Aus einem Schreiben eines Reisenden. Schwäbisch-Gmünd, am 20. Jun. 1784
Sie wissen schon, daß man hier allerley sehen kann, und daher waren wir auch, der Hize und Ermüdung ohngeachtet, nicht zu faul, uns ein wenig umzusehen. Man pries uns zuerst die Kirchen, und da fanden wir die alte Johannis-Kirche, die vielleicht noch von der Hohenstaufischen Kayser-Zeit her stehen mag, um ihrer anticken Physiognomie, und die Dominicaner-Kirche um ihrer modernen Schönheit willen, zu der auch Guibal mit einem treflichen Altarblat das Seine beygetragen hat, sehenswürdig. Man führte uns in den Stahlischen Garten vor dem Thor, und dieser ist schön und kostbar genug für einen Privatmann; aber die Kunst hat hier auf einem kleinen Plaz so viele Raritäten zusammen gehäuft, daß man nicht hineingehen muß, um sich zu erhohlen. [28] Sie verstehen mich, ich sehe nicht gern zu viele Kunstwerke in einem Garten, wo die Natur nicht auf bequemen Ruhepläzen dem Spaziergänger ihre einfachere Schönheiten dazwischen anbietet. Uebrigens hat jeder seinen Geschmack für sich, und wer will, und Geld hat, kann Gärten in die Luft bauen. Hier ist ein prächtiges Haus, mit angenehmen Sälen und Zimmern, mit kostbarem Hausgeräthe, in antickem Geschmack, und die Vergoldung ist nirgend gespart. Hier sind springende Wasser, die gesehen werden dürfen, Labyrinthe, eine Menge ausländischer Gewächse, und fast der ganze heidnische Himmel in holen Thonbildern, die aber freylich ihren Olymp nicht mehr beherrschen, sondern jeder auf seinem angewiesenen Posten, nur Wache halten müssen. Auch zwey Musenberge mit kleinen Tempeln, zu denen man in schneckenförmigen Rosengängen aufsteigt. Wir wandelten die steile Bahn auch, fanden aber für diesmal weder Apoll noch Musen zu Haus; auch hatten sie nichts zurückgelassen, als ein Paar köllnische Tabackspfeifen. Der Gärtner wußte auch wenig von der lezten Academie auf diesen [29] Parnassen zu erzählen; aber wie von ohngefähr sprach er von der neuen deutschen Schule. Wir fragten ihn weiter aus, und erfuhren, daß hier eine deutsche Schule wäre, wo die Kinder gar vielerley lernten, und ihres gleichen nicht viele wären. Er sezte auch hinzu, daß man frey hineingehen, und alles mit ansehen und anhören dürfte.
Dies reizte uns, die Musentempel schnell zu verlassen, und die Schule aufzusuchen; und Sie sollen mirs, hoff ich, Dank wissen, daß ich Sie nun auch hineinführe.
Stellen Sie Sich einen ganz hübschen, massiven Bau vor, in der Gegend des Spitals, der vor sich einen ziemlich freyen Plaz hat, welches so wohl zur Helle als zum Auslüften der Zimmer nicht unwichtig ist. Daß das Haus nicht klein seyn könne, vermuthen Sie, wenn ich Ihnen sage, daß es unten Behältnisse für Züchtlinge enthält, und ausser einer Anzahl Waisenkinder so wohl den Aufseher derselben, als den Director der ganzen Anstalt herberget, und doch kein Mangel [30] an Raum für die verschiedenen Abtheilungen der Schüler wahrgenommen wird. Eine wohl erleuchtete Haupt-Treppe führet in jedem Stockwerk zu einem Gang, der so lang ist, als das Haus, und von diesem tritt man in die Zimmer. Diese sind hoch, sehr