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Gartenlaube 1897 Heft 03 Korrekturen
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Nr. 3. | 1897. | |
Die Gartenlaube.
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(2. Fortsetzung.)
Am andern Morgen, als die Frau Oberhofmeisterin von der Andacht aus den Zimmern der Herzogin zurückkehrte, fand sie ein Briefchen von ihrem Neffen auf dem Schreibtische liegen. Der kurze Inhalt war. „Wann kann ich Dich sprechen?“
Die Tante ließ antworten: „Sofort!“
Er kam auch wirklich bald. Frau von Gruber, die im Erker saß und sich damit beschäftigte, eine Liste durchzusehen, welche die Namen der um Weihnacht zu berücksichtigenden städtischen Anstalten enthielt, sah ganz entsetzt den blassen, ernsthaften Mann an, in den sich über Nacht der übermütige junge Offizier verwandelt hatte.
„Aber, Junge, wie siehst du aus?“ stammelte sie.
Er machte eine abwehrende Bewegung mit seiner Rechten und setzte sich ihr gegenüber. Der falbe Tagesschein ließ die Veränderungen in seinem Gesicht noch schärfer hervortreten. Unwillkürlich nahm die alte Dame seine Hand, die ungeduldig auf dem Tischchen trommelte, zärtlich in die ihre.
„Heinz, du weißt ja, ich habe selbst nicht viel, aber wenn ich augenblicklich dir aushelfen kann – bitte, sag’s mir. Du möchtest vielleicht etwas nach Hause schicken oder gar selbst hinreisen? – Wie?“
„Du triffst den Nagel immer aus den Kopf, Tante! Ich nehme dein Anerbieten an.“ erwiderte er. Es war, als ob jeder Klang aus seiner Stimme gewichen sei. „Nicht nur wegen zu Hause,“ fuhr er fort, „aber weißt du, es ist auch nicht angenehm, wenn man ohne einen Dreier in der Tasche auf Freiersfüßen
[38] gehen soll. Sag’ mal – wieviel hat sie nun denn eigentlich geerbt? Aber – laß das nur, es kommt auf ein bißchen mehr oder weniger nicht an, meinen Kaufpreis mag ich auch gar nicht wissen, ich könnte am Ende, arrogant wie ich bin, herausfinden, daß ich mehr wert bin als ihre lumpigen paar Tausend!“
Frau von Gruber war jäh aufgestanden. „Heinz,“ stieß sie zürnend hervor, „ich habe dich immer als einen zartfühlenden, delikaten Menschen gekannt, aber – –“
„Lieber Himmel, Tante, ereifere dich doch nicht! Ich bin mit dem besten Willen nicht imstande, Hokuspokus dir gegenüber zu machen um diese Sache, die doch ganz und gar nach deinem Herzen ist, sogar ein Lieblingswunsch von dir – das weißt du wohl besser als ich. Nun könnte ich ja uns beiden allerhand vorlügen, um die Geschichte ansehnlicher zu machen, aber, siehst du, es geht nicht, noch nicht, ich muß mich erst daran gewöhnen, diese Komödie zu spielen – – sieh nur nicht so entsetzt aus! Du weißt ja, Tante, daß die Heirat nach Geld jetzt eine Existenzfrage geworden ist – und zwar nicht um meinetwillen. Weiß Gott, stünde ich allein, morgen wäre ich weit fort von hier, irgendwo in der Welt, wo einer arbeiten kann im Drellrock, wo man essen kann, was man will, ohne kontrolliert zu werden, wo es standesgemäß hergeht, oder wo man ein Stück trocken Brot hinunterwürgt. Aber da, die alte Frau, weißt du – na, wir verstehen uns, und bevor ich zu einem Agenten gehe, will ich dich fragen, wie ist’s mit der Toni?“
Die alte Dame hatte sich unter den schneidenden haarscharfen Worten wieder gesetzt. „Du willst sie nur des Geldes wegen nehmen, Heinz, und im übrigen ist sie dir ganz gleichgültig.“ Sie versuchte, ihm wenigstens etwas Beschönigendes abzulocken.
Aber er ging nicht darauf ein. „Ja!“ sagte er kurz. „Frage nicht so, Tante, ich nehme sie um ihr Geld, wie sie mich vermutlich nimmt, weil sie durchaus einen Mann haben will, etwas, das ganz bekannt ist in der Residenz und hier. Nach jedem Kameraden, der hierher kommandiert war, hat sie ihre Netze ausgeworfen, auch nach mir – –. Nun schön, ich will mich fangen lassen, es erspart mir die Mühe, eine andere zu suchen, und was dich betrifft, Tante, so bitte ich, sei meine Freiwerberin und wenn du kannst, bald. Ich gestehe, mir brennt der Boden unter den Füßen – ich möchte Mama sehen.“
„Aber, ums Himmels willen, so plötzlich! Was soll Toni denken?“
„Herrgott, die wird’s äußerst begreiflich finden, ich habe ihr ja gestern abend die Cour geschnitten wie toll.“
„Schon in der Absicht, sie zu – –?“
„O, liebe Zeit, nein! Nein! Indes, es geht ja nun ganz gut.“
„Aber, Heinz, wenn sie es merkt, welcher verzweifelten Stimmung dieser Antrag entspringt?“
„Ueberlasse doch mein Verhalten ihr gegenüber vertrauensvoll mir, Tante! Das Einzige, um was ich dich bitte, ist, daß du sie vorbereitest. Drehe es nun, wie du willst! Wenn du mir sogenannten günstigen Bescheid bringst, werde ich an sie schreiben.“
„Warum nicht persönlich werben, Heinz?“
„Ich kann es besser schriftlich thun.“
„Und wann willst du, daß ich –? Toni liest Ihrer Durchlaucht eben vor, vielleicht während Durchlaucht mit Seiner Excellenz konferiert und Toni im Musiksaal Klavier spielt?“
„Wie du denkst, Tante! Meinetwegen auch mit Musikbegleitung.“
„Aber Heinz, so bald?“
„Sofort, Tante, wenn möglich sofort! Lasse mir Bescheid zukommen! Sobald ich ihr Jawort habe, reise ich zu Mutter.“
Um ein Uhr schickte Frau von Gruber ihrem Neffen ein Zettelchen „Ich gratuliere dir, sie liebt dich.“
Er hatte es aufgegeben, an Toni von Ribbeneck zu schreiben es wäre eine Feigheit gewesen, und feig war er nicht. Er nahm den Helm, ließ sich bei dem Fräulein melden und wurde gleich darauf in das mit blau und weiß broschierter, etwas verblichener Seide ausgestattete Hofdamenzimmer geführt, das von der jetzigen Bewohnerin verschwenderisch ausgeschmückt war mit Statuetten, Makartbouquets, Eisbärfellen, Nippes und Photographien aller Art. Ein starkes mit Patchouli untermischtes Parfüm wehte ihn an und erschwerte ihm das schon mühsame Atmen.
Er ließ seine Augen in dem Zimmer umherschweifen. Toni von Ribbeneck war nicht darin. Er wollte sich sammeln, aber er war schlechterdings nicht imstande, sich vorzustellen, wie sich die nächste Viertelstunde seines Lebens abspielen werde. So stand er und starrte einen japanischen Schirm an, auf dem buntschillernde Vögel gestickt waren.
Gott im Himmel, wie anders hatte er sich sein Freien gedacht!
Und dann trat sie ein, klein, blond, ohne Frische, untersetzt. Keine Spur mädchenhafter Verlegenheit auf dem runden Gesicht, die Augen, die groß und farblos waren, erwartungsvoll auf ihn gerichtet, und doch so, als habe sie keine Ahnung von dem, was ihn hergeführt. Sie trug eine Hausrobe von mattblauem Seidenplüsch, so verblichen wie ihre Augen und so matt wie ihr straff zurückgenommenes Blondhaar.
Es war ihm plötzlich, als zöge eine unsichtbare Macht ihn wieder der Thüre zu. Nein, nein, das war nicht die, die er in seine Arme nehmen konnte, um sie Braut und Liebste zu nennen! Aber da sah er wieder das gramdurchfurchte Antlitz der alten Frau, die seine Mutter war.
„Gnädiges Fräulein,“ stammelte er endlich, „Sie wissen, weshalb ich hier vor Ihnen stehe – –“
Sie senkte stumm den Kopf und setzte sich auf den kleinen Fauteuil, der hinter dem japanischen Schirm stand, indem sie mit der Hand einen ihr gegenüber stehenden Schemel bezeichnete, auf den er sich niederlassen sollte. Das blendende Licht der Fenster traf ihn voll, während sie im Schatten blieb. Noch immer verharrte sie stumm mit keiner Bewegung, keinem Worte kam sie ihm zu Hilfe; sie wollte den erhebenden Augenblick, in dem ein Mann sie zur Frau begehrte, voll auskosten.
„Ahnen Sie es nicht, gnädiges Fräulein,“ begann er endlich, „erraten Sie nicht, daß ich eine große, sehr große Bitte an Sie zu richten im Begriff bin, daß ich – –?“
„Daß Sie mir sagen wollen ‚ich liebe Sie, Toni!‘“ unterbrach sie ihn mit ihrer spitzen klanglosen Stimme.
Er verbeugte sich zustimmend.
„Und daß Sie mich heiraten wollen, Kerkow!“
Wieder eine stumme Verbeugung.
„Aber – wenn ich nun nicht in der Lage wäre, wenn ich – – es kommt so plötzlich!“ Sie spielte, kokett lächelnd, mit den Schleifen ihres Kleides.
Er erhob sich sofort. „Pardon, gnädiges Fräulein!“
Ihr Lächeln verschwand augenblicklich. „Aber, Lieutenant Kerkow!“ sagte sie bestürzt und streckte die Hand aus, als wollte sie ihn halten.
„Mir ist nicht zum Scherzen,“ stieß er hervor.
„Nun denn, machen wir Ernst, Kerkow!“ rief sie und reichte ihm die Rechte hinüber, die er langsam an seine Lippen führte. „Und damit Sie es denn wissen, ich – ich habe es geahnt, daß Sie heute kommen würden.“
„Meine Tante –“ murmelte er.
„Nein, seit gestern abend, Kerkow, seit dem Souperwalzer.“
Das war der Walzer, mit dem er Aenne „kurieren“ wollte. Er wurde rot, so schämte er sich vor sich selbst, und küßte nochmals ihre Hand.
Sie schwieg und sah ihn an mit Augen die sich vom Glück belebten über den schönen, längst begehrten Mann „Kerkow,“ sagte sie leise, „warum kommen Sie heute erst?“
Er stotterte etwas von nicht gewagt haben –.“ Da fühlte er sich umfaßt, sie zog sich zu ihm empor und ihre Wange streifte die seine. „Heinz, ich weiß ja längst, daß du mich lieb hast, schon lange, lange!“
Er sah mit ganz verstörten Augen zu ihr hinunter, die nun den blonden Kopf an seine Brust gepreßt hielt.
„Schon längst? – Nein!“ sagte er laut, unfähig, sie in diesem Irrtum zu lassen, der einen überschwenglich beglückten Bräutigam voraussetzte. „Ich habe Sie immer nett und bewundernswert gefunden, aber der Entschluß, Sie als Frau zu begehren, der ist noch neu.“
Sie war empor gefahren und starrte ihn an, einen Zug grenzenloser Enttäuschung um den Mund. „So?“ antwortete sie.
„Ich bin ein Fanatiker der Wahrheit, und derjenigen, die meine Frau wird, kann ich nichts vorlügen,“ sprach er weiter.
Sie biß in die Unterlippe, sie wußte es ja ganz genau, daß [39] er in früheren Zeiten ihr eher ausgewichen war als sie zu suchen aber sie hatte doch gemeint, er werde sagen. „Ja, Toni, schon lange. Und dann hätte sie ihrer Familie schreiben können „Ich war seine einzige Liebe“ – „Dann liebten Sie eine andere?“ fragte sie durch die Zähne.
Er hatte Lust, mit dem Fuße aufzutreten. Was ging sie seine Vergangenheit an! „Baroneß,“ sagte er kurz, „bisher dachte ich nicht an die Ehe!“ – Das Wort „Liebe“ vermied er.
„Und das ist so plötzlich gekommen?“ Sie schlug schmachtend die Augen auf.
„Wie das kommt?“ fragte er zurück mit gefurchter Stirn.
„O, vergeben Sie, ich quäle Sie!“ rief sie geängstigt.
Er sah aus, als stände er im Begriffe, eine Abschiedsverbeugung zu machen und sporenklirrend hinaus zu gehen, und sie warf sich in den Sessel und begann zu weinen.
„Ich bitte Sie, mir zu verzeihen,“ begann er nun „ich bin vielleicht unzart gewesen, Toni, aber in dieser Stunde kann ich so wenig lügen, noch weniger als in jeder andern. Hat Sie mein Bekenntnis enttäuscht, so schicken Sie mich fort; behalten Sie mich trotzdem, so werde ich Ihnen dankbar sein mit jedem Atemzuge, denn ich bin ein bedrückter Mensch, der Schweres zu tragen hat und viel Geduld und viel Nachsicht braucht – von Ihrer Seite.“
Es lag etwas in seiner Stimme, das ihr imponierte, und sie dachte überhaupt nicht daran, ihn wegzuschicken, den schönen Heinz von Kerkow, um den sie beneidet werden würde auf und nieder im Lande. Sie hatte einen kleinen Versuch gemacht, sich von ihm belügen zu lassen, sie wollte ihn zwingen, ihr eine leidenschaftliche Scene vorzuspielen, es mißlang. Nun gut, er liebte sie nicht, aber er wollte sie heiraten, sie – oder ihr Geld – das genügte!
Sie reichte ihm die Hand. „Geduld, Nachsicht, soviel Sie wollen, Heinz, denn ich liebe Sie! Gehen Sie denn, lassen Sie sich bei Durchlaucht melden und bitten Sie um meine Hand!“ Und sie stand auf und bot ihm die Lippen. Er beugte sich langsam hinunter zu der kleinen Gestalt und küßte sie, kalt, formell. Sie zuckte zusammen, das war kein Brautkuß!
Und als er zur Thür schritt, folgte ihm ein Blick, der nicht viel versprach von Nachsicht, Geduld und Liebe. – „Freigeben“ dachte sie, „soll ich ihn freigeben?“ Dann schüttelte sie den Kopf.
