Benutzer:Maasikaru/InArbeit02
ZEICHHUNC AC.XYOHOR
Iinden i.W.
J.C.E. Bruns Verlag
Olga Robylanska
Eingeleitet durch einen Essay
„Ein Jahrhundert kleinrussischer Litteratur“ von Georg Adam.
Minden i. Westf.
I. C. C. Bruns’ Verlag.
Gedruckt bei I. C. C. Bruns in Minden i. W.
Juhalts-Verzeichuis.
Georg Adam: Ein Jahrhundert kleinrussischer
I
Litteratur
1
Natur
55
Eine Unzivilisierte.
Eine Schlacht
145
C0g999
Litteralur.
Das kleinrussische Volk, welches die Hauptmasse
der Bevölkerung in der russischen Ukraine, dem östlichen
Teile Galiziens, der Bukowina und den angrenzenden
Gebieten Ungarns bildet, ist eines der
Stiefkinder der Geschichte. Früh schon wurde es der
staatlichen Selbständigkeit beraubt, es unterlag den
beiden mächtigen stammesverwandten Nachbarn, den
Polen und Russen. Politisch zerrissen und unterdrückt,
brütete das Volk dahin in dumpfer Ergebenheit und
seiner selbst unbewußt, während die höheren Schichten
sich bald bemühten, ihren Herren, den Polen und
Russen, sich zu assimilieren. So schien es Jahrhunderte
lang, als sei jede litterarische Bewegung,
abgesehen von der reichen alten Volkspoesie, welche
im Munde des Volkes fortlebt, bei den Kleinrussen
erstorben; ja, die Sprache selbst, die ja nur
II 3–
noch die Sprache der ungebildeten Bauern geblieben,
schien in ihrer Existenz in Frage gestellt. Als im
Jahre 1818 die erste Grammatik der kleinrussischen
Volkssprache herausgegeben wurde, fügte der Verfasser
erklärend hinzu, daß dies aus rein historischem Interesse
geschehe, denn die kleinrussische Sprache sei im Aussterben
begriffen, eine nicht lebendige und nicht tote
Sprache. Doch als diese Worte geschrieben wurden,
da waren die ersten Schritte zur Wiedererweckung der
kleinrussischen Litteratur bereits gethan.
Das erste Werk, welches – abgesehen von einigen
früheren Versuchen, die jedoch meist ungedruckt blieben
und nicht genügende Beachtung vor der Offentlichkeit
fanden – in kleinrussischer Sprache erschien und dabei
Anspruch auf litterarischen Wert machen konnte, war
die Travestie der Vergilschen Aeneis von Iwan
Kotlarewski. Das war im Jahre 1798 – und
im Jahre 1898 da wurde allerorten, wo Kleinrussen
wohnen, in Kiew, Odessa, Lemberg, Czernowitz u. v. a.,
das Andenken jenes ersten kleinrussischen Dichters und
der hundertste Geburtstag der kleinrussischen Litteratur
als hoher Festtag begangen.
Sehen wir, was diese Litteratur in ihrem ersten
Jahrhundert geschaffen hat.
Zunächst jene Aeneis deren erste Auflagen in
Petersburg erschienen. Der Dichter hatte die Anregung
dazu in einer russischen Bearbeitung von Blumaners
„Aeneis“ gefunden, aber die Art, wie Kotlarewski
III
seinen Stoff behandelte, läßt sein Werk im Lichte der
Geschichte als eine grundlegende That erscheinen. Zum
ersten Male wurde hier das Volkstümliche, das Nationalkleinrussische
mit voller Kraft zu seinem Rechte geführt,
und von nun an nahm die kleinrussische Nation selbständig
Teil an den gesamt-europäischen litterarischen
Bewegungen. Nicht nur, daß hier zum ersten Male die
Sprache des kleinrussischen Volkes mit Erfolg in die
Litteratur eingeführt wurde, während man sich bisher
einer Sprache bedient hatte, welche aus polnischen, großrussischen
und vorwiegend altkirchenslawischen Bestandteilen
zusammengeflickt war, auch das Volk selbst
tritt hier tren und lebendig auf die Bühne. Denn die
ganze Geschichte von den trojanischen Helden, den
bunten antiken Götterhimmel benntzt Kotlarewski nur,
um unter ihrer Maske seine eigenen Volksgenossen zu
schildern. So sind die Götter mit Zeus an der Spitze
nichts anderes als die kleinrussischen, polnischen und
russischen Adligen und Beamten, die sorglosen Herren
des arbeitenden Volkes, die in Saus und Brans dahinleben
und keine höheren Ideale kennen als Essen und
Trinken, und Trinken vor allem, während Aeneas und
seine Gefährten echte fahrende Kosaken sind, welche in
ihren Schiffen die Lieder der alten Saporoger singen
von der Herrlichkeit ihres Sicz. – Wohl hat ein
Kritiker Kotlarewski einen strengen Vorwurf daraus
gemacht, daß er das kleinrussische Leben nur im Spott
und von der lächerlichen Seite behandle, doch ganz
– IV
zu Unrecht; denn mit dem, was er in diesem heiteren
Gewande erzielen will, ist es dem Dichter heiliger
Ernst, und überall leuchtet herzliche Humanität und
wahre Liebe zum Volke hervor. Kotlarewski, welcher,
im Jahre 1769 in Poltawa als Sohn eines kleinen
Beamten geboren, im Jahre 1838 als Major und
Leiter einer Erziehungsanstalt in seiner Heimat starb,
ist auch der Schöpfer des nationalen Dramas geworden.
Dies letztere stand damals in Kleinrußland
noch ganz im Banne des Kirchentums, etwa auf der
Stufe der mittelalterlichen Mysterien. Auch hier trat
Kotlarewski als bahnbrechender Neuerer auf, indem
er mit mächtigem Griff sein kleinrussisches Volk und
kleinrussisches Leben auf die Bühne stellte. Und noch
heute wird seiner „Natalka Poltawka“ und dem
„Moskauer Zauberer“ in kleinrussischen Theatern zugejubelt.
So
wird Kotlarewski nicht nur als Begründer
der Litteratur, sondern auch als Erwecker des nationalen
Bewußtseins in seinem Volke gefeiert. Ja,
es lassen sich in seinem Werke im Keime bereits jene
Züge erblicken, welche die gesamte kleinrussische Litteratur
fernerhin charakterisieren: die scharfe Betonung
des Nationalen, die schwärmerische Kosakenromantik,
die streng demokratische Volkstümlichkeit. Dieser
demokratische Zug, welcher sich in allen slavischen
Litteraturen bemerlbar macht, liegt bei den Kleinrussen
besonders fest begründet in den äußeren Verhältnissen.
- V
Denn da die wenigen Vertreter der höheren Schichten,
der Intelligenz dem eigentlichen Volke in Sitte und
Sprache fast völlig entfremdet waren, so mußte die
nationale Litteratur sich vornehmlich an die Bauern
als alleinige Stütze wenden, und eine große Zahl
nkrainischer und galizisch=ruthenischer Dichter ist auch
selbst aus dem Bauernstande hervorgegangen. Die
nkrainische Litteratur ist eine Bauernlitteratur von
Geburt, und sie hat auch durch freinde Einflüsse sich
in ihrem Wesen nicht wandeln lassen, daher spielte
in ihr das Bauerntum seine natürliche Rolle, schon
Jahre bevor man in West=Europa sich auf diesen für
die litterarische Welt fast vergessenen Stand zu besinnen
begann und bevor die russische Litteratur sich
zu voller, starker Selbständigkeit hindurchgerungen hatte.
Jahre vergingen, ehe die Arbeit Kotlarewskis recht
ihre Wirkung that und Nachfolger zu zeugen vermochte.
Und als diese sich fanden, da bestand, wie das ja so
zu kommen pflegt, die Nachfolgerschaft nur in täppischer,
oberflächlicher Nachahmung, welche nicht die
Kraft besaß, sich in Geist und Herz des Meisters
hineinzuleben.
Zu eigener Bedeutung erhob sich aus der Schule
Kotlarewskis Petro Artemowski-Hulak, der
Sohn eines Geistlichen aus dem Gonvernement Kiew,
welcher von 1790 bis 1866 lebte und in seinen Fabeln
und Satiren die kleinrussische Litteratur durch feine
künstlerische Gebilde bereichert hat. Besonders bezeich
VI 2
nend ist seine Geschichte „Der Herr und der Hund“
in welcher der Hund, der für alle seine Treue nur
gequält und geschlagen wird, der Repräsentant des
kleinrussischen Volkes ist. Zu hoher Entfaltung brachte
die satirische Fabel in den dreißiger Jahren Eugen
Hrebinka (1812 bis 1848).
