttet ward. Es folgte die übliche englische „Honigmondreise“, die aber der eifrige City-Kaufmann auf vierzehn Tage abkürzte, weil er nicht länger im Geschäft entbehrlich sei. Der noch übrige Honig mußte in der Villa des reichen Kaufmanns, draußen im Westen von London, Kensington, genossen werden. Die Villa war reizend mit ihren neuen Meubles und Ornamenten und Ziergärtchen rings herum. Die junge Frau hielt sich für glücklich. Es fehlte ihr an nichts. Der Mann ging, wie jeder große Geschäftsmann Londons, um zehn Uhr in’s Geschäft, kam gegen sechs Uhr wieder, aß und trank gut, wurde immer liebenswürdiger und mittheilender und spielte den generösen Wirth gegen alle ihre Verwandten. Aber wo blieben die Seinigen? Der zärtliche Ehegatte wußte Fragen nach seinen Angehörigen und seinen Geschäftsangelegenheiten stets auf geschickte und liebenswürdige Weise auszuweichen. Dies spannte freilich ihre Neugierde um so höher. Außerdem fühlte sie mit der Zeit ein Recht, in diese Geheimnisse eingeweiht zu werden. Sie war öfter in Verlegenheit gekommen, wenn sie nach den persönlichen und Geschäftsverhältnissen ihres leiblichen Gatten gefragt worden.

Nach drei Monaten konnte sie diese Ungewißheit nicht mehr ertragen. Sie beschloß, selber Forschungen anzustellen, um zunächst wenigstens zu ermitteln, wo und welcher Art das Geschäft ihres Mannes sei. Als sie eines Morgens von ihm für den Tag heiter Abschied genommen, hüllte sie sich, sobald er die Thür geschlossen und gegangen, in einen dicken Shawl und Schleier und folgte ihm so, daß sie fern genug blieb und ihn doch stets in den Augen behielt. In Piccadilly und besonders am Strand wurde das Gedränge von Wagen und Menschen so arg, daß sie öfter in Gefahr kam, seine Spur zu verlieren. Aber sie hielt ihn fest. Nur als er im Strand die merkwürdigsten Manövers begann, bald stehen blieb, bald vorwärts schoß, bald scheu um sich sah, durch Wagengedränge auf die andere Seite flüchtete, dann wieder herüber u. s. w., wurde es ihr peinlich Angst um’s Herz, theils vor Entdeckung ihres Planes, theils vor dem Geschäft ihres Mannes. Ein dunkeles, aber sicheres Gefühl sagte ihr, daß ihr Mann kein respectables Geschäft treiben könne.

Endlich schoß er rasch in eine der engen, zum Theil verrufenen Nebenstraßen, die vom Strand nach der Themse und in die „Adelphi-Bogen“ hinunterführen, und verschwand mit einem unheimlichen Sprunge durch die offene Thür eines kleinen schmutzigen Hauses, die sich plötzlich hinter ihm schloß, wie in einem Intriguen-Lustspiel auf dem Theater.

Laura, heiß und aufgeregt von physischer und moralischer Bewegung, von Neugier und Angst, daß sie in ihrer demüthigenden Situation entdeckt werden könnte, fühlte in ihren zitternden Knieen und Pulsen eine Anwandlung von Ohnmacht. Sie hielt sich an einer Säule fest und stand da in dumpfer Betäubung, unschlüssig, beinahe unbewußt, bis nach einer Viertelstunde die Thür sich wieder öffnete und drei Figuren langsam und feierlich heraustraten. In dem Einen erkannte sie sofort, obwohl in Lumpen, den Aristokraten Fortescue wieder. Den Zweiten hatte sie nie gesehen. Diese Zwei führten und trugen in der Mitte einen elenden blinden und lahmen Bettler in Lumpen. Die Arme hingen ihm wie abgestorben herunter. Die Beine waren in dicke Lumpen gewickelt und schleppten sich jämmerlich unter dem Körper hin. Sein blasses Gesicht war entstellt, die blinden Augen zwinkerten jämmerlich in die Luft, um einen Strahl Lichtes zu erhaschen. Die blinden Augen zwinkerten – Laura schnappte nach Athem, ihr Hirn schien sich zu drehen. Sie wandte sich mit einem Schrei ab und schloß die Augen. Die zwinkernden Augen des blinden und lahmen Bettlern ließen keine Spur von Zweifel mehr zu. Diese Gewohnheit, Blindheit zu heucheln, war zu individuell und eigenthümlich. Mr. Thomson’s Geschäft gehörte zu den in London sehr mannichfaltigen: durch täuschend erkünstelte, auffallende, Schrecken und Mitleiden erregende Gebrechen Geld zu machen. Mr. Thomson war ein berühmter Kunst-Bettler.