Ausgeglichen

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Autor: Ernst Muellenbach
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Titel: Ausgeglichen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 13, 14, S. 414–418, 440–450
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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[414]

Ausgeglichen.

Novelle von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach).

Frau Marie Swarteborn saß in ihrem Wohnzimmer vor dem festlich geschmückten Frühstückstisch. Sie hielt eine schön gehäkelte Schlummerrolle in den Händen und strich mit den rundlichen Fingern sanft über die bunten, weichen Fäden. „Ich danke dir, Kind, daß du den Geburtstag deiner armen Mutter nicht vergessen hast,“ sagte sie zu ihrer Tochter. Dann legte sie das Geschenk hin, suchte ihr Taschentuch hervor, um sich damit über die Augen zu fahren, und fuhr in weinerlichem Tone fort: „Ich werde zwar wenig Freude an ihr haben, denn du sollst sehen, heute bekomme ich meine Kopfschmerzen nach Tisch wieder, und dann jeden Tag, wer weiß wie lange – wie jedesmal im Frühling; und sie sind immer am stärksten, wenn ich mit dem Nacken auf etwas Gehäkeltem liege. Ich bin eben eine unglückliche Frau; wenn mir einmal einer eine Freude machen will, geht es immer schief, und selbst an meinem Geburtstag fängt der Aerger gleich frühmorgens an. Die Milch ist sauer geworden, und die Brötchen sind alle angebrannt, da sieh nur! Nimm die Rolle nur weg, Gertrud, sonst kommt gewiß ein Butterfleck darauf.“

Das Mädchen erfüllte schweigend den Befehl. Es war an diese Aufnahme seiner Geschenke gewöhnt. Es wußte stets im voraus genau, was die Mutter sich zu Weihnachten und zum Geburtstag wünschte, und es wußte ebenso genau, daß sie das Gewünschte nur mit Klagen und Seufzen annehmen und als eine Bereicherung ihrer Leiden betrachten werde. Diese Aufnahme entsprang nicht etwa aus irgend einem mütterlichen Groll. Gertrud hatte sich nie etwas gegen die Mutter zu schulden kommen lassen, und Frau Marie war in ihrer Weise stets liebevoll und dankbar gegen sie; auch würde sie es noch viel schmerzlicher beklagt haben, wenn das Geschenk der Tochter einmal ausgeblieben oder anders ausgefallen wäre, als sie es sich bestellt hatte. Beklagen aber mußte sie es auf jeden Fall; denn das war ihr unerläßlich zum Leben. Seufzer und Klagen waren das Echo, mit dem ihre Seele wie eine Aeolsharfe auf jeden Hauch antwortete.

Eine solche Vollendung in der Trauerseligkeit erwirbt man sich erst allmählich, wie jede Virtuosität. Als Herr Swarteborn um seine Liebste freite, trug ihr Wesen nur erst einen sanften Hauch von Schwermut, der den Liebreiz des hübschen Mädchens noch erhöhte – wenigstens in den Augen des Liebhabers. In dem stillen Klima einer gesicherten, von wirklichen Sorgen ungetrübten Häuslichkeit hatte sich der Nebelhauch dann nach und nach zu einem dauerhaften Landregen verdichtet. Etwas Selbstgerechtigkeit war wohl auch dabei. Frau Marie war eine gute Hausfrau, sie war so sehr Hausfrau, daß sie sich in ihrem wohlgeordneten häuslichen Kleinstaat allmählich gegen die Außenwelt ab- und einspann wie eine fleißige Spinne, und so empfand sie es als ein unverdientes Unglück, wenn doch einmal ein Fädchen riß, bis sie zuletzt zu der Ueberzeugung kam, daß sie nun einmal bestimmt sei, unverdient zu leiden.

Die Beweise für diese Ueberzeugung suchte sie sich, auch in diesem Punkte ganz die ordnungsliebende und emsige Hausfrau, unermüdlich und mit einem gewissen Behagen zusammen; wenn es ihr einmal glückte, an einem Tage eine ganze Summe verdrießlicher Zwischenfälle und kleiner Mißgeschicke zu erleben, dergleichen eine heitere Frau mit einem Scherz oder einem Liebesgedanken übergeht, so fühlte sie sich fast so wohlig, wie wenn sie am letzten Tage eines großen Hausputzens todmüde und im doppelten Sinne „fertig“ durch ihre Wohnung wandelte. Der Gatte ergab sich in ihr Wesen, nach mehreren ungeschickten Versuchen, es zu ändern; er fuhr fort, mit der vielen Männern eigenen Eitelkeit, seine Frau vor anderen und zumal vor unverheirateten jüngeren Freunden als Vorbild eines wahrhaft häuslichen Weibes zu preisen, und suchte für die edlere Geselligkeit, die sie ihm versagte, Ersatz in ruheloser kaufmännischer Arbeit. Er rechnete und spekulierte, bald gut, bald schlecht; als ihn, noch in besten Jahren, ein schneller Tod am Schreibtisch überraschte, hinterließ er immerhin genug, daß seine Witwe und sein einziges Kind davon anständig und sorgenfrei leben konnten.

Seitdem waren fünfzehn Jahre verflossen. Gertrud hatte sich in dieser Frist zu einem schönen, großen Mädchen entwickelt, und Frau Marie hatte unablässig an ihrem grauen Gespinst weitergesponnen, sie empfand sich vollkommen als Märtyrerin. Sie gedieh aber dabei zu einer behäbigen Rundung, da sie sich und ihren Hausgenossen nichts abgehen ließ. Lange hielt es gleichwohl keiner bei ihr aus; ihre Dienstboten wechselten wie die Gäste in einer Bahnhofwirtschaft, ihre Freundinnen hatten sich mehr und mehr von ihr zurückgezogen, da es keiner erträglich schien, auf die Dauer mit einer Frau zu verkehren, die sämtliches Hausfrauenelend für sich beanspruchte und teilnahmesuchende Klagen stets mit einem „Ach, wenn Sie erst an meiner Stelle wären“ – ablehnte. Auch die Mieter, für welche Frau Marie einige hübsch ausgestattete Zimmer zu billigem Preise offen hielt, blieben selten lange, denn die schönste Gegend wird unleidlich, wenn es in ihr immer regnet, und es gab unter ihnen einige – besonders jüngere Herren – die das kühle, zurückhaltende Benehmen der schönen Tochter mit dem Groll enttäuschter Eitelkeit nur für einen Vorzustand der mütterlichen Trauerseligkeit nahmen und ihren Bekannten versicherten: „Passen Sie auf, die wird gerade so!“

Weit besser gefiel diesen Menschenkennern eine Freundin der Haustochter, ein Fräulein Siebold, das am meisten von allen früheren Schulschwestern Gertruds in dem Swartebornschen Hause verkehrte. Diese junge Dame war stets geneigt, etwas länger zu bleiben, wenn sie bei ihren Besuchen mit einem neuen Mietsherrn zusammentraf; sie lehnte auch eine im Hinblick auf die abendliche [415] Unsicherheit der Straßen angebotene Begleitung nach Hause niemals ab und nahm jedes galante Gespräch an, mit einer gewissen Schüchternheit, die aber schlecht eingeübt war und deshalb nie recht klappte; es kam vor, daß sie manchmal eine gewagte Schmeichelei selbstgefällig und freundlich anhörte, aber gleich darauf das unverfänglichste Wort mit einem „Aber nein, mein Herr, ich muß doch bitten –“ entrüstet abwies. Wie alle von Haus aus harmlosen und kindgebliebenen Menschen besaß sie einen starken Hang zu Süßigkeiten und Näschereien, sie konnte ganze Teller von Frau Swarteborns berühmtem Eingemachten auslöffeln, während sie mit großer Geduld die Klagen der gastfreien Dulderin anhörte und nur zuweilen mit einem mitleidig gläubigen „Kolossal!“ unterbrach. Dies war ihr Lieblingswort; es stand in einem wunderlichen Gegensatz zu ihrer Erscheinung, denn sie war, was man in manchen Gegenden ein Pusselchen nennt, eine kleine Blondine mit roten Pausbacken, runden Aermchen und kurzen dicken Fingerchen; dazu kleidete sie sich mit Vorliebe in majestätische Farben, tiefrot oder purpurn, wodurch das Wulstige ihrer Gestalt noch mehr hervortrat. Uebrigens war sie die einzige Tochter eines alten Freundes von Gertruds Vater, eines höheren Postbeamten, und hieß mit Vornamen Therese, nannte sich aber Thea, weil sie das romantischer fand; „und für das Romantische bin ich kolossal,“ pflegte sie zu versichern.

Zu der ruhigen, überlegenden Art Gertruds paßte Thea keineswegs, auch war ihr Verkehr eben nur eine Fortsetzung der Schulkameradschaft, des gemeinsamen Schulwegs, zusammen verfertigter Aufsätze und wechselnder Kinderbesuche von Haus zu Haus. Dergleichen wächst sich leicht zu einem Umgange aus, der unter dem Namen und gewissen zärtlichen Formen der Freundschaft das Ende der Schul- und Pensionatszeit jahrelang überdauert, zumal wenn die eine der beiden „Freundinnen“ leiblich und geistig der andern weit genug nachsteht, um in keinem Punkte ihre Eifersucht zu wecken. Wenn Gertruds Vorstellungen von einer wahren Freundschaft über diese Art Umgang hinausgingen, so sagte sie Thea jedenfalls nichts davon; sie nahm die Besuche Theas freundlich auf, erwiderte sie, wenn auch seltener, hörte ihre „romantischen“ Schwärmereien und Einfälle an, widersprach ihnen und grämte sich nicht viel, wenn Thea sich nicht an den Widerspruch kehrte. Neuerdings hatte sie sich aber durch Theas Bitten zu einer Hilfeleistung verleiten lassen, die ihr arge Gewissensbisse machte.

Das romantische Fräulein hatte ihr eines Tages gebeichtet, daß es mit einem Herrn in schöngeistigem Briefwechsel stehe, und zwar, was die Sache noch romantischer machte, ohne daß die beiden briefwechselnden Schöngeister einander auch nur mit dem Namen kannten. Der Unbekannte hatte sich durch eine Zeitungsanzeige unter wehmütigem Hinweis auf seine Sehnsucht nach poetischem Gedankenaustausch mit einem edlen weiblichen Wesen und auf seinen Mangel an Damenbekanntschaft bereit erklärt, mit einem idealstrebenden Fräulein in Briefwechsel zu treten. Thea Siebold hatte darauf nach der in dem Gesuch angegebenen Handelsstadt unter der gleichfalls angegebenen Aufschrift „Marquis Posa 713 postlagernd“ einen ersten Brief gesandt, den sie mit „Psyche 111 postlagernd“ unterzeichnete. Der durchaus romantische Stil der „postlagernden Psyche“ schien dem neuen Marquis Posa zu gefallen, er erwiderte darauf mit einem Briefe, in dem eine Menge poetischer Lesefrüchte auf einer ganz für Theas Geschmack geschaffenen Brühe von weltschmerzlichem Selbstlob und billigen Schmeicheleien schwamm, und so hatte sich der zierliche Gedankenaustausch drei- oder viermal wiederholt. Nun aber war für Thea ein sehr betrübender Zwischenfall eingetreten: die Putzfrau, von der sie bisher – aus Angst vor der postalischen Wachsamkeit ihres Vaters – die Briefaufschriften besorgen und die postlagernden Ansichten des „Marquis Posa“ abholen ließ, war aus dem Ort verzogen, und dies gerade zu einer Zeit, wo Thea einen unvergleichlichen Brief fertig hatte und einen ähnlichen Herzenserguß ihres „Marquis“ erwartete. In dieser Not wandte sie sich an Gertrud, um dieser die Geschichte zu beichten und sie zu bitten, daß sie einstweilen die Rolle der Putzfrau übernehme.

Gertrud erschrak doch, als sie von dieser neuesten romantischen Dummheit ihrer Freundin hörte; sie sagte ihr sehr deutlich ihre Ansicht und weigerte sich entschieden. Thea war sehr zerknirscht, bat immer kläglicher und versicherte zuletzt, im Vertrauen auf Gertruds Unkenntnis der Postbestimmungen, der nicht sogleich abgeholte Brief des „Marquis“ werde ihrem Vater zum Durchlesen gegeben werden, der an gewissen Anspielungen die Adressatin erkennen müsse. Sie habe ohnedies jetzt so viel von ihrem Vater zu leiden, da er sie durchaus mit einem seiner jungen Beamten verlobt sehen wolle. Auf die Erörterung dieser neuen Herzensangelegenheit ließ sich Gertrud nicht ein, in der Hauptsache gab sie schließlich nach, nachdem ihr Thea versprochen hatte, in einer Nachschrift den Briefwechsel aufzukündigen und Zurücksendung der Briefe zu fordern.

Für Thea war die Angelegenheit damit nach Wunsch erledigt, sie umarmte Gertrud stürmisch, trocknete ihre Thränen und machte sich alsbald auf, um noch eine andere Freundin zu besuchen, in deren Hause ein sehr interessanter Vetter, ein Maler aus München, auf der Durchreise eingekehrt sei. Gertrud aber wandelte die nächsten Tage mit dem lähmenden Unbehagen umher, welches das Bewußtsein einer unerledigten lästigen Verpflichtung auferlegt.