Alle Zeitgenossen überragte jedoch Gregor
Kwitka-Osnowjanenko (1778 bis 1843), welcher,
aus einer Charkower adligen Gutsbesitzerfamilie stammend,
sich schließlich, nachdem er sich im Militär= wie
Zivildienst versucht hatte, sodann einige Jahre im
Kloster zugebracht, von allem anderen unbefriedigt der
Litteratur zuwandte. Er verließ die bis dahin vorherrschende
Form der Humoreske und Satire und
schuf in seinen Erzählungen, welche vom warmen Hanche
tiefen Gefühls durchweht sind, das allerdings zuweilen
als Sentimentalität erscheint, Bilder aus dem Leben
des Volkes voll packender Natürlichkeit und Wahrheit.
Auch einige volkstümliche Theaterstücke von Kwitka
gelangten zu großer Popularität. Vor allem aber
durch seine Erzählungen, welche überall gerade wegen
ihrer Lebenswahrheit offene Herzen fanden, übte er
einen außerordentlichen Einfluß auf sein Volk aus,
welches seine Werke zu den Perlen heimischer Litteratur
zählt.
Neue Stoffe, die nationale Geschichte und Tradition
des kleinrussischen Volkstums, kamen gegen Ende der
dreißiger Jahre zur Geltung, und zwar im Zusammen
hang mit dem allgemein europäischen Entwickelungsgange der Litteratur. Das Zeitalter der Romantik brachte in der polnischen und russischen Litteratur eine schwärmerische Begeisterung für die Ukraine und das alte Kosakentum. In Polen bildete sich eine ganze ukrainische Schule. Deren glänzendste Vertreter sind Anton Malezewski mit seiner tragischen Erzählung aus der Ukraine „Maria“, Sewerin Goszzynski, welcher in seiner erschütternden Dichtung „Das Schloß von Kaniow“ (Zamek kaniowski), das grausige Bild eines kleinrussischen Bauernaufstandes im 18. Jahrhundert schildert, und der feine, zartlyrische Bohdan Zaleski, welcher seine zauberhafte Dichtung „Der Geist der Steppe“ (Duch od stepu) mit den Worten voll glühender Heimatbegeisterung beginnt: Mich auch, Mutter Ukraine, Mich auch hat sie, ihren Sohn, Mit dem Lied genährt am Busen. Zauberin, im Morgendämmer Ahnend mein ätherisch Leben In der Zukunft fernem Reich, Sprach sie mild und zärtlich weich: „Warte du mein Kind, Rusalka! Milch der Lieder, Mark der Blumen Nähr’ zum Flug den schwachen Leib; Meines Ruhmes Sonnenzeiten Leih als Bilder seinen Träumen! Daß in Gold und Azur ihm Regenbogengleich erblühen Alle Sagen meines Volkes.“
VIII
Doch auch andere, nicht eigentliche „Ukrainer“
wie der phantasiegewaltige polnische Romantiker Inlius
Slowacki mit seiner von Byronschem Geiste erfüllten
poetischen Erzählung von dem Kosakenhetman Zmija
und der große russische Romantiker Puschkin, sodann
Nikolai Gogol, der im Gonvernement Poltawa geboren
wurde und dessen Vater, Wassili Afanasjewitsch
Gogol, sich selbst in der kleinrussischen Litteratur durch
einige Komödien bethätigt hat, konnten sich dem Zauber
der Ukraine nicht entziehen. Und wirklich, kein anderes
Land bietet der Romantik ein reicheres Feld als jene
Ukraine mit ihren weiten, ewigen Steppen, die bis zum
blauen Meer sich dehnen, „wo Hügel sich an Hügel
reiht, und jeder Hügel ist ein Grab,“ ein Grab und
zugleich ein Denkmal der wilden, ruhmreichen Vergangenheit,
da die Kosaken unter ihren tapfren Atamanen
gegen Polen, Russen und Tataren fochten, die
Saporoger in ihren leichten, flinken Booten bis vor
die Kaiserstadt Konstantinopel fuhren und den Feind
der Christenheit in seinem goldenen Palast erbeben
machten, da die Tschumaken frei das Land durchzogen
und der stolze Kosak keinen Herrn über sich erkannte.
Natürlich konnte diese Romantik gerade auf die
eigentlichen Nachkommen jener alten Kosaken, das
kleinrussische Volk, ihre Wirkung nicht verfehlen,
und im Munde der nenen kleinrussischen Dichter
erwachten die Lieder und der Geist der Sänger, der
Teorbaspieler der Vorzeit, zu neuem, frischem Leben.
– IX
Zu diesen kleinrussischen Romantikern gehört zunächst
Ambrosius Metlynski (1814 bis 1870), dessen
melodische Lieder wehmütig über den Ruinen der Vergangenheit
klagen und schwärmerisch vom Ruhme des
alten Kosakentums singen. In derselben Richtung
bewegen sich einige Werke von Artemowski=Hulak und
die Balladen von Borowikowski.
Zur höchsten Blüte entfaltete sich die kleinrussische
Romantik, die kleinrussische Poesie überhaupt, in
Taras Schewtschenko. Taras Schewtschenko
wurde am 9. März (25. Febrnar) 1814 als Sohn
eines Leibeigenen des Kiewer Gutsbesitzers Engelhardt
geboren. Nach einer außerordentlich traurigen Kindheit
– schon im Alter von 8 bis 9 Jahren wurde
er Waise – wurde er im Jahre 1832 von seinem
Herrn bei einem Petersburger Maler in die Lehre gegeben.
Hier lenkte er die Aufmerksamkeit von Petersburger
Künstlern auf sich, welche, unterstützt von dem
berühmten Dichter Shukowski, im Jahre 1838 seinen
Loskauf ermöglichten. Nun besuchte Schewtschenko
die Akademie und wurde einer der Lieblingsschüler
des Geschichtsmalers Brylow (Brüllow). Seine Thätigkeit
teilte sich jedoch zwischen Malerei und Poesie. Im
Jahre 1840 gab er seine erste Gedichtsammlung heraus
unter dem Titel „Kobzar“ (Der Spielmann),
welche ihm sofort den ersten Rang in der kleinrussischen
Litteratur erwarb. Nachdem er 1844 als freier Künstler
in die Heimat zurückgekehrt war, ereilte ihn dort im
+ X
Jahre 1847 ein trauriges Geschick: er wurde als Mitglied
eines kleinrussisch=patriotischen Geheimbundes,
welcher die Aufhebung der Leibeigenschaft, eine freie
Verbrüderung aller Slaven u. a. als Ziel verfolgte,
verhaftet, unter das Militär gesteckt und als gemeiner
Soldat nach dem Orenburger Gonvernement, fern an
die Grenze Asiens geschickt. Dabei war ihm streng
verboten, zu schreiben! Nach zehn Jahren des Elends
wurde er endlich auf Fürsprache von Petersburger
Freunden freigegeben, doch seine physische Kraft war
gebrochen; nachdem er abermals, im Jahre 1859, seine
Heimat aufgesucht, starb er am 10. März (26. Februar)
1861. Bei Kaniew am Dujepr wurden seine Gebeine
beigesetzt, mitten in der weiten Steppe seiner Ukraine,
wie er es gewünscht, ein neuer Grabhügel, der sich
an die vielen andern des ukrainischen Landes reiht,
in denen die ruhmreichen Söhne des kleinrussischen
Volkes schlummern. Und zu ihnen gehört Schewtschenko
wie kein andrer. Für sein Volk ist er der Sänger,
der Genosse seiner Leiden, der Tröster und Führer;
für die Weltlitteratur ist er eine der eigenartigsten
und anziehendsten Dichtergestalten.
In Schewtschenkos Liedern liegt die Seele des
kleinrussischen Landes und des kleinrussischen Volkes.
Und diese Seele spricht in ihnen frei und ungekünstelt,
in der schlichten, herzlichen Sprache des Naturkindes,
und doch voll tiefer, zartester Empfindung und Poesie,
voll der melancholisch süßen Innigkeit des slavischen
+ XI
Volksliedes. Ja, Schewtschenkos Poesie ist echte Volkspoesie.