„Nein! nun gerad’ nicht!“ – – – – – – – – –
Um zwei Uhr hatte das junge Paar bereits in seiner Eigenschaft als Verlobte vor der hohen Frau in dem kleinen dunkelrot dekorierten Eckzimmer gestanden und gnädige, von echtem Wohlwollen erfüllte Glückwünsche entgegengenommen, wenn auch Durchlaucht entschieden betrübt war, ihre liebe Ribbeneck zu verlieren und Frau von Gruber hatte ein paar Thränen dazu geweint. Die junge Braut besprach dann im Zimmer der Oberhofmeisterin mit ihrem Bräutigam die Form und die Anzahl der Verlobungskarten, und als die Tante diskret das Gemach verließ und nun eine lange peinliche Pause entstand, da wachte Heinz Kerkow aus seinem Stumpfsinn auf, nahm Mitleid und Ritterlichkeit zu Hilfe und zog das fremde Mädchen, dem nicht ein Schlag seines Herzens gehörte, an sich und dankte ihr noch einmal für ihr rasches rückhaltloses „Ja!“ und sagte, daß er bestrebt sein wolle, ihre Liebe immer mehr und mehr zu verdienen. Dann küßte er sie etwas scheu und zögernd auf die Stirn über ihren Kopf hinweg aber schweifte sein Blick wie gewaltsam angezogen, zum Fenster hinaus und blieb drunten am Hause des Medizinalrats May hängen. Zum letztenmal! sagte er sich, denn er wollte – er wollte ein guter treuer Gatte werden, und das war er schließlich doch auch sich selbst schuldig!
Dort unten saß die Familie May bei Tische, und im nämlichen Augenblick als der Blick des Mannes abschiednehmend das Häuschen des Leibarztes streifte, bemerkte dieser, der eben den letzten Löffel Suppe verzehrt hatte. „Und nun das Neueste, ich weiß es von Durchlaucht höchstselbst – der Heinz Kerkow und die Ribbeneck wollen sich heiraten.
„Das ist nicht wahr!“ schrie Tante Emilie auf und ihre erschreckten Augen flogen zu Aenne. Aber kein Zug veränderte sich in dem jungen Antlitz. Schweigend erhob sie sich und setzte die Suppenteller ineinander und goß ihrem Vater das Bier ein, wie alle Tage, nur essen konnte sie heute nicht. Aber sie blieb bei Tische bis zu Ende und sagte auch irgendwas zu der Neuigkeit, aber Tante Emilie verstand es nicht recht, nur die Worte „Freut mich für Toni“ klang es deutlich heraus.
Und langsam und ohne Hast erstieg sie die Treppe zu ihrem Sälchen, und was dort oben geschah – das hat niemand gesehen.
Aenne May ging folgenden Tages zur gewohnten Stunde mit Tante spazieren. Die kleine lebhafte, in heimlichem Mitleid fast vergehende Frau schlug den Weg nach der Stadt ein, in dem unbestimmten Gefühl, daß es dem Mädchen lieb sein würde, den Schloßpark heute zu vermeiden. Aber Aenne fragte. „Warum denn?“ Und so wanderten sie in dem prächtigen Garten umher, in welchem alles von der Poesie des Herbstes verklärt war: purpurn rote Weinranken, die sich um weiße Marmorleiber schlangen, gold und rot gefärbte Boskette, gelichtete Bäume, die zu trauern schienen um ihr Sommergewand, bunte Blätter, die unter ihnen auf feuchtem Rasen lagen oder auf dem stillen Wasser des Bassins schwammen. Aenne war sehr schweigsam, und einzig daran erkannte ihre Begleiterin den Gemütszustand des Mädchens, das, als ob es sich von selbst verstände, bis zur Schloßterrasse emporstieg.
„Dort oben wird’s zugig sein, Goldköpfchen“ meinte ängstlich die Tante.
„Aber die Aussicht desto schöner“ wandte Aenne ein, „der Sturm der vergangenen Nacht hat die Luft klar gemacht.“
Oben angelangt, stützte sich die stark asthmatische Frau, nach Atem ringend, auf das Geländer und zog ihr Tuch höher an den Hals hinauf, Aenne ging langsam um das Bassin herum zum Pavillon hinüber, in dem gestern noch Heinz Kerkow so lustig geschafft hatte, und lugte durch die Scheiben. Nach ein paar Minuten kam sie zurück, ein bitteres Lächeln um den Mund. „Nun können wir weitergehen, Tante,“ sagte sie.
„Was war denn in dem Pavillon“ fragte die Angeredete.
„Ein Tüncher, der die Wände überstreicht, so dicht daß man schon nicht mehr erkennt, wie sie ausgesehen haben,“ antwortete Aenne. „Nicht wahr,“ fuhr sie fort, „es wäre nett, wenn man es auch so machen könnte mit seinem Herzen, wenn man alles, was da drin gemalt und geschrieben steht, einfach frisch übertünchen könnte – wer das verstände – o! –“
„Welch ein Unsinn, Aenne!“ murmelte die alte Dame.
„Aber, verlaß dich darauf, Tante, ich lasse auch anstreichen hier innen, es wäre noch schöner, wenn man etwas mit sich herumschleppen müßte, das man nicht will, nicht brauchen kann, das weh thut wie ein Dorn den man sich eingerissen hat! –“
Sie sprach immer im Weiterschreiten, mit zurückgewandtem Kopf und wunderlich flackernden Augen. Dann waren sie unten im Park auf dem breiten Fahrwege angekommen, der in den Wald führt, und gingen wieder nebeneinander diesem entgegen. Hinter ihnen erscholl Pferdegetrappel und das leise Rollen einer Equipage auf Gummirädern. Aenne wandte ruhig den Kopf dem vorüberfahrenden Wagen zu. Es war eine Hofequipage, im Fond saßen Frau von Gruber und Toni von Ribbeneck, auf dem Rücksitz Heinz von Kerkow, in Civil und ganz reisemäßig angezogen mit Umhängetasche, Plaidrolle und einem Handköfferchen neben sich. Er sah nach der entgegengesetzten Seite hinüber, wo ein zahmes Reh stand.
Toni, in einem blauen Tuchkostüm, einen blauen Filzhut auf dem farblosen Haar, nickte gönnerhaft freundlich Aenne zu. Sie hatte heute Farbe und sah, wie Tante Emilie innerlich zugestand, ordentlich menschlich aus. Aenne grüßte zurück und schritt weiter mit undurchdringlichem Gesicht.
„Hör’, Kindchen,“ meinte die alte Dame, „wenn’s dir nichts ausmacht, so geh’ allein ein Stückchen weiter, ich besuch’ derweil Fräulein Stübken, kannst mich abholen nachher.“
Fräulein Stübken war das ältliche Fräulein, das dem Oberförster Günther seit dem Tode der Frau den Haushalt führte, eine Person, die als wandelndes Wochenblatt von Breitenfels galt, besonders für die Rubrik „Hofnachrichten“.
Aenne nickte, es freute sie, allein zu sein. Sie fühlte deutlich, daß in ihr etwas Totes war, von dem eine erschauernde Kälte ausging, daß sie aber alles aufbieten müßte, um dieses Gestorbene vor anderen geheim zu halten, diese armselige gewaltsam erstickte Liebe zu Heinz Kerkow. Das Blut schoß ihr sinnverwirrend in den Kopf, als sie daran dachte, daß er ihre heiße [40] Neigung erraten haben müßte, und sie hielt es für dringend notwendig, ihn in diesem Glauben wankend zu machen ihm einen schlagenden Beweis zu liefern, daß sie nichts weiter zu ihm gezogen habe als die harmloseste Jugendfreundschaft, und darum – –
Sie wußte, durch welches Mittel sie ihm beweisen könnte, daß sie ihn niemals geliebt habe, aber das war nicht leicht, und dennoch das einzige für diesen Fall – genau so brutal wie der Tüncherpinsel, der im Pavillon ihr Bild auslöschte! Wunderbar eigentlich, daß es geschah! Vielleicht hatte Toni Ribbeneck sich erkannt und geschmollt über ihre Nebenrolle. Nun, ihr Wunsch war ihm jetzt Befehl, je eher, je besser – weg damit! Aenne wollte es auch so machen, sie wollte das Bild in ihrem Herzen übermalen lassen, nicht mit einer glatten weißen Fläche wie droben, nein, mit dem Bilde eines andern!
Sie verfolgte in tiefen Gedanken einen schmalen Waldpfad, der neben der Chaussee durch dickes Buchen- und Haselgestrüpp hinlief, es war schon leichte Dämmerung, die Sonne ging heute nicht strahlend unter, sie hatte sich hinter eine finstere Wolkenwand verborgen und schien gewillt, die Erde früher als sonst im Dunkeln zu lassen. Aus der Ferne hallte ein Schuß durch den Wald, dann ein Schrei hoch in der Luft und der dumpfe Laut eines fallenden Körpers.
Aenne blieb stehen und schaute vorwärts, jemand kam ihr entgegen. Da war er, an den sie eben gedacht.
„Guten Abend, Herr Oberförster!“ erwiderte sie ein paar Sekunden später auf den Gruß eines großen breitschultrigen Mannes, der in graugrüner Joppe, die Büchse über der Schulter, vor ihr stehen geblieben war, an seinem Büchsensack hing ein erlegter großer Raubvogel, ein Bussard. Der Weidmann hatte ein ernstes, durch Wind und Wetter gebräuntes Gesicht, von dichtem Vollbart umrahmt, in welchem schon hier und da weiße Fäden schimmerten, eine gerade Nase und hellblaue Augen, die sichtlich erfreut Aenne betrachteten. Vornehm sah er gewiß nicht aus, aber recht stattlich und frisch, er verleugnete den Sohn des Holzhauers Günther durchaus nicht in seiner Erscheinung, aber er war ein einfacher zutraulicher Charakter wie alle solche. die mit und in der Natur gelebt haben und noch leben, und in seinem Berufe war er entschieden unschätzbar, wie der Umstand bezeugte, daß der Herzog ihn aus eigener Entschließung vom einfachen Förster in die Oberförsterstelle einrücken ließ, zum Aerger der jungen Herren, die auf der Akademie gebildet waren.
„Das ist ja eine unverhoffte Freude, Fräulein Aenne!“ begann er, „wollen Sie heim? Dann können wir zusammen gehen – das heißt,“ setzte er zögernd hinzu, „wenn’s Ihnen recht ist!“
Sie nickte und ging nun ziemlich dicht neben ihm, denn der Pfad war schmal und er hielt die Buchenzweige zurück, daß sie ihr nicht in das blasse Gesichtchen schlugen. Aenne wußte, wie dieser Mann seit langer Zeit an sie dachte mit treuesten und redlichsten Absichten, aber sie war ihm stets ausgewichen, sie hatte sich das Glück anders erträumt als an seiner Seite, als die Stiefmutter seiner Kinder – sie wollte ein ganzes, volles Glück.
Heute fragte sie plötzlich nach seinen Kindern. Ihre Stimme zitterte zwar ein wenig und sie sah zur Seite, aber wenn sie auch nicht den freudigen Schrecken gewahrte, der über des Mannes Züge glitt, an der bebenden weichen Stimme, mit der er antwortete, mußte sie erkennen, wie tief ihn diese Frage bewegte. Ein Diplomat war er nicht, er brachte nichts weiter heraus als. „O, ich danke Ihnen herzlich, Fräulein Aenne, es geht ihnen gut, so gut es Kindern gehen kann, die die Mutter entbehren.“
Das war sein altes Lied, aber es machte das Mädchen jetzt nicht erbeben, es war ihr auch nicht peinlich wie sonst – sie ging direkt auf ein bestimmtes Ziel los. Wie schwer ihr das werden müsse, was hinter diesem Ziele lag, daran wollte sie jetzt nicht denken.
„Ich habe sie lange nicht gesehen, die Kleinen,“ bemerkte sie, „sonst kamen sie mitunter herüber zu uns, aber –“
„O, Fräulein Aenne, ich dachte, es wäre Ihnen unangenehm,“ stotterte er, verwirrt von ihrem ganz veränderten Wesen.
„Aber warum denn, Herr Oberförster? Wirklich, ich habe Kinder gern, und die Ihrigen – ich habe mich doch schon mit ihnen geschleppt, als ich noch ein Backfisch war und damals, als wir in unserem Hause Christinchen verpflegten, damals, als – –“
„Als meine Frau starb,“ vollendete er. „Ja, ja, Fräulein Aenne, und sehen Sie, das kann ich Ihnen und Ihrer Mutter nie vergessen, solche Gutthat an einem Halbverzweifelten – das kettet mit starken Banden der Dankbarkeit an die, die sie uns erwiesen. Da, am Totenbette meiner Auguste, da hab’ ich’s erfahren, was es bedeutet – gute Freunde und getreue Nachbarn! Wie Ihre liebe Mutter da so still und selbstverständlich zu mir kam und sagte: ‚Die Kinder nehm ich mit, Günther‘ – und Sie, Aenne, Sie hatten so ein blasses Gesicht und so große Augen, der Tod war Ihnen so unfaßlich, so grauenhaft, Sie waren ja noch so jung, aber Sie nahmen doch die Aelteste, die auch kaum laufen konnte, auf den Arm – und – ja, Aenne – und – –“
Er blieb stehen, in seinem Gesicht zuckte es wie von großer innerer Bewegung. „Sehen Sie, Aenne – wenn Sie mir nur erlauben wollten, weiter zu reden,“ bat er, „aber ich habe Angst, es geht wie neulich, als ich – und Sie laufen fort – – Herrgott, ja, ich will schweigen, Aenne, ’s ist ja solche schreckliche Unbescheidenheit von mir, und – ich hab’s ja auch gemerkt, daß ein anderer da ist, den Sie – –“
Sie hatte wirklich einen Augenblick einen hastigen Schritt nach vorwärts gethan, so, als wollte sie sich, wie ein Reh vor dem Jäger, in den Wald flüchten. Aber als er von einem andern sprach, wandte sie sich jäh um. „Nein!“ stieß sie hervor, „ich – ich höre ja – –“
Es war jetzt fast dunkel auf dem schmalen Wege, kaum noch zu unterscheiden die Konturen der Gestalten, und so still, so furchtbar einsam! Der große Mann war stehen geblieben, sie vor ihm mit gesenktem Kopf, als erwartete sie den Todesstreich. Sie hörte eine Zeit lang nur sein rasches tiefes Atmen.
„Aenne“, stieß er endlich hervor, wie einen mühsam unterdrückten Schrei, „Aenne, ich dürfte? Sie wollten mich hören? Ich könnt’ Ihnen erzählen von der Hoffnung, die sich ganz unmerklich an Ihre Barmherzigkeit damals knüpfte? erzählen wie sie im Laufe der Zeit stärker und stärker wuchs, wie mein ganzes Leben bloß noch der einzige Wunsch ist, daß Sie, Aenne, daß Sie mir und meinen Kindern die Verlorene ersetzen möchten?“
Seine Sprache, anfangs hastig, war wie erstickt von emporquellenden Thränen. „Aenne,“ fragte er nochmals und faßte ihre Hände, „Aenne, sagen Sie doch nur – es ist ja gar nicht möglich – ich bin ein ungebildeter Mensch – – erst gestern abend, als Sie droben im Schloß am Flügel standen und so schön gesungen haben da sagte ich mir. ‚Nein, nein, das ist ja Thorheit, die ist viel zu schön, viel zu gut für dich alten plumpen Kerl!‘ Aenne, ich nehm’s nicht übel, aber sprechen Sie doch ein einziges Wort – könnten Sie denn – wäre es möglich?“
„Ja!“ klang es zu ihm herüber. Aber als er sie ungestüm an sich reißen wollte, schrie sie leicht auf und wich so entsetzt zurück, daß er ihre Hand frei ließ.