Als sie zum erstenmal – gegen Abend – an den Schalter trat, über dem die Inschrift „Postlagernd“ prangte, erschrak sie über die Menge von Nachfragenden; es war ihr, als ob sie plötzlich auf einer Anklagebank neben allerlei anderen Verbrechern säße; als dann die Reihe an sie kam und der alte Beamte hinter dem Schalter sie wirklich mit einer Art Untersuchungsrichterblick fragend anstarrte, brachte sie ihr „Psyche 111“ so undeutlich hervor, daß der Alte nur mit einem ungeduldigen „Wie?“ antwortete. Sie errötete sehr, als sie das alberne Merkwort lauter wiederholte und dabei die Augen eines jüngeren schwarzbärtigen Herrn, der im Innern des Zimmers arbeitete, neugierig auf sich gerichtet sah. Zu allem Unglück war auch gar nichts für Psyche da.

Gertrud hätte am liebsten das Postgebäude niemals wieder betreten. Aber Thea drängte und bat, und so wagte sie sich am Geburtstag der Mutter nochmals hin, diesmal vormittags, da Thea sie belehrt hatte, daß es um diese Zeit vor den Schaltern nicht so voll sei. Sie war auch wirklich die einzige in dem langgestreckten Warteraum; dafür folgten ihr jetzt hinter allen Schaltern her neugierige Blicke der Beamten, und unter der Aufschrift „Postlagernd“ saß diesmal jener junge dunkelbärtige Sekretär, der sie das vorige Mal so prüfend betrachtet hatte. Er war weniger schwerhörig als der Alte und erwiderte sehr höflich: „Bedauere sehr, mein Fräulein!“ Dabei aber sah er ihr wieder mit einem so seltsamen Ausdruck, zugleich bewundernd und verwundert, in das errötende Gesicht – sie hätte nun doch viel lieber den alten Mürrischen mit seinem geschäftsmäßig kurzen „Nichts da!“ vor sich gehabt. Sogleich nahm sie sich vor, am Nachmittag Thea aufzusuchen und ihr den lästigen Freundschaftsdienst zu kündigen. Als sie aber zur üblichen Theebesuchszeit diesen Vorsatz ausführte, hörte sie, daß Thea auf ein paar Wochen aufs Land verreist sei, zu einem weizenbauenden Onkel, und sie mußte sich begnügen, ihr ihre Meinung in einem Briefchen zurückzulassen.

Bei der Heimkehr sah sie vor der Hausthür eine große Handkarre halten, mit mehreren Koffern und Kisten beladen, während zwei Dienstmänner eben eine schwere Bücherkiste die Vortreppe hinaufschleppten. Bei ihrem Eintritt vernahm sie von diesen, das gehöre alles dem neuen Mieter für die beiden Zimmer im ersten Stock nach dem Garten zu. Es scheine ein sehr feiner Herr zu sein; die Sachen hätten noch auf dem Bahnhof gestanden, er sei erst seit ein paar Wochen in der Stadt und habe bis jetzt im Gasthof gewohnt.

Während Fräulein Gertrud sich noch berichten ließ, kam Frau Swarteborn mit dem neuen Meter aus den Zimmern; sie schien ziemlich gut bei Mute, wie immer wenn es etwas Tüchtiges und Eiliges im Hause zu thun gab, und lächelte sogar ein wenig, als sie ihre Tochter mit dem neuen Hausgenossen bekannt machte. Gertrud aber verging das Lächeln; denn der Herr Postsekretär Hartwig Hoven, den ihr die Mutter da vorstellte, war derselbe Beamte, der sie am Vormittag so freundlich bedient hatte; und obgleich sie – vermutlich wegen des durch die geöffneten Thüren grell einfallenden Abendlichtes – die Augen wegwandte, meinte sie doch deutlich auf ihren heißen Wangen wieder den verwundert forschenden Blick zu fühlen, während Herr Hartwig Hoven sich mit einigen scherzhaften Worten äußerst höflich und ruhig wegen seines plötzlichen Einbrechens entschuldigte.


2.

Eine freundlich gelegene, schön ausgestattete Wohnung mit aufmerksamer Bedienung hatte Frau Swarteborn auf ihrem [416] Anschlagzettel verheißen, und Hartwig Hoven konnte mit der Erfüllung des Versprechens in jeder Hinsicht zufrieden sein. Die Wohnung war wirklich freundlich, sie wurde es noch mehr durch die Gunst des Frühlings, der jetzt nach den letzten Rückzugsgefechten des April als ein milder Sieger herrschte und die reinlichen, wohlausgestatteten Räume mit Sonnenschein und Fliederduft erfüllte. Und eine Bedienung hatte Hartwig Hoven, so aufmerksam, gewandt und anmutig, wie sie sich kein Fürst besser wünschen konnte. Ein Umstand, der für Frau Swarteborn freilich ein Quell schwerer Bekümmernis und endloser Klagen war, bot den Anlaß hierzu. Das Dienstmädchen hatte wieder einmal gekündigt, ein neues ließ sich trotz aller Anstrengungen von Mutter und Tochter nicht so schnell gewinnen, und so kam es, daß auf Hovens Zimmern, wenn auch meist nur in seiner Abwesenheit, ein angenehmerer Hausgeist waltete. Kein Grenadierschritt geschirrzerbrechender Mägde störte ihn in den Stunden des Ausruhens und Studierens, auch die elegische Aufmerksamkeit der Wirtin behelligte ihn nur ab und zu auf der Treppe oder im Hausflur, wo er dann die Aufzählung etlicher Posten aus ihrer Kummerrechnung höflich anhörte und sich mit einem Trostworte loskaufte. Hatte er aber einmal ein besonderes Anliegen, so erschien die schöne Haustochter, um seine Wünsche entgegenzunehmen, mit einer sanften und fast demütigen Miene, als hätte sie ihm stets etwas abzubitten.

Hartwig Hoven durfte sich dieser weiblichen Sanftmut ohne Verwunderung freuen, da er bisher ja mit Gertrud nicht näher verkehrt hatte. Frau Marie Swarteborn aber war schon längst durch ihre unablässige Selbstbetrauerung davon entwöhnt, auf den Seelenzustand ihrer Umgebung zu achten; sonst hätte ihr wenigstens die heitere Ergebung auffallen müssen, mit welcher Gertrud jetzt auch die ungerechtesten Vorwürfe hinnahm. In den ersten Tagen hatte Gertrud sich nur mit Zittern und Zagen der Mutter genähert; denn trotz aller Bemühungen war es ihr ja doch nicht möglich, zu verhindern, daß der neue Mieter mit der Hausfrau zusammentraf und vielleicht mit einer ganz harmlosen Bemerkung auf ihre heimlichen Postgänge anspielte. Alsdann aber hätte die beredteste Darlegung des unverfänglichen Sachverhalts nichts geholfen – die Mutter würde den winzigen dunklen Punkt im Betragen ihrer Tochter doch in ihre Klageliste aufgenommen haben, um ihn bei jedem Anlaß in ungeheuerer Vergrößerung wieder hervorzuheben. So oft Gertrud in diesen Tagen das Taschentuch in der mütterlichen Rechten sah und den wohlbekannten Eröffnungsseufzer vernahm, war sie auf ein peinliches Verhör gefaßt. Sie fühlte sich unendlich erleichtert, wenn dann nur eine Klage über nachträglich entdeckte Sünden der vorigen Magd oder über einen nächtlichen Straßenlärm erfolgte, oder eine mit breiter Sachkenntnis vorgetragene Betrachtung über eine drohende Gesundheitsstörung, die sich zweifellos hinter dem Ausbleiben der sonst üblichen Frühlingskopfschmerzen verberge. Herr Hoven hatte also noch nichts von ihrem ersten Zusammentreffen verraten! Während der ersten Tage hielt sie es für Zufall, jedesmal, wenn sie ihm begegnete, war sie fest entschlossen, ihn zu bitten, daß er auch ferner darüber schweige, aber sie fand das erste Wort nicht und es blieb stets bei dem einleitenden Erröten. Da er aber auch ihr gegenüber nie auf die Begegnung am Postschalter anspielte, so fing sie allmählich an, sein Schweigen auf Rechnung einer rücksichtsvollen Ritterlichkeit zu setzen, und ihre Angst vor dem gefährlichen Mitwisser verwandelte sich in eine wunderliche Neugier, was er wohl von der Sache denke.

Jedenfalls fühlte sie sich ihm zu Dank verpflichtet, und für ihr einfaches und gesundes Empfinden war dieses Gefühl gleichbedeutend mit dem Bestreben, den Dank auch zu bezeigen. Bescheiden danken ist eine weibliche Kunst, oder vielmehr die weibliche Natur versteht es von selbst besser, als alle männliche Philosophie es lehren mag: sie beschränkt ihre dankbare Fürsorge nicht auf den Spender, sie läßt sie auch allem zu gute kommen, was ihm besonders wert scheint. Hartwig Hoven hatte noch nie in einem Hause gewohnt, wo er die eigensinnigen Gewohnheiten, mit denen sich jeder Mann nach seiner besonderen Weise den Wohnraum erst wohnlich macht, so folgsam beachtet fand – aber auch noch nirgendwo hatte man seine mancherlei Andenken an eine allzu früh verlorene Heimat, an Freunde und Freuden: Bilder und andere schmückende Kleinigkeiten auf dem Schreibtisch und an den Wänden, so sorgsam und sauber gehütet – vor allem seine Bücher, die in schönen Einbänden ein stattliches Doppelregal füllten und alles in allem wohl seine treuesten Gesellen waren. Kein Stäubchen auf Einband und Schnitt entging Gertruds Federbesen. Hier allein fühlte sie sich zuweilen auch versucht, eigenmächtig in die Ordnung des Eigentümers verstohlen einzugreifen; denn wie alle Frauen betrachtete sie auch die Aufstellung von Büchern vor allem nach den Regeln des Ebenmaßes, und es war ihr eine Art Augenschmerz, einen kleinen Oktavband mit goldener Aufschrift auf dem roten Rücken einsam und fern von seinen gleichgroßen und gleichgekleideten Genossen zwischen zwei dicken Riesen in braunem Lederband zu sehen, wie einen lustigen Pagen zwischen zwei Kapuzinern, bloß weil vielleicht der Inhalt irgend eine fachliche Verwandtschaft mit den braunen Nachbarn aufwies.

Ueber solchen rebellischen Gedanken traf Hartwig Hoven sie eines Tages, als er zu ungewohnter Stunde seine Wohnung betrat. Er entschuldigte sich höflich und bat sie, sich nicht stören zu lassen – er wollte nur einige Cigarren einstecken. Sehr eilig schien er es damit nicht zu haben, er kramte ziemlich lange an dem Tische hinter ihr herum, und als sie sich verstohlen umsah, saß er sogar auf dem Sofa und betrachtete sie so angelegentlich, als ob er die Cigarren völlig vergessen habe. Sie wurde rot, und um nur etwas zu sagen, bemerkte sie: „Sie haben aber viele Bücher! Wozu brauchen Sie die nur alle?“

Es war jedenfalls eine sehr dumme Bemerkung, sie fühlte das, während sie sprach, und war schon auf ein spöttisches Lachen gefaßt. Hartwig Hoven aber lächelte nur ein wenig und erwiderte, indem er sich erhob und näher trat: „Wissen Sie denn, was in den Büchern steht?“

Sie nahm sich zusammen. „Hier diese“ antwortete sie und deutete mit dem Federwedel auf das erste Regal, „handeln alle von Geographie, Staaten- und Völkerkunde, Forschungsreisen und dergleichen. Ich habe es von den Einbänden abgelesen. Sie sind aber doch kein Forschungsreisender und überhaupt kein Gelehrter von Beruf.“

„Das nicht,“ erwiderte er ungekränkt. „Aber ich gebrauche sie doch für meinen Beruf als Postbeamter; oder vielmehr für mich, um diesen Beruf, in dem ich nur ein einzelner Soldat bin, recht aufzufassen, seine Grundlagen, seine Ursache und Bestimmung, alles, was ihn fördert und hemmt, schätzen zu lernen.“

Sie sah eine Weile nachdenklich vor sich hin. „Das verstehe ich noch nicht,“ sagte sie ehrlich und erhob ihre Augen lernbegierig zu ihm.