Und das ist das Große und Seltene an
Schewtschenko. Seine Dumki sind nicht Gedichte,
welche der Dichter in kluger Erkenntnis des Volkes
dessen Verständnis angepaßt hat, es sind Lieder, die,
aus dem Herzen des Volkes geflossen, mit urkräftiger
Gewalt wieder zum Herzen des Volkes gehen. „Die
Poesie Schewtschenkos“ so sagt sein Freund und Gefährte
Kostomarow, „ist die Poesie des ganzen Volkes,
doch nicht nur die, welche schon das Volk selbst in
seinen namenlosen Schöpfungen, den Volksliedern und
Dumen gesungen hat, es ist die Poesie, welche das
Volk selbst würde anstimmen müssen, wenn es mit selbständiger
Schöpferkraft ununterbrochen nach seinen
ersten Liedern fortfahren wollte zu singen; oder vielmehr,
es war die Poesie, welche das Volk wirklich
angestimmt hat durch den Mund seines Auserwählten,
seiner wahrhaft leitenden Persönlichkeit.“; Wohl sang
auch Schewtschenko wie die anderen ukrainischen Romantiker
von dem Ruhme der Vorzeit, den Kämpfen
der freien Kosaken, den blutigen Bauernaufständen
der Haidamaken, wohl träumte auch er über den Grabhügeln
der Ahnen und lauschte dem Winde, der bald
sanft, bald in wildem Brausen sein düsteres Lied
durch die Steppe singt, doch über dem Versenken in
die Vergangenheit verlor er nicht den Blick für das
Leben der Gegenwart, und das traurige Geschick der
Volksgenossen um ihn wirkte nicht minder auf seinen
Geist und auf sein Gemüt als die Erinnerung der
glanzoollen, in verschönendem Lichte gesehenen Tage
der alten Kosakenherrlichkeit. Und dem Volke, mit
dem er verwachsen bis in die innersten Fasern seines
Wesens, dem allein er angehören wollte, ihm hat er
sein ganzes Lebenswerk gewidmet, ihm hat er sein
Glück, ihm hat er das höchste der Güter, die Freiheit
zum Opfer gebracht. Sein Ideal, das in voller Schärfe
und Klarheit aus seinen Liedern leuchtet, war ein
freies kleinrussisches Volk, edel an Herz und Geist.
Die Verwirklichung dieses Ideals erhoffte er von der
Durchführung des panslavistischen Gedankens, doch,
wohl verstanden, nicht jenes Panslavismus, den russische
Regierungskreise zum willkommenen Vorwand
einer Raub= und Eroberungspolitik auszubeuten sich
bemühen, nein, frei und brüderlich sollen alle Slaven
sich vereinen, „Söhne der Sonne Gerechtigkeit“
Diese Ideen waren es, welche auch jener Verein
ukrainischer Patrioten, die „Brüderschaft des heiligen
Kirill und Method“ verfolgte, deren hervorragendste
Mitglieder neben Schewtschenko Kostomarow und
Kulisch waren. Auch sie fielen im Jahre 1847 der
Verfolgung der russischen Regierung zum Opfer und
erlitten eine mehrjährige Unterbrechung ihrer Thätigkeit,
so daß durch jene Gewaltmaßregel die kleinrussische
Litteratur etwa ein Jahrzehnt lang lahm gelegt war.
Kostomarow (1817 bis 1885) hat sich, außer einigen
geschichtlichen Dramen und Gedichten, hauptsächlich
XIII
durch seine Arbeiten auf dem Gebiete der Geschichte
und Ethnologie, mit denen er eingehende Studien der
Volkspoesie verband, um die kleinrussische Litteratur
und die nationale Sache hervorragende Verdienste erworben.
Ein großer Teil seiner historischen Werke
ist zwar in russischer Sprache erschienen, aber die
überwiegende Mehrzahl behandelt doch rein kleinrussische
Stoffe.
Ein buntes, wechselvolles Bild bietet die Thätigkeit
Panko Kulischs. Im Jahre 1819 geboren, lebte
er bis 1897, und in seinem langen Leben hat er sich
auf allen Gebieten der Litteratur versucht und immer
mit reichem Erfolge. Doch seine Vielseitigkeit hat
eine starke Schattenseite: sie erstreckte sich auch auf
seine Anschauungen und Überzeugungen. Ursprünglich
als Freund Schewtschenkos und Kostomarows zum
Kreise der Brüderschaft Kirill und Method gehörig
hat er später, obwohl selbst Nachkomme eines alten
Kosakengeschlechtes, den Ruhm der Kosaken in mehreren
historischen und belletristischen Werken heftig
angegriffen und die ganze Kosakenromantik zu vernichten
getrachtet. Er that das jedoch aus Liebe zum
gemeinen Volke, das von den Kosaken auch nicht
wenig zu leiden hatte. Kulisch war kein streng objektiver
Historiker, kein umsichtiger Politiker, doch
blieb er bei allem bis zu seinem Tode ein treuer
Sohn der Ukraine. Ein Meister der kleinrussischen
Sprache, veröffentlichte er in derselben seinen besten
II
– XIV
historischen Roman aus dem 17. Jahrhundert „Der
schwarze Rat“ sodann kleinere Erzählungen, Dramen,
lyrische und epische Dichtungen, übersetzte viele Werke
von Shakespeare, Byron u. a.
Nachdem die Verfolgung der Mitglieder der
Brüderschaft Kirill und Method nachgelassen, und nachdem
der Krimkrieg in ganz Rußland eine Umwälzung
der Gesinnungen hervorgerufen hatte, die zur Aufhebung
der Leibeigenschaft im Jahre 1861 führte, trat ein
neuer Aufschwung der kleinrussischen Bewegung ein,
man gründete Sonntagsschulen und gab Volksbücher
heraus. Großen Eindruck machten durch die Tiefe des
Gefühls und Lebendigkeit der Darstellung die Erzählungen
aus dem Volksleben von Marko Wowtschok
(Opanas Markowitsch), welche vornehmlich das
leidenvolle Dasein der leibeigenen Bauern schilderten.
Einige von diesen Erzählungen übersetzte Turgenjew,
der ja auch in seinen eigenen Werken für die Befreiung
der Bauern kämpfte, in die großrussische Sprache. Des
weiteren traten in dieser Zeit hervor die Erzähler
Danilo Mordowetz (geboren 1830), Hanna Barwinok,
die Gattin Panko Kulischs, Alexander
Storoshenko, dessen Werke sich durch feine Psychologie
und fröhlichen volkstümlichen Humor anszeichnen,
der Fabeldichter Hlibow, Rudanski u. a.
Die ungehemmte Entwickelung der kleinrussischen
Litteratur sollte jedoch nur ein kurzer Sonnenblick
bleiben, denn gerade als die Aufhebung der Leibeigen
+ XV schaft neue Hoffnungen erweckte, und als die neuen Verhältnisse viel eifrige und ungestörte Arbeit erforderlich machten, damit diese liberale That auch wirklich dem Volke Nutzen bringe, da huben von neuem die Verfolgungen wie der Polen so auch der Kleinrussen an, welche von Jahr zu Jahr immer schärfer wurden. 1863 wurden die Kiewer Sonntagsschulen aufgehoben, der Gebrauch der kleinrussischen Sprache in den Volksschulen wurde verboten, und im Jahre 1876 wurde durch kaiserlichen Ukas kurz und bündig verkündet: „Im ganzen Reiche ist der Druck von Werken in kleinrussischer Sprache, seien es eigene oder übersetzte, verboten!“ Die wenigen Ansnahmen, welche zugelassen werden sollten, sind gänzlich belanglos. So wurde die kleinrussische Litteratur in der Heimat, der Ukraine, völlig obdachlos gemacht. Sie flüchtete sich nun hinüber nach dem österreichischen Galizien und der Bukowina, wo, wie wir weiter unten sehen werden, auch schon unter den Ruthenen im Anschluß an die ukrainische Bewegung eine junge kleinrussische Litteratur sich heranbildete. Natürlich konnte von einem über Äußerlichkeiten hinausgehenden Erfolge jener harten Maßregel keine Rede sein, und in den achtziger Jahren griff denn auch in der russischen Regierung eine mildere Stimmung Platz, so daß wenigstens kleinrussische Theater geduldet wurden. Aber auch heutzutage, da das Erscheinen belletristischer Werke in kleinrussischer Sprache gestattet ist, II“
XVI
unterliegt diese Litteratur in Rußland noch einer strengeren
Zensur als die russische selbst. So kommt es
denn, daß die kleinrussische litterarische Bewegung noch
jetzt ihr eigentliches Zentrum in den österreichischen
Gebietsteilen hat.