„Ja?“ wiederholte er, „aber – weshalb dann –?“ Und seine Rechte strich über die Stirne, von der er den Hut nahm.
Sie hatte sich gefaßt. „Ja!“ sagte sie noch einmal, „aber ich bitte Sie – ich bin so – – ach seien Sie nicht böse, lassen Sie uns ruhig nach Hause gehen, ich werde nachher mit Vater reden, und morgen –“
„Bis morgen?“ wiederholte er staunend, ungewiß.
„Morgen!“ sagte sie mit einer Stimme, die trostlos klang. „Jetzt nicht – man wird mich suchen, meine Tante wartet auch noch bei Fräulein Stübken in Ihrem Hause.“
Nun schritten sie hintereinander. Der Weg senkte sich jetzt steil hinab und der Oberförster öffnete vorangehend das Gatter, das den Wildpark vom Lustgarten scheidet. Sie blieb wartend stehen; als sie hindurch geschlüpft war, reichte sie ihm die Hand. „Morgen,“ sagte sie noch einmal.
Aber nun kam es über ihn wie ein Sturm, er hielt sie plötzlich in den Armen und küßte sie heiß und leidenschaftlich, und sie litt es wie betäubt ein paar Augenblicke, dann stieß sie ihn zurück, einen empörten Ausruf auf den Lippen. Und als er fragte, halb lachend und halb ernsthaft:
„Glaubst du denn, ich hätte dir ‚Gutenacht!‘ sagen können wie jeden andern Tag? Mädel, hast du denn keine Ahnung, wie einem zu Mute ist, der dich liebt, und den du so lange hast schmachten und zappeln lassen?“
Da brach sie in Thränen aus und lief wie gejagt durch die dunkle Allee, und hinter ihr scholl ein tiefes, glückliches Lachen.
„Morgen!“ rief er, „morgen!“
[41]
Herzerhebend ist es, den verschiedenartigen Regungen der begabten, geistig und körperlich gesunden Kinder nachzugehen, sie zu beobachten und erzieherisch zu behandeln; niederdrückend aber und oft auch ärgerlich scheint es zu sein, sich mit Unarten, Fehlerhaftigkeiten und krankhaften Zuständen aller Art abgeben zu müssen. Was ist darum natürlicher, als daß gerade diejenigen Kinder, welche der schärfsten Beobachtung, des gewissenhaftesten Verständnisses, der größten Geduld bedürfen, oft mit ärgerlicher Hast und unbarmherziger Strenge oder mit Gleichgültigkeit und kühler Zurückhaltung erzogen werden – die Schmerzenskinder! Es sei ferne, in allen Fällen einen Mangel an Elternliebe oder Liebe zu den Kindern überhaupt finden zu wollen, wenn das Sorgenkind in der Familie unzweckmäßig behandelt wird. Gerade weil die geängstigte Mutter, in ihrer unermüdlichen Liebe für ihr Kind, dessen Unglück oder Irrtum schwer empfindet, treibt sie Dasselbe entweder in ungeduldiger Hast an oder behandelt es mit schmerzlicher Resignation. In Bezug hierauf dürfte es vielleicht für denkende Eltern nicht ohne Interesse sein, sich von einem praktischen Schulmanne die häufigsten Erscheinungen auf diesem Gebiete vorführen zu lassen.
Wir beginnen unsern Gang bei denjenigen Erscheinungen die sich als eine gewisse auffällige psychische Zartheit kennzeichnen. Kinder, namentlich Knaben dieser Art, sind häufig der erzieherischen Einwirkung so unzugänglich, daß sie Eltern und Lehrer mit nicht geringen Sorgen erfüllen. Zum Glück sind diese in den meisten Fällen nicht allzu ernst zu nehmen, weil die krankhafte Empfindlichkeit nicht selten bei zunehmender Entwicklung des Selbstbewußtseins im höheren Kindesalter zu verschwinden oder wenigstens sich zu vermindern pflegt. Die größte Anzahl psychisch überzarter Kinder findet sich daher unter den Abc-Schützen, in der kleinen lieben Schar, welche die höhere Ausbildung ihrer Geisteskräfte eben begonnen hat. Gesunde Kinder, die gerade in die Schule eingetreten sind, pflegen sich mit einer gewissen Würde und Sorglichkeit um die Aufgaben und Pflichten zu kümmern, die das für sie gänzlich neue Schulleben in sich birgt. Anders die in Rede stehenden Sorgenkinder. Sie weinen und zittern, wenn die Stunde kommt, wo sie zur Schule gehen sollen. Aengstlich schmiegen sie sich in eine Zimmerecke oder sind nicht von der Mutter wegzubringen. Und das alles ohne eigentliche Ursache! Der Gedanke, von der Mutter, von zu Hause fortgehen zu müssen, reicht allein in solchen Kindern das seelische Gleichgewicht zu stören.
In der Schule sind sie gewöhnlich schüchtern, ungeschickt und interesselos. Am meisten macht ihnen die Oeffentlichkeit der Klasse zu schaffen. Die Schule ist ja ein Staat im kleinen, und die Eigenschaften, wie auch die Leistungen des einzelnen Kindes sind in gewisser Hinsicht der öffentlichen Vergleichung, Beurteilung und Bewertung ausgesetzt. Hieraus entspringt ein zwar scharfer, aber doch gesunder Luftzug, der zur Bildung des Charakters mit Hilfe der Selbsterkenntnis, der Selbstbeherrschung und der Selbstveredlung unentbehrlich ist. Vielen Kindern geht es jedoch mit ihm wie mit dem scharfen Gebirgswind. Er ist ihnen zu rauh, und das oft auch noch dann, wenn der Lehrer alles thut, um die natürliche Strenge des auf Wahrheit und Gerechtigkeit begründeten Schullebens nach Maßgabe der Eigenart des einzelnen Kindes zu mildern. Einem tüchtigen Lehrer, der in den kindlichen Seelen zu lesen versteht, gelingt es allerdings in vielen Fällen, das Selbstbewußtsein der überzarten Schulkinder nach und nach so zu stärken, daß die kleinen Blumen im Schulgarten ihre Köpfchen und Aermchen kräftig heben und strecken, um im frischen und fröhlichen Wachstum und Blühen des Geistes mit den andern den Wettstreit zu versuchen.
Aber in manchen Fällen ist alle Kunst umsonst. Es sind dem Verfasser Kinder bekannt, die während ihrer ganzen Schulzeit stets mit einer gewissen stumpfen Empfindlichkeit zu kämpfen haben, die ihnen die Freude am Unterricht und am Lernen nimmt. Unter ihnen befinden sich solche, welche sogleich in eine unerklärliche ablehnende, ärgerliche oder auch gedrückte Stimmung verfallen, wenn es sich um ihre Person handelt. So wird z. B. ein 13jähriger Knabe, dessen Leistungen mit zu den bessern gehören, gleichwohl stets eigentümlich unangenehm berührt, wenn er aufgerufen wird, um etwa eine von ihm gelieferte schriftliche Arbeit zu besprechen oder zu verbessern. Die Folge ist gewöhnlich die, daß er nach einigen Fragen keine korrekte Antwort mehr erteilen kann. Dann ist mit ihm nichts mehr anzufangen, und er sitzt 10 bis 15 Minuten lang in dumpfem Hinbrüten in seiner Bank. Allmählich erst beteiligt er sich wieder am Gange des Unterrichts. Besonders schlimm sind diese Zustände bei ihm während des mündlichen Rechnens. Es kommt vor, daß er, sobald sein Name genannt wird, Aufgabe und Lösung aus dem Bewußtsein verliert. Die hierdurch in seinem Geiste hervorgerufene Verwirrung mit allen den unangenehmen Gefühlszuständen bewirkt nicht selten eine völlige geistige Unfähigkeit des Kindes während der betreffenden Unterrichtsstunde.
Das ist ein sehr störender und bedenklicher Fall von psychischer Zartheit. In Fällen leichterer Art sind die Kinder mit einer allzu weichherzigen Empfindsamkeit und weinerlichen Befangenheit belastet. Von einem Mädchen wird berichtet, daß es erst ein langes, krankhaftes Weinen vorübergehen lassen muß, bevor es imstande ist, dem von ihm nicht etwa gefürchteten, sondern vielmehr hochgeschätzten Lehrer eine einfache Bitte auszusprechen. Neben dem weinenden Kinde fällt oft auch das lachende als bedenkliche Erscheinung auf. In einer Knabenklasse des Verfassers saß vor Jahren ein Kind, welches hin und wieder bei besonders ernsten Unterrichtsgegenständen in ein unbezwingliches Lachen verfiel. So mancher Tadel, ernste Strafen, eindringliche sittliche Verweise und Belehrungen rufen bei den Kindern nicht selten ein Lächeln hervor, das nicht in jedem Falle eine Aeußerung roher Gesinnung und Gemütsverfassung zu sein braucht. Man kann es auf dem Gesichte von Kindern beobachten, die davon weit entfernt sind.
Einen ernsteren Charakter als die Erscheinungen einer gewissen psychischen Zartheit nehmen solche Aeußerungen an, welche man am treffendsten als abnorme Aufregung bezeichnet.
Hierher gehören zunächst solche Naturen, die durch eine Neigung zu großer Schreckhaftigkeit, Furchtsamkeit und Aengstlichkeit auffallen. Diese Zustände treten häufig schon bei den geringsten Anlässen auf, und manche Mutter hat ihre liebe Not damit. In der Schule fühlen sich Kinder dieser Art geradezu unglücklich. Sie schrecken zusammen, erröten, bekommen gewaltiges Herzklopfen, werden ganz verwirrt, sobald sie eine plötzlich an sie gerichtete Frage beantworten sollen, obwohl sie dazu Gaben und Kenntnisse genug besitzen. Bei zweien dieser Kinder fand einst der Verfasser, daß seine bloße Nähe schon erregend wirkte, und er erzielte eine bedeutende Besserung dadurch, daß er sie von seiner unmittelbaren Nähe wegsetzte, und daß er gewöhnlich nur aus einer gewissen Ferne zu ihnen sprach. Die Kinder wurden sehr bald unterrichtsfähiger. Es ist gewiß ein großer Trost, wenn derartige Besserungen sichtbar werden. Leider aber giebt es auch Kinder, die so empfindlich sind, daß sich ihrer nach und nach eine maßlose Verstimmung bemächtigt, gegen welche kein Mittel der Erziehung zu wirken scheint, am allerwenigsten Strafen. Mitunter kann die leichte Erregbarkeit zu einer lebhaften, ja begeisterten Teilnahme des Kindes an Lerngegenständen führen, nur allzu bald muß man aber die Erfahrung machen, daß diese Begeisterung keinen Bestand hat, wie Strohfeuer nach kurzem Aufflackern erlischt. Auf die übermäßige Erregung folgt rasch völlige Erschlaffung. „Reizbare Schwäche“ nennt die Wissenschaft diesen Zustand. Reizbar schwache Kinder erscheinen launenhaft, sie schließen schnell schwärmerische Freundschaften werden von vielerlei Gegenständen oder Beschäftigungen lebhaft angezogen, aber kaum gesehen – gemieden! Jetzt wollen sie alles mögliche erlernen, sie geraten z. B. in Begeisterung für das Violinspielen oder für das Malen oder für irgend eine Handfertigkeit; nach kurzer Zeit aber ist jedes Interesse verflogen!
Es leuchtet ohne weiteres ein, daß bei solchen Kindern sehr [43] leicht eine falsche Beurteilung Platz greifen und zu einer recht unzweckmäßigen Erziehungsweise veranlassen kann. Die Reizbarkeit wird zunächst als vielversprechende Eigenheit aufgefaßt. Eltern und Lehrer fühlen sich zu den besten Hoffnungen in Betreff des Kindes berechtigt. Plötzlich aber verblaßt der Schimmer, und schwere Sorgen belasten das Elternherz. Anstatt aber die Kinder in derartigen Zuständen sofort zu schonen und einer sachverständigen Erziehung zu übergeben, hetzt man sie häufig mit Nachhilfe und sonstigen Privatunterrichtsstunden, mit Strafen und aufreizenden Strafreden ab. Bei solcher Thorheit, die oft genug aus unverständiger Eitelkeit das wahre Wesen des „begabten Kindes“ nicht erkennt oder erkennen will, ist es allerdings kein Wunder, wenn das arme Wesen mit der Zeit, völlig abgehetzt, mehr und mehr zurückgeht – wenn schließlich mit einem Male die Erschlaffung in ihrer ganzen Trostlosigkeit Eltern und Lehrern zum Bewußtsein kommt und das Kind unter das Mittelmaß herabsinkt.
Zu den ersten Anzeichen der eintretenden Schwäche gehören fehlerhafte Erscheinungen auf dem Gebiete des Gedächtnisses. „Neben leichtem Lernen steht ein promptes Vergessen.“ Vokabeln, Gedichte, Sprüche, oft spielend gelernt, haben keinen Halt, und das Kind ist schwer imstande, dieselben unterrichtlich zu verwerten. Mitten in der Antwort sogar halten solche Kinder nicht selten inne, weil es ihnen sozusagen dunkel im Bewußtsein wird. Auf die Wiederholung derartiger Zustände muß im Haus und in der Schule recht aufmerksam geachtet werden, weil man daraus mit Sicherheit auf eine gewisse psychische Schwäche schließen kann. Auch in der Rede und in der Schrift des Kindes ist dieselbe bemerkbar. Was man in gewöhnlichen Fällen als Leichtsinnsfehler, als Ruschelei, Flatterhaftigkeit, Zerstreutheit bezeichnet und dem Kinde stark übelnimmt, das ist unter Umständen krankhafte Schwäche. Die charakteristischen Merkmale derselben sind vor allem die Wiederholung, Umstellung, Vorausnahme und das Auslassen von Buchstaben (Lauten), Silben und Wörtern. Diese Erscheinungen treten bei den in Rede stehenden Kindern mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit auf und sind ganz anderer Art als die der bloßen Liederlichkeit, Faulheit und Zerstreutheit. Am bemerkenswertesten erscheint eine gewisse unrichtige Wiedergabe der Wörter in Aussprache und Schrift. Ihre Hauptmerkmale sind Umstellungen und Vorausnahmen der Silben und Laute (Buchstaben). Man spricht und schreibt Fausatz für Aufsatz, anhin für hinan, Pfred für Pferd, blald für bald u. s. w.