„Nun,“ fuhr er fort, „ich will versuchen, Ihnen zu sagen, was ich meine. Sehen Sie, alle diese Bücher da, deren Inhalt Sie an den Aufschriften erkannt haben, dienen am letzten Ende doch alle dem einen Zweck, unser Wissen über die Erde und die Völker und Staaten der Erde zu erweitern. Dieses Wissen aber ist erst die Grundlage dessen, was wir den Weltverkehr nennen; oder vielmehr es steht damit in Wechselwirkung: je mehr die Völker voneinander wissen, um so geordneter und häufiger können sie miteinander verkehren, und je mehr sie friedlich miteinander verkehren, um so mehr lernen sie voneinander kennen. Und unter all den Einrichtungen, die diesem friedlichen Verkehr dienen, ist die scheinbar bescheidenste vielleicht doch auch die wichtigste: die Post! Es ist ja heute leichter und sicherer, über den Ocean zu reisen, als früher von einer Stadt zur nächsten; aber es ist doch immer nichts Leichtes. Der Mensch ist eine schwerfällige Ware. Da schickt er statt seiner das leichte Wort: er vertraut es geschrieben, gedruckt dem Papier an, oder er giebt es dem elektrischen Strom, der es im Augenblick Hunderte von Meilen weit trägt. Das alles besorgt die Post. Sie sammelt die Aufträge von all den Millionen Menschen eines großen Landes, und indem sie deren Ausführung in ihrem einen gewaltigen, bis ins kleinste geregelten Betrieb zusammenfaßt, verringert sie für den einzelnen die Kosten, während sie ihm zugleich für die Sicherheit und Unverletzlichkeit seiner Bestellung bürgt. Sie verknüpft die Völker und Länder rund um die Erde mit friedlichen Verträgen und läßt das Schreckliche des Raumes schwinden, der vordem den armen Auswanderer auf immer von den daheimgebliebenen Lieben schied; denn für wenige Pfennige trägt sie aus dem fernen Lande, über Meere und Erdteile, seine Grüße herüber, sicherer, als ein heimreisender Freund es vermöchte.“

[418] Während Hartwig Hoven so sprach, lauschte Gertrud aufmerksam, ihre Züge waren nachdenklich gespannt und ihre großen braunen Augen glänzten. Ihre bisherige Vorstellung von dem Wesen der Post hatte sich eigentlich auf die wenigen Punkte beschränkt, an denen sie mit diesem Wesen unmittelbar in Berührung kam. Die Post war für sie eine selbstverständliche Staatseinrichtung, mit einem Briefkasten am einen Ende und einem Briefträger am andern, und angenehm zu benutzen: hatte man eine geschäftliche oder freundschaftliche Bestellung in der Stadt und keine Zeit, die Sache mündlich zu erledigen, so schrieb man sie auf eine Postkarte, steckte diese in den Kasten und am selbigen, spätestens am folgenden Tage trug der Briefträger die Karte zum Empfänger. Zuweilen, besonders um Weihnachten und Neujahr, verspätete sich eine Sendung, und dann pflegte man auf die Post zu schelten. Von dem Innern dieses seltsamen Betriebes und seiner Bedeutung aber hatte sie sich nie eine Auffassung gebildet, selbst im Hauptpostgebäude ihrer Vaterstadt war sie nur selten und ungern gewesen, und ihre jüngsten Besuche dort lasteten ihr noch schwer auf dem Gewissen. Nun trat ihr aus den begeisterten Worten des jungen Beamten auf einmal ein so gewaltiges Bild entgegen, daß sie Mühe hatte, es zu erfassen. Ebenso neu aber und noch ergreifender war ihr eben dies, einen Mann so begeistert und groß von seinem Beruf reden zu hören. Denn ihr Umgang war, dank der wehleidigen Art ihrer Mutter, nicht ausgedehnt, und die jungen Männer, die sie bisher kennengelernt hatte, pflegten den Beruf mehr oder minder deutlich als eine Lebensversorgung zu betrachten oder als die Leiter zu einem, wie sie klagten, nur zu spät zu erreichenden sorgenlosen Genießen.

Da sie noch immer schwieg, lächelte Hartwig Hoven etwas verlegen und sagte in seinem gewöhnlichen Tone: „Ich fürchte, ich bin mit meinem Erklärungsversuch nur erst recht ins allgemeine gekommen und habe Sie mehr verwirrt als überzeugt.“

„O nein,“ antwortete sie lebhaft, „ich bin Ihnen sehr dankbar! Ich glaube, ich habe es verstanden und werde noch viel darüber nachdenken. – Wie glücklich Sie sind, daß Sie einen Beruf erwählen durften, der Sie so voll befriedigt! – Ich meine, darin sind die Herren überhaupt bevorzugt. Unsereins hat es selten so gut.“

Er sah sie überrascht an. „Darüber wird ja jetzt viel gedruckt und geredet,“ sagte er. „Man verlangt mehr weibliche Erwerbszweige, Zulassung der Frauen zu Berufen, die ihnen bisher verschlossen schienen – es ist viel guter Wille in diesen Bestrebungen, und sie werden gewiß auch ihr Gutes bewirken. Aber im großen und ganzen ist es doch nur eine Sache der Not, eine Forderung zu gunsten solcher, die unter dem Zwang ungesunder äußerer Verhältnisse leiden. Der Beruf des Weibes liegt nicht draußen in der Oeffentlichkeit, und es bleibt eine Verirrung, sich ohne dringende Veranlassung aus ihm nach irgend einem minder hohen Wirkungskreise zu sehnen, denn kein anderer Beruf ehrt seine Arbeiterinnen so hoch und keiner braucht sie so nötig.“

Nun lächelte sie, fast schalkhaft. „Ich würde aber doch gern auch teilnehmen an den höheren Interessen, um derentwillen die Herren so viel studieren.“

Er lachte ein wenig und steckte nun wirklich seine Cigarren ein. „Trösten Sie sich,“ sagte er, „manche Dinge lernt man auch anders als aus Büchern, und am besten ist es, wenn man sie gelernt hat, ohne es zu wissen.“ Damit schüttelte er ihr herzhaft die Hand und empfahl sich.

Es vergingen einige Tage, ehe sie wieder ihr wirtschaftliches Amt zu einer Unterhaltung mit dem jungen Beamten kommen ließ, der von seinem Berufe so hoch dachte. Vom Buchbinder waren einige frischgebundene Werke für ihn abgegeben worden und er hatte sich erlaubt, Fräulein Gertrud herbeizurufen, um ihren Rat bei der Unterbringung der Bände in Anspruch zu nehmen. „Die Bücher hier auf dem zweiten Regal,“ fragte sie dabei, „brauchen Sie doch aber nicht zu Ihrem Beruf?“

„Nein,“ erwiderte er. „Die brauche ich, um mich vor meinem Beruf zu schützen. Oder auch, wenn Sie lieber wollen, um mich für ihn stark zu erhalten. Denn ein Mensch, der für seine Arbeit keinen Sinn hat, kommt gewiß nicht weit, aber ein Mensch, der nur für seine Arbeit Sinn hat. der verkommt geistig rettungslos. Das gilt für jeden, ich glaube, sogar für die Dichter selbst gilt es, aber am meisten für uns, die wir in einem ungeheueren Getriebe als einzelne mitarbeiten. Denn was der einzelne da liefern muß, das ist an sich eben größtenteils Holzhackerarbeit und wiederholt sich von einem Tag zum andern. Der beste Teil des Geistes ist dabei nicht nötig, und er würde eindorren oder absterben wie ein Glied, das man nicht gebraucht, wenn man ihm nicht auch zuweilen sein Recht gäbe und von allem Beruf absähe, um nur dem einen zu dienen: sich selbst zu erbauen und zu bilden. Wer diesem Beruf nicht dient, dem hilft alle andere Tüchtigkeit nicht zum Glück, er versauert, wird mißmutig in sich selbst und zuletzt auch den anderen unleidlich.“

Gertrud nickte traurig. Sie mußte bei seiner Schilderung an ihre Mutter denken, und es that ihr weh, daß sie dabei an sie denken mußte. Hartwig Hoven aber war so befangen in seinen eigenen Gedanken, daß er ihre Betrübnis übersah und fröhlich fortfuhr: „Sehen Sie, solche Bücher da – das ist auch eine Post, aber freilich eine schönere als die unsere. Das sind die Briefe, die uns die großen Dichter und Denker, von Jahrtausenden her bis auf die noch mit uns lebenden, senden, und es verwehrt uns niemand, ihnen zu antworten, mit Gedanken, die sie uns erwecken, und vielleicht auch mit einem gefaßten und heiteren Herzen, das sie in uns stärken.“

Sie nickte ernst, doch nicht mehr traurig wie zuvor, dankte kurz und ging. Als er am Abend nach Hause kam, stand sie mit Thea Siebold im Gespräch unter der Thür. Das romantische Fräulein war von seiner Reise zurückgekehrt, nachdem es, laut seiner eigenen Versicherung, mehreren ländlichen Verehrern die Köpfe kolossal verdreht und sich zweimal beinahe verlobt hatte. Ueber diesen wichtigen Ereignissen, die es „nur im Vorbeigehen“ und immer „auf dem Sprunge“ mit großer Wortfülle schilderte, vergaß es fast die Freundin auszuschelten, weil sie sich den Botengängen nach der Post nicht ferner unterziehen wollte. Eben als es sich diesem Thema zuwendete, schritt Hartwig Hoven mit höflichem Gruße an ihnen vorüber.

„U je,“ flüsterte Thea, „wohnt Der jetzt bei euch’? Na, dann natürlich nicht. Das hättest du mir ja nur zu schreiben brauchen. Du, das finde ich aber kolossal! Weißt du, das ist ja gerade Der, mit dem Vater mich durchaus unter die Haube bringen möchte. Vater spricht den ganzen Tag von ihm. Ein langweiliger Mensch, viel zu ernst. Aber nun muß ich wirklich fort – es ist so schon kolossal, wie lange ich mich aufgehalten habe.“ Damit nahm sie zärtlichen Abschied und hüpfte davon, da sie auf eine interessante Begleitung diesmal nicht zu hoffen schien.

Hartwig Hoven erschrak über das verstörte Gesicht Gertruds, als er gleich darauf im Vorflur ihrer ansichtig wurde, aber sie versicherte, es sei nur ein wenig Kopfschmerz. Doch als darauf Hoven sein Zimmer öffnete und sie bemerkte, daß das inzwischen gemietete neue Mädchen darin das Kaffeegeschirr aufzuräumen vergessen hatte, schritt sie an ihm vorüber, um es selbst zu thun, und fragte dabei obenhin: „Kannten Sie die Dame, die eben bei mir war?“

„War es nicht Fräulein Siebold?“ fragte er gleichmütig.

„Ja,“ antwortete Gertrud. „Ihr Vater ist wohl Ihr Vorgesetzter?“

„Gewiß,“ erwiderte er.

„Er schätzt Sie gewiß sehr.“

„Daß ich nicht wüßte,“ versetzte er lachend. „Er ist ein freundlicher und gerechter Chef, mehr verlangt man ja nicht. Als ich bei ihm im Hause den üblichen Antrittsbesuch abstattete – daher kenne ich auch das Fräulein – da machte er ja wohl einige schmeichelhafte Bemerkungen, sprach von dem hoffentlich glänzenden Verlauf der Prüfung für die höheren Stellen, vor oder vielmehr in der ich jetzt stehe, von geselligem Verkehr und dergleichen. Aber das ist eben das Uebliche. Es würde fast verletzen, wenn es nicht gesagt würde, aber Bedeutung hat es nicht.“

„Hab’ ich es doch gedacht!“ murmelte Gertrud.

„Was?“ fragte er.

„Ach – da sehen Sie nur,“ versetzte sie hastig. „Unser neues Mädchen; nun hat sie Ihnen wieder ein Stückchen an der Milchkanne abgestoßen. Und es dann nicht zu sagen! Aber so macht sie es immer,“ fuhr sie zornig fort, doch es klang nicht echt, und ihre vorher so blassen Wangen färbte ein heiteres Rot, das zur vollen Farbe der Verwirrung umschlug, als er gelassen erwiderte: „Diesmal thun Sie ihr doch unrecht. Der Sprung ist alt, das können Sie am Rande sehen.“

[440]
3.

Die angebliche Absicht des alten Postrats, Hartwig Hoven durchaus an seine Tochter zu fesseln, war also nur eine von den vielen Einbildungen des romantischen Fräuleins gewesen. Thea hatte irgend eine lobende Bemerkung des Vaters über seinen jungen Gehilfen – eine Bemerkung, die Gertrud selbstverständlich fand, ohne sie zu kennen – nach ihrer eitlen Weise ausgedeutet und sich darauf einen kleinen Roman zusammengedichtet. Gertrud war über diese einfache Lösung so erfreut, daß sie dem unbesonnenen Ding nicht einmal recht zu zürnen vermochte. Als sie einige Tage später Thea begegnete, hörte sie deren Geschwätz geduldig an und ließ sich ohne Einsprache noch zwei oder drei neue Verehrer beschreiben, welche Thea bei ihrer ersten Aufzählung vergessen hatte. Trotz ihres ländlichen Massentriumphes schien Thea doch nicht ganz zufrieden; sie sprach von ihrem unbekannten Briefsteller, und zwar in sehr bitteren Ausdrücken, die zu der früheren romantischen Begeisterung wenig paßten. „Denke dir, der Mensch hat noch immer nicht geantwortet,“ klagte sie.

„Vielleicht kann er alle deine Briefe nicht so rasch wieder zusammenfinden,“ meinte Gertrud. „Es war jedenfalls gut, daß du sie in der Nachschrift entschieden zurückgefordert hast.“

„Jawohl,“ erwiderte Thea verlegen, denn es fiel ihr nun doch aufs Gewissen, daß sie jene Nachschrift trotz ihres Versprechens an Gertrud durchaus nicht so entschieden abgefaßt hatte. „Nun,“ fuhr sie fort, „endlich wird er doch schreiben; die Gudula Wöllchen ist schon zweimal vergeblich auf der Post gewesen.“

[442] Also die Gudula Wöllchen besorgt das jetzt für sie, dachte Gertrud, nachdem sie sich getrennt hatten. Mich wundert nur, daß sie nicht von vornherein an die gedacht hat. Denn Fräulein Gudula Wöllchen war eines von jenen gutherzigen Geschöpfen, an die alle Welt zuerst denkt, wenn es gilt, eine undankbare Rolle unterzubringen. In der Schule, wo sie mit Gertrud und Thea in einer Klasse saß, war sie durch vier Dinge berühmt geworden, durch die Masse ihrer aschblonden Haare, die Größe ihres Frühstücksbrotes, die Geringfügigkeit ihrer wissenschaftlichen Leistungen und vor allem durch ihre Gutmütigkeit. Sie wurde nicht einmal böse, wenn man über ihren Namen spottete und aus ihm unfreundliche Folgerungen auf ihren geistigen Zustand zog, und das ist das sicherste Zeichen einer kaum zu kränkenden Sanftmut. Nach der Schulzeit hatten sich die Wege geschieden, Gudula Wöllchen war in das Helldunkel der väterlichen – schon großväterlichen Weinstube zurückgetaucht, wo sie den häuslichen Geschäften mit viel mehr Neigung und Anlage nachging als vordem den Idealen höherer Mädchenbildung, und ihre Freundinnen aus sogenannten besseren Kreisen erinnerten sich ihrer meist nur, wenn es sich um eine Gefälligkeit handelte, für die sie sich selber zu gut dünkten: alsdann war die Gudula Wöllchen immer bereit, aus der Not zu helfen, und da sie es ohne Empfindlichkeit und Anspruch auf gesellschaftliche Gegendienste that, so erschien sie in den Augen von Thea Siebold und ihresgleichen mit jedem geleisteten Gefallen noch etwas dümmer.