hell, und haben ein liebliches Ansehen, weil die getünchten Seitenwände ringsherum mit schönem Grün angestrichen sind. Seitdem ich Sie gesehen habe, wünschte ich, daß alle Schulzimmer diese Farbe trügen, indem sie doch gewiß diejenige ist, die dem Auge am besten behagt, und dieser Anstrich neben dem ökonomischen Vortheil, den er gewährt, auch die Schule zu einem Siz des Vergnügens machen hilft, wie es billig seyn soll. Sie finden hier eine Elementar-Klasse, eine Buchstabier-Klasse, zwey niedere und eine höhere Lese-Klasse, eine Sing-Klasse, eine Zeichnungs-Klasse, jede in einem besondern Zimmer. In jedem dieser Klassen-Zimmer stehet ein erhabener Lehrstuhl, der hinter sich eine schwarze Tafel an der Wand hat, so daß der Lehrer unverzüglich dies und jenes anschreiben oder zeichnen kann. Keine Tische, sondern an deren Statt [31] lauter lange Pulte, nach Art der Kirchenstühle für das Weibsvolk in unsern Kirchen, alle so hinter einander gestellt, daß der Lehrer alle Schüler, sie ihn ins Gesicht fassen können. Auf den Pulten sind in nicht zu weiten Distanzen Tinten- und Streusand-Gefäße, nebst Blechen, die Federn darein zu legen, angebracht. Wie viel hat eine solche Einrichtung vorzügliches vor der gewöhnlichen in unsern Schulen! Wo Schultische mit Bänken rings herum sind, nehmen sie viel Raum ein, und sind doch unbequem. Ein Theil der Schüler muß nothwendig mit dem Rücken gegen den Lehrer gekehrt sizen. Dies hindert beyde in der gehörigen Aufmerksamkeit, die sie auf einander tragen sollen, und fördert die muthwilligen Einverständnisse der Schüler bald über, bald unter dem Tisch. Hüte und Kappen, Bücher, Papiere und Schreibwerkzeuge liegen unter einander, will oder soll man schreiben, so muß erst aufgeräumt werden, und doch mangelts oft an Raum, oft werden Tintenfässer umgestossen, und Tische, Kleider und Bücher beschmuzt, welches alles bey jenen Subsellien theils nicht wohl möglich ist, [32] theils leichter vermieden wird. Ueberdies können die Kinder auf ihren Pläzen abwechselnd sizen und stehen, ohne Unordnung dadurch zu machen, welches theils der Gesundheit viel zuträglicher, theils überhaupt vergnüglicher ist. Soll eines oder das andere aus seiner Reihe tretten, so geschiehet es leichter, als wo man erst Tische und Bänke übersteigen muß. Doch ich weiß wohl, daß etwas gut seyn kann, ohne daß man es sogleich überall nachahmen kann und darf. Ich fahre mit ihrer Erlaubnis in meiner Beschreibung fort. Die Wände hängen alle voll Landcharten, Tafeln, mit calligraphischen Vorschriften, Tabellen mit Regeln, Z. E. der Rechtschreibung, um sie den Schülern mehr einzuprägen. Auch lesen Sie hier die Gesetze, welche den kleinen Staat verpflichten, und der Schüler Verhalten a. in der Schule, b. zu Haus, c. in der Kirche, d. auf den Strasen reguliren.
Doch Sie werden sagen: das mag alles gut seyn, wie wird aber gelehrt? Da ich nur einen Brief schreibe, so kann ich nicht weitläuftig seyn; [33] ich will aber doch einigermaßen Ihre Zufriedenheit zu verdienen suchen. Das meiste kommt auf das Zusammen unterrichten, die Anwendung der Fragmethode und das Tabellisiren an.