Ein eingehender Vergleich der geistigen Beschaffenheit ähnlicher Schmerzenskinder mit derjenigen der ausgesprochen Leichtsinnigen ergiebt als durchgreifenden Unterschied den Umstand, daß das psychisch schwache, aber aufgeregte Kind auch bei Aufbietung der äußersten Willenskraft jene Fehler nicht oder nur teilweise überwinden kann, während die Fehlerhaftigkeiten des Leichtsinns sofort verschwinden, wenn die Willensenergie aufgerüttelt wird.
Zu den psychisch zarten und unnatürlich erregten gesellen sich endlich Kinder, welche mit dauernder Geistesschwäche behaftet sind. Das sind die größten Schmerzenskinder für Schulen und Familien. Diese geistige Schwäche erstreckt sich manchmal nur auf das Gebiet der Verstandesthätigkeit, manchmal auch nur auf das Leben des Gemütes, gewöhnlich aber auf beide Gebiete gleich stark.
Der Unterricht in der Schule geht von der Anschauung, d. h. von der Erfahrung aus. Er läßt die Kinder etwas empfinden. Er läßt sie sehen, hören, tasten – redet eine dem Anschauungskreis des bestimmten Jugendalters angemessene Sprache, vermittelt dem Kinde klare Bilder und packende Handlungen und sucht auf allen Gebieten das Interesse des Schülers zu wecken und zu erhalten.
Den geistesschwachen Kindern bereitet dieses Verfahren große Schwierigkeiten, es fällt ihnen mehr oder minder schwer, eine eigene sinnlich auffällige Erfahrung oder eine Anschauung, eine einfache anschauliche Mitteilung und Belehrung so zu erfassen daß sie dieselbe deutlich im Bewußtsein behalten sprachlich aufnehmen und ihrem Bewußtseinsinhalt einverleiben. In der Schule bleiben sie zurück und sind nicht selten eine Zielscheibe des Spottes und Hohnes ihrer Kameraden trotz energischer Abwehr seitens des Lehrers. Welche inneren Regungen dadurch wach werden, und wie dadurch die geistige Entwicklung gehemmt werden kann, das läßt sich leicht ermessen, wenn man Gelegenheit hatte, das hohe Selbstgefühl mancher dieser Kinder kennenzulernen. Sie haben den besten Willen zum Lernen. Aber man sieht es ihrer krausen Stirn und dem schmerzlich verzogenen Mund an, wie schwer es ihnen fällt, ihr Bewußtsein auf einen Punkt zu richten. Nach kurzer Geistesthätigkeit tritt Ermüdung ein, so daß ihre Aufmerksamkeit schwindet. Mit offenem Munde und träumerischem Blick sitzen sie dann da, das Mitleid herausfordernd, das der geistig Arme verdient. Und arm bleibt ihr Geist, denn es steht außer allem Zweifel, daß bei solchen Erscheinungen die Kraft des Gedächtnisses ganz ungenügend sein muß. Man kann nur solche Vorstellungen erwecken, die mit ihrem lebhaften Interesse für ihre Person verknüpft sind. Hat man aber in dieser Richtung einmal nur eine glückliche Entdeckung gemacht, so kann unter Umständen eine kleine Steigerung und Belebung des geistigen Lebens und Könnens erzielt werden. Dabei gilt freilich keine Erziehungsschablone, hier heißt es, das Auge offen halten, beobachten! Auf Grund vielfacher pädagogischer Erfahrungen kann man sagen, daß nicht selten bei sonstiger geistiger Schwäche einseitige Fertigkeiten und Talente zu finden sind, und zwar besonders in Bezug auf mechanisches Rechnen, Gedächtnis für Zahlen und Namen, sowie Handarbeiten. Das ist ein gewisser Trost für die Eltern und ein Glück für die Kinder, weil dadurch für die Erziehung Angriffspunkte gegeben sind. Ein Knabe dieser Art, der Sohn eines strebsamen Postbeamten war für die Eltern ein rechtes Sorgenkind, weil nach Ansicht derselben „aus ihm nichts ordentliches werden könnte“. Allerdings mußte der Verfasser zugestehen, daß ein „Beruf“ der Federn dem Knaben verschlossen sei. Es konnte aber mit Befriedigung darauf hingewiesen werden, daß der Junge in der Handhabung der Instrumente, namentlich im geometrischen Unterrichte, sowie in der Herstellung der Körper für diese Lehrstunden eine hervorragende Geschicklichkeit entwickele. Die Eltern ließen ihm deshalb auf Anraten des Verfassers den Handfertigkeitsunterricht zu teil werden. Hier zeichnete er sich bald im Schnitzen derart aus, daß seine Arbeiten die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich lenkten. Es erwachte in ihm das Verlangen, Tischler zu werden. Sein Wunsch wurde ihm erfüllt und – soweit der Verfasser unterrichtet ist – zu seinem Glück.
Weit gefährlicher als die geistige Schwäche des Denkens und Urteilens ist die sittliche, die Schwäche auf dem Gebiete der Herzensbildung. Was schön, was wahr, was gut ist, das müssen die Kinder empfinden, das muß ihr Gefühl erregen, wenn dadurch wirksame Kräfte im Geistesleben des Kindes gebildet werden sollen. Es giebt aber leider Naturen, die weder bei der Betrachtung eines schönen Bildes, noch bei der Erkenntnis der Macht der Wahrheit, z. B. im Leben der Völker, noch bei der Darstellung einer edelmütigen Handlung von einem solchen Gefühl beseelt werden, daß dadurch die neugewonnene Vorstellung eine sittliche Kraft wird. Bei den sittlich schwachen Kindern ist diese Selbstzucht mehr oder minder ausgeschlossen. Die sittlichen Vorstellungen bleiben auf einer niedrigen Stufe stehen, die sittlichen Grundsätze bleiben arm, beschränkt, wenig lebendig und nachhaltig. Die unsittlichen Antriebe finden nur geringen oder gar keinen Widerstand, infolgedessen tritt eine egoistisch-sinnliche und widerliche Richtung der Gedanken und Wünsche hervor, und die so gearteten Kinder geben zu den größten Sorgen in Betreff ihrer Charakterentwicklung Anlaß.
Am schwersten sind diejenigen Kinder zu behandeln, bei denen sich geistige und sittliche Schwäche verbinden. Es möchte den Anschein haben, als seien diese Naturen zumeist recht passiv, recht stumpf. Da, wo Blödigkeit oder Schwachsinn vorliegt, ist das in sehr vielen Fällen nicht zu verkennen und nicht anders zu erwarten. Indessen giebt es unter den hier bezeichneten Kindern auch recht viele reizbare und zu Tätlichkeiten geneigte, weil bei ihnen zumeist eine Verwilderung des Trieblebens zu finden ist und die schlechten Triebe mit aller Energie sich nach außen entladen wollen. Gelingt ihnen das in wiederholten Fällen, dann ist es mit der Bildungsfähigkeit des Kindes bald vorbei, und eine Selbstsucht, die keine Rücksicht kennt, wird mehr und mehr die treibende Kraft in seinem Geistesleben. Tritt dann das väterliche Verbot oder der Zwang der Schule den ungestümen [44] Wünschen solcher Naturen entgegen, Entsagung, Selbstbeherrschung, Unterordnung fordernd, so verfällt das Kind in schwer bezähmbaren Jähzorn. Solche Kinder sind eine große Last und eine Qual für Schule und Haus. Sie fordern einen großen Aufwand an Nachsicht und Aussicht, an Geduld und Wohlwollen, an Selbstbeherrschung und Selbstverleugnung seitens des Erziehers.
In Schulen und sonstigen Erziehungsanstalten sind sie geradezu eine ständige Gefahr für Mitschüler und Genossen. Für sie muß noch in weit umfassenderer Weise, als das jetzt bereits geschieht, gesorgt werden, denn der Staat und die Familie können an solchen Erscheinungen nicht achtlos vorübergehen.
Ist die Entartung zu weit fortgeschritten, dann kann sich die Notwendigkeit herausstellen, ein solches Kind vom regelmäßigen Unterricht in der Volksschule auszuschließen und es besonderen Lehranstalten für derartige krankhaft veranlagte oder verwahrloste Kinder zu übergeben.
In vielen, sehr vielen Fällen aber können diese Schmerzenkinder durch ein unermüdliches hingebendes Zusammenwirken von Schule und Haus vom Untergang gerettet werden. Darum ist eine offene Aussprache zwischen Eltern und Lehrern bei solchen Anlässen dringend erwünscht – eine Aussprache, die nicht nur über die Fortschritte der Kinder in den Schulfächern, sondern auch über deren sittliche Eigenschaften sich erstrecken muß. Niemals sollte man aber vergessen, den Arzt als Dritten im Bunde zu diesem Rettungswerke heranzuziehen, denn oft sind körperliche Leiden Ursachen der seelischen Mängel, und mit der Gesundung des Leibes pflegt dann auch der Geist aufzublühen.
Alle Rechte vorbehalten.
Der Umfang, den die deutsche Vorliebe für körperliche Uebungen gewonnen, ist jetzt schon ganz gewaltig. Dabei wollen wir von den Turnern, die in den deutschen Gauen schon nicht mehr nach Hunderttausenden, sondern nach Millionen zu zählen sind, hier gar nicht reden. Ein Verein von Bergsteigern hat 40 000 Mitglieder, und in derselben Anzahl läßt er die Vereinszeitschrift erscheinen, das Amtsblatt des deutschen Radfahrerbundes erscheint in einer Auflage von 30 000 Exemplaren, und noch dazu im Sommer täglich. Die Schwimmer, die Eisläufer, die Fechter, die Athleten, sie haben alle ihre Zeitungen, die sämtlich das Evangelium ihrer besonderen Liebhaberei mit feurigen Zungen verkünden und ihr immer neue Anhänger gewinnen. Das gedruckte Wort wäre vielleicht dazu nicht einmal nötig, denn jeder Bergsteiger, Schwimmer, Eisläufer, Radfahrer etc. ist selbst ein begeisterter Apostel seiner Liebhaberei.
Man fühlt sich da versucht, einen Augenblick innezuhalten und objektiv und in aller Ruhe zu untersuchen, welche der Leibesübungen denn nun wirklich die schönste sei. Die Sache ist schwierig, und ich glaube nicht, daß man dabei zu einem abschließenden Ergebnisse kommen könnte. Jeder wird seiner Liebhaberei die Palme reichen, wird finden, daß sie die unterhaltendste, die nützlichste, für die Gesundheit die zuträglichste, mit einem Worte die schönste sei. Man wird bei dem unfruchtbaren Streit über Geschmackssachen angelangt sein, bei einem Streit, in dem schließlich die persönliche Neigung das letzte entscheidende Wort hat.
[45] Und doch giebt es auch da ein Moment, das uns auf die richtige Spur bringen kann. Vor einer beträchtlichen Reihe von Jahren – die Radfahrersache stand damals noch in den Kinderschuhen – sagte mir ein bedächtiger alter Herr, den ich aber als guten Beobachter kannte. „Passen Sie auf, das Velociped wird sich die Welt erobern!“ „Warum?“ „Mir ist da etwas Eigentümliches aufgefallen. Allen jungen Leuten, die mir von ihrer Radfahrerei erzählen, leuchten die Augen, während sie das thun. Eine Sache, die ihre Anhänger so beglückt, die muß ihren Weg machen.“
Der alte Herr hat recht behalten. Das Fahrrad hat sich die Welt erobert. Die Zahl seiner Anhänger steigt von Tag zu Tag, eine großartige Industrie hat sich entwickelt. In Wien allein giebt es trotz polizeilicher Einschränkung und Behinderung – die ganze innere Stadt ist dem Fahrrad verboten – schon gegen zweihundertundfünfzig Radfahrervereine. Seither habe ich mich unzähligemal der Beobachtung des bedächtigen alten Herrn der „leuchtenden Augen“ erinnert. Ich habe sie gesehen beim Radfahrer, der durch das Land fliegt, und bei dem, der als Sieger auf der Bahn über das Zielband fährt, ich habe sie aber auch gesehen bei dem Fechter, dem es glückte, seinen Partner abzuführen, und beim Bergsteiger, der einen trotzigen Gipfel bezwungen und der dann von dessen stolzer Höhe den Blick hinaussandte in die wundervolle, prangende Gotteswelt, und ich habe sie leuchten sehen bei allen im Gefühle froher Befriedigung, die sich der aus eigener Kraft vollbrachten Leistung freuten! Und doch sind es gerade die leuchtenden Augen, die uns hier den Weg weisen können. Man beobachte nur weiter! So hell und so strahlend blitzen die Augen doch nirgends wieder wie auf dem Eise. Darf man nach den leuchtenden Augen schätzen – und wir meinen, man darf es – dann giebt es auf der Welt wohl keinen schöneren Sport als den Wintersport. Man sehe sich doch eine Gesellschaft beim Schlittschuhlaufen auf dem Eise an, Männlein und Weiblein – wie da die Augen leuchten! Das sind frohe, glückliche und gesunde Menschen, es sind auch schöne Menschen, denn Frohsinn und Gesundheit sind an sich schon mehr als halbe Schönheit. Die Gesetze der Schwere scheinen aufgehoben, ein rhythtmisches Schweben, Wiegen, Reigen, eine Anmut der Bewegung, wie sie die schwerstbezahlte Ballerina auf der Bühne im Leben nicht zustande bringen wird! Der Sieg über die Materie ist vollständig und der Triumph der eigenen Kraft und Geschicklichkeit größer als sonst bei einer Uebung. Man hat nicht nur die sonst auch vorhandenen technischen Schwierigkeiten überwunden, auch die elementare Macht des grimmen Winters wird besiegt. Kalt ist’s, bitter kalt, die Menschheit friert bis in die Knochen – nicht wahr ist’s, Frühling ist es! Dem Eisläufer ist es wohl und warm, er verlacht den grimmigen Winter.
Die leuchtenden Augen verkünden also doch die Wahrheit: der schönste Sport ist der Wintersport. Denn nicht nur beim Schlittschuhlauf, sondern bei allen körperlichen Uebungen und Spielen in Eis und Schnee zeigen sich dieselben kennzeichnenden Erscheinungen, die wir oben angedeutet haben. Daß das deutsche Volk eine besondere Vorliebe für die winterlichen Unterhaltungen im Freien hegt, ist nach alledem auch leicht erklärlich. Der Winter liefert die Zurüstungen, Schnee und Eis, reichlich und kostenfrei. Arm und reich brauchen nur zuzulangen, um sich zu vergnügen. Und daß das deutsche Volk den andern auch da mit gutem Beispiel vorangeht, ist eigentlich nur selbstverständlich; die Franzosen haben keinen ordentlichen Winter und die Engländer erst recht nicht.