Für Gertrud war die ganze Briefgeschichte ja nun abgethan. Hartwig Hoven hatte noch immer nicht mit dem leisesten Winke darauf angespielt, er schien die Sache vergessen zu haben, und sie hätte um alles in der Welt ihn nicht mehr daran erinnern mögen, zumal sie jetzt viel Besseres mit ihm auszutauschen hatte: Urteile und Anmerkungen über dieses und jenes gute Buch aus dem zweiten Regal, das sie auf seinen Rat gelesen, und eigene Gedanken und Lebensfrüchte, die unter den anregenden Lichtstrahlen der großen Dichter und Denker ganz von selber reiften wie draußen im Garten die roten Kirschen unter der warmen Frühlingssonne. Gertrud hatte vordem nur wenig gelesen, die hinterlassene Bücherei ihres Vaters war gering und übel zusammengestellt und in dem Ausgabenplan der Mutter gab es keinen Posten offen für Bücher. Nun empfand sie zuerst die Befriedigung eines unbewußt lange gehegten Seelenhungers, das beste, was ein und der andere große und klare Geist erdacht, in reinlichem Bande still für sich zu genießen und alsbald mit einem anderen, erfahreneren Leser prüfend und nachgenießend zu bereden. In der Nachwirkung solcher stillen Freude und dem sicheren Vorgefühl ihrer Fortsetzung ertrug sie leichter die üble Stimmung der Mutter. Und wirklich that eine solche Stärkung not, denn da Frau Marie Swarteborn seit einiger Zeit gar nichts Betrübendes zu erleben bekam, der neue Mieter und sogar das neue Mädchen gut thaten, die Tochter immer freundlich war und die oft prophezeite Krankheit hartnäckig ausblieb, so griff sie immer tiefer in den Quell selbstgeschaffener Leiden und war zuweilen wohl hart daran, vor lauter Sehnsucht nach Betrübnis den Verstand zu verlieren oder ihre nächste Umgebung um den ihrigen zu bringen.

Eines Abends hatte Gertrud eben den kleinen Theetisch im Zimmer ihrer Mutter gedeckt, als Hartwig Hoven eintrat, um anzufragen, ob er ihr ein neues Buch leihen dürfe. Er that dies jetzt öfter. Heute aber geschah es in einer ihm sonst völlig fremden Befangenheit. Den „Blonden Eckbert“ von Tieck, den er ihr ein paar Tage vorher gegeben, hatte er auf seinem Tisch vorgefunden und während er ihr nun zusah, wie sie die Spiritusflamme unter dem messingenen Kesselchen entzündete und geschickt daran herumhantierte, fragte er einleitend, wie ihr die seltsame Dichtung gefallen habe. „Sie ist wohl schön, aber furchtbar unheimlich und trostlos,“ antwortete sie. – „Ja,“ antwortete er etwas zerstreut, „es ist schwere Kost. – Was ich Ihnen noch sagen wollte,“ fuhr er plötzlich fort, indem er das mitgebrachte Buch auf den Tisch legte, „es liegt auch seit gestern ein Brief auf der Post, Psyche 111 postlagernd, ich habe es heute zufällig gesehen.“

Das traf sie so wunderlich, all die halbvergessene Angst und Unsicherheit jener ersten Tage nach seinem Einzug drängte sich ihr in einem Augenblicke lähmend zusammen, daß ihr war, als ob Bewegung und Sprache plötzlich versagten. Doch raffte sie sich zusammen und stieß hastig die Worte hervor: „Das geht mich jetzt nichts mehr an.“ Und da sie sogleich selber das Zweideutige dieser Worte empfand, setzte sie hinzu: „Es war für jemand anders, und ich wollte, ich hätte es nicht gethan.“

Dann schwieg sie und starrte in die Spiritusflamme, über der es im Kesselchen jetzt traulich zu summen begann. Hartwig Hoven war von der anderen Seite an das Tischchen getreten, er schwieg auch und betrachtete aufmerksam ihr gesenktes Haupt mit den vollen braunen Flechten über der weißen Stirn.

Endlich sagte sie leise: „Ich möchte sehr gern wissen, was Sie sich bei der Sache dachten.“

„Würde es Ihnen genügen, wenn ich Ihnen einfach sagte, daß ich überhaupt nicht darüber nachgedacht habe?“ fragte er. „Unser Dienst sorgt dafür, daß wir an dem, was durch unsere Hände geht, wirklich viel weniger Anteil nehmen als das Publikum denkt.“

„Nein,“ erwiderte sie und sah ihn fest an, „das würde mir nicht genügen. Denn Ihre Antwort beweist mir ja schon, daß Sie doch darüber nachgedacht haben.“

„Sie sind gründlich wie immer,“ versetzte er lächelnd. „Es ist aber doch im allgemeinen richtig, was ich eben sagte, und wenn ich in diesem einzelnen Falle die geziemende Diskretion – in Gedanken – ein wenig überschritt, so müssen Sie mir schon erlauben, Ihnen zu sagen, daß Ihre postalische Anfrage daran weniger die Schuld trug als Ihre Person. Oder vielmehr der Gegensatz zwischen dieser Person und der Vorstellung, die man sich der leidigen Erfahrung nach von der Empfängerin eines Briefes mit derartiger Aufschrift macht … Nachdem ich Sie dann näher kennenlernte, wurde mir dieser Gegensatz alsbald entscheidend – und so habe ich mir, um Ihnen alles zu sagen, die Sache längst ungefähr so zurecht gelegt, wie Sie mir sie vorhin erklärten. Sind Sie nun zufrieden?“

Gertrud atmete tief auf. „Ja,“ sagte sie. „Und ich danke Ihnen herzlich. Aber sagen Sie nur, ist es denn auf alle Fälle so etwas Schreckliches um postlagernde Briefe?“

„Gewiß nicht!“ antwortete er lachend. „Es ist eine gemeinnützige Einrichtung wie andere. Die Post hat auch das mit den zwei größten Erfindungen, mit der Schrift und dem Buchdruck, gemeinsam, daß sie ihre Vorteile ganz unparteiisch den Guten und Bösen zu Gebote stellt, und unsereins denkt, wie ich Ihnen schon sagte, nicht daran, diese Unparteilichkeit durch vorwitzige Vermutungen zu beschränken. Dazu fehlt uns einfach die Zeit … Aber andere Leute haben vielleicht dazu mehr Zeit, und wenn es verlautet, daß eine junge Dame sich postlagernde Briefe unter einem poetischen Stichwort schicken läßt, so hat sie bei sogenannten guten Freunden und Freundinnen die Vermutung gegen sich … Verzeihen Sie – das soll keine Warnung sein, sie wäre ja überflüssig nach dem, wie sich die Sache verhält …“

Gertrud schüttelte den Kopf. „Ich würde Ihnen auch eine Warnung gewiß nicht verübeln,“ sagte sie herzlich und reichte ihm die Hand. Er blickte ihr in die Augen und that einen Schritt vorwärts.

In diesem Augenblick brodelte und zischte es zwischen ihnen, und eine blaugelbe Flamme loderte durch den weißen Wasserdampf hoch auf. Diese winzige Feuersbrunst, die im Nu unter Lachen und Scherzen gelöscht wurde, war aber doch ausreichend, einem anderen Feuerchen zwischen den beiden für diesmal die Luft zu nehmen. Nun trat auch die Mutter ein und das Gespräch war zu Ende.

Am folgenden Tage that Hartwig Hoven, was wir tugendhaften Leute öfters thun, er widerlegte seinen moralischen Vortrag durch das eigene Beispiel. Denn da er kurz vor Schluß der Poststunden zufällig hörte, wie der postlagernde Brief an Psyche 111 ausgeliefert wurde, sah er sich die geheimnisvolle Psyche genau an; aber er fand nicht, was er vermutete. „Nein,“ dachte er, „Fräulein Siebold ist es nicht, wenn sie ihr auch ungefähr an Fülle gleichkommt. Es wäre ja auch zu dumm, wenn sie selber käme. Aber was geht es mich an, ob das Zeug für sie ist oder für einen andern?“ Mit diesem Satze lenkte er wieder in den Pfad der Tugend, seine Augen aber beharrten noch auf der Bahn der Sünde, sie folgten der unbekannten Empfängerin des dicken rosafarbenen Briefes bis zur Ausgangsthür und gewahrten, wie sich dort ein Herr im Reiseanzug, der vorher auch nach postlagernden Briefen gefragt hatte, zu ihr gesellte. „Sieh mal an,“ brummte Hartwig Hoven in einem [443] argen Rückfall, „Psyche ist es ja wohl nicht, aber einen Amor hat sie doch schon.“

Fräulein Gudula Wöllchen erschrak sehr, als der blondbärtige Herr im grauen Reiseanzug sich so unversehens mit höflichem Gruße an sie wandte und sagte: „Verzeihen Sie, mein gnädiges Fräulein, wenn ich mir erlaube … Friedrich Carl Meißner, für das Haus Engels, Schwarz und Compagnie … Ich hörte nämlich vorhin zufällig, wie Sie neben mir den Brief da verlangten,“ fuhr er noch leiser fort, „und ich glaube Ihnen darüber eine Mitteilung schuldig zu sein.“

Nun erschrak sie erst recht und verwünschte zum erstenmal ihre Gutherzigkeit, da sie in dem Fremden zum mindesten so etwas wie einen Geheimpolizisten witterte, trotz seiner harmlosen kaufmännischen Vorstellung. „Bitte, bitte!“ stammelte sie und schritt eilfertig aus dem Lichtglanz des Postgebäudes tiefer in das Dunkel des Platzes, während der Herr mit großer Höflichkeit nach ihrer linken Seite überschwenkte und dabei durch sein Manövrieren ihre Angst noch steigerte.

„Wie gesagt, mein gnädiges Fräulein,“ begann Herr Friedrich Carl Meißner, „es war der reine Zufall, daß ich vorhin neben Ihnen stand und in Ihnen die liebenswürdige Empfängerin dieses Briefes kennenlernte; ich bin erst vor einer Stunde mit der Bahn angekommen und wollte nur nachfragen, ob Briefe von unserem Hause für mich vorlägen. Ich bin nämlich aus derselben Stadt wie Ihr Brief da, und wenn ich auch nicht weiß, was darin steht, so weiß ich leider genau, was in den Briefen stand, die Sie vorher geschrieben haben, und wenn ich Ihnen sage, daß es außer mir noch einige Dutzend anderer Leute bei uns wissen, so werden Sie mir ohne weiteres zugeben, daß es meine Pflicht ist, Sie vor einem Menschen zu warnen, der das Vertrauen einer so liebenswürdigen jungen Dame so schändlich mißbraucht. Sie kennen diesen Herrn Adolf Schräger vielleicht nicht einmal dem Namen nach, er beliebte sich Ihnen ja als Marquis Posa vorzustellen. Ein netter Posa! Ich kenne ihn leider sehr genau, bin sogar schuld, daß er in unserem Kaufmännischen Verein Aufnahme fand, obwohl er erst Volontär ist – seinem Alter nach könnte er schon etwas anderes sein, aber er hat sich ja schon in verschiedenen anderen Branchen umgethan, war Student, Fähnrich, Schauspieler, was weiß ich – bis ihn schließlich sein Alter – pardon, sein Vater einem unserer Bankhäuser als Volontär auf den Hals lud; der Vater ist nämlich ein riesig reicher Wollhändler in irgend einem Nest an der polnischen Grenze. Ich will Ihnen weiter nichts davon erzählen, was der Kerl alles für Unfug in unserem Verein während dieses halben Jahres angestiftet hat; das Schlimmste, und das interessiert uns ja hier auch allein, war, daß er in der Bezechtheit mit Ihren Briefen herausrückte und Ihre zarten poetischen Gedanken in einem Tone erläuterte, wofür mir einfach die Ausdrücke fehlen! einfach fehlen!! Na, wir haben ihn denn auch ordentlich zugedeckt, denn so etwas dulden wir denn doch nicht in unserem Kreise, und als er gar nicht kleinbeigeben wollte und noch obendrein sich mausig machte, von Kartenwechsel sprach und von Forderungen und dergleichen, hat ihn mein Freund Konrad Müller – alter Artillerist, wissen Sie – vor die Thüre geworfen, der hat darin eine glückliche Hand; und in der nächsten Sitzung haben wir ihn mit Pauken und Trompeten rausballotiert. Wir dachten wenigstens, daß er jetzt genug von seiner Marquis Posaspielerei hätte, und übrigens wenn wir gewußt hätten, wie Fräulein Psyche mit ihrem Namen hieße, hätten wir Ihnen diskret Nachricht gegeben; aber das hat er uns nicht verraten, hoffentlich weiß er es selber nicht! Nun muß ich leider jetzt eben so rein zufällig erfahren, daß er das Spiel noch immer fortsetzt – das heißt für mich ist es ja natürlich ein sehr glücklicher Zufall, da er mir Gelegenheit giebt, einer so liebenswürdigen jungen Dame eine Warnung zukommen zu lassen, die Sie mir hoffentlich nicht verübeln werden! Sollte ich Ihnen übrigens in dieser Angelegenheit irgendwie nützlich sein können, mein gnädiges Fräulein, so bitte ich, ganz über mich zu verfügen!“

