Aus einem russischen Gerichtssaal

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Textdaten
Autor: Dr. O. M.
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Titel: Aus einem russischen Gerichtssaal.
Untertitel: Volksblatt. Eine Wochenzeitschrift mit Bildern. Jahrgang 1878, Nr. 17, S. 134–135
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Herausgeber: Dr. Christlieb Gotthold Hottinger
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Dr. Hottinger’s Volksblatt
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Erscheinungsort: Straßburg
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Quelle: Scan auf Commons
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Aus einem russischen Gerichtssaal.


Am 12. März dieses Jahres hatte sich in dem Schwurgerichtssaale zu Sankt-Petersburg eine zahlreiche Zuhörerschaft versammelt. Auf den Treppen standen die Leute, und selbst auf der Straße vor dem Gebäude harrte eine aufgeregte Menge. Es fand eine merkwürdige Verhandlung statt. Wera Sassulitsch, 29 Jahre alt, unverheirathet, war angeklagt, den Stadthauptmann von Sankt-Petersburg, General-Adjutant Trepow, durch einen Pistolenschuß schwer verwundet zu haben. Die That selbst war von Anfang an klar erwiesen. Am 24. Januar war die Angeklagte in dem Empfangszimmer des General-Adjutanten erschienen und hatte demselben, als die Reihe an sie kam, eine Bittschrift überreicht. Während er las, zog sie plötzlich einen Revolver hervor und schoß ihm aus unmittelbarer Nähe eine Kugel in den Leib. Der Getroffene stürzte zusammen, die Thäterin aber ließ sich ruhig festnehmen. Sie bekannte offen, daß sie an Trepow Rache hatte nehmen wollen für eine Gewaltthat, welche er an einem gewissen Bogoljubow verübt hatte. Dieser Bogoljubow war ein wegen politischer Vergehen verurtheilter Student, der in einem Petersburger Gefängnisse seine Strafe verbüßte. Am 13. Juli v. J. war Trepow zu einer Inspection dorthin gekommen, und da er fand, daß ihn der Gefangene nicht höflich genug grüßte, ließ er ihn auspeitschen.

Die Angeklagte kannte weder den Einen noch den Anderen persönlich. Aber ihre eigenen Schicksale hatten ihr einen solchen Haß eingeflößt gegen die Willkür und Grausamkeit der russischen Polizeigewalt, daß sie Bogoljubow als ihren Leidensgefährten und Trepow wie einen gemeinschaftlichen Feind betrachtete.

Es war ein trauriger Lebenslauf, der da in öffentlicher Gerichtsverhandlung vorgeführt wurde. Wera Sassulitsch stammte aus guter Familie und hatte eine ausgezeichnete Erziehung genossen. Als sie 17 Jahre alt war und eben ihre Lehrerinnenprüfung glänzend bestanden hatte, kam sie bei der Polizei in Verdacht, an politischen Umtrieben Theil genommen zu haben. Auf diesen Verdacht hin wurde sie in′s Gefängniß gebracht und dort volle zwei Jahre in strenger Einzelhaft gehalten. Da man ihr aber gar nichts nachweisen konnte, erklärte man endlich die Untersuchung für geschlossen und ließ sie frei. Die Freude dauerte nicht lange. Kaum war sie ein Paar Tage bei ihrer Mutter, so kamen zwei Gendarmen, nahmen sie fort, wie sie ging und stand, und brachten sie in Winterskälte viele Meilen weit in das Innere von Rußland. Dort war ihr eine fremde Stadt zum Aufenthalt angewiesen, wo sie sich kümmerlich durchbrachte. Alle acht Tage hatte sie sich bei der Polizei zu melden und mußte sich zuweilen Durchsuchungen ihr Habseligkeiten gefallen lassen.

Nach etlichen Jahren brachte man sie in eine andere Stadt, dann in eine dritte und vierte; Niemand sagte ihr, warum und mit welchem Rechte. Endlich schien man vergessen zu haben; es gelang ihr nach Sankt-Petersburg zu entwischen. Sie war auf solche Art 29 Jahre alt geworden. Da erfuhr sie die Geschichte von Bogoljubow und faßte ihren verzweifelten Entschluß.

Dem Richter ist sein Amt oft schwer gemacht; das allgemeine [135] Mitleid erhob seine Stimme für die Angeschuldigte und klagte ihre Unterdrücker an, die sie so weit getrieben. Man durfte ein mildes Urtheil für sie erwarten. Die Geschworenen gingen aber noch weiter und sprachen sie gänzlich frei. Unermeßlicher Jubel begrüßte draußen die Befreite; das Volk umringte stürmisch den Wagen, in welchem sie nach Hause fuhr; die Polizei schritt ein; es gab Todte und Verwundete.

Seitdem ist Fräulein Sassulitsch verschwunden; die Einen sagen, die Polizei habe sie trotz der Freisprechung wieder festgenommen und bei Seite gebracht; die Anderen meinen, sie hätte so etwas gefürchtet und sich vorsichtig in die Verborgenheit zurückgezogen.

Nach Recht und Gesetz durfte die Sassulitsch nicht freigesprochen werden. Aber wo die Beamten des Staates selbst Gewalt und Willkür üben, bringen sie schließlich auch das Rechtsgefühl der Bürger in Verwirrung und verursachen dadurch großen Schaden.

Dr. O. M.