Weil nun der Wintersport ein so schöner und dabei so wenig kostspieliger ist, konnte er ein so wahrhaft volkstümlicher werden. Es giebt winterliche Spiele, die in den betreffenden Gegenden seit Jahrhunderten im Schwang sind, und die auch dem Forscher ein ethnographisches Interesse bieten wie alle sonstigen volkstümlichen Sitten und Gebräuche. Bemerkenswert dabei ist, daß gerade die volkstümlichsten der Uebungen, die Bauernspiele, eine sehr tüchtige und korrekte sportliche Grundlage haben. Sie könnten ohne weiteres auch von Sportsleuten geübt werden, und es will uns gar nicht unwahrscheinlich bedünken, daß so ein Bauernspiel eines schönen Tages plötzlich zur Mode und dann auch von den städtischen Gesellschaftskreisen mit Passion gepflegt werden wird. Zum Teil ist das sogar schon der Fall.
Das „Eisschießen“, das wir bereits früher (Jahrgang 1892, Nr. 6 [WS 1]) geschildert haben und von dem uns der Künstler auf S. 44 ein anschauliches Bildchen liefert, wird seit unvordenklichen Zeiten schon namentlich in den österreichischen Alpenländern mit großem Eifer betrieben. Vorbedingung ist eine große, glatte Eisfläche, und da ein Fluß selten so glatt friert wie der Spiegel eines Sees, so ist es nur natürlich, daß das Spiel vorwiegend in den Gegenden an den Seen heimisch ist.
Der deutsche Bauer läßt sich mitunter von der Freude am Spiel zu weit hinreißen. Es werden da oft beim sonntäglichen Kegelschieben Summen in Umsatz gebracht, gewonnen und verloren über welche der sparsame städtische Kleinbürger die Hände überm Kopfe zusammenschlagen würde, wenn er zufällig dabei sein sollte, und die aufs Spiel zu setzen er sich gewiß nicht getrauen würde. So geht es auch beim „Eisschießen“ oft um hohe Einsätze, und wir heben das hier deshalb besonders hervor, weil [46] dieser Umstand nicht ohne Bedeutung war für die ganze Entwicklung des Spieles und weil er mit die Ursache bildet, daß das Spiel mit der Zeit einen ganz sportlichen Charakter angenommen hat. Die Unterhaltung ist nicht mehr ganz harmlos. Bei einer Niederlage handelt es sich nicht mehr bloß um die „Ehre“, es sind da oft auch empfindliche Verluste zu gewärtigen. Diese Erkenntnis hat aber dann ein ernstes, regelrechtes Training und im Anschluß daran eine hohe Vervollkommnung im Spiele zur Folge. Thatsächlich wäre es für einen Wintertouristen, der zufällig Zeuge eines solchen Kampfes ist, ein ziemlich kühnes und recht aussichtsloses Unterfangen, gegen die eingeschossenen Spieler in Wettbewerb zu treten.
Das Wesen des Spieles wird durch unser Bildchen ganz klar erläutert. Es handelt sich darum, die schwere Holzscheibe mit mächtigem Schwung in vorgeschriebener Richtung möglichst weit über die Eisfläche hingleiten zu lassen. Nicht immer ist es aber damit abgethan, und häufig wird das Spiel auch so eingerichtet, daß neben der Kraft und Geschicklichkeit des Armes auch die Sicherheit des Auges den Ausschlag giebt. Es wird dann ein sichtbares Ziel gesteckt, und es gewinnt nicht, wer am weitesten wirft, sondern wer dem Ziele mit seinem Wurfgeschoß am nächsten kommt. Dieses Bauernspiel hat aus den österreichischen Alpenländern seinen Weg auch nach England, dem Mutterland allen Sports, gefunden, ist aber dort kein Bauernspiel mehr, sondern ein Sport für die Herren. In England ist der Griff des Wurfgeschosses noch etwas mehr gebogen, und dadurch soll die Möglichkeit geboten sein, dem Wurf auch „Fälschung“ zu geben, in dem Sinne, wie ein Billardball „falsch“ genommen wird. Diese Fälsche soll dann sich darin äußern, daß die Scheibe in der Nähe des Zieles noch eine bogenförmige Schwenkung macht, die den Zweck hat, die gegnerischen Scheiben zu umfahren und unter Umständen zu verdrängen.
Eine gewisse Verwandtschaft mit dem „Eisschießen“ zeigt das „Eisbosseln“ oder „Klootschießen“ (vgl. „Gartenlaube“ 1883, Nr. 4), wie es bei den schleswig-holsteinschen Marschbewohnern gebräuchlich ist, nur daß es uns noch volkstümlicher, unterhaltender und auch aufregender erscheint. Sind die Marschen festgefroren – bei Tauwetter läßt sich nicht bosseln – so sendet die Mannschaft eines Dorfes der des Nachbardorfes eine „Bossel“ zu, eine bleiausgegossene Holzkugel, die ungefähr ein Pfund wiegt. Das ist die Herausforderung, und nun beginnt das Training. Die Mannschaften sind nach Umständen und Verhältnissen je dreißig bis hundert Mann stark. Es wird beiderseits mit großem Eifer geübt, denn die Ehre des Dorfes ist engagiert. Kommt es dann an einem vorher bestimmten Sonntage zum Kampfe, dann wirft abwechselnd je einer aus den beiden Mannschaften eine Bossel. Die Kugel fliegt erst durch die Luft, es wird aber auch die Strecke gemessen, die sie noch nach dem Aufschlagen auf dem gefrorenen Boden dahinrollt. Diese Strecke kann eine sehr erhebliche sein, wenn die Vorteile des Terrains, eine Furche oder ein gefrorener Graben, geschickt ausgenutzt werden. Versieht es ein Werfer oder ist er überhaupt nicht geschickt genug, dann bleibt die Kugel, gerade durch den Rand der Furche oder den Damm des Grabens aufgehalten, vorzeitig stehen. Natürlich kommt auch darauf viel an, daß der Spieler mit seinem Wurfe immer in der vorgeschriebenen Richtung bleibe. Eine Abweichung von dieser bedeutet Terrainverlust und somit Nachteil für die eigene und Vorteil für die gegnerische Partei. Jeder derartige Fehler erregt große Erbitterung im eigenen Lager und der unglückliche Spieler setzt sich von seiten seiner Leute schweren Vorwürfen aus, die Gegenpartei allerdings frohlockt und läßt es, was nicht minder bitter ist, an spöttischen und höhnischen Bemerkungen nicht fehlen. Um sicheren Stand zu haben, pflegen die Kämpfer vor dem Wurfe ihre Fußbekleidung abzulegen. Von der Stelle aus, wo die Kugel liegen geblieben ist, erfolgt der nächste Wurf, und so geht es Wurf um Wurf meilenweit ins Land hinein, bis dann in der Mitte des Spieles gewendet wird nach der Richtung der Aufbruchsstelle. Hat die eine Partei einen Vorsprung von mehr als der Länge eines Wurfes, so wird ihr von den „Kreetlern“, d. i. den Schiedsrichtern, ein „Schott up“ (Schuß voraus) verzeichnet, ist die Strecke zum Schlusse nur eine geringe, so wird ein „Kiek ut“ (Aussicht, Ausblick) gutschrieben. Siegt ein Dorf dreimal über das Nachbardorf, so wird die Bossel vergoldet und zu Hause als Trophäe des Dorfes im Triumphe aufgehängt. – Ganz vorzüglich veranschaulicht uns auf Seite 44 der Zeichner die Bewegung eines Bosselwerfers, und gut beobachtet ist auch die unwillkürliche Bewegung des passionierten Zuschauers hinter dem Werfer.
Nicht so volkstümlich wie die vorgenannten Spiele, aber ebenfalls viel Unterhaltung und Anregung bietend ist das Hockeyspiel auf dem Eise. Hockey gehört zu den englischen Nationalspielen und erst in neuerer Zeit beginnt es, sich auch in Deutschland einzubürgern. Es ist ein Rasenspiel und wird auf dem Eise eigentlich nur in übertragenem Wirkungskreise gespielt. Es gehört zur Gattung der Polospiele und ist, um es recht deutlich zu erklären, ein Fußballspiel ohne Fuß und ohne Ball. Statt des großen Balles wird nämlich eine kleine Kugel aus zollstarkem Gummi mit einem Hohlraum von einem Zoll Durchmesser verwendet, und diese wird statt mit den Füßen durch lange, am unteren Ende aufgebogene Stöcke getrieben. Im übrigen gelten aber so ziemlich die Fußballregeln. Zwei Parteien kämpfen miteinander, und der Zweck des Kampfes ist, die Kugel ins feindliche Lager zu treiben. Ist das Spiel schon auf dem Rasen nicht leicht, so erfordert es auf der glatten Eisfläche noch eine ganz besondere Gewandtheit und Geschicklichkeit, und wer nicht ein ganz „fermer“ Schlittschuhläufer ist, der bleibt besser davon, denn es wird ihm nicht wohlergehen dabei.
Damit wären aus unserer Bilderserie die eigentlichen Spiele erledigt; die in einem zweiten Artikel folgenden Darstellungen beziehen sich entweder auf den Sport oder auf die harmlose, nicht in besondere Satzungen gebrachte Winterunterhaltung im Freien.
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(2. Fortsetzung)
Auch Doktor Hans Mohr hatte die Weihnachtsferien zu einer Reise verwandt. Es war eine Studienreise eigener Art, bei der er selbst das eine Studium betrieb und der Gegenstand des anderen war.
Während der großen Herbstferien hatte er auf einer Gesellschaft bei seinem Rektor eine junge Dame kennengelernt, die ihn durch ihr besonnenes und feines Wesen fesselte. Sie war wohl über die erste Jugendblüte schon hinaus, konnte aber noch mit Ehren unter den Jüngeren bestehen; denn sie wußte ihre schlanke und ziemlich hohe Gestalt mit einer ausgesucht vornehmen Bescheidenheit zu kleiden, und ihr Gesicht war eines von jenen kühlen und hartgeschnittenen Gesichtern, die spät aufhören jung zu scheinen, weil sie eigentlich nie ganz jung schienen. Von dem aschblonden Scheitel bis zum Kinn war alles ein wenig schmal und eng beieinander, aber nett und sauber und wohlgeordnet. Nur im Ausdruck des Mundes war das Ordnungsmäßige vielleicht etwas zu deutlich ausgeprägt: wenn sie einem zuhörte, preßte sie die schmalen Lippen noch etwas fester zusammen, es sah dann aus, als ob sie ein Zeugnisformular vor sich liegen hätte und darüber nachdächte, welches Prädikat sie einzeichnen dürfe. Das mochte eine Berufseigenheit sein, denn sie war die einzige Tochter und erste Gehilfin einer Dame, die in einem schöngelegenen Städtchen, etwa eine Eisenbahnstunde von der Universitätsstadt, eine sehr vornehme und teuere Erziehungsanstalt für Töchter wohlhabender Familien auf eigene Rechnung leitete. Es war die selbe Anstalt, an welcher Emilie Flügge bis zu ihrer Verheiratung unterrichtet hatte.
Die junge Dame trug einen Familiennamen von großem litterarischen Wohlklang. Ihr Großvater hatte sich als Erzieher [47] und Volksschriftsteller in der ersten Hälfte des Jahrhunderts viel Zuneigung erworben. Dessen Sohn war allerdings dem väterlichen Berufe nur insoweit treu geblieben, als er eine Lehrerin heiratete, selber hatte er als Direktor einer Pulverfabrik Berufsstellung, Vermögen und noch im besten Mannesalter einen plötzlichen Tod gefunden. Die Witwe aber war in das geistige Erbteil ihres Schwiegervaters zurückgetreten, sie hatte in demselben kleinen Städtchen, wo er vordem gelebt hatte, jene Erziehungsanstalt gegründet, für welche besonders in den ersten Anfängen der bewährte Namen ein überaus schätzbares Anziehungsmittel bildete.
Als Doktor Hans Mohr die junge Dame kennenlernte war er mit den Schriften ihres Großvaters nur erst seit kurzem oberflächlich bekannt. Daß er nun sogleich seine ganze Mußezeit darauf verwandte, diese Schriften zu studieren und das Ergebnis seiner Studien in Form einer Biographie weiter zu verfolgen, daran war allerdings wohl die Aussicht auf näheren Verkehr mit jener Dame und auf den Dank ihrer Familie mit schuld. Der zur Zeit im Schulwesen herrschenden Richtung entsprach ja der etwas altväterische Geist, der in ihnen waltete, nicht. Aber Mohrs kluger Sinn hatte in den Werken des Verstorbenen auch mancherlei Stellen entdeckt, auf welche er den Nachweis aufbaute, daß der berühmte Verfasser im Grunde ein Vorkämpfer der nunmehr herrschenden Richtung gewesen sei. Seitens der Familie wurde der Plan mit großer Freude aufgenommen, Briefe, Tagebücher und anderer Stoff zur Verfügung gestellt, und ein lebhafter sehr gelehrter Briefwechsel entspann sich zwischen den beiden Damen und dem neuen Geschichtschreiber ihres Hauses. Eine Zeit lang wirrte sich in diesen Briefwechsel von seiten der Damen ein fremder Faden, verstohlene, einladend freundliche Andeutungen, daß ein Uebertritt des Herrn Doktors aus seiner jetzigen Stellung in den Verband ihrer Anstalt seiner Arbeit gewiß ersprießlich und ihnen sehr wertvoll sein würde. Aber Hans Mohr wich höflich beiseite. Er war nicht der Mann, wie Hans Bardolf ein Angebot auf Treu’ und Glauben des Anbietenden zu nehmen, und was er unter der Hand von Emilie Flügge und anderen über die Ausnutzung der Hilfskräfte an jener Anstalt erfahren hatte, ließ ihn die Klugheit der Frau Direktor weit höher schätzen als ihre Freigebigkeit. Uebrigens schien seine Ablehnung die Achtung der Damen vor ihm zu erhöhen. In der liebenswürdigsten Weise wurde er eingeladen, die abschließenden Quellenstudien für sein Buch mit einem Ferienaufenthalt in der Anstalt zu verbinden.