So berichtete Herr Friedrich Carl Meißner, während er mit seiner Begleiterin unter den duftenden Linden des Postplatzes hin und her wandelte und bei jedem Umwenden seine höfliche Flankenverschiebung sehr geschickt wiederholte, ohne dabei im Sprechen innezuhalten. Fräulein Gudula Wöllchen aber bewies jetzt, daß ihre viel mißbrauchte Gutherzigkeit sich mit einer starken Gabe praktischen Verstandes paarte. Thea Siebold hatte ihr nichts von dem Gegenstande des Briefes erzählt, und auch aus den Worten des fremden Herrn wurde sie sich noch nicht ganz klar darüber; aber sie verstand ohne weiteres, daß Thea Siebold sich in eine gefährliche Verbindung mit einem schlechten Menschen eingelassen habe, daß man ihr womöglich heraushelfen müsse, und sie fühlte, daß aus den Worten des Warners an ihrer Seite eine tüchtige und zuverlässige Gesinnung spreche. Und so antwortete sie frei weg: „Es liegt da ein kleines Mißverständnis vor, Herr – – Meißner, nicht wahr? – Ich bin nämlich selbst nicht die Empfängerin dieses Briefes, ich sollte ihn nur für eine Freundin abholen, und ich wußte bis jetzt überhaupt nichts von der Geschichte. Aber das macht ja weiter nichts; das konnten Sie ja nicht wissen, und ich muß Ihnen für Ihre freundliche Mitteilung gerade so gut im Namen meiner Freundin danken, als wenn es mich selber anginge. Wenn aber jener Mensch Briefe von meiner Freundin hat und so wüst damit umgeht, so müssen wir doch sehen, daß er sie wieder herausgiebt, nicht wahr? Und dazu könnten Sie und Ihre Freunde wohl helfen. Wenn Sie mir vielleicht“ – sie stockte ein wenig und errötete unter dem Schleier – „wenn Sie mir Ihre Adresse angeben wollten –?“

„Friedrich Carl Meißner, Geschäftsreisender – ich logiere hier im ‚Preußischen Hof‘,“ erwiderte der Herr mit einer Verbeugung. „Gnädiges Fräulein machen mich wirklich sehr glücklich durch Ihr Vertrauen, und ich werde es nicht enttäuschen. Bitte nur tausendmal um Verzeihung wegen des Mißverständnisses! Es ist mir in der That eine große Erleichterung, daß Sie nicht die Hereinge – – pardon, die Getäuschte sind, so sehr ich auch Ihre Freundin bedaure. – Aber dann müßte ich mir doch schon die Freiheit nehmen, gnädiges Fräulein um Ihren werten Namen zu bitten!“

„Gudula Wöllchen heiße ich,“ sagte sie, „mein Vater ist Weinwirt – Langgasse 37, im ‚Goldenen Fäßchen‘. – Wir führen das Schild schon seit achtzig Jahren,“ fügte sie hinzu; denn dies war ihr einziger, ererbter und anerzogener Stolz.

„Ah, sehr angenehm – sehr angenehm,“ erklärte er mit aufrichtigem Vergnügen. „Dann habe ich ja die Ehre, sozusagen eine werte Geschäftsfreundin vor mir zu sehen. Ihr Herr Vater bezieht schon seit zwanzig Jahren von uns – wollte eben morgen früh bei ihm vorsprechen. Ich mache die Tour zum erstenmal – mein Vorgänger war der alte Hilgers, wenn Sie ihn gekannt haben? Er schnupfte.“

„Gewiß habe ich ihn gekannt,“ antwortete sie freundlich, „und er hat mich manches Mal zum Niesen gebracht. Nun, dann werden wir uns ja wohl noch öfters sehen, Herr Meißner. Ich muß jetzt nach Hause …“

„Wenn gnädiges Fräulein vielleicht meine Begleitung –“

„Danke sehr,“ erwiderte sie mit einem schalkhaften Lächeln. „Sie sehen ja, wie man sich in acht nehmen muß vor den Leuten. Adieu, Herr Meißner – auf Wiedersehen!“

Damit nickte sie ihm zu und entfernte sich leichten Schrittes.

Herr Friedrich Carl Meißner blickte ihr ganz begeistert nach. „Famoses Mädel!“ murmelte er. „Das wäre so was für einen ehrlichen Geschäftsmann. Und dazu die Tochter aus einer solchen stillen Goldgrube – womöglich die einzige Tochter. – Na, das ist doch mal eine Tour, die vernünftig anfängt!“


4.

Hartwig Hoven saß auf dem Sofa und blickte verdrießlich in einen Brief, den ihm das Mädchen mit dem Nachmittagskaffee heraufgebracht hatte, als Gertrud mit einer häuslichen Anfrage ihrer Mutter in die Thür trat. Er hatte schon beim Nachhausekommen so gedankenvoll dreingesehen, vermutlich war ihm etwas Unangenehmes im Dienste widerfahren. Um so mehr that es ihr leid, daß sichtlich auch der Brief ihm nur Aerger bereiten mußte.

„Sie haben eine unerfreuliche Nachricht erhalten?“ fragte sie bescheiden, mit leiser Stimme.

Er fuhr auf und warf den Brief mit einem ärgerlichen Lachen auf den Tisch. „Im Gegenteil,“ sagte er. „Wenigstens der Brief fängt mit einem ,Du wirst Dich gewiß freuen‘ an. Meine Tante Alma – meines Vaters Stiefschwester – ist auf den Einfall gekommen, vor ihrer Badereise auch diese Stadt mal kennenzulernen, und sie beauftragt mich, ihr ein ruhiges Zimmer auf ein paar Wochen zu verschaffen.“

[444] „Ich wußte gar nicht, daß Sie noch eine so nahe Verwandte haben,“ versetzte Gertrud. „Sie haben mir nie etwas davon erwähnt.“

„Es hat seine Gründe,“ erwiderte er. „Wenn ich Ihnen Gutes von ihr erzählen sollte, so hätte ich Ihnen höchstens ihre Kuchenrezepte aufzählen können; denn darin ist sie allerdings stark… Sie ist ein ältliches Fräulein, unabhängig, gescheit und gewandt in vielen Dingen, in der Rede sogar sehr; aber sie leidet am schlimmsten Uebel, das alleinstehende und kluge Menschen befallen kann: an her Selbstgerechtigkeit und Wohlweisheit; und ich fürchte, sie reist eigentlich nur so viel herum, um immer neuen Opfern vorrechnen zu können, wie sehr jene nach Verdienst leiden, wie sehr sie noch zu leiden bekommen, und wie glücklich sie es dagegen nach Verdienst hat.“

„Das ist eine harte Schilderung,“ meinte Gertrud lächelnd. „Wissen Sie wirklich nichts Besseres von ihr zu sagen?“

„Sie erinnern mich zur rechten Zeit,“ erwiderte er etwas beschämt. „Ich müßte allerdings noch hinzufügen, daß sie es mit mir in ihrer Art immer gut meinte und mir sogar manchmal eine Beihilfe angeboten hat, die ich glücklicherweise nicht zu benutzen brauchte, denn sie wäre mir oft genug vorgerechnet worden. – Uebrigens kommt mir der Auftrag doppelt ungelegen. Denn eben heute vormittag hat mir der Chef eröffnet, daß ich vom nächsten Montag an auf einen Monat oder länger hinaus soll. Es giebt da in einem über Nacht angewachsenen Industrienest, acht Stunden von hier, ein neues Postamt einzurichten, und dieser Auftrag ist mir gewissermaßen als ein Abschnitt meiner Prüfungsarbeiten zu teil geworden.“

Gertrud erblaßte sehr. „Es ist wohl eine anstrengende Arbeit, nicht wahr?“ sagte sie mit unsicherer Stimme; und fast wider Willen fügte sie hinzu: „Wir werden Sie gewiß die Zeit über sehr vermissen. Es ist ohnedies so einsam bei uns.“

Er war hastig ein paarmal das Zimmer abgeschritten und blieb nun vor ihr stehen. „Das hängt mit dem besonderen Wesen Ihrer Mutter zusammen, nicht wahr? Bitte, seien Sie mir nicht böse, daß ich davon rede, oder seien Sie es wenigstens erst nachher. Es liegt mir längst auf dem Herzen. Ist sie denn schon seit langem in dieser trübseligen Stimmung?“

„Ich habe sie eigentlich nie anders gekannt,“ antwortete Gertrud leise. „Es ist wohl nun einmal ihr Wesen so.“

„Schrecklich!“ rief er. „Was müssen Sie – – – ich meine, wie schwer muß es sein, eine solche immerwährende graue Laune zu ertragen!“

Sie lächelte trübe. „Das lernt sich,“ sagte sie. „Und dann – ich habe die Mutter doch herzlich lieb und im Innersten meint sie es auch nur gut mit mir. Freilich ist’s oft ein Jammer, aber ich glaube, jeder Mensch hat so seine Bestimmung, und in die muß er sich eben schicken, ob es süß oder sauer wird.“

„Das wäre Ihre Bestimmung?“ erwiderte er heftig. „Sie können doch nicht im Ernst meinen, Sie seien bestimmt, Ihre ganze Jugend hier zu vertrauern, um einer selbstquälerischen Laune Gesellschaft zu leisten? Wenn es noch dadurch besser würde! Nein, Fräulein Gertrud, so grausam kann der liebe Gott es doch nicht meinen! … Das ist eine Grille – eine schöne, fromme Vorstellung meinetwegen, aber keine wahre … Und wenn Sie einmal unbeirrt Ihr Herz fragen, weiß es Ihnen für Ihre Person, für so viel Anmut und Thätigkeit, so viel Kraft, glücklich zu sein und – zu beglücken, keine bessere Bestimmung zu sagen, Gertrud?“

„Nein!“ rief sie und entzog ihm ihre Hand, die er bei den letzten Worten ergriffen hatte. „Reden Sie nicht weiter so zu mir, denn ich fühle, daß es nicht das Richtige ist. – Wer sagt Ihnen denn, daß ich hier nichts helfen kann?“ fuhr sie fast trotzig fort, denn nun widersprach sie nicht bloß ihm, vielmehr auch einer Stimme in sich selbst, mit der sie in diesen Tagen oft genug gerungen hatte. „Wenn Sie das Wesen meiner Mutter erkannt haben, so werden Sie auch wissen, wie wenig ihr unglückseliges Wesen angethan ist, sie vor wirklichem Schaden und Kummer zu bewahren. Die Leute sind ihr nicht freiwillig zu Diensten wie anderen, fröhlicheren Menschen. Ein trauriges Gesicht macht keine Freunde, so viel habe ich auch schon vom Leben gelernt …. Ich aber gehöre zu ihr, und das habe ich aus dem Katechismus behalten, daß wir unseren Eltern dienen sollen und auch mit ihren Gebrechen Geduld haben …. Ich weiß, daß es mir gewiß keine Ruhe mehr lassen würde, wenn ich das einmal vergäße …. und ich habe die Moral wohl begriffen aus der Geschichte, vom ‚Blonden Eckbert‘, wissen Sie, worauf Sie mich besonders aufmerksam machten – von dem schönen Mädchen, das in allem Reichtum und allem Liebesglück nicht zur Ruhe kommt – immerfort folgen ihm die Klagen der beiden Wesen, die seiner bedurften und die es verlassen hat, um dem Glück nachzugehen …. und es waren doch nur ein Vogel und ein Hund. Aber Pflicht ist Pflicht ….“ Sie hielt einen Augenblick inne und sah ihm bittend ins Gesicht, beide Hände auf die Brust gedrückt. „Nein, bitte, reden Sie mir nicht weiter zu,“ bat sie. „Ich fühle, daß ich’s so halten muß, und dies Gefühl dürfen Sie mir nicht verwirren, es ist ja meine Kraft gewesen während all der trüben Jahre.“

„Ja, ja,“ ergab sich Hartwig Hoven darein, „ja, Fräulein Gertrud, ich will ja alles thun, was Sie wollen, weinen Sie nur nicht!“ Er fühlte sich völlig hilflos vor dieser umsichtigen Halsstarrigkeit, die sogar seine harmlosen Bemerkungen aus ihrem gemeinsamen Dichterstudium zu entscheidenden Beweisen umschmiedete und ihm den fertigen Korb schon vor die Thür hing, ehe er mit seiner Werbung herauskam. In verdrossenem Schweigen stellte er sich an ein Fenster und blickte in den Garten hinaus; sie stand am anderen Fenster und that desgleichen, ihre Blicke trafen sich möglicherweise auf demselben blühenden Rosenstrauch, aber mit dem Frühling zarter Seeleneinigkeit, der so hübsch zwischen ihnen geblüht hatte, schien es völlig aus.

Endlich wandte er sich halb um und fragte, ohne sie anzusehen: „Glauben Sie denn, daß diese trübselige Stimmung sich durch kein Zureden mindern ließe?“

Sie schüttelte den Kopf und erwiderte, ohne ihn anzusehen: „Höchstens steigert es sie noch. Dazu genügt sogar das kleinste Trostwort. Es ist eben ihre Art. Und am Ende habe ich auch etwas davon in mir.“

„Fräulein Gertrud!“ rief er erschrocken, indem er sich ganz zu ihr wandte und sie strafend ansah.