Die führenden Geister der ukrainischen Litteratur
in den siebziger und achtziger Jahren sind LewytzkiNetschuj,
Konyski, Myrnyj und Schtschoholew. Iwan
Lewytzki=Retschuj, geboren 1838, ist einer der
beliebtesten Erzähler der kleinrussischen Litteratur. Er
führt in alle Schichten der Gesellschaft, läßt die verschiedensten
Typen seines Volkes ihr Wesen zeigen;
wir sehen den Bauer in seiner armseligen Hütte, den
Arbeiter in der Fabrik, wir lernen die Kreise der Gebildeten
kennen, die Ideen, welche sie bewegen. Bald
sind es Bilder voll tiefer Tragik, bald leicht und
fröhlich hingeworfene Skizzen. Und auch der Tradition
brachte Lewytzki seinen Tribut, indem er in seinen
„Saporogern“ wieder die alten romantischen Zeiten
erstehen ließ. In derselben Richtung bewegen sich auch
die Werke des äußerst rührigen Alexander Konyski
(1836–1900). Eine schärfere Betonung der sozialen
Momente, kraftvollen Protest gegen alle Bedrücker des
Volkes finden wir in den Erzählungen von Panas
Myrnyj, welcher mit Vorliebe das in Mühsal und
Not sich dahinschleppende Banernvolk mit seinem wilden,
ohnmächtigen Grimm gegen die Herren zum Gegenstand
seiner lebensvollen, psychologisch scharfen und
XVII
treuen Schilderung wählt. Dazwischen tönen die Lieder
Jakob Schtschoholews, welcher zunächst noch
ganz nach seinen Jugendeindrücken und im Sinne der
älteren romantischen Schule dichtete. Im Jahre 1824
geboren, lernte er während seiner Studentenzeit in
Charkow noch Männer wie Artemowski=Hulak, Metlynski,
Kostomarow kennen; er widmete sich nach
Beendigung seiner Studien dem juristischen Dienste,
welcher ihn zwar viel mit dem Volke in enge Berührung
brachte, aber auch viele Jahre hindurch seine
ganze Zeit und Kraft in Anspruch nahm. Nach einigen
jugendlichen Anfängen beginnt seine dichterische Thätigkeit
wieder nach langem Schweigen gegen Ende der
siebziger Jahre und setzt sich bis in das letzte Jahrzehnt
fort. In seinen späteren Dichtungen wendet er,
dem Geiste der Zeit folgend, seinen Blick dem Leben
und den Bedürfnissen des Volkes in der Gegenwart
zu und verleiht ihnen ein mehr soziales Gepräge.
Noch kurz vor seinem Tode, zu Beginn des Jahres 1897,
gab Schtschoholew seine letzte Gedichtsammlung heraus.
Höher als bei anderen slavischen Völkern hat sich
bei den Kleinrussen das Volksdrama entwickelt; gehört
doch schon zu den ersten Außerungen des kleinrussischen
litterarischen Lebens das gefeierte Drama Kotlarewskis
„Natalka Poltawka“ und ist doch das Theater im
russischen Gebiete das freiste, Mittel für den ukrainischen
Dichter, zu seinem Volke zu sprechen. Mit besonderem
Erfolge bethätigt sich auf diesem Gebiete Iwan
XVIII
Tobylewitsch (Karpenko=Karyj, geboren 1845),
welcher in seinen Dramen, zuweilen mit volkstümlichem
Humor, treffliche realistische Bilder der sozialen Zustände
seiner Heimat entwirft. Nach ihm sind ferner
zu nennen M. Kropywnytzki, Starytzki, Myrnyj.
Wie bereits kurz angedentet, blieb die in der
Ukraine beginnende rege litterarische Bewegung der
kleinrussischen Nation nicht auf das russische Gebiet
beschränkt, sie riß auch die unter etwas anderen Verhältnissen
lebenden Stammesgenossen in Galizien und
der Bukowina mit sich fort. Den ersten Anstoß zu
einer nationalen kleinrussischen Litteratur gab hier im
Verein mit einigen Freunden der Geistliche Markian
Schaschkewitsch, welcher, im Jahre 1811 geboren,
seine Thätigkeit gegen Ende der dreißiger Jahre begann,
wo er einen kleinrussischen Almanach, „Die
Russalka vom Dniestr“, herausgab, welcher im Jahre
1837 noch in Budapest gedruckt werden mußte. Jedoch
starb Schaschkewitsch schon 1843, und viele seiner ehemaligen
Mitkämpfer und Nachfolger, wie Jakob Holowatzki,
A. Mohylnytzki, N. Ustyjanowitsch, verließen
später wieder die Sache ihrer Ingend. Auf die endlosen
und unerquicklichen Kämpfe zwischen den verschiedenen
Parteien, welche teils den Anschluß an Polen, teils das
Aufgehen der kleinrussischen Nation in der gesamtrussischen
verlangten, während die kleinrussisch=nationale Partei,
die Ukrainophilen, meinten, zusammen mit den ukrainischen
Kleinrussen eine eigene Nation und Litteratur
XIX
bilden zu können, unabhängig von den Polen und
nnabhängig von den Russen, auf diese Kämpfe, welche
auf litterarischem Gebiet mit dem Streit um das
Alphabet begannen, will ich hier nicht näher eingehen,
denn endlich, in den sechziger Jahren, nach einer
traurigen Zeit völliger Dürre auf dem Felde der
Litteratur, erhob sich die nationale Poesie von neuem,
indem sie frische Kräfte sog aus den Werken
Schewtschenkos und der anderen ukrainischen Dichter.
Gewiß giebt es noch heute eine russische Partei in
Galizien, aber trotz kräftigster Unterstützung von russischer
Seite kann sie doch neben der nationalen und
demokratischen kleinrussischen Volkspartei, welche schon
außerordentlich viel zur Hebung und Erweckung der
Bauern, wie auch zur Förderung der Litteratur gethan
hat, nicht aufkommen. Im Jahre 1868 wurde der
Verein „Proswita“ (Aufklärung) gegründet und 1873
die „Gesellschaft im Namen Schewtschenkos“. Diese
letztere ist im Jahre 1892 in eine wissenschaftliche Gesellschaft
umgewandelt worden, welche gewissermaßen
eine kleinrussische Akademie der Wissenschaften darstellt;
die von ihr herausgegebenen „Mitteilungen“ bringen
eine Fülle von gediegenen wissenschaftlichen Studien.
Die Schewtschenko=Gesellschaft giebt auch seit dem
Jahre 1898 eine trefflich geleitete Monatsschrift „Literaturno-naukowyj
Wistnyk“ (Litterarisch-wissen-
schaftlicher Bote) in Lemberg heraus.
Ihren Führer und Meister fand die neu erstehende
XX
kleinrussische Litteratur in den österreichischen Gebietsteilen
in Jurij Fedkowitsch (Josef Hordynski).
Im Jahre 1834 in der Bukowina als Sohn eines
Beamten geboren, trat Fedkowitsch 1852 in den
Militärdienst, den er im Jahre 1863 als Offizier
wieder verließ. Frühzeitig mit der deutschen Sprache
und Poesie bekannt geworden, schrieb er seine ersten
lyrischen Gedichte in deutscher Sprache, bis ihn ein
kleinrussischer Patriot veranlaßte, sich der Sprache des
eigenen Volkes zu bedienen. So trat Fedkowitsch in
die kleinrussische litterarische Bewegung ein, unter deren
hervorragendste Vertreter er sich reihen sollte. Seine
Gedichte und Erzählungen, erstere zum Teil unter dem
Einflusse Schewtschenkos, zeichnen sich durch unverfälschte
Natürlichkeit, tiefes, mitfühlendes Verständnis
des Wesens seines huzulischen Volkes und eine klingende,
von Poesie durchglühte Sprache aus. Von herzlicher
Liebe zu den Menschen und zu der schönen Natur
seiner Heimat durchdruugen, gehören sie zu den besten
Werken volkstümlicher Litteratur. Fedkowitsch starb
im Jahre 1888. Ihm schließen sich an: Isidor
Worobkewitsch (Danilo Mlaka), K. Ustyjanowitsch,
G. Cehlynski, welche sich auch auf dem Gebiete des
Dramas hervorgethan.
Einen weitgehenden Einfluß auf die Entwickelung
der kleinrussischen Litteratur übte in den letzten Jahrzehuten
durch feine wissenschaftliche und publizistische
Thätigkeit, ähnlich wie früher Kostomarow, Michael
XXI
Dragomanow aus. Ein geborener Ukrainer, verließ
er, als in den siebziger Jahren die Verfolgungen der
kleinrussischen Schriftsteller in der russischen Ukraine
immer nnerträglicher wurden, die Heimat, wo er eine
Professur an der Kiewer Universität bekleidete, und
verlegte seinen Wirkungskreis nach Galizien, später
in die Schweiz und schließlich nach Bulgarien, wo er
im Jahre 1895 als Professor an der Sofianer Hochschule
starb. Dragomanow hat durchans in modernem
Geiste auf seine Landsleute gewirkt, hat sie in
unermüdlicher, hingebender Arbeit mit allen modernen
Geistesströmungen Europas bekannt gemacht.