Was er dort beobachtete, erweiterte sein Verständnis und leider auch seine Achtung für die Geschäftsführung der Anstaltsleiterinnen noch erheblich. Die Frau Direktor konnte sich an Feinheit der äußeren Erscheinung mit Fräulein Beate, ihrer Tochter, nicht messen, sie war eine kaum mittelgroße, sehr beleibte Dame mit unschönen, ziemlich plumpen Bewegungen, aber an zweckbewußt sicherem Denken und Handeln war die Tochter doch erst eine noch nicht vollendete Kopie der Mutter. Das Haus hatte seinen ganz bestimmten „Geist“, von welchem in Ansprachen, Einzelgesprächen und sogar Aufsätzen erstaunlich viel die Rede war. Eine auserlesene Probe dieses Geistes mochte die gemeinsame Weihnachtsbescherung für die Familie, den nicht verreisten Teil der Lehrkräfte und Schülerinnen und sonstige Angehörige und Freunde des Hauses sein, welcher auch Hans Mohr als verehrter Hausgast beiwohnte.
Jede Schülerin fand unter dem großen Weihnachtsbaum ein Geschenk, meist ein Buch poetischen oder geistlichen Inhaltes. Mit einem vollen Tone mütterlicher Herzlichkeit wies die Frau Direktor darauf hin, daß diese Gaben, dem Geiste des Hauses entsprechend, einfach und mehr nach ihrem inneren Werte als dem prunkvollen Augenschein gewählt seien; denn nicht der Preis mache ein Andenken lieb und unvergeßlich, sondern der Geist der Liebe, in dem es gegeben und empfangen werde! Sodann begann sie, allmählich und zufällig die zum Teil sehr kostbaren Gaben zu entdecken, welche von den reichen Eltern oder Vormündern der einzelnen Schülerinnen für sie und Fräulein Beate übersandt worden waren. Beide Damen begrüßten jedes Geschenk mit einem wortreichen Ausbruch der Verwunderung, der sich nur im Geiste des Hauses mit der Thatsache ausgleichen ließ, daß die betreffenden Postpakete und Ankündigungen bereits vor einigen Tagen durch ihre Hände gegangen waren, sie priesen den Geschmack der Spender und entrüsteten sich wiederholt über die allzu prächtige Auswahl, aber es schien unzweifelhaft, daß sie in keinem dieser Fälle den inneren Wert der Gabe nach der Niedrigkeit des Preises schätzten. Bei dem Angebinde, welches Hans Mohr von den Damen erhielt, konnte freilich nur von innerem Werte gesprochen werden: es war ein Handexemplar des ersten Werkes von Beatens Großvater mit einem Druckfehlerverzeichnis in Bleistift von der Hand des Verfassers.
Hernach beim Festmahle saßen die Erwachsenen und die Schülerinnen ausnahmsweise beisammen, am oberen Ende der Tafel gab es weißen und roten Wein, am unteren ein Erzeugnis aus Himbeersaft und Wasser, welches in Pensionaten unter dem Namen Unschuldsbowle oder Lämmerwein bekannt ist. Fräulein Beate saß zwischen Hans Mohr und einem Hilfsprediger aus dem Städtchen, welcher im Nebenamt als Anstaltsgeistlicher wirkte, daneben auch Litteraturstunden gab. An diesem Abend hatte er sich bereits durch eine kleine Ansprache unter dem Weihnachtsbaume nützlich gemacht, auch die gemeinsamen Gesänge auf dem Harmonium begleitet. Es war ein junger Mann von höflichem Wesen; Frisur und Bart zeigten einen diskret liberalen Schnitt. Dieser Gast erhob sich beim Nachtisch zu einer zweiten Ansprache, in welcher er gewissermaßen die weltliche Ergänzung zur ersten bot. Er erwähnte das Julfest der alten Germanen, schaltete einige tadelnde Worte über die Ausartungen der Weihnachtsfeier im finstern Mittelalter ein und wies auf die weltbefreiende Macht der Neuzeit hin, welche das Weihnachtsfest erst recht zum Feste der Familie gemacht habe. „Und auch wir empfinden es heute als solches, denn sind wir nicht hier alle zusammen eine große Familie, in einem Geiste der Liebe und Gastlichkeit vereinigt.“ Hier machte er eine kleine Pause, die übrigen gaben Beifallszeichen, und die Frau Direktor und Beate begannen verschämt niederblickend an ihren Gläsern zu drehen, denn der Redner war jetzt beim Geiste dieses Hauses angelangt. Er pries diesen Geist, fand ihn vornehmlich in den beiden leitenden Damen verkörpert und schloß mit einer Huldigung für „unsere verehrte, teure Frau Direktor“, die allen ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, und vor allem auch euch, liebe Schülerinnen, ein glänzendes Vorbild unermüdlicher Thätigkeit weit über das Maß der Pflicht hinaus ist!“ Dann klangen die Gläser, die Frau Direktor wischte sich mit dem Tuch über die Augen, und es war, als ob keiner den Unterschied ahnte, der darin lag, daß die Frau Direktor unermüdlich für sich thätig war, während ihre Lehrerinnen sich weit über das Maß der Pflicht hinaus bemühen sollten – gleichfalls für die Frau Direktor und für Beatens Mitgift, gegen einen Sold, der nicht viel mehr als die Hälfte des Honorars für einen ländlichen Hauslehrer betrug, nebst Anwartschaft auf ein einsames Greisenalter in irgend einem Armejungfernspital. Es schien wirklich, als ob keines von diesen bescheidenen, mehr oder minder unmodern aufgeputzten und mehr oder minder abgehetzten Wesen sich des Unterschieds auch nur heimlich bewußt zu sein wagte; und das war vielleicht der höchste Triumph für den Geist dieses Hauses.
Diesem Geiste widersprach es auch nicht, daß der Doktor Hans Mohr erst am vierten oder fünften Tage seines Besuches von den Damen auf seine Bekanntschaft mit einem früheren Mitgliede ihres Hauses angesprochen wurde. Er selber hatte diese Bekanntschaft nicht erwähnt, und als ihm endlich Fräulein Beate beim Durchblättern eines Photographiealbums – so ganz zufällig – Emiliens Bild zeigte und mit einem geheimnisvollen Lächeln fragte: „Diese Dame kennen Sie wohl schon, Herr Doktor“ – da antwortete er ziemlich ohne Erröten. „Gewiß; ich wohne bei einer Verwandten von ihr.“
„Ach ja,“ sagte die Frau Direktor mild und rückte an ihrer Brille, „nicht wahr, der Bräutigam wohnte auch in jenem Hause. Ich erinnere mich, sie war ja vier Wochen dort zu Besuche. Die arme Emilie! Sie war eben noch ganz Kind. Ich hatte es so gut mit ihr vor, vom nächsten Jahr an wollte ich ihr als Gehaltszulage eine alljährliche Prämienquittung auf unser „Lehrerinnenheim“ bewilligen. Wissen Sie, da hätte sie nach vollendetem sechzigsten Lebensjahr sorgenfrei leben können, ohne [48] daß sie selber einen Pfennig dafür eingezahlt hätte, und wenn sie vorher arbeitsunfähig wurde, schon früher. Aber sie ging hin und verheiratete sich, und noch dazu mit einem wildfremden Menschen, den sie gar nicht kannte. Ich will gewiß das beste von dem Herrn annehmen, aber ich finde, wenn man sich so nach ein paar Wochen leeren Vergnügens heiratet, ohne daß man einander im Ernste des Lebens beobachtet und auf den moralischen Wert geprüft hat – das ist geradezu unverantwortlich! Nicht wahr, das finden Sie doch auch?“
„O – – o ja. Natürlich,“ antwortete der Doktor Hans Mohr und klappte das Photographienblatt um. Es war ihm unbehaglich zu Mute, aber seine Schnurrbartenden reckten sich so männlich kühn in die Lüfte wie in seinen ehrlichen Tagen, und Fräulein Beate fand ihn gerade in diesem Augenblick doch recht vorstellbar. Jene ältliche Lehrerin aber, welche Doktor Hans Mohr bei Emiliens Hochzeit geführt hatte, war nicht mehr in der Anstalt. Ein freundliches Geschick hatte sie bei den Kindern einer früheren Schülerin auf einem thüringischen Schlosse ein Pöstchen mit lebenslänglicher Pension finden lassen, ehe sie für das „Lehrerinnenheim“ reif wurde.
Am letzten Tage seines Besuches machte Doktor Mohr noch die schätzbare Bekanntschaft eines Herrn, der die Tochter einer befreundeten Familie zur Anstalt zurückgeleitete. Es war der Chefredakteur jener großen Zeitung, für welche Mohr bereits einige populärwissenschaftliche Aufsätze und Kritiken geliefert hatte. Der Journalist freute sich, den begabten jungen Mitarbeiter auch persönlich kennenzulernen, und es traf sich glücklich, daß sie bis zur Universitätsstadt denselben Zug benutzten. Er war ein sehr angenehmer Gesellschafter von gesprächigem Wesen, und die Einblicke in das riesige Getriebe eines modernen großen Tageblattes, die er in gemütlichem Plauderton eröffnete, waren für Hans Mohr so überaus anziehend, daß er dem Fremden mit wahrem Behagen auch während dessen zweistündigem Aufenthalt auf dem Bahnhof der Musenstadt Gesellschaft leistete. Ganz beiläufig erkundigte er sich auch nach den Verhältnissen von Bardolfs Zeitung. „Ich interessiere mich dafür, weil ein Bekannter von mir, ein junger Philologe, dort vor einem Jahre etwa als Redakteur eingetreten ist,“ fügte er entschuldigend bei.
Der vornehme Journalist zog die Stirn hoch und lächelte ein wenig mitleidig. „Diese kleinen Ortszeitungen haben heutzutage einen schlimmen Stand,“ sagte er. „Sie sind ja nötig, und uns stören sie nicht, aber wir nehmen ihnen ein wenig die Luft, auch ohne daß wir es wollen. Uebrigens bedauere ich Ihren Bekannten aufrichtig, denn die Verhältnisse an jenem Blatte sind, wie ich glaube, besonders unerquicklich. Anderswo giebt es immer noch eine Anzahl von alten Lokalblättern im Besitze alter, bürgerlich und auch finanziell zum Teil sehr hochstehender Buchdruckereien, die ihre Zeitung sozusagen mehr als Familienerbstück denn als Mittel zum Zweck betrachten, bei diesen finden dann die Redakteure immerhin noch eine gewisse Möglichkeit, nach Maßgabe der Mittel geistig frei zu arbeiten – und vor allem auch eine anständige Remuneration und Behandlung. Ich erinnere mich sogar einiger Fälle dieser Art, wo der Herr Redakteur schließlich zum Schwiegersohn und Teilhaber aufrückte. Und das wäre dann freilich das beste! Denn das kann man ganz allgemein sagen: Im großen Betrieb mag man auch als Angestellter glücklich sein können, an kleinen ist man auf die Dauer nur dann etwas, wenn man mit zur Firma gehört.“ –
Hans Mohr merkte sich auch diesen Ausspruch. –
Zu Ostern des nächsten Jahres erschien sein Buch, mit einer Widmung an einen kleinen regierenden Fürsten und dem Vermerk auf dem Umschlag: „Der Reinertrag ist für den Denkmalfonds bestimmt.“ Dieser Zusatz wies auf ein weiteres Unternehmen hin, welches gleichfalls von Hans Mohr ausgegangen, ihm selbst aber von Fräulein Beate eingegeben war. „Finden Sie es nicht reizend,“ hatte sie ihn gefragt, „daß mein lieber Großvater im nächsten Jahre gerade hundert Jahr alt geworden wäre?“ Hans Mohr verstand sie ganz nach Wunsch. Einige Wochen vor Erscheinen seines Buches hielt er einen Vortrag im Städtchen, und sogleich nach diesem Vortrag bildete sich ein Ausschuß von Honoratioren, um das weitere zur Errichtung eines Denkmals für den „größten Sohn unserer Stadt“ in die Wege zu leiten. Jener kleine regierende Fürst, der als Knabe ein Jahr lang den Unterricht des berühmten Mannes genossen hatte, übernahm das Protektorat, und Doktor Hans Mohr wurde Mitglied des Ausschusses.
Sein Buch, auf dessen klingenden Ertrag er so edelmütig verzichtet hatte, brachte ihm überhaupt die aufgewandte Mühe doch alsbald mit Zinsen ein. Man wurde höheren Ortes auf ihn aufmerksam, sein Rektor verfehlte nicht, über ihn in ersichtlich gewünschtem günstigen Sinne beim Kuratorium zu berichten, was eine sehr angenehme Folge für die Besoldungsverhältnisse des jungen Mannes hatte. Eine ganze Reihe Zeitungen feierte ihn als Retter eines lange irrtümlich für reaktionär gehaltenen verdienstvollen Vorkämpfers der Geistesfreiheit und der modernen Volksbildung, und die Blätter der gegnerischen Partei thaten ihm den noch größeren Gefallen, sein Buch herunterzureißen.
Um dieselbe Zeit, aber ohne im mindesten dieselbe Beachtung zu finden, habilitierte sich der Doktor Hans Ritter als Privatdocent der Philosophie.
Der Frühling und Frühsommer war vergangen, mit großer Hitze und Schwüle, auf die ein ungewöhnlich kühler regnerischer August folgte. Die vornehmen Häupter der Universität, die unterschiedlichen Geheimen Regierungs-, Justiz- und Medizinalräte waren mit ihren Familien in die Ferien gereist, um sich von Vorlesungen und Konsultationen zu erholen; und der Privatdocent Doktor Hans Ritter saß im Studierzimmer seines Chefs, des Oberbibliothekars und unbesoldeten Ehrenprofessors der Philologie, Doktor Isaak Bernstein, um von den Erfahrungen und Enttäuschungen seines ersten Semesters zu berichten.
Erstaunlich viel Bücher gab es in diesem Raume. Sie lagen auf Stühlen und Tischen, sie lagen sogar neben den Stühlen und Tischen auf dem Fußboden und reihten sich in deckenhohen Regalen ringsum längs den Wänden. Wo noch über Sofa und Schreibtisch ein Stück Wand frei von Büchern blieb, war es statt mit Bildern mit gestickten und gemalten Sprüchen in hebräischer Schrift behangen und inwendig hinter der Thür hingen zierliche, altersgebräunte Holztäfelchen mit gleicher Schrift. Denn der berühmte Philologe war Jude, von einer Strenggläubigkeit, die hier zu Lande seinen aufgeklärteren Stammesgenossen in Wissenschaft und Finanz schon fast sagenhaft erschien. Lange bevor er sich den Ruf des bewährtesten Bücherkenners und zugleich gelehrtesten Erforschers griechischer Philosophie errungen hatte, war er bereits der Stern einer rabbinatischen Hochschule weit im Osten gewesen, und aus dieser Vergangenheit hatte er sich unter anderem auch den eigenartig musikalischen Vortrag herübergerettet, eine Art psalmodirender ewiger Melodie, die sich in einem regelmäßigen Wechsel von sanftem Andante und kurzen, aufmunternden Allegri bewegte. Das Wesen des Mannes hatte schon längst Hans Ritters ganz besondere Sympathie gewonnen.