„Nein, wirklich!“ erwiderte sie mit einem schwachen Lächeln. „Es ist mir vorhin wieder eingefallen. Als ich noch ein kleines Schulmädchen war, begegnete ich einmal auf der Straße einem armen Kinde, das so entsetzlich hinkte! Seitdem meinte ich, wenn mir der Fuß nur im geringsten wehthat, das sei der Anfang zu demselben Leiden, ich weinte und klagte, da half kein Zuspruch, und wenn man mich deshalb strafte, so versteckte ich mich und weinte im geheimen weiter. Es hat lange gedauert und ich habe meiner armen Mutter gewiß viel Kummer damit gemacht. Erst als ich in eine andere Klasse kam, fand sich eine Lehrerin, die mir meine dumme Einbildung vertrieb.“

„So?“ fragte Hartwig Hoven, indem er näher trat und sie gespannt betrachtete. „Wie hat sie das denn angestellt?“

„Auf eine ganz einfache Art,“ berichtete Gertrud weiter. „Sie stellte sich, als ob sie meine Meinung teilte, ja sie übertrieb sie noch und malte mir mit hochgezogenen Brauen aus, wie dies nur erst der Anfang sei: erst hinke man mit dem einen Fuß, dann mit dem andern, dann falle einem der Zopf ab – ich trug damals einen sehr langen, auf den ich lächerlich stolz war – und dann der Kopf; und das komme alles daher, weil ich meine Schuhriemen nicht ordentlich bände. Nun weiß ich nicht, wie das kam – aber mit dieser Uebertreibung muß sie wohl meine Zweifelsucht gereizt haben. Ach, dachte ich, wie soll das denn zugehen, daß so schlimme Dinge aus einer so kleinen Unordnung entstehen? Und zudem kannte ich doch manche große Mädchen, die die Schuhe nicht besser banden als ich und trotzdem kerngesund auf zwei Beinen herumsprangen, mit ihrem Kopf und einem Zopf, noch länger als der meine. So fing ich allmählich an, der Geschichte zu mißtrauen: erst zweifelte ich an der schlimmen Wirkung auf Kopf und Zopf, von da stieg der Zweifel zu den Füßen herunter, und schließlich nahm er mit der Uebertreibung auch meine eigene Aengstlichkeit mit. Bei alledem versäumte ich aber nicht, sehr sorgfältig auf meine Schuhe zu achten, und so schaffte mir die Lehrerin auf diesem Umwege auch noch ein Stückchen Unordnung ab.“

Gertrud hatte sich mit dieser kindischen Geschichte selber etwas erheitert, sie blickte freier und wagte zum Schluß sogar ein kleines bescheidenes Lachen. Hartwig Hoven sah ihr noch einen Augenblick tiefsinnig in das anmutige, leichtgerötete Gesicht, dann stimmte [446] er plötzlich mit lautem Gelächter ein und faßte sie so ungestüm bei der Hand, daß sie ordentlich erschrak. „Aber das ist ja eine unbezahlbare Geschichte, Gertrud!“ rief er. „Hätten Sie mir die doch früher erzählt, oder hätten Sie sich die Moral daraus gezogen – Sie sind doch sonst so gewandt darin! Aber freilich, heute war gerade der richtige Tag – der Brief da und Ihre Geschichte, die passen zusammen – es ist eine sichtbare Fügung!“

„Nun verstehe ich Sie aber gar nicht mehr!“ stammelte Gertrud.

„Natürlich!“ fuhr er fort. „Es geht Ihnen wie allen großen Entdeckern: Sie haben die Kur für Ihre Mutter gefunden und merken es nicht. Nun denn in zwei Worten: Sonntag abend reise ich fort und Dienstag zieht meine Tante Alma hier ein. Sorgen Sie nur mit, daß es Ihrer Mutter recht ist. Für das übrige bürge ich. Denn wenn Sie Ihre Schulmädchengrille mit dem Hange Ihrer Mutter vergleichen, so dürfen Sie mir dafür glauben: Ihre kluge Lehrerin von damals war in der Kunst, andern Leuten ein eingebildetes Uebel dadurch auszureden, daß man ihnen noch zehn größere dazu prophezeit, nur eine Stümperin gegenüber meiner Tante. Ihre Lehrerin betrieb die Kur ja nur halb. Meine Tante aber fügt zu dem negativen Reiz auch den positiven: sie beweist den Leuten auch, daß ihr allein nichts geschehen könne, weil sie allein ihre Schuhe richtig bindet. Damit weckt sie den Zweifel noch ganz anders.“

Gertrud lächelte noch sehr ungläubig; aber ein wenig hatte er sie doch mit seiner Zuversicht angesteckt, und es that ihr schon wohl, ihn wieder so fröhlich zu sehen. Sie ermahnte ihn selbst, sogleich an die Tante zu schreiben, und sie versprach auch – unter vielem Erröten – ihm während seiner Abreise regelmäßige „Berichte“ zu senden. Er bestand darauf, daß er ihr dann aber auch antworten müsse.

„Doch wohl nicht gar postlagernd?“ fragte sie mit einem Schrecken, in den sich schon ein gewisser Mutwillen mischte.

„Das Einfachste wäre es,“ meinte er; doch fanden sie es nach einigem Beraten besser, daß er die Briefe an seine eigene Adresse sendete und es so einrichtete, daß Gertrud sie immer morgens mit der ersten Ausgabe, während die Mutter noch ruhte, in Empfang nähme. „Ich werde sie Ihnen sorgfältig und ungeöffnet verwahren,“ scherzte sie.

Da er sie so heiter sah, schien er ihr noch etwas anderes, wichtigstes anvertrauen zu wollen; aber sie entzog ihm ihre Hand bei den ersten Worten. „Wir haben ein gutes Werk vor, nicht wahr? Lassen Sie uns es nicht vorzeitig verrufen!“ bat sie. Mit diesen Worten und dem Blick, der sie begleitete, mußte er sich einstweilen zufrieden geben.


5.

„Lieber Herr Hoven! Ihrem Wunsche gemäß schreibe ich Ihnen heute. Morgen werden es gerade acht Tage, daß Ihre Tante bei uns eingezogen ist. Es war eine ziemlich bewegte Zeit, aber ich fange fast an zu glauben, daß Sie mit Ihrer Meinung recht behalten –“

„So!“ sagte Gertrud und lehnte sich mit einem tiefen Seufzer der Erlösung in den Schreibsessel zurück – in den Hartwig Hoven persönlich gehörenden Schreibsessel. Noch nie hatte ihr eine schriftliche Arbeit so viel Mühe gekostet wie diese beiden Sätze; nicht einmal der große Schlußaufsatz in der obersten Klasse der Mädchenschule: „Welche Empfindungen flößt uns der Anblick eines Gießbaches ein?“ war ihr so schwer geworden. Schon die Wahl der Anrede hatte zwei Briefbogen gekostet. „Geehrter Herr“ kam ihr zu gewöhnlich vor, „Lieber Herr Postsekretär“ fand sie „geradezu kindisch“, als es sie in ihrer eigenen Handschrift angrinste, und auch mit der dritten Fassung hatte sie sich nur aus Rücksicht auf die Unbeholfenheit der deutschen Sprache errötend abgefunden. „Die Engländerinnen haben es bequemer mit ihrem Dear Sir,“ dachte sie. Dann hatte sie sich eine endlose Zeit umsonst abgequält, um die richtigen Ausdrücke für einen genauen Bericht, wie er ihn wünschte, zu suchen, und schließlich war von der ganzen Arbeit nichts übrig geblieben als dieser dürftige Niederschlag.

„Nein,“ sagte sie, „es geht wirklich nicht; so etwas erlebt man, aber wie soll man es als Tochter einem andern schicklich schildern? – Abgesehen davon, daß es zu lang würde.“ Denn gleich am ersten Tage hatte es ja angefangen. Die Begrüßung war soweit ganz harmlos verlaufen. Frauen verstehen es so viel besser als Männer, sich beim ersten Zusammentreffen mit liebenswürdigen Formen über das drückende Bewußtsein, daß man sich noch gar nichts zu sagen hat, wegzuhelfen. Die hagere, ganz in Staubgrau gekleidete Dame hatte sich sogar sehr günstig eingeführt, indem sie die Wohnung ihres Neffen lobte und hinzufügte: „Er verdient es aber auch.“ Mit diesem Zusatz machte sie Gertrud glücklich, und mit dem Lobe der Einrichtung streute sie Frau Swarteborn den süßesten Wohlduft, den diese betrübte Seele noch zu empfinden vermochte. In allseitiger Befriedigung hatte man sich an den Kaffeetisch gesetzt, im Garten, gerade unter den Fenstern von Hartwigs Wohnzimmer. Frau Swarteborn hatte ihre ganze Backkunst aufgeboten, sie freute sich der anerkennenden Blicke des Gastes, unterließ aber nicht, mit vielem Seufzen hinzuzufügen, wie oft ihr gerade dies und jenes Backwerk noch im letzten Augenblick mißrate. Sie habe eben Unglück damit.

Die Dame sah sie aus den grauen scharfen Augen ruhig an und kostete. „Ja, meine liebe Frau Swarteborn,“ sagte sie, „das ist auch kein Wunder. Ich merke schon, Sie kennen das Rezept nicht. Mir passiert so etwas nicht. Wie machen Sie diese Kuchen denn?“ Und nachdem die Hausfrau, ganz verblüfft, ihr Rezept hergesagt, fügte der Gast hinzu: „Also so machen Sie das? Dann wundert mich, daß es Ihnen überhaupt noch so gut gelingt wie diesmal.“

Frau Swarteborn sah sie erschrocken an, sie sah auch ihre Tochter an, aber die meinte: „Ach, Mama, dann laß dir doch ’mal Fräulein Hovens Rezept geben.“

„Ja, das wird denn wohl so sein,“ versetzte Frau Swarteborn ganz schwach, nachdem Fräulein Hoven ihren Vortrag beendigt. „Wir können es ja ’mal probieren, Gertrud, aber du sollst sehen, es verunglückt uns.“

„Das kann anfangs jedem passieren,“ bemerkte Fräulein Hoven, „als ich noch nicht perfekt war, ist es mir auch schon passiert.“

Als man sich vom Kaffee erhob, hatte Frau Swarteborn bereits erfahren, daß die von ihr als einzigartiges Unglück beklagten speckigen Stellen auf dem neuen schwarzseidenen Kleide eine unausbleibliche Folge mangelhafter Stoffkenntnis beim Einkaufen seien, und sie wußte genau, durch welche Mittel Fräulein Hoven dafür sorgte, daß sie sich niemals über naschhafte Mägde zu beklagen habe.

An diesem Tage war Gertrud mit heißen Thränen zu Bett gegangen, das Herz voll bitterer Selbstvorwürfe darüber, daß sie die Hand zu einem Versuch geboten habe, der ihr kindliches Zartgefühl schwer verletzte und doch völlig aussichtslos schien; denn sie war überzeugt, daß diese Zwei keine drei Tage zusammenbleiben würden, und malte sich schon mit Schaudern aus, welch reiche Ernte kummervoller Betrachtungen ihre Mutter aus der Begegnung mit dieser rücksichtslosen Dame züchten werde, die ihren Hausfrieden gestört und sie obendrein noch mit Herrn Hoven entzweit habe. Denn das war ja klar, daß er sich dann auch von ihnen trennte – entweder hielt er es notgedrungen mit der Tante, oder Frau Swarteborn graulte ihn mit ihren Erinnerungen an deren Besuch davon.

Aber wider Erwarten bemerkte Gertrud in den nächsten Tagen, daß die Mutter die Gesellschaft von Fräulein Hoven keineswegs mied, ja sogar ihre Belehrungen geradezu herauslockte – vorerst allerdings nur, um ihren Selbstbetrachtungen ein neues Kapitel hinzuzufügen, da sie nun mit wortreicher Uebertreibung darüber jammerte, wie übel man sie in ihrer Jugend häuslich unterwiesen habe. Von einer Dame, die nie verheiratet gewesen sei und das halbe Jahr auf Reisen herumziehe, müsse sie jetzt in grauen Haaren erst die Anfangsgründe lernen! Gertrud schwieg und wartete in ängstlicher Spannung ab, wohin das nun führen werde. Das Dienstmädchen kündigte, da es sich zwischen Frau Swarteborns Klagen und Fräulein Hovens Zurechtweisungen wie im Fegefeuer vorkam. Die einzige, die es im Hause wirklich angenehm fand, war Fräulein Alma Hoven. Sie strich jeden Tag einige vornotierte Sehenswürdigkeiten in ihrem Reisebuch unbesucht aus und überredete die geduldige Wirtin, sie zum Besuch der anderen zu begleiten, nur um das Vergnügen ihrer Unterhaltung öfter zu genießen.