Die ganze Klasse wird mit einerley Lehrgegenstand beschäftigt. Ohren, Augen und Denkkraft werden immer gespannt. Es versteht sich, daß, wenn eine ganze Klasse zusammen list, oder antwortet, es ein wenig laut hergeht, und daß, wenn dieses ohne Ende bis zum Schluß der Lehrzeit fortgienge, nur Papagayen gezogen werden, oder unter den lauten Antworten der Vorsprecher die Trägen und Ungeschickten unbemerkt und dahinten bleiben müßten. Aber man weiß sich hier zu helfen. Der Lehrer schlägt etlichemal mit einem Schlüssel oder so einem ähnlichen schallenden Ding auf den Pult, und augenblicklich horcht alles. Nun läßt er bald 3. und 4. bald nur eines besonders lesen und antworten, ohne damit eine gewisse Ordnung zu halten. Dies mäsigt den lauten Gang des Stroms, bringt Abwechslung ins Ganze, erhält alle in der Aufmerksamkeit [34] durch die Furcht, auf dem Nichtdenken ertappt zu werden, und macht den Lehrer, wenn er es nicht schon vorhin wäre, mit der Fähigkeit und der Anstrengung eines jeden seiner Untergebenen bekannt. Sie werden vielleicht sagen: das Geschrey gefiel mir doch nicht. Gut. Es kommt ja dabey nur auf die Geschicklichkeit und die Willkühr des Lehrers an. Er kann wenig schreyen lassen, und doch so viel ausrichten, als einer, der viel schreyen läßt. Aber mich däucht doch, es nüze etwas, wenn es in der Schule etwas laut hergeht. Das Kinderalter hat überhaupt Geschmack an der Lebhaftigkeit, und so gut, als die Versinnlichung der Lehrgegenstände als nüzlich und eindrücklich für die Augen und durch dieselbe für Verstand und Herz anerkannt wird, eben so gut dürfte auch ein verstärkter Schall in den Ohren den Eindruck vermehren, den man hervorbringen will. Man kann hierinn zu viel thun; aber vielleicht auch zu wenig. Doch ich komme schon wieder ins Dogmatisiren.
[35] Die Fragmethode hilft, freylich nur wenn sie geschickt angewendet wird, dem Gedächtnis und Verstand der Kinder nach. Was sie merken und begreifen sollen, wird in allerley Fragen und Antworten zerschnitten, und daß dieses gut sey, davon ist doch wohl die Frage nicht mehr. Käme hiebey dem Lehrer ein wenig socratische Weisheit zu Hülfe: wie viel mehr könnte er seinen Zöglingen eintrichtern: Doch gewiß, wenns hiebey auch ohne allen Zauber, ich meine, nur buchstäblich hergeht, so muß es gewiß seinen Nuzen haben.
Dem Gedächtnis sucht man auch dadurch zu Hülfe zu kommen, daß man allerley an die Tafel anschreibt, Z. E. izt einen ganzen Spruch. Ist er etlichemal gelesen, so läßt man nur die Anfangsbuchstaben eines jeden Worts stehen, bis man endlich auch diese auswischen darf. Ein andermal schreibt man etwas geschichtsmäßiges oder wissenschaftliches an, und sezt die Begriffe unter einander, wie sie entweder ihrer Natur nach zusammenhängen, oder wie sie die Kunst an einander [36] reihen will. Und das ist gewiß auch etwas hübsches, wenn der Lehrer die Sache, das Bedürfnis der Kleinen und das Wie? einigermasen versteht.
Auf diese Weise werden nicht nur die Kleinen von der richtigen Buchstabenkenntnis bis zum fertigen und verstandsmäsigen, articulirten und dem Inhalt der Stellen angemessenen Lesen geführt, sondern sie lernen auch Religion, Geographie, Naturgeschichte, Menschengeschichte, Rechnen, Schön- und Rechtschreiben, die Singkunst und das Zeichnen.
Das A B C wird in der untersten Klasse, freylich mechanisch, aber gut mechanisch, gelehrt, die Buchstaben demonstrirt, und aus einander hergeleitet, so wie es Ihnen vermuthlich schon bekannt ist, und dies auch an einer Tafel, um welche Lehrer und Kinder herstehen.
Die Singklasse wird dem kirchlichen Gesang aufhelfen, so wie die Zeichnungsklasse für die 400. Goldschmiede, die hier in Schwäbisch Gmünd seyn sollen, oder vielmehr für ihre Söhne [37] und Lehrlinge gewiß von großer Brauchbarkeit ist. So wie die ganze Anstalt, so wird auch diese Zeichnungs-Klasse zuweilen visitirt, und alsdann nach dem Leben, oder nach einem Gemälde oder Modell gezeichnet, die zwey besten Stücke unter Glas in Ramen mit dem Namen der jungen Künstler im Zimmer aufgestellt, um dieses zu zieren, und Nacheifer zu erwecken. Was die öffentlichen Lehrbücher anbetrift, die bey der ganzen Anstalt gebraucht werden, so habe ich zwar deren etliche gekauft; da ich aber hierüber nicht gerne voreilig urtheile, auch nicht einmal weiß, ob ich meine Materie so weit ausspinnen dürfte, ohne Ihnen zu mißfallen, so will ich davon lieber nichts sagen.