Auf dem runden Tisch vor dem Sofa stand eine Flasche süßen Weines mit zwei kleinen Krystallgläsern, und daneben ein Teller mit Rosinen, von denen der Professor Isaak Bernstein während des Gesprächs zuweilen eine naschte, meist dann, wenn er irgend eine akademische Person oder Einrichtung mit einer gewissen epigrammatischen Schärfe gekennzeichnet hatte. Es war gleichsam eine bescheiden lobende Selbstkritik.
„Nun also, Sie sind nicht unbefriedigt,“ sagte oder sang der Professor Isaak Bernstein, „und warum sollten Sie unzufrieden sein? Sie haben es gewollt, und Sie haben es nun. Ich hab’ Ihnen früher, wenn Sie davon sprachen, nicht abgeraten – ich hab’ Ihnen auch nicht zugeraten. Ich hab’ Ihnen gesagt, daß Sie hinaufsteigen wollten auf einen steilen Berg, und daß Sie hinaufsteigen wollten von der Seite, wo der Wind der Zeit am wenigsten kühlt, wo es heiß ist und einsam, denn was soll die Philosophie machen in dieser Zeit? Es ist keine Zeit für die Philosophie, diese Zeit macht alles mit Dampf, und mit Dampf macht man keine Philosophie. Nun, Gott, sie ist ja noch da, die Leute brauchen sie ein wenig fürs Examen, also hören sie ein Kolleg bei dem ordentlichen Professor, der eben fürs Jahr in der Examenskommission sitzt, – und wenn sie’s nicht hören, belegen sie’s doch, ’s ist ein barer Gewinn für den Mann, und
[49][50] eine Freude. Aber der Privatdocent sitzt nicht in der Kommission, und er ist wie der Prophet in der Wüste. Er predigt, aber sie hören ihn nicht. – Ich hab’ Ihnen ferner gesagt; behalten Sie jedenfalls Ihr Pöstchen, bleiben Sie auch als Docent bei der Bibliothek – nun, warum nicht. Warum sollen Sie nicht als Privatdocent bei uns bleiben? Ich bin Ehrenprofessor und Bibliothekar, und wenn der Ehrenprofessor den Bibliothekar nicht hätte, könnt’ er lange suchen, wovon er auf seine alten Tage leben sollte. – Nun, Sie haben’s behalten, und man wird es Ihnen nicht nehmen aber man wird Sie auch dabei stehen lassen denn sie wollen jetzt eigene Beamten für die höheren Stellen an den Bibliotheken, und keine Docenten im Nebenamt, was sie eine Sinekure nennen. Schenken Sie sich doch, bitte, ein! – Sodann später, jetzt nach Ostern, als Sie Ihr Kolleg aufthaten, hab’ ich heimlich beiseite gestanden vor dem Auditorium Numero Zehn, ehe Sie kamen, und hab’ gesehen, wie die jungen Leute zuströmten, und sie kamen in großer Zahl und lachten, denn sie dachten, es wird vielleicht ein lustiges Kolleg, ein Sommerkolleg, wie das bei dem Herrn Geheimen Medizinalrat über die Sitten der Naturvölker, oder bei dem andern, der schon zwanzig Sommer lang über den Faust liest und noch immer nicht begriffen hat, warum der Doktor Faust das arme Gretchen nicht heiratet, und sie dachten, man muß alles ’mal versuchen vielleicht wird’s ein schöner Vortrag, ein akustischer Genuß, wie bei dem jungen Mann von der neueren Geschichte, der an gewissen Tagen im Lieutenantsrock ins Kolleg kommt, und sein Bursche trägt ihm die Mappe nach; denn warum? er ist doch Reserveoffizier, wenn er auch nicht fürs Vaterland mitgefochten hat wie Ihr Freund, der Doktor Bardolf, denn damals fehlte ihm noch ein Jahr zur Dienstpflicht, er ist ja eben erst voriges Jahr frisch aus dem Examen auf das Katheder gestiegen. – Alsdann, drei Tage drauf, hab’ ich mich wieder hingestellt, da kamen ihrer vier, und ich habe mir gesagt: er nimmt es ernst, er hat nicht gepanscht, er hat ihnen seinen Wein geschenkt rein, wie er ihm aus der Kelter kam, süß oder sauer. Und ich habe mich gefreut, obzwar ich mir’s schon gedacht hatte. – Nun bitte, trinken Sie doch! – Also, was soll man sagen, Sie haben die vier behalten, sie haben alle vier belegt, – na, drei haben sich ’s Honorar stunden lassen, der vierte hat bezahlt, zwölf Mark, abzüglich zwei Prozent an den Quästor, macht elf Mark sechsundsiebzig. ’s ist Geld, ’s ist elf Mark sechsundsiebzig mehr als ein Privatdocent der Philosophie sich von seinem ersten dreistündigen Privatkolleg versprechen kann! “
Was der Privatdocent Ritter auf diese lange Rede erwiderte, klang nicht verzagt. Er lächelte sogar ganz zufrieden, während er etwas von einem Gleichnis sagte, von einem Manne, der ausging zu säen und der Professor Isaak Bernstein lächelte auch beifällig und wiederholte die letzten Worte des Citats. „Etliches fiel auf ein gut Land, und trug Frucht. Jawohl, ’s ist ein schönes Wort, und eine trostreiche Rede und ’s ist auch ein wahres Wort, das darf ich sagen, denn ich bin ein alter Lehrer. Und so lange Sie sich an dem Wort halten und darauf bauen, werden Sie Freude haben am Lehren, und Sie werden ein Lehrer sein nach dem Herzen Gottes. – Sie haben kein Weib und keine Braut unter den Menschen, Sie haben für niemand zu sorgen, Sie haben sich mit der Wissenschaft verlobt, ich hab’s auch nicht anders. Die Leute reden viel davon, daß ich ein strenger Jud’ sei, weil ich das Gesetz halte, und weil ich nur einen Apfel und ein Glas Wasser nehme, wenn ich bei einem von den Kollegen eingeladen bin, weshalb mich auch der junge Mann von der neueren Geschichte heimlich den alten Adam genannt hat – ’s ist ein witziger junger Mann, er wird es weit bringen in der Welt! Ich bin aber ein schlechter Jude, denn ich habe keine Kinder und mein Haus wird verlöschen mit mir, weil ich allezeit nur um die Weisheit gefreit habe. Nun, der eine macht’s so, der andere macht’s so. Da ist Ihr Freund Bardolf, er hat ja auch bei mir gehört, und es ist ein guter Mensch, der hat jung gefreit und nur aus Liebe. Es freut mich, von Ihnen zu hören, daß es den beiden gut geht, obzwar er zu einem gefährlichen Geschäft gegangen ist. Da ist Ihr anderer Freund, der Kleine, der früher neben Ihnen wohnte, den Sie immer in der Mitte hatten, es sah aus, als ob Sie ihn so mitschleppten, nun, er hat sich gemacht, er wohnt jetzt feiner als Sie und kann Freude haben an seinem Buch, denn er baut ein Denkmal, und das bringt etwas ein und auf Freiersfüßen soll er auch gehen, ich habe die junge Dame neulich gesehen, er wird eine grausame Freude mit ihr erleben, wenn sie so ist wie sie aussieht! Etliche freien, etliche werden gefreit. Wenn Sie aber sonst für niemand zu sorgen haben, so freien Sie nur immer weiter an die Weisheit; denn warum? sie ist auch eine Braut.“
Es klopfte an die Thür, und ein langes schwarzäugiges Mädchen, das feuchte Regendach über den Schultern, erschien mit dem Einsatz, in welchem sie dem alten Herrn jeden Tag außer Samstags das Essen aus einer Wirtschaft in der Judengasse brachte, Samstags aber brachte es ein christlicher Hausknecht.
„Und da ist die Esther schon mit ihrem Korb,“ sagte der Professor Bernstein und erhob sich. „Wie die Zeit vergeht, man merkt es kaum an solch trübem Tage und bei einem guten Gespräch! Nun, lassen Sie sich’s wohl ergehen, lieber Herr Kollege, und den Urlaub haben Sie natürlich! Erholen Sie sich nur recht in den drei Wochen! Gehen Sie zu Fuß, ’s ist gesund!“ –
Während Hans Ritter unter seinem Regenschirm durch den feuchtkalten Nebelregen hinschritt, mußte er immerfort an die Bemerkung des alten Herrn über Bardolf denken. Er hatte den Freund seit jenem Patenbesuch im Dezember nicht wieder gesehen; ein lange und sorgfältig geplanter Besuch Emiliens mit dem Kinde zu Pfingsten war in zwölfter Stunde verhindert worden – sie waren selbst durch einen unabweisbaren Gast, eine Freundin Emiliens, überrascht worden, wie Bardolf entschuldigend schrieb.
Um so regelmäßiger unterhielt Emilie die briefliche Verbindung mit der Großmutter. Ihre Briefe atmeten stets das friedlichste Glück, ja es schien als ob ihr dieses Glück selbst die umgebende Landschaft verkläre; denn manchmal gab ihre Feder Natureindrücke wieder, welche kein einigermaßen nüchternes Auge von der flachen, kohlendunsttrüben Umgebung jener Industriestadt so leicht aufnehmen konnte. Nur zuweilen klang ein gewisser leiser Ton wehmütiger, fast gepreßter Stimmung mit durch. Frau Klämmerlein, für welche jede Nachricht vom Wohlergehen Emiliens und des Kindes ein Fest war, versicherte lächelnd, daß eine solche trauerselige Schwärmerei jeder jungen, glücklichen Frau zuweilen aufliege, und Hans Ritter glaubte es ihr willig.
Von Bardolfs Hand kam nur selten ein kurzer Gruß. Seine Zeitung schickte er nicht mehr. Ritter las sie gleichwohl fast regelmäßig, aus dem Lesezimmer der Universität, wohin jede in der Provinz erscheinende Zeitung ein Pflichtexemplar zu liefern hat, aber nur selten vermochte er noch aus irgend einem Beitrag die Hand des Freundes zu erkennen, dessen Name als der des verantwortlichen Redakteurs den Kopf des Blattes zierte. Bis auf den lokalen Teil konnte das Blatt ebensogut in sechzig anderen Orten erschienen sein, allerdings war dieser Teil sehr umfangreich, vornehmlich durch Berichte über Versammlungen und andere Nachrichten von dem Parteikriege, der hier, innerhalb der Mauern einer Stadt, noch viel persönlichere und gehässigere Formen annahm als in den mehr akademischen, grundsätzlichen Auseinandersetzungen der Parlamentsredner und großen Zeitungen. Für Hans Ritter war das alles überaus widerwärtig, und es schmerzte ihn, Bardolf dauernd in diese Verhältnisse gebannt zu sehen. Die Bemerkung des Professors Bernstein über das „gefährliche Geschäft“ war ihm aus der Seele gesprochen. Aber er versuchte sich immer wieder zu überreden, daß seine Empfindung in diesem Falle zu gutem Teile gelehrtes Vorurteil sei und daß selbst eine anfangs unbequeme Stellung keinen zu hohen Preis für ein häusliches Glück darstelle, wie es Bardolf und Emilie genossen. Das Anfangsgehalt, welches ihm Bardolf vor Antritt der Stelle angegeben, war immerhin noch einige hundert Mark höher als das, welches ihre zugleich mit Bardolf in den Schuldienst eingetretenen Studiengenossen jetzt im Durchschnitt erreicht hatten, ja noch um eine weitere Summe höher als sein eigenes Bibliothekarsgehalt, und inzwischen mußte Bardolf doch auch wohl gestiegen sein. Die Hauptsache blieb, daß die beiden miteinander glücklich waren – –
In seine Gedanken vertieft, war Hans Ritter, ohne es zu merken, an dem Speisehaus vorbeigegangen, dem gewohnten Heimwege nach. Als er um die Ecke bog, hörte er von einer [51] bekannten Stimme seinen Namen nennen. Er blickte auf und sah Bardolf vor sich stehen.
Wie ein fröhlicher Wanderer sah der Redakteur nicht aus. Sein Hut war zerknittert und regennaß, sein Sommerüberzieher – Hans Ritter kannte ihn noch von den Zeiten des Hansebundes her – abgetragen und verschossen. Das Gesicht war eingefallen, und es ging ein Duft von ihm aus nach schlechten, im Regen gerauchten Cigarre und stärkeren Sachen.
„Das ist ein schlechtes Reisewetter,“ sagte er mit einem gezwungenen Lachen, „zumal wenn man mit dem Bummelzug fährt. Ich bin vor einer Stunde angekommen und habe hier auf dich gewartet.“
„Vor einer Stunde!“ wiederholte Hans Ritter betroffen. „Aber Mensch, warum hast du dich denn nicht wenigstens in die Wirtschaft gesetzt?“
„Hm,“ machte Bardolf verlegen, „ich mochte da nicht gerne mit Mohr zusammentreffen – weißt du, ich wollte etwas mit dir besprechen, und –“
„Mohr ißt nicht mehr mit mir zusammen,“ antwortete Ritter. „Du erinnerst dich wohl, daß er im Mai verzogen ist, Frau Klämmerlein hat es euch doch geschrieben? Seitdem speist er auch anderswo, mit ein paar älteren Kollegen von sich. Er ist ja neuerdings bedeutend gestiegen. Also komm nur mit und iß vor allen Dingen etwas, du siehst ja zum Erbarmen aus! Es ist doch nichts mit – mit deiner Frau und dem Kinde vorgefallen?“
Sie waren unterdes im Speisehause angelangt. Der Saal war jetzt, während der Studentenferien, fast ganz leer. Sie setzten sich an ein Ecktischchen. Der Kellner brachte Bier, Bardolf leerte sein Glas auf einen Zug.
„Ach,“ sagte er aufseufzend, „das thut gut! Scheußlicher Durst! – Nein, vorgefallen ist eigentlich nichts. Es ist gottlob jetzt alles wieder wohl. Aber es war eine schwere Zeit. Na, ich muß es dir denn wohl erzählen. Laß nur so lange noch den Kerl mit der Suppe wegbleiben.“
Und nun erzählte er mit gedämpfter Stimme von Emiliens Leiden. Im Frühjahr hatte es angefangen – „nur so eine Erkältung,“ meinte sie. Dann war es immer schlimmer geworden. Der Arzt hatte darauf bestanden, daß sie wenigstens auf ein paar Monate aus der Stadt müsse, in einen ländlichen Kurort. Von dort her hatte sie ihre Briefe für die Großmutter geschrieben und durch Bardolf aus der Stadt abschicken lassen. Sie wollte es so, damit die alte Frau sich nicht unnütz beunruhigte.
Nun verstand Haus Ritter auch die Stellen, die ihm in diesen Briefen aufgefallen waren.