Dann aber änderte sich die Lage. Die arme Seele, die sich so lange selber gequält, fing an, sich gegen die fremde Quälerei aufzulehnen; es erging ihr wie einem Menschen, der einen wunden Finger hat und oftmals sacht darüber streicht, um sich mit einer gewissen Befriedigung zu überzeugen, wie weh es thut, aber sehr [447] ärgerlich wird, wenn ihm der plumpe Händedruck eines andern diese Ueberzeugung unversehens bestätigt. Merkwürdigerweise machte sich der Rückschlag zuerst bemerkbar, als Fräulein Hoven auch den Heimatsstolz ihrer gutmütigen Wirtin angriff. Die hauswirtschaftlichen Belehrungen der überklugen Dame hatte Frau Swarteborn mit Ergebenheit hingenommen; als aber jene auch die geschmacklose Ueberladung einer Kirche mit einigen Worten tadelte, die unmittelbar aus ihrem Reisehandbuch stammten und von keinem Kenner angezweifelt waren, da ertrug es Frau Swarteborn nicht, ein Bauwerk beleidigt zu sehen, in dem sie selber konfirmiert und getraut worden war. „Wissen Sie, meine Liebe,“ sagte sie in einem Tone, den Gertrud noch nie von ihr gehört hatte, „das ist eben Geschmackssache. Der Geschmack ist verschieden. Wir waren ja wohl damals beide noch nicht auf der Welt, der Baumeister konnte Sie nicht um Rat fragen. Und wenn er es gekonnt hätte, wer weiß, ob er sich nach Ihnen gerichtet hätte?!“

Fräulein Hoven war so überrascht, daß sie gar keine Antwort fand und einstweilen willig zugriff, als Gertrud das Gespräch auf einen anderen Punkt leitete. Es war ihr zu Mute wie einem Piraten, der so recht sicher und beutefroh hinter einem vermeintlich wehrlosen Kauffahrer herschießt und nun plötzlich sehen muß, wie es auch drüben aus den Luken rot aufblitzt. Verwundert hört er über sich etwas durchs Takelwerk surren und einen dumpfen Knall von drüben her aus dem kleinen weißen Wölkchen – „Nanu!“ ruft er, „die schießen ja auch!“ Und das einseitige Bombardement verwandelt sich in einen niedlichen Artilleriekampf. Anfangs ist der Kauffahrer noch im Nachteil, es fehlt ihm die Uebung und vollends der Mut zum entschlossenen Angriff, er will nur seine Schwäche decken, und es mißlingt ihm zuweilen, aber die Angst selber treibt ihn alsbald, dem andern zuvorzukommen, und der erfahrene Pirat merkt mit einem gewissen ärgerlichen Vergnügen, daß es ernst wird. „Endlich doch einmal etwas anderes als diese billigen Triumphe!“ –

Indem Gertrud die wunderliche Entwicklung der Dinge in Gedanken nochmals durchlebte, lächelte sie fast behaglich, denn sie hoffte jetzt wirklich auf einen Erfolg der „Kur“, und durch diese Hoffnung schimmerte noch eine andere ganz heimlich und verstohlen durch, die sie sich in holder Verwirrung weder zu gestehen noch zu versagen wagte. Hastig fuhr sie sich mit dem Tuch über die erglühenden Wangen. „Ich kann das aber doch nicht so abschicken,“ murmelte sie. „Was schreib’ ich denn noch? Aha –:

‚Wir haben für Ihre Tante das Schlafzimmer eingerichtet, da es ja noch reichlich Raum für einige Möbel mehr bot und sie nur ein Zimmer haben wollte. Ihr Wohnzimmer ist also unbewohnt; ich halte mich viel hier auf, besonders wenn Mama mit Ihrer Tante aus ist, und auch diesen Brief schreibe ich an Ihrem Schreibtisch, mit Ihrem eigenen Stachelschweinfederhalter.‘

Wie dumm sich das nun wieder ausnimmt!“ unterbrach sie sich unzufrieden und blickte wieder, einer Eingebung harrend, in den Garten hinaus, wo auf den höchsten Zweigen des höchsten ihrer Kirschbäume die Golddrossel sich wiegte und unermüdlich ihr kurzes Lied wiederholte, fünf volle, sonnigklare Töne. „Das hört er so gern,“ flüsterte Gertrud. Noch ein Weilchen lauschte sie nachdenklich, dann wandte sie sich wieder dem Brief zu und schrieb nun gleichmäßig fort, zuweilen tief aufatmend und lächelnd – ein sommerfrohes trauliches Geplauder: von all dem Schönen, das da draußen klang und blühte, von den schönen Büchern, die er ihr vor der Abreise zum Lesen empfohlen, dazwischen angelegentliche Erkundigungen, wie es ihm am neuen Ort ergehe – ob sein Zimmer auch Aussicht ins Grüne habe, und so fort. Erst vor der Unterschrift zauderte sie ein Weilchen überlegend; nun aber merkte sie auch, wie lange sie schon geschrieben hatte, erschrocken und eilig setzte sie hinzu: „Mit herzlichem Gruß Ihre Gertrud S.“, steckte den Brief in sein Couvert und schrieb die Aufschrift, eben als drunten die Hausthür vor den heimkehrenden Damen sich öffnete.

Pünktlich zur bestimmten Stunde am bestimmten Tage kam die Antwort – sie war noch länger als ihr Brief. Ueber die häusliche Lage ging auch er mit einigen Worten des Dankes und der Zuversicht hinweg, ohne die Vorwürfe, die sie wegen ihres kurzen Berichtes erwartet hatte; auch von sich und seiner Arbeit schrieb er wenig, um so mehr von ihr selber; und es war ihr, indem sie den Brief oftmals heimlich las, als klänge ihr daraus auch alles, was sie schreibend empfunden und auszudrücken versucht, wieder entgegen, nur viel reifer und voller – und zwischendurch immer, verhalten und tief, eine große Freude, so mit ihr und zu ihr zu sprechen. Da sie nun zu merken glaubte, daß ihm ihr Brief, wie er eben war, einiges Vergnügen gemacht habe, konnte sie kaum die Tage abwarten, wo sie den zweiten schreiben durfte. Diesmal aber war seine Antwort stückweise von einem Tage zum andern datiert, wie ein Tagebuch; da er alle Tage an sie denke, schrieb er, so müsse sie schon erlauben, daß er in solchem täglichen Zwiegespräch mit ihrem Bilde seine Einsamkeit belebe, ohne ihre Briefe abzuwarten. Sie wußte ihm ihr Einverständnis nicht besser zu bekunden, als indem sie sein Beispiel nachahmte. Dasjenige aber, was eigentlich den Anlaß zu dem Briefwechsel gegeben hatte, schrumpfte in ihren Briefen immer mehr zusammen, wie das Fruchtkäppchen an einem reifenden Apfel, und schließlich erledigte sie es mit einem täglichen vergnügten „Es geht immer besser!“

Hartwig Hoven schien auch damit zufneden zu sein; und übrigens wäre der gewiegteste Chronist ebensowenig wie Gertrud imstande gewesen, einen erschöpfenden Bericht über die merkwürdige Verschiebung zu geben, die sich im Wesen und Verkehr der beiden alten Damen allmählich vollzog.

Bei Frau Marie hatte sich Hartwigs Kurplan zunächst bewährt. Indem sie sich mit wachsendem Bedacht hütete, die Schulmeisterin mit mutlosen Klagen herauszufordern, kam sie überhaupt immer mehr aus der trauerseligen Selbstbetrachtung heraus. Sie verwandte ihren Scharfblick lieber darauf, bei der andern nach schwachen Stellen auszuspähen, um der Kritik mit Kritik zu begegnen oder wohl gar ihr zuvorzukommen. In dieser beständigen Anspannung lebte sie ordentlich auf wie ein alter Seemann, der sehr lange am Lande still gelegen und nun durch ein glückliches Ungefähr doch noch einmal dazu kommt, Salzwasserluft zu atmen und sich mit Wind und Wellen zu messen.

Fast in demselben Maße aber zeigte sich auch bei Fräulein Alma Hoven eine Gegenwirkung, an welche die beiden jugendlichen Kurmeister gar nicht gedacht hatten. Sie war es bisher gewohnt gewesen, mit ihrer Wohlweisheit und Besserwisserei nirgendwo auf Widerspruch zu stoßen; denn als eine wohlhabende und freistehende ältere Dame fand sie stets Leute, die von Beruf oder aus zarter Berechnung darauf eingerichtet waren, ihre Laune mit zielbewußter Ergebenheit schweigend zu ertragen; wer nicht von dieser Art war, ging ihr lieber mit einem frommen Wunsche aus dem Weg. So hatte sie sich ziemlich fest in ihre Unfehlbarkeit hineingeredet. Nun aber sah sie sich plötzlich abgewiesen, ja angegriffen. Das regte sie an, es erhöhte sogar ihre Achtung vor der anfangs unterschätzten Gegnerin. Sie fing an, hinter Frau Mariens selbstanklagender Ergebenheit eine besonders feine weibliche Strategie zu wittern, die mit dem Eingeständnis eigener Unzulänglichkeit den andern versöhnt und einlullt, um ihn dann um so sicherer an der schwachen Stelle zu fassen. So entlehnten sie die Waffen voneinander, was dem friedlichen Kampf der Geister immer neue und anziehende Züge verlieh. Da sie aber zugleich nach Art kluger und häuslich gesinnter Frauen einander viel Nützliches für Haus und Leben ablernten, so gewann ihr Verkehr einen festen Boden, ja er versprach sich schon zu einer Art Freundschaft auszuwachsen – zu jener Freundschaft, die darauf begründet ist, daß die eine die Vorzüge der andern willig erträgt, weil sie auch deren Fehler zu kennen glaubt und sich allzeit in der Lage weiß, die Beschreibung der Freundin mit den Worten zu eröffnen: „Ach, das ist eine vortreffliche Frau! – Nur ….“

Im angenehmen Gefühl dieser wachsenden Verbindung fingen sie bereits an, inmitten des Kampfes zuweilen einen kleinen Waffenstillstand darauf zu verwenden, daß sie die erprobte Kraft gemeinsam auf einen Dritten richteten und sich die fremde Fehlerhaftigkeit zum Spiegel ihrer Tugenden zurechtschliffen.


4.

Auch Thea Siebold mußte die Waffen der Verbündeten fühlen. Das blonde Fräulein hatte sich seit einigen Wochen ziemlich rar gemacht, ohne daß Gertrud sie vermißte. Eines Tages, ein Stündchen vor Abenddämmern, sprach Thea doch einmal wieder vor. Sie erkundigte sich aber gleich mit einer gewissen Aengstlichkeit, ob Fräulein Hoven da sei, und als Gertrud erwiderte, die Dame lustwandle mit Mama im Garten, trat sie gar nicht ein und beschränkte sich auf ein paar Worte zwischen Thür und Angel.

[448] „Weißt du,“ sagte sie, „das ist eine schreckliche Dame ….! Und deine Mutter ist auch so kolossal verändert, gar nicht mehr so freundlich wie früher; ich weiß gar nicht, was sie auf einmal gegen mich hat …. Neulich trafen sie mich in der Konditorei, ich hatte mir bloß etwas Vanilleeis geben lassen – da sieht mich das Fräulein ordentlich traurig an und sagt: ‚Sie sind wohl sehr für Süßigkeiten, liebes Kind? Ach ja, ich hatte auch einmal eine Freundin in meinen jungen Jahren, die liebte die Näschereien sehr – ein armes Wesen. Sie hat so ein trauriges Ende genommen.‘ Nun bitte ich dich, was geht mich ihre Freundin an? Ich kenne sie selber ja kaum. Und deine Mutter nickt dazu und sagt ganz streng: ‚Sie sollten sich diese Neigung beizeiten abgewöhnen, liebe Thea. Ich bin froh, daß ich als junges Mädchen nie Eis und dergleichen gegessen habe!‘ Kolossal, was? Wo sie mir doch hier immer zuredet, daß ich noch mehr von ihren leckeren Sachen versuchen soll! So etwas kann einen kränken!“

Sie sah wirklich sehr gekränkt und angegriffen aus. „Ach ja,“ erwiderte sie auf eine teilnehmende Frage Gertruds, „ich habe auch viel durchgemacht in der letzten Zeit. Du erinnerst dich wohl, daß ich dir von einem gewissen Herrn Adolf Schräger erzählte – einem jungen Menschen, den ich auf einem Ball bei meinem Onkel kennenlernte?“

„Ich glaube, ja,“ sagte Gertrud. „Es war doch der junge Kaufmann, mit dem du so viel über Poesie gesprochen hast und der so gut Walzer tanzte, nicht wahr? Du schwärmtest ja ordentlich für ihn.“

„Erlaube,“ warf Thea ganz zornig ein, „da irrst du dich doch kolossal! Ich und für diesen Menschen schwärmen – lächerlich! Er kam mir ja gleich widerwärtig vor. Und siehst du, wie richtig ich ihn erkannt habe! Es war derselbe, der mir als Marquis Posa das dumme Zeug geschrieben hat.“

„Um Gottes willen,“ rief Gertrud erschreckt. „Weiß er denn, daß die Briefe an ihn von dir waren? Du hast sie doch hoffentlich alle wieder?“

„Nein,“ versetzte Thea, „daß ich die Briefschreiberin bin, weiß er zum Glück nicht; sonst könnte ich ja keine ruhige Stunde mehr haben. Und die Briefe habe ich wieder! Mühe hat’s freilich gekostet. Man hat sie ihm ordentlich abtrotzen müssen.“

„Man? Wer ist das? Dein Vater?“

„Behüte,“ lachte Thea, „das fehlte gerade noch. Nein, das hat Herr Meißner besorgt – ein Kaufmann aus derselben Stadt – ein reizender Mensch.“

„Woher kennst du denn den wieder?“

„Ach, weißt du, man hat so seine Verbindungen,“ erwiderte Thea ausweichend. „Er reist übrigens in Wein, ich habe ihm gesagt, daß er nächstens auch ’mal bei euch anfragen soll. Du darfst ihn aber nicht merken lassen, daß ich dir von der Sache gesprochen habe! Adieu, Herzenstrudchen, grüß deine liebe Mutter von mir! Aber das sag’ ich dir, das habe ich jetzt heraus: nimm dich vor heimlichen Briefen in acht, es ist eine kolossale Dummheit, und es kommt nichts dabei heraus als lauter Aerger und Verdruß!“

Gertrud blickte ihr lächelnd nach und stieg wieder die Treppe hinauf zu Hartwigs Zimmer, um dort noch einmal heimlich zum dritten- oder viertenmal seinen Brief zu lesen, den sie am Morgen dem Briefträger abgelauert hatte. Es war voraussichtlich der letzte; denn zugleich mit ihm war eine Karte von Hartwig an Frau Swarteborn gekommen, worin er ihr ankündigte, daß er in den nächsten Tagen zurückkehren werde, und Fräulein Alma Hoven war bereits darauf gefaßt, ihre Residenz nach dem Fremdenstübchen, einen Stock höher, zu verlegen. Sie wollte lieber für den Rest ihres Aufenthalts in der Stadt dort oben in der Enge unter dem Dach hausen, als Frau Mariens freundlichen Gutnachtgruß mit den gefühllosen Verbeugungen eines Oberkellners vertauschen. Selbst an Gertruds stilles und bescheiden schweigsames Wesen hatte sie sich gewöhnt und begegnete ihr mit einer aufrichtigen Freundlichkeit, deren sich junge Mädchen sonst nicht leicht von ihr erfreuten.