Der Hauptvertreter und Vorkämpfer dieser von
Dragomanow vorbereiteten, in modernen Bahnen vorwärts
schreitenden Litteratur ist der Galizier Iwan
Franko (geboren 1856). Auch Franko ist der Sohn eines
Banern, und wie die besten unter seinen Vorgängern hält
er mit Stolz und mit ganzer Seele zum Bauernvolke.
In allen Zweigen der Litteratur ist er in erstaunlicher
Vielseitigkeit hervorgetreten und mit zäher Bauernenergie
kämpft und arbeitet er unermüdlich für sein
Ideal: die Befreiung seines kleinrussischen Volkes aus
jeder Art der Unterdrückung und Unfreiheit. Kaum
je aber tritt in seinen künstlerischen Werken das Wirken
für dieses Ideal in störender, predigthafter Weise
hervor; durch die realistische Kraft der Darstellung
erreicht er meisterhaft sein Ziel: er ist ein Tendenzdichter
im guten Sinne des Wortes. In seinen Er
XXII
zählungen bringt er Typen aus allen Klassen der Gesellschaft zur Darstellung, immer in dem Streben, seine Menschenbrüder „zu bessern und zu bekehren“ und als er am Ende des Jahres 1898 auf eine fünfundzwanzigjährige litterarische Thätigkeit zurückblickte, da wurde ihm von Vertretern aller Stände aufrichtiger Dank als schönste Gabe dargebracht. Doch ist Franko nicht blindlings auf die realistische Schule eingeschworen, und viele seiner zarten, empfindungstiefen Gedichte, sowie manche romantisch=phantastische Erzählung zeugen von seinem eigenartigen, schulfreien Wesen. Neben seinen zahlreichen belletristischen Werken hat Franko sich ferner auch durch eine ganze Reihe wissenschaftlicher Arbeiten auf dem Gebiete der Philologie und Geschichte seiner Nation reiche Verdienste erworben. Neben Franko, welcher seine ganze Kraft der Sache des leidenden und gedrückten Bauernvolkes widmet, stellt sich als führende Persönlichkeit, in der sich der Geist der modernen kleinrussischen Litteratur verkörpert, Olga Kobylanska, in welcher im Besonderen die Sache der Frauen eine begeisterte Kämpferin findet. Im Jahre 1865 in der Bukowina geboren, erhielt Olga Kobylanska den dortigen Verhältnissen entsprechend eine fast ausschließlich deutsche Erziehung. So schrieb sie, wie ihr Landsmann Fedkowitsch, ihre ersten litterarischen Versuche in deutscher Sprache, und erst durch die Bekanntschaft mit den kleinrussischen Patriotinnen Natalie Kobrynska
XXIII
und Sophie Okuniewska – die erste Kleinrussin, welche
den medizinischen Doktorgrad erwarb – wurde sie in
die litterarische Bewegung ihrer Nation hinübergezogen.
Das Schicksal des Weibes, des zur Hilflosigkeit
verurteilten, beschäftigte von je ihr Fühlen
und Denken aufs innigste. Das Wort „nur ein
Weib“ genügte ihr nicht, und rücksichtslos fordert
sie für das Weib volle Freiheit und unverkümmertes
Recht auf Leben und Liebe. Dies Verlangen kommt
ihr nicht aus sozialpolitischer Weisheit, es lodert mit
Naturgewalt aus mitfühlendem, heißem Herzen, und
das nicht zum Schaden des poetischen Wertes ihrer
Schöpfungen, wenn auch die Klarheit der praktischen
Schlüsse darunter leidet. Das giebt den Grundzug
der Gedanken und Gefühle, welche in ihren Erzählungen
leben, in denen sie uns in psychologisch feiner und
scharfer Darstellung Anteil nehmen läßt an den
schmerzvollen Kämpfen des entgegen den Vorurteilen
und Gesetzen, entgegen der Not des Lebens nach Freiheit
ringenden Weibes, das in diesem Kampfe an der
eigenen eingeborenen Hilflosigkeit oder an der Übermacht
der äußeren Gewalten meist erliegen muß. Nur für
die Künstlerin und für das starke Bauernweib, das
unkultivierte Kind der Berge, findet sie den Weg zur
Freiheit. Bei dem unwandelbaren Triebe zur Freiheit,
zum Individualismus, der im innersten Wesen der
Dichterin sich gründet, ist es natürlich, daß Nietzsche
auf sie einen starken Eindruck machen mußte, und
+ XXIV
Spuren seines Einflusses finden sich nicht selten in
ihren Werken. Das Verlangen nach stolzer Freiheit
ist es auch, das ihr die Liebe zu der majestätischen
Gebirgsnatur der Heimat, in der sie erwachsen ist,
tief im Herzen wurzeln läßt. In ihr erhebt sie sich
zu reinster, urgewaltiger Poesie. Es sind ihre besten
Schöpfungen, in denen sie die Schicksale ihrer Menschen
mit dem Leben der Natur innig ineinanderwebt. Und
auch ohne Menschen bietet diese ihr dramatischen Stoffes
genug, um bewegte, farbenreiche Bilder ans ihr zu
gewinnen. Selten ist es einem Dichter gelungen, das
geheime Leben des Waldes bis in seine verborgensten
Regungen menschlichem Empfinden so nahe zu bringen,
wie Olga Kobylanska es gethan, in höchster Vollendung
in der Schilderung der Schlacht zwischen den hundertjährigen
Riesen der freien, stolzen Berge und dem kleinen,
gewinnsüchtigen Menschenvolk, das sich mit ruchloser
Hand an der heiligen Größe des Urwaldes vergreift.
Wohl öffnet sie ihr Herz auch der Not des Tages und
den Leiden der Kleinen, wie sie ein paar treffliche
Bildchen aus dem mühseligen Dasein der Banern
gezeichnet, doch ist es das Große und Freie in der
Menschenseele wie im Leben der Natur, bei dem sie
am liebsten verweilt, und die Aristokratin des Gemütes
ist ihre Lieblingsheldin. Den Gedanken, welcher für
ihr weiteres Schaffen bestimmend geworden ist, spricht
sie aus in den Worten: „es scheint mir, daß man
besonders im Leben des einfachen Landmannes auch
XXV
anderen Erscheinungen begegnen kann, als Hunger,
Not, Stumpfheit und dergl.“ und „daß, wenn man die
Augen seiner Seele gut offen hält, man auch an Alltagstagen
und im Alltagsleben mehr sehen kann, als
man bis nun zu sehen gewohnt war“ – Daß die
Dichterin, welche alle Bewegungen der Seele und
des Geistes des modernen Menschen im Innersten selbst
durchlebt, der nicht nur Liebe und Verständnis für
alles Leben um sie gegeben ist, sondern auch das
träumerische Sehnen, welches die empfängliche Seele
in erdenferne, geheimnisvoll lichte Räume der Phantasie
erhebt, ihre Empfindungen und Stimmungen
mitunter in symbolistischen Tönen ausströmen läßt,
stört nicht die Einheit ihres dichterischen Wesens.
In praktischer Thätigkeit an der Spitze der kleinrussischen
Franenbewegung in Galizien steht Natalie
Kobrynska (geboren 1855), welche zugleich auch auf
belletristischem Gebiete zu den besten Kräften der kleinrussischen
Litteratur gehört. Scharf und wahrhaftig
schildert sie in ihren Erzählungen das Wesen und
das Schicksal des Weibes, mit Vorliebe in den ruthenischen
Priesterfamilien – ihr Vater wie ihr Mann
waren unierte Geistliche – das hilflose Unverständnis
der Alten gegenüber dem modernen Geiste, das Ringen
der Stärkeren unter den Jungen nach den Gütern und
Idealen dieses Geistes der Zeit. Und nicht nur für
die wirtschaftliche und individuelle Selbständigkeit der
Fran tritt sie ein mit aller Energie, auch die der
+ XXVI
ökonomisch und politisch unfreien Bauern verficht sie
in trener Darstellung der gegenwärtigen Zustände.
In letzter Zeit hat sich Natalie Kobrynska der psychologischen
Erforschung der rätselhaften, geheimnisvoll
an der Schwelle des Bewußtseins stehenden Regungen
der Menschenseele zugewandt, die sie, verwoben mit
phantastischen Volksmärchen, in poesievoller Harmonie
zu spiegeln sucht. Auch sie ergeht sich neuerdings
zuweilen in dekadent=symbolistischen Nebelwelten.