„Ja, das kannst du mir glauben,“ sagte Bardolf, „nie zuvor habe ich diesen Engel so kennengelernt wie während ihres Leidens, und ich glaubte doch, ihr liebes, tapferes Herz zu kennen! Nun, wie gesagt, die Kur hat geholfen, der Arzt sagt es ganz bestimmt, natürlich in acht nehmen muß sie sich noch immer. Aber nun kommt das gemeinste! Du kannst dir denken, daß das Geld gekostet hat, sie hatte ja auch das Kind und das Mädchen mit, ich habe derweil als Junggeselle gelebt. Sieh mal, Ritter, ich will mich nicht besser machen als ich bin, aber ich habe mich eingeschränkt, soviel ich konnte, doch was hilft das alles? Es ist so manches unbezahlt geblieben, weil sie doch immer voran gehen muß, und nun kommen die Leute und mahnen – ich weiß mir keinen Rat mehr! Ich habe sie darüber zu täuschen gesucht, solange sie fort war, aber jetzt geht das ja nicht mehr, sie nimmt doch selbst die Mahnbriefe an, während ich auf meinem Bureau bin, und muß sich mit den Leuten herumärgern, wie kann sie da gesund bleiben? Wir haben vertröstet und uns abgemüht, aber wir wissen nicht, woher wir’s nehmen sollen und nun …“ er stockte eine Weile und flüsterte dann mit gesenktem Blick. „seit vorgestern kleben die blauen Siegel an ihrem Klavier … Sieh ’mal, Ritter, ich will dir’s gestehen, damals, als ich mich verlobte, habe ich einen Augenblick gedacht, dich um die Aussteuer anzupumpen. Aber ich sagte mir, das wäre lumpig. Für unser Glück durfte ich dich nicht berauben, und sie hätte es auch nicht gelitten, wir hätten eben warten müssen, wer weiß wie lange, wenn die Großmutter nicht auf deine Verwendung mit ihrem Spargroschen herausgerückt wäre. Den durfte wir nehmen, Emilie hätte es ja doch geerbt. Aber nun – willst du mir aus dem Elend helfen? – Es kommt dir ungelegen, das sehe ich, Emilie wollte es auch nicht zugeben, aber ich weiß sonst keinen Menschen. Wenn du nicht willst oder –“
„Das ist es nicht,“ sagte Hans Ritter. Er sah sehr blaß aus, und seine Stimme klang, wie es ihm in großer Erregung eigen war, heiser. „Was ich kann, das thue ich. Dazu bedarf es ja gar keiner Rede! Aber weißt du, ich … ich habe in diesem Jahre etwas sehr aushausig gelebt … und … wie viel macht es denn alles in allem? Ich meine, damit alles gedeckt wird?“
Bardolf zögerte einige Augenblicke. „Du wirst erschrecken“ sagte er, „aber … ich habe gestern mit Emilie einen genauen Ueberschlag gemacht … es sind an die neunhundert Mark!“
Ritter stieß einen großen Seufzer der Erleichterung aus. „Das kann ich noch,“ sagte er. „Wir wollen es abrunden auf tausend. Aber ich kann sie dir erst morgen mitgeben. – Du bleibst doch hier? – Aber um Gottes willen, rege dich doch nicht so auf!“
Die Mahnung war begründet, denn der Kellner starrte bereits von fern mit offenem Munde her. Er hatte wohl noch nicht oft einen starken bärtigen Mann in einem Atem lachen und schluchzen gesehen.
Aber das Kindergemüt dieses Mannes war wie ein Gummiball. Sobald es sich von der pressenden Last befreit fühlte, dehnte es sich wieder rund und fröhlich empor. Auf dem Wege zur Post, wohin sie sogleich gingen, um an Frau Emilie zu telegraphieren, erörterte er noch sehr ernsthaft die Bedingungen und war untröstlich, daß sich Ritter weigerte, vier Prozent Zinsen zu nehmen, wenigstens in die Ausstellung eines Schuldscheins mußte Ritter zuletzt einwilligen. Aus dem Rückwege erzählte er bereits lustige Geschichten und schilderte die Verhältnisse seiner Redaktionsstellung jetzt ganz offen, mit einem gewissen Galgenhumor. „Uebrigens gedenke ich in einem halben Jahre von der Gesellschaft los zu sein,“ sagte er. „Ich trete gewissermaßen wieder in den Schuldienst zurück, es hat sich mir da eine glänzende Gelegenheit geboten. Ich habe in dem Kurort einen Hauptmann außer Dienst wiedergetroffen – Kriegskamerad von Anno Siebzig, weißt du, der spätestens zu Ostern gerade in unserer Stadt einen großartigen Auftakt zur wissenschaftlichen Vorbildung für den Offiziersdienst eröffnen will. Im Prinzip bin ich schon einig mit ihm. Das Fixum wird allein so viel betragen wie mein jetziges Gehalt, und dann bietet sich da natürlich noch eine Menge Gelegenheit zu Privatstunden!“
Nachher, bei Frau Klämmerlein, war er unerschöpflich in heiteren Geschichten von seiner Kleinen, die alte Dame segnete den Zufall, der den Gatten ihrer Enkelin so unvermutet in journalistischen Geschäften – wie er sagte – hierher geführt hatte. Am Abend freundete er sich mit dem jungen Arzte an, der jetzt das von Mohr verlassene „Lübeck“ beherrschte, und es wurde ein kleines Hausfest, in welchem noch einmal etwas von dem Geiste der alten „Hansetage“ aufzuleben schien. Denn er war einer von jenen Kindermenschen, die, so lange es ihnen halbwegs gut geht, auf alle guten Leute unbezwinglich heiter anregend wirken.
Doktor Hans Mohr gehörte nicht mehr zu diesen guten Leuten. Er hatte sich am Abend nach dem Häuschen der Frau Klämmerlein aufgemacht, um doch ehrenhalber wieder einmal vorzusprechen, auch wollte er Hans Ritter wegen eines philosophischen Werkes um Rat angehen, welches er zu besprechen übernommen hatte, ohne es zu verstehen. Da hörte er Bardolfs Stimme und sah den hohen Schatten hinter der weißen Gardine. Leise wandte er sich um und verließ den Garten wieder. Denn Fräulein Beate weilte seit kurzem wieder in der Universitätsstadt, und er kannte sie jetzt genau genug, um zu wissen, daß sie Emilies Gatten ebenso haßte wie Emilie selbst und den Umgang mit ihm nicht als empfehlend ansehen würde. Und dann schämte er sich doch auch ein wenig.
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Königin Luise mit Prinz Wilhelm. (Zu unserer Kunstbeilage.) Einen der schönsten und würdigsten Gedenktage wird uns der 22. März bringen, den hundertsten Geburtstag Kaiser Wilhelms I., der mit freudiger Begeisterung überall, wo Deutsche leben, begangen werden wird. Auch die holde Kinderzeit des ersten Kaisers unseres neugeeinten Vaterlands wird dieser Gedenktag aufs neue beleben, jene unvergeßlich schönen Jahre, in denen der kleine Wilhelm unter der treuen Obhut der geliebten Mutter, die ihm so früh entrissen wurde, heranwuchs, während sie in seine junge Seele die Empfindungen für alles Große, Edle und Schöne senkte, welche später unserm ganzen Volke zum Wohle gereichen sollten. In jene Jahre versetzt uns das anmutreiche Bild Professor G. Biermanns zurück, das uns die Königin Luise in vollerblühter Schönheit und Weiblichkeit mit ihrem zweiten Sohn, dem Prinzen Wilhelm, vor Augen führt. Wir sehen die schlanke Mutter mit dem zarten, blondgelockten Knaben in einem der königlichen Gärten lustwandeln, die hohe Gestalt in weißen Musselin gehüllt, das edle Haupt leicht zur Seite geneigt, die leuchtenden blauen Augen suchend in die Ferne gerichtet, ob nicht aus dem lauschigen Grün plötzlich der König auftauche, denn dieser pflegte oft die Arbeit zu verlassen, um seiner Gemahlin auf ihren Spaziergängen zu folgen und in ihrer Gesellschaft und Unterhaltung Erholung zu finden. Jene Jahre, die in den Beginn unseres Jahrhunderts fallen, waren auch die glücklichsten für die Königin; noch zogen nicht am politischen Horizont die dunklen Kriegswolken herauf. Nach der wenig zufriedenstellenden Regierungszeit Friedrich Wilhelm II. war ganz Preußen dem jungen Königspaare in innigster Verehrung zugethan. Überall wußte die Königin Gutes und Segensreiches zu vollbringen, und wenn der Frühling lachend ins Land gezogen war, so verließ die königliche Familie Berlin und ihr dortiges schlichtes Heim, das Kronprinzen-Palais, wie es noch immer genannt wurde, und siedelte nach Potsdam oder Charlottenburg oder der Pfaueninsel über, dorthin, wo die Bäume rauschten und die Vögel sangen und die Sonne frei auf Wiesen und Felder niederschien.
„Den Saiten meines Gemüts muß ich jeden Tag einige Stunden Ruhe gönnen, muß sie dadurch gleichsam von neuem aufziehen damit sie den rechten Klang behalten. Am besten gelingt mir dies in der Einsamkeit, aber nicht im Zimmer, sondern in dem stillen Schatten der freien schönen Natur. Unterlasse ich das, dann fühle ich mich verstimmt, und das wird nur noch ärger im Geräusche der Welt. So hatte einst die Königin zum Bischof Eylert gesprochen, mit der gleichen tiefen Liebe zur Natur erfüllte sie auch von früh auf ihre Kinder und man weiß, wie dies beim Kaiser Wilhelm bis zum spätesten Greisenalter nachgewirkt hat und wie es ihm zu danken ist, wenn wir in den Parkanlagen Berlins und auf dessen Straßen und Plätzen noch heute vielen schönen, alten Bäumen begegnen. Prinz Wilhelm war ein stilles und sinniges Kind, er hatte nichts von dem lebhaft sprudelnden Wesen seines älteren Bruders, des späteren Königs Friedrich Wilhelm IV., aber gerade wegen seines schlichten und treuen Charakters liebte ihn seine Mutter aufs zärtlichste und war betrübt, wenn man die Zurückhaltung des Kindes falsch auffaßte. Einst fand die Gräfin Boß, die betagte Oberhofmarschallin, die Königin in tiefer Verstimmung und erkundigte sich nach deren Ursache. „Aller Aufmerksamkeit wendet sich meinem ältesten Sohne zu, gestand die Königin endlich, „um den Prinzen Wilhelm bekümmern sie sich viel weniger, sie kennen nicht sein tiefes und gutes Gemüt, wie ernst und gewissenhaft er alles auffaßt. O, ich bin überzeugt, wenn er dereinst vor große Aufgaben gestellt werden sollte, er wird sie in schönster und pflichttreuester Weise lösen! Wie Kaiser Wilhelm die Voraussagung seiner Mutter wahr gemacht, wir wissen’s und danken’s ihm in alle Zukunft! P. L–g.
Riesentukane beim Bananenschmaus. (Zu dem Bilde S. 41.). In den Wäldern Südamerikas sind neben Papageien die Tukane die häufigsten Vögel. Sie sind auf den ersten Blick auffällig durch die Riesenschnäbel, mit welchen die Natur sie ausgerüstet hat. Die Eingeborenen stellen ihnen gern nach, sowohl wegen des Gefieders das zum Schmuck benutzt wird, als auch wegen des schmackhaften Fleisches.
Ueber die Frage, womit sich diese Vögel ernähren, herrschte lange Zeit unter den Naturforschern Meinungsverschiedenheit. Heute steht es fest, daß die Tukane vorwiegend Früchte fressen, aber auch tierische Nahrung durchaus nicht verschmähen und kleineren Tieren, namentlich Vögeln, gern nachstellen. Den großen, aber sehr leichten Schnabel verstehen die Vögel sehr geschickt zu handhaben. Seine Länge erleichtert ihnen das Früchtepflücken, aber sie sind auch imstande, ganz kleine Dinge, wie z. B. Hanfkörner, geschickt vom Boden aufzunehmen. Sobald der Tukan ein solches Körnchen mit der Spitze des Schnabels erfaßt hat, hebt er den Schnabel senkrecht empor und läßt es in den Rachen hinabfallen. In ähnlicher Weise trinkt er auch, gebärdet sich aber dabei so seltsam, daß amerikanische Mönche behauptet haben, der Vogel mache beim Trinken das Zeichen des Kreuzes über dem Wasser.
Auf unserem Bilde haben sich zwei Riesentukane über ein Bananenbündel hergemacht. Die Riesentukane bewohnen die höher gelegenen Regionen Süd- und Mittelamerikas und hausen mit Vorliebe in Gehölzen, die am Rande der Savanne gelegen sind. Ihre Länge beträgt etwas über einen halben Meter. Die vorwiegende Farbe des Gefieders ist schwarz, Kehle, Wangen, Vorderhals und Oberschwanzdeckfedern sind dagegen weiß, während der Bürzel hell blutrot glänzt. Der mächtige, am Rande gekerbte Schnabel ist orangerot, weist aber gegen den Rücken hin feuerroten Ton auf, der Rand vor dem Kopfgefieder, sowie die Spitze des Oberkiefers sind schwarz.
Die Tukane gleichen in ihrer Lebensweise und Charakteranlage unseren Raben und lassen sich wie diese leicht zähmen. Ein zahmer Tukan bereitet seinem Besitzer durch drollig kluges Benehmen und allerlei Neckereien manche Freude, schwingt sich aber auch oft zum Tyrannen des Hauses, das ihn beherbergt, auf. *
Der Kranz. (Zu dem Bilde S. 49.) Einer der letzten sonnigen Herbsttage war’s, der sie noch einmal in den Garten gelockt hatte, um die Rosen zu pflücken, die noch da und dort, halb schon zerflatternd, an den Sträuchern hingen. Schmerzlich süße Erinnerungen sind es wohl, denen sie jetzt nachhängt, während ihre Hände die Blumen sachte aneinanderreihen. Gedenkt sie der so rasch dahingeschwundenen Frühlings- und Sommerzeit, da es in ihrem jungen Herzen mit den Rosen um die Wette knospte und blühte, da Einer im Garten an ihrer Seite ging, der nun fortzog in die weite, weite Welt? … Wann wird er ihr wiederkehren? Und wie? Die Blumen können’s ihr ja nicht sagen, und doch – auch sie reden ihre stille Sprache, mag der Winter noch so lange währen, es muß ja doch wieder Frühling werden, dann wird die schöne Rosenzeit wieder folgen und aus frischen, leuchtenden Blüten windet dann vielleicht „Er“ für sie den Kranz, den er der glücklichen Braut in die blonden Locken drückt!
Inhalt: [ Inhalt der Wochen-Nummer 3/1897 – z. Zt. nicht dargestellt. ]
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