Nachdem Gertrud den Brief nochmals durchstudiert hatte, legte sie ihn vor sich auf den Tisch, um sich noch eine Weile an seinem Anblick und besonders an der Adresse zu ergötzen, während drunten im Garten die Finken zwitscherten und der Sand zuweilen leise unter den Füßen der auf- und abwandelnden Damen knirschte. Hartwigs und Gertruds Gedankenaustausch war von Brief zu Brief vertraulicher geworden, in den Formalien aber hatte sich wenigstens von ihrer Seite nichts geändert und auch er unterzeichnete nach wie vor mit seinem vollen Namen. Sie fand, daß es ein sehr schöner Name sei und daß er ihn sehr schön schreibe; wie sie ihn nun wieder vor sich sah, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, zu versuchen, ob sie ihn wohl so schön nachmalen könne. Da sie es aber zum dritten- oder viertenmal versuchte, merkte sie plötzlich, daß sie sich zuletzt verschrieben und statt seines Vornamens ihren eigenen vorangesetzt hatte. Sie errötete sehr und konnte sich doch nicht enthalten, die verschriebene Zeile halblaut nachzusprechen.

In diesem Augenblicke hörte sie unten ein Geräusch im Hausflur ünd gleich darauf einen leisen Schritt auf der Treppe. Erschrocken fuhr sie auf und wußte in der ersten Bestürzung den Brief nur mit ihren Händen zu decken. Bereits aber öffnete sich die Thür und Hartwig Hoven sah sie mit glückseligem Staunen an. Sie that unwillkürlich einen Schritt zu ihm hin und streckte ihm die Rechte grüßend entgegen; da trat er nahe, legte den Arm um sie und küßte sie auf den Mund. Sie bog sich zur Seite und schüttelte das Haupt, ohne ihn anzusehen, er aber zwang sie mit leiser Gewalt, aufzusehen, blickte ihr lächelnd in das erglühende Antlitz und sagte, auf ihre Schreibübung deutend: „Doch, Gertrud!“ Da nickte sie verschämt und erwiderte seinen Kuß.

Sie hatten sich viel zu sagen. Gertrud bedeutete ihn aber, leise zu sprechen, indem sie mit der Hand nach dem Garten hinunterwies. Die beiden alten Damen hatten sich inzwischen an dem Tischchen unterhalb des Fensters niedergelassen, deutlich klang jetzt ihr lebhaftes Plaudern herauf. „Das geht ja herrlich,“ flüsterte Hartwig, „was haben sie denn nur?“ Er faßte Gertrud bei der Hand und stellte sich mit ihr leise hinter den Vorhang …

„ … Darin haben Sie leider recht, meine Liebe,“ ließ sich unten die Stimme des Fräuleins vernehmen. „Wenn ich bloß bedenke, wie viel Sorgen und Befürchtungen ich mir früher immer um meinen Neffen gemacht habe – wenn er es auch jetzt nicht mehr recht Wort haben will! Nun, es ist ja gottlob nicht vergebens gewesen – er ist ein tüchtiger Mann geworden, und ich darf sagen, er schlägt nicht aus der Art – Sie kennen ihn ja! Aber nun erst ein junges Mädchen, und heutzutage – ach ja, das glaub’ ich Ihnen schon, das wird Ihnen viel Sorge gemacht haben, so brav Ihre Gertrud auch ist. Und was haben Sie schließlich davon? Ueber kurz oder lang kommt doch so ein Freiersmann, dann haben Sie später das Elend mit dem Schwiegersohn, und wenn er schlechte Geschäfte macht, oder er ist Doktor und bekommt keine Praxis, wie das jetzt meist ist, denn, ich bitte Sie, wo sollen alle die Kranken herkommen? – trotz der Menge neuer Bacillen – ja, dann haben Sie als Mutter den ganzen Jammer mitzutragen! Ich meine, Sie müssen sich am Ende noch glücklich schätzen, wenn das liebe Kind bei Ihnen bleibt und in Ehren allein alt wird. ‚Alte Jungfer‘ – du lieber Gott, die Leute schwatzen viel davon; aber ich versichere Sie, es hat auch seine Vorzüge.“

Auf diese Worte folgte ein etwas ärgerliches Räuspern, und dann erwiderte die Stimme der Hausfrau:

„Meine Teuere, sollten Sie da nicht doch etwas zu schwarz sehen? Was die Leute so von den alten Jungfern reden – mein Gott, ich weiß nicht, wie viel daran wahr ist; ich bin eine Witwe und habe in der Ehe mein Häufchen Kummer gehabt wie jede, aber auch viel Glück! Und mit den jungen Männern von heutzutage – das wird auch nicht so schlimm sein. Es braucht ja kein Arzt oder Kaufmann zu sein, und wenn er es ist, so braucht er ja nicht notwendig ohne Praxis zu bleiben oder Bankrott zu machen. Mein Seliger hat’s nicht gethan … Und ich versichere Sie, wenn ein ordentlicher, solider junger Mann ’mal käme – geangelt wird nicht! – aber wenn er käme, und das Mädchen hätte ihn lieb und er hätte sein Auskommen – na, dann mag er sie nehmen! Denn dazu hat der liebe Gott sie gemacht… Und vor mir braucht er nicht bange zu sein; wenn er sich die Schwiegermutter genau anschaut, guckt doch allemal die Mutter heraus.“

„Nun, Sie werden ja sehen,“ erwiderte Fräulein Alma. – „Was war denn das da oben am Fenster?“

„Ich weiß nicht,“ antwortete Frau Marie, „es wird meine Tochter sein. – Aber mir scheint, da ist Besuch im Flur, haben Sie denn die Hausklingel gehört?“ Sie stand auf, wäre aber im [450] nächsten Augenblick fast wieder zurückgesunken, da die Flurthür sich öffnete und Hartwig Hoven erschien, Hand in Hand mit Gertrud.

„Verzeihen Sie, verehrte Frau,“ sagte er höflich grüßend, „ich kam eben von der Reise zurück und hatte den Vorzug, zufällig einige Worte von Ihnen zu vernehmen, die für mich – und, was ich eigentlich zuerst sagen sollte, für Ihre Fraulein Tochter von höchstem Werte sind. Gestatten Sie mir daher, sogleich jetzt – wenngleich nicht im entsprechenden Besuchskleide – Sie um die Hand Ihrer Fräulein Tochter zu bitten! Denn ich traue mir zu, den Bedingungen, die Sie an Ihren zukünftigen Eidam stellen, zu entsprechen, und Gertrud traut es mir auch zu!“

„Ja … aber …“ sagte Frau Marie und starrte ihn an, während Gertrud sich an sie lehnte und liebkosend ihre Hand streichelte. Fräulein Alma Hoven aber, die mit einem gewissen Wohlgefallen der Rede ihres Neffen gefolgt war, wandte sich jetzt lächelnd zu Frau Marie: „Da sehen Sie, meine Liebe, was einer Mutter alles passieren kann!“ sagte sie.

Diese Worte weckten Frau Marie aus ihrer Bestürzung. „Aber, mein liebes Fräulein,“ sagte sie fest, „ist das denn so etwas Schreckliches? Sie werden gewiß die Erste sein, die mir zu meinem Schwiegersohn Glück wünscht – und was mich angeht, ich bin ja sehr überrascht, und wie das alles gekommen ist, muß ich wohl später noch fragen – aber wenn es denn sein soll, Herr Hoven, gebe ich Ihnen gerne meinen Segen und mein Kind, Sie werden es gewiß glücklich machen!“ – – –
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So hatte sich Gertruds Befürchtung, die sie am ersten Abend nach Fräulein Hovens Einzug nur unter Thränen einschlafen ließ, doch erfüllt: Hartwig bezog seine Wohnung nicht wieder. Statt seiner übernahm Fräulein Alma beide Zimmer als ständige Mieterin.

Dies entsprach einem kurzen Vortrag, mit dem das alte Fräulein noch am Abend der Verlobung sich die wärmste Dankbarkeit des jungen Paares sicherte. „Um eins bitte ich Sie, liebe Freundin,“ sagte sie zu Frau Marie, „reden Sie den beiden nicht zu, ihren jungen Ehestand hier in einem Hause mit Ihnen einzurichten! Das hab’ ich oft gesehen, und es hat noch nie gut gethan. Und schließlich, was hätten Sie davon? Hartwig wird jetzt avancieren, er wird versetzt werden, wer weiß wie bald; dann hätten Sie die Trennung doch. Besser, man gewöhnt sich daran beizeiten. So lange die beiden hier in der Stadt bleiben, werden sie die Mutter und die Tante doch noch gerade oft genug bei sich sehen. Aber lassen Sie uns beide beisammen bleiben! Ich bin des öden Reisens nachgerade satt; ich brauche mehr Ruhe, und Ihnen kann ein bißchen mehr Anregung – na, sagen wir Aufregung nichts schaden. Also, wenn es Ihnen recht ist – schlagen Sie ein! Am Ende kommen wir wohl miteinander aus.“

„Es wird denn wohl nichts anderes übrig bleiben,“ sagte Frau Marie mit einem leichten Seufzer und legte ihre rundliche Rechte zwischen die überschlanken Finger des Fräuleins.

Einige Tage nach der Verlobung trat das junge Paar die übliche Besuchs- und Vorstellungsrunde an. Obenan auf der Liste stand natürlich Hartwigs Vorgesetzter. Der Postrat wünschte mit einer Herzlichkeit Glück, die bei dem strengen, nur seinem Dienste lebenden Manne selten war und das beste Zeugnis gab, wie sehr er Hartwig schätzte; Thea war „kolossal entzückt“. Uebrigens war noch ein Besuch dort, ein wohlbeleibter, soldatisch dreinschauender Mann in grüngrauer Uniform, der als Oberförster vorgestellt wurde. Während der Postrat vor dem Scheiden noch einige Worte mit Hartwig allein sprach, faßte Thea Gertruds Arm und zog sie ins Nebenzimmer. „Das geht ja jetzt fix mit dem Verloben,“ flüsterte sie. „Heute früh hat mir schon wieder eine neue Braut ihr Glück verkündet. Du wirst die Anzeige wohl zu Hause finden; und rate mal, wer? Die Gudula Wöllchen! Sie heiratet einen Kaufmann – Weinhändler; er wird sich hier niederlassen, vermutlich übernehmen sie nebenbei auch die Weinstube. Ein sehr netter Mensch übrigens, ich kenne ihn; er heißt Friedrich Carl Meißner.“

„Meißner – Meißner,“ wiederholte Gertrud nachsinnend, „wo habe ich doch den Namen gehört? Ach so – erzähltest du mir nicht neulich wegen der Briefe –“

„Pst!“ machte Thea. „Ja, das ist er – durch die Geschichte hat er überhaupt die Gudula kennengelernt – also eigentlich durch mich. Kolossal, was? Sag’ mal – wie hat’s denn mit euch eigentlich angefangen?“

„Ach,“ sagte Getrud, „eigentlich auch so!“ Und um weiteren Fragen vorzubeugen, streichelte sie dem Pusselchen freundlich die blonden Stirnlöckchen zurück und fragte: „Wie steht’s denn mit dir, Theachen?“

Thea errötete und winkte mit dem Kopfe nach der halboffenen Thür, durch welche eben der breite Rücken des Oberförsters sichtbar wurde.

„Ei!“ sagte Gertrud verwundert.

Thea nickte eifrig und verschämt. „Diesmal ist’s ernst,“ sagte sie … „Ich habe ihn schon früher auf dem Lande kennengelernt, weißt du … und es ist ein vortrefflicher Mensch. Papa kennt ihn schon lange – sie sind ja nur zwölf Jahre auseinander.“

Das sagte sie so treuherzig und harmlos, daß Gertrud sich nicht enthalten konnte, sie herzlich zu küssen. – „Weißt du,“ sagte sie zu ihrem Verlobten, als sie ihm im Wagen die Neuigkeit erzählt hatte, „der liebe Gott bringt doch merkwürdige Paare zusammen. Von uns will ich da nicht reden – aber die Freundschaft zwischen Mama und Tante Alma – und nun Thea Siebold mit diesem Oberförster! Er könnte ja beinahe ihr Vater sein!“

„In etwas wird er ihn wohl immer bei ihr zu vertreten haben,“ erwiderte Hartwig. „Und übrigens, warum sollen sie nicht zusammen passen? Ich kenne das Forsthaus, die Gegend ist romantisch genug, und es ist immer ungefährlicher, mit den Bäumen und Tieren des Waldes romantisch zu reden als mit den Menschen. Und wenn sie ihm zuweilen auch etwas zu poetisch vorredet, so kann er es als Ersatz für das Jägerlatein nehmen, für das er so wenig Talent hat. Denn er ist als der nüchternste und bravste Mann auf zehn Meilen in der Runde berühmt. Sie werden sich ausgleichen müssen. Das aber scheint mir kein Unglück, vielmehr eine schöne Aufgabe für jedes Paar und, wenn sie gelingt, die sicherste Gewähr für sein Glück.“

„Du,“ sagte Gertrud, „dann sind Mama und Tante Alma doch eigentlich ein sehr glückliches Paar. Denn wie haben die sich ausgeglichen!“