Wie ist die Schulzucht und die Schulstrafen? höre ich Sie noch fragen. Und darauf kann ich mit Ueberzeugung (versteht sich, wenn sich Gegenbeweise fänden, mit irrender Ueberzeugung) sagen, daß man philantropisirt. Wir sahen wenigstens viele heitere Kinder-Gesichter, die Lehrer versicherten, daß die Behandlung liberal wäre, und [38] unsre Bemerkungen standen damit nicht im Widerspruch. Da wir bis zu Ende der Schul-Zeit blieben, so sahen wir, wie sich viele Kinder wetteifernd herzu drängten, ihrem Lehrer, der sie bis zur Treppe führen, und dort Acht geben mußte, ob sie ohne Muthwillen sich hinab begäben, die Hand zu küssen.
Der geistliche Herr, so nennen sie den Rector der Schulanstalt, P. Kratzer, noch ein junger Mann, und der Waisen-Aufseher, zugleich Lehrer der dritten Klasse, von unten an zu rechnen, Namens Schedel, scheinen ihren Posten zu lieben, und machen der Anstalt Ehre. Der erstere wurde in Dillingen gebildet, und ist tolerant genug, Weisens Kinderfreund und andre Schul- und Kinderschriften, die Protestanten zu Vätern haben, in seiner Büchersammlung aufzustellen. Der andre ist ein Bruder des Officiers, der den bayrischen Hiesel gefangen zu nehmen Muth genug hatte. Der eine hat also von der Vorsehung den Beruf erhalten, gefährliche Menschen aus dem Weg räumen zu helfen, der andre, sie zu bilden, ehe sie es werden.
[39] Sie werden nun auch, wie ich, gern wissen wollen, wie und durch wen diese Anstalt zu Stand gekommen? Sie ist ursprünglich ein Werk des Churfürsten von Trier, als Bischofs von Augspurg, und seines dortigen Ordinariats. Die Normalschule zu Dillingen ist die Mutter der Gmünder Schule, und die dortigen Schulbücher werden auch hier gebraucht; einige sind von der hiesigen Anstalt selbst verlegt, und dienen, etwas zu ihrem Fond beyzutragen. Der Magistrat hat aber auch recht löblichen Eifer in der Sache bezeigt, und Vorurtheile und Hindernisse, die hier, und zumal in einer kleinen Republick, wo jeder Bürger auch mitstimmen will, glücklich besiegt. Jede Haushaltung in der Stadt und auf dem Land gibt jährlich nicht mehr als 12. Kreuzer zur Unterhaltung der Anstalt, ohne Rücksicht, ob sie eines, mehr oder gar kein Kind habe; für jedes Kind, das Unterricht hier genießt, wird durchs ganze Jahr an Schulgeld auch nicht mehr bezahlt. Man hätte vielleicht noch wohlfeiler zum Zweck kommen können, wenn sich die Klöster [40] hätten gefallen lassen wollen, einen Beytrag dazu abzugeben. Es sind deren hier fünfe in der Stadt, und das Frauenkloster Gotteszell vor dem Thor, hätte einen Theil seiner beträchtlichen Zehenden hier vortreflich auf moralische Renten anlegen können, ohne sich wehe zu thun, und wären denn die Kirchengüter dadurch entheiligt worden? Allein – es war nicht ganz thunlich. Und Sie gönnen mit mir diesen Frauen, und allen Frauen vom Orden des H. Franziscus, und allen geistlichen Herren, die die Gmünder Mauren einschliesen, vom seraphischen Orden mit und ohne Kapuz, vom Orden des H. Augustins und Dominicks ihr bischen Leben herzlich, wenn sie nur auch die Schulherren mit und neben sich leben lassen.
Anmerkungen Wikisource
Zu dem Bericht und der Normalschule: Klaus Graf: Ein Bericht über die Normalschule der Reichsstadt Schwäbisch Gmünd (1784). In: Archivalia vom 24. Oktober 2023.