Noch eine ganze Reihe beachtenswerter Talente
stellt, die kleinrussische Franenwelt der Litteratur: den Genannten, Hanna Barwinok, Olga Kobylanska, Natalie Kobrynska, schließen sich an: Olena. Ptschilka, die Schwester Dragomanows, und ihre Tochter Lesja Ukrajinka (Larissa Kossatschiwna, geboren 1872), welche neben eigener zarter Lyrik auch vorzügliche Übertragungen Heinescher Gedichte geliefert hat, Dnjiprowa Tschajka (Wasyliewska), Ludmilla Starytzka, Inlie Schneider. Unter der beträchtlichen Schar der jüngeren Mitstreiter und Nacheiferer Frankos, welche ihren Sammelpunkt in der oben genannten Zeitschrift „Literaturnonaukowyj Wistnyk“ finden, haben sich geachtete Namen erworben: Boris Hrintschenko, W. Samijlenko, M. Kocjubynski, Ossip Makowej, Andrij Tschajkowski, Timotej Bordulak, Bohdan Lepkyj, W. Schtschurat, n. v. a. Zu weitester Anerkennung hat sich unter ihnen neuerdings binnen kurzer Frist der junge Galizier
XXVII
Wasyl Stefanyk emporgeschwungen. Auch sein
Held ist der Baner, den er uns in jeder Lage seines
eintönigen und doch an Mühsalen so reichen Daseins
in meist düsteren Szenen greifbar vor Augen stellt.
In unübertrefflicher Schärfe, gedrungener Kraft wirft
er seine Skizzen hin, gleichsam blitzartig den Vorgang,
den er uns zeigen will, erhellend.
Wir haben jetzt ein Jahrhundert litterarischer Arbeit
in flüchtigen Bildern an uns vorüberziehen lassen, einer
Arbeit, welche in ununterbrochenem Kampfe gegen widrige
äußere Verhältnisse von einem Volke geleistet wurde, das
sich erst von neuem zu eigenem Leben emporringen mußte.
Und nicht nur durch rohe Gewaltmaßregeln drohte
der kleinrussischen Litteratur Gefahr, auch der machtvoll
sich ausbreitenden russischen Litteratur gegenüber
mußte sie mit aller Kraft ihre Stellung wahren; war
es doch von Alters her keine so seltene Erscheinung,
daß geborene Ukrainer ihr Talent ganz in den Dienst
der russischen Litteratur stellten. Wir haben gesehen,
daß die Entwickelung aus bescheidenen Anfängen vorwärts
gegangen ist, die in jenen enthaltenen Keime
zu Blüten entfaltend, welche ihre Lebenssäfte aus dem
ewigfrischen Boden des Volksgeistes ziehen. Und das
ist die Eigenart der kleinrussischen Litteratur: sie ist
vielleicht diejenige, welche am wenigsten sich von dem
Ideenkreise der großen Masse des einfachen Volkes
eutfernt hat, welche am urwüchsigsten die Gedanken
und Gefühle, welche dieses Volk von Bauern bewegen,
XXVIII
zum Ausdruck bringt, doch nicht etwa im kindlichen
Stammeln des Naturmenschen, sondern in künstlerisch
vollwertigen Werken. Kwitka, Schewtschenko, Wowtschok,
Fedkowitsch und eine ganze Reihe anderer bis
in den Kreis der Jüngsten hinein, vor allem Franko,
Kobylanska und Stefanyk, das sind Dichtergestalten,
welche einer jeden Litteratur Ehre machen würden,
und welche der kleinrussischen durch ihre eigenartigen,
selbstsicheren Schöpfungen das volle Recht einer litterarischen
Nation erworben haben, das Recht, als
selbständiges Glied in der großen Gemeinde der Weltlitteratur
geachtet zu werden.
Schwerin i. M., 4. September 1901.
Georg Adam.
Kobylanska, Erzählungen
Die war über die Zwanzig und groß. „Kleinrussisch“ vom Scheitel bis zur Sohle, hatte sie nur rötliches Haar, welches bei den Kleinrussen zur Seltenheit gehört, aber die Züge hatten Rasse, und die fast melancholische Trauer, die sich auf allem ausprägt, was an diese unglückliche Nation gemahnt, war auch bei ihr ein Grundzug des Charakters. Ihre Augen, groß, etwas unbeweglich und von feuchtem, schimmerndem Glanze, blieben auch dann tranrig, wenn der Mund lächelte. Um dieser ihrer Augen willen nannte man sie „die russische Madonna“. In Einsamkeit und in einem fast üppigen Glanze aufgewachsen, kannte sie weder das Leben, noch wußte sie etwas von seinen düsteren Seiten. Sie kannte es bloß aus Büchern, aus welchen sie sich bis zum Überdruß voll las.
4
Tolstoj war ihr Gott, und Schewtschenko[1] kannte
sie fast auswendig. Träge wie ihr Volk, empfand sie
nicht viel Bedürfnis nach Arbeit, und in ihrer Lebensweise
glich sie jenen exotischen Pflanzen in den Treibhäusern,
die von den Stürmen außer ihrer Umgebung
nur träumen. Und sie hatte viel zusammengeträumt.
Ihre Phantasie entfaltete sich zu einer Blüte, auf
deren Kosten alle anderen Triebe erstickten und nie
an das Sonnenlicht gelangten. Obwohl gefühlvoll
bis zur Krankhaftigkeit, verspottete sie ein bloßes
„Züchten von Gefühlen und Gedanken“
Über alles liebte sie die Natur.
Sie streifte im Gebirge umher, ohne Begleitung
oder Waffe, wie ein Mann. Die ganze gebirgige
Umgegend der kleinen Stadt, in der sie lebte, war
ihr bekannt wie ihr Gemach, und eine der schönsten
und wildesten Partien bildete den ganzen Sommer
hindurch das Ziel ihrer Spaziergänge.
Ihr von Natur aus kraftvoll angelegtes Wesen
verlangte mehr als „Zimmerschönheit“ und ein ruhiges,
verweichlichtes Leben. Instinktiv fühlte sie das Dasein
der Stürme, und es gab Momente, in denen sich
5
ihre Seele voll leidenschaftlichen Ansturmes darnach
sehnte. Sie liebte den Kampf, wie man prächtige,
farbenreiche Gemälde und eine berauschende Musik
liebt, und ebenso hatte sie ihn in ihrer Vorstellung.
Eine undentliche Begier nach dem Gefühle von Sieg
machte sich zeitweise bei ihr geltend; allein im Nichtsthun
aufgewachsen, nie angespornt und gekräftigt, sondern
verzärtelt, verfeinert, schlief ihre Kraft und verkümmerte
und ging über in eine krankhafte, unmotivierte
Sehnsucht.
So war sie.
Sie träumte von einem Glücke, dessen bunte
Fülle ersticken müßte.
Sie erwartete es täglich, lebte beständig in Erwartung
von etwas Neuem, Fernem. Gleich einer
Sonnenblume stand ihr Gemüt einem unbekannten
Etwas offen.
Im Walde lag sie im Moose langgestreckt und
suchte zwischen den Wipfeln der Tannen den Himmel.
Das war schön.
Mitunter verfolgte sie den Flug des Adlers oder
einen Weih, wie der seine stillen Kreise zog und
gleich einem schwarzen Punkte in den Lüften hing.
+ G
Gierig verschlang sie die Laute des Wassers und
bildete sie um zum Lachen. Klang vielleicht nicht das
Fallen eines Baches über Fels und Stein wie halblautes
Lachen? Wenn man sich hineinhörte
.
Ein andermal vertiefte sie sich ganz in das
Rauschen des Waldes, und das Antlitz verhüllt, bildete
sie sich ein, sie läge am Meeresstrande.
So müßten die Meereswellen rauschen, so wie
der Fichtenwald, genan so … nur vielleicht etwas
lanter.
Es war ihr Lieblingswunsch, aufs Meer hinauszukommen,
es einmal bei Sturm zu sehen oder bei
Sonnenaufgang oder bei Mondlicht. Das mußte
eine andere Art Schönheit sein, als das Gebirge;
unruhig und voller Abwechslung, verlockend und
prächtig. Das Gebirge in seiner stoischen, düsteren
Ruhe stimmte schwermütig und weckte immer mehr ein
Schönheitsverlangen, als daß es ein solches zu stillen
vermochte.
So träumte sie auch von den Fjorden da oben
im Nordland … Hie und da klang durch den
Wald die trauervolle Dumka[2]
eines einsam reitenden
Huzulen[3] , und das bereitete ihr stets einen Hochgenuß. In den Schluchten zwischen steilen Felswänden erklang das Echo. Und sie stellte es sich vor als einen großen Vogel, der im unachtsamen Fluge an harte Felswände schlüge und endlich ermattet zu Boden niedersänke. – Darauf folgte dann die Stille. Manchmal weinte sie vor Trauer. Über die Tannen raste der Sturm und schüttelte und bog sie und machte sie um so kräftiger. Um so stolzer hoben sie ihre Wipfel am nächsten Morgen und ließen sie vom Sonnenlicht vergolden. Das alles gab ein Recht, sich bis in die Wolken zu erheben und stolz zu sein. – Auch sie liebte die Kraft, und doch! – Einmal brachte man ihrem Vater ein Gebirgspferd zum Ansehen. Es war ein prachtvoller, langgestreckter Hengst, schwarz wie eine Kohle, mit einem Halse wie ein Bogen, großen Nüstern und hervorstehenden, funkelnden Augen; der reiche Schweif fegte fast den Boden.
8
Sie stand beim Fenster und sah zu, wie es in
seiner Wildheit sich bäumte und unbändig schien.
Ein junger und schöner Huzule, den sie schon öfters
in ihres Vaters Kanzlei gehen sah, hielt das Tier
und gab sich alle Mühe, es zum Stillstehen zu zwingen,
um auf Wunsch seine Hufe auch von unten betrachten
zu lassen.
Es schien ihm das nicht zu gelingen.
Eine plötzliche, unwiderstehliche Lust überkam sie,
das Tier zu bändigen. Ihre Blicke glommen auf,
und die feinen Nasenflügel erzitterten. Es regte sich
etwas in ihr, was an Thatenlust gemahnte, und trieb
sie hinaus.
Sie lief so, wie sie im Zimmer stand, mit bloßem
Kopfe, auf den Hof. Als sie jedoch fünf Schritte
vor dem Tiere stand und es sich just in diesem Momente
bäumte, erschrak sie derart, daß die Kniee unter
ihr erzitterten und sie erblaßte.
Einige Minnten später lag sie ermattet im Lehnstuhl,
und ihre schönen, blassen, beringten Hände
lagen müde im Schoße und hoben sich vornehm und
unbeweglich von dem schwarzen Spitzenkleide ab …
Bah! – was war ihr?
9
Das war ein lächerliches Anflodern, eine unzeitgemäße
Regung plebejischer Instinkte, die aber dank
ihrer feinen Lebensweise keine Zukunft hatten.
Sie hatte sich vor der Dienerschaft blamiert.
Ihre Lippen krümmten sich in Selbstironie.
Sollte die Natur thatsächlich ununterdrückbar sein?
Ihre Großmutter väterlicherseits war nämlich
eine Huzulin. Schön, aber dennoch Bänerin! Da
pflegt es immer unbewachte Angenblicke zu geben, in
denen die Instinkte emporschwellen und keinen Damm
kennen.
Aber ihre Mutter war eine vornehme Dame von
gewählten Formen und strengen Sitten, und die
Schönheit war bei ihr kein bloßer Zufall. Sie war
erarbeitet und „das Schlußergebnis einer Arbeit von
Geschlechtern“
– Sie hatte entschieden die Natur
ihrer Mutter; sollten aber bei ihr Nachklänge großmütterlicher
Regungen vorhanden sein, dann konnten
es nur Dissonanzen sein.
Es war ihr übrigens nicht so sehr um das Pferd
zu thun. Sie wollte auch einen Blick auf den
Menschen werfen, der daneben stand. Einmal kam
ihr der Gedanke in den Sinn, ihn zu malen. Er
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hatte rein slavische Züge; überhaupt – er hatte
etwas Eigenes an sich. Etwas Anziehendes, Zwingendes,
etwas, das ihre Aufmerksamkeit erweckt hatte.
Gewöhnlich sah sie ihn nur an ihrem Fenster vorbeigehen
– d. h. zu ihrem Vater. gehen. Aber sie
hätte einmal seine Augen und seinen Mund aus der
Nähe sehen mögen … . Nur einmal – dann hätte
sie weiter aus dem Gedächtnisse gemalt.
Ja, es gab Augenblicke, in denen sie fähig war,
Großes zu leisten, gespannt war wie ein Bogen,
der Pfeile absenden soll in weite Ferne. Aber das
danerte nie lange. Sie schrumpfte in sich zusammen und
ward träge. Das Warten machte sie matt und verstimmte
sie. In solchen Momenten suchte sie die Natur auf.
Dort holte sie sich Kraft und Ausdaner. Dort
feierte sie ihre goldenen Stunden des Sieges – z. B.
wenn sie eine hohe, gefährliche Spitze erklommen,
einen steilen Fels, wenn sie einen Adler aus der
Nähe betrachtete, seine schwarzen, funkelnden, feindseligen
Angen, seine lauernde, vornüber gebengte
Haltung.
Ganz besonders liebte sie den Herbst.
Aber nicht jenen, der nur feuchte, dämmerige
11
Tage, gelbes Laub und kalte Stürme bringt, sondern
jenen, der an Schönheit dem Frühling gleichzustellen
ist. Der helle, warme Tage aufweist und einen
klaren, blauen Himmel. Im Gebirge ist der Herbst
stets wunderbar.
Die wilden Karpathen! – sie kannte ihre stolze,
verschlossene Schönheit, und auch ihre eigenartigen Bewohner,
die Huzulen. Kannte alle Geheimnisse des
Waldes.
Im September ziehen sich von Baum zu Baum
Spinnengewebe fast endlos, und leuchten in der
Sonne; und im Walde ist es still – still …
Die Bäche rieseln ernst und eilig zu Thal, und ihr
Wasser ist kühl, und an ihren Ufern blühen keine
Blumen mehr.
Im Thale ist es etwas anders.
Dort scheint die Luft voll von Asterngeruch, und
auf allem liegt leichte Schwermut. Das ist die Melancholie
alles Fertigen, die allem ihr Gepräge aufdrückt.
Dies ist die Schönheit, in der sie schwelgt, in der
sie ihre Seele badet, und die sich in ihren großen,
erwartungsvollen Angen spiegelt.
3
12
Es war nach einem Gewitter.
Die Sonne war im Untergehen und der Himmel
wolkig und nur im Westen hell gerötet.
Die Berge, von Nebelmassen phantastisch umzogen,
stachen scharf und blandunkel vom Himmel ab.
Auf einem dieser bewaldeten Berge stand eine
neue Huzulenhütte.
Stämmige Fichten breiteten ihre Arme über ihr
aus; sie schüttelten unmutig die stolzen Wipfel,
und einzelne, große Regentropfen fielen lautlos ins
Moos.
Ringsum Stille; nur wie gedämpftes Meeresrauschen
scholl es durch die unabsehbaren Wälder.
Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne
drangen hie und da in das Dickicht des Waldes und
spielten für kurze Augenblicke als goldig zitternde
Schatten auf den Zweigen; und dann ward es im
Walde völlig dunkel.
Die Thüre der Hütte öffnete sich, und heraus
trat, etwas gebeugt, ein junger Huzule, eine Axt
nachlässig über der Schulter haltend, und sah sinnend
in die Ferne.
Er war schlank, elastisch und überaus kraftvoll
13
gebaut, wie alle seine Stammesgenossen, und sein Autlitz
von eigenartiger Schönheit. Düster sinnend, um den
Mund fein und in der oberen Partie slavisch, d. h.
etwas breit, ohne der Schönheit Abbruch zu thun.
Sein schwarzes Haar war der Sitte gemäß bis
zu den Brauen geschnitten und verdeckte die Stirn.
Seine Tracht hob die Schönheit seines Körpers:
Blutrote Beinkleider und ein schneeweißes, um Hals
und Armel gesticktes Hemd, dessen weite Armel die
Kraft der sehnigen Arme unverhohlen zeigten. Brust,
Hals und Handgelenke waren mit Silber= und Messingketten
und Krenzen geschmückt, und am breiten, buntfarbigen
Ledergürtel hingen kleine Fingerhüte und
Münzen, staken eine Pfeife und einige Waffen.
Forschend blickte er in die vor ihm liegende
Schlucht, aus der weißliche Nebelmassen empordampften,
die wie zerrissene Schleier die Baumwipfel umhüllten.
Er
mochte immerhin blicken und forschen: das,
woran er dachte, tauchte aus jener grünen Tiefe nicht
auf. Schleier um Schleier zog langsam über die
Schlucht, und dann versanken auch die letzten Sonnenstrahlen
hinter den Bergen.
Unmutig spuckte er
14 2–
durch die Zähne, schritt zu einer neben der Hütte
gestürzten großen Tanne und schlug, weit und kräftig
ausholend, die Axt in sie ein. Dann setzte er sich
auf diese die Arme auf die Kniee stützend und
vergrub das Gesicht in die Hände.
Etwas Böses hatte sich seiner bemächtigt.
Und dieses Böse, das war sie, die wunderschöne
rothaarige Hexe, der er im Walde begegnet.
Hexe? Er hatte ihr ja gesagt, daß sie dem
Bilde der Mutter Gottes, welches in der Dorfkirche
hänge, gleiche; und doch! … und doch war sie
keine Mutter Gottes.
Die Mutter Gottes hat kein rotes Haar, die
Mutter Gottes hält niemanden zum Narren, nachdem
sie einen so sehr gefesselt wie sie ihn, die Mutter ist
heilig, während sie … ach!! –
Vor drei Tagen war das alles vorgefallen, und
seit der Zeit ist er wie wahnsinnig.
Sogar im Traume sieht er sie. Sein Blut kreist
ihm wie toll durch die Adern, in den Schläfen hämmert
es, und vor den Augen hat er Funken.
Sie ist keine Mutter Gottes, diese Hexe! Diese wunderschöne, berückende rothaarige Hexe!
15
Wie er sie liebt, wie er sich nach ihr sehnt! Er
ist vor Sehnsucht krank, er möchte weinen wie ein
Knabe und möchte sie totschlagen vor Zorn, weil er
sie nicht hat! Warum begegnete er ihr nirgends?
Warum? –
Es hatte so traurig begonnen und so herrlich
geendet.
Es war so.
Zuerst hatte ihn der Aufseher „wegen Übertretung
des Forstgesetzes“ unten in der Stadt bei den Herren
angeklagt, und zwar, weil er eine Tanne (dieses beinahe
morsche Zeug da, auf dem er saß) eigenmächtig
umgehackt hatte. Die hatten ihn dafür Strafe zahlen
lassen und, wie sie sagten, wegen ungebührlichen Betragens
vor Gericht achtundvierzig Stunden lang festgehalten.
Lebhaft
stand alles vor seiner Seele.
Es hatte nichts geholfen, als er ihnen auch den
Beweggrund jener Handlung vorhielt. Er brauchte
einfach Holz für seine Koliba[4], in der er mit seiner
Mutter den Sommer über wohnte und Aufsicht hielt
über seine Schaf= und Pferdeherden. Da ihm das
– 16
„Klafterholz“ ausgegangen war, und er unumgänglich
nötig welches brauchte, hatte er die Axt an jenen
Baum gelegt … an einen einzigen Baum in jenem
Urwalde.
Natürlich war er aufgebranst, als die Herren seine
Entschuldigung ruhig und teilnahmslos verwarfen und
nur auf das zu antworten erlaubten, was man ihn frage.
Dann wollte er die doppelte Strafe zahlen, auf daß sie
ihn nur nicht anfhalten sollten. – Die Mutter wäre
daheim am Waldberge mit den Hunderten von Schafen
und den zahllosen Pferden allein und könne sich auch
nicht in Stücke reißen und noch weniger das alles
zum Flusse jagen und tränken. Sie könne auch nicht
mehr reiten wie in jungen Tagen, und am allerwenigsten
seinen Hengst, dem allein alle übrigen
Pferde folgten. Sie sei schon eine alte Fran und
koche ihm nur Essen und spinne. Das sollten sie
verstehen!
Die Herren hatten einander nur angelächelt.
Als er seine Bitte wiederholte, und zwar heftig, und,
sie trotzig und herausfordernd ansehend, mit dem Fuße
stampfte, da ging der Teufel los.
Sie nannten ihn einen übermütigen Vogel, der
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den Käfig brauche … einen, der das, was der
Kaiser gebot, mit Füßen trat … und der bald
auch an Gott nicht glauben werde … weil er
Hunderte von Schafen und Pferden besitze …
Er knirschte mit den Zähnen vor Zorn.
Sogar den Kaiser haben sie hineingemengt!
und den Herrgott! – Wer ritt jeden Sonntag in
die Kirche, wenn nicht er? – Und was den Kaiser
anbelangt, so war der ja weit und sah nicht, was
hier um eines einzigen Baumes willen geschah …
Bettelvolk! … alle diese Herren … Knechte, die
dienten … sie wollten ihn … den einzigen Sohn
des reichsten Huzulen … besudeln …
Das hatte er ihnen alles gesagt und dann seine
achtundvierzig Stunden abgesessen …
Ihre ihm vorgelegte Kost wollte er nicht anrühren …
die könnten sie sich selber behalten,
meinte er; von der seien sie auch so spindeldürr und
blaß und häßlich.
Aber dann wurde er freigelassen … Herrgott! …
Aber das war nicht die Hauptsache, und an das
wollte er ja auch gar nicht denken.
Er hatte nach alledem die Stadt, in der es heiß
Kobylanska, Erzähkungen.
2
18
und staubig war und die voller Menschen wimmelte,
im Sturmschritt durcheilt, und als er den ersten Weg
betrat, der ihn zu seinem Heim führte, und die gewohnte
Waldkühle seine Glieder umfloß, war all sein
Groll gegen die „unten“ verschwunden. Er brauchte
nicht mehr zu eilen; es schritt niemand hinter ihm,
der ihn zur Umkehr zwingen konnte! …
Links von dem Bergwege, den er ging, gähnte
eine bewaldete Schlucht, rechts zog sich ein felsiger
Waldberg, einer Wand gleich, steil hoch. Einige
hundert Schritte vor ihm lag dicht am Schluchtrande
ein Felsblock, der sich von dem felsigen Waldberge
in einer wilden Frühjahrsnacht abgelöst hatte und
nun dalag – gleichsam ein Ruheplatz für Wanderer.
Dort wollte er sich einen Augenblick niedersetzen
und seine Pfeife anzünden.
Er saß nicht lange. Aus der Schlucht, und just
in der Nähe des Felsblockes, stieg ein Mädchen herauf.
Es erfaßte mit kräftiger Hand die bei dem
Steine wachsenden Farne, schwang sich herauf und
blieb dann stehen.
Es war nicht vom Bauernstande, das hatte er
auf den ersten Blick erkannt. Sein Kopf war in ein
+ 19 2
rotes Seidentuch gehüllt, dessen Enden von rückwärts
zusammengebunden waren und Gesicht und Hals freiließen.
Das Gesicht war perlmutterweiß … und
schön … und die Augen groß und glänzend und
unendlich traurig.
Schweigend starrten sie sich einen Moment an …
„Wünsch’ gute Gesundheit, Frau!“ grüßte er
endlich zaghaft und erhob sich.
„Gott grüße dich!“ hatte sie in etwas ermüdetem
Tone geantwortet und ihm zugenickt wie eine Bekannte …
Dann zog sie das Seidentuch vom
Kopfe, wischte sich damit die leichtverschwitzte Stirn,
umging ihn langsam und schritt weiter auf dem steilen
Bergweg.
Er folgte ihr.
Sie war von hohem, geschmeidigem Wuchs und
wiegte sich im Gehen leicht in den Hüften.
Rotblonde, dicke Flechten, gegen das Ende zu
aufgelöst, hingen ihr über den Rücken.
„Mein Gott, rotes Haar,“ dachte er sich. „Wie
eine Hexe – ein solches hat kein einziges Mädchen
bei uns im Dorfe – alle sind schwarz. Was sie
sich nur nach mir sehnen werden … bin ja schon
2*
– 20
einen ganzen Monat vom Dorfe fort, und hier herauf
kommt keine!“
Er lachte mutwillig auf.
Die vor ihm Schreitende sah sich erschrocken um.
„Wohin gehst du?“ fragte er und trat an ihre Seite.
„Hinein in den Wald.“
Ihr Blick streifte ihn von der Seite; sie öffnete
die Lippen, um noch etwas zu sagen, schwieg aber,
während ein kaum merkliches Lächeln ihr melancholisches
Gesicht erhellte. Er musterte sie eine Weile
scheu, dann sah er wieder in einer ihm eigenen
Weise, halb düster, halb sinnend, vor sich hin und
fragte:
„Du bist von unten aus der Stadt?“
„Ja.“
„Dort giebt es eine Menge schöner Häuser, aber
auch viel Menschen. Die Stadt ist groß. Bei uns
im Dorfe wohnt nur der Herr Pfarrer in einem
großen Hause; wir brauchen sie nicht.“
„Warnm solltet ihr nicht auch größere Wohnungen
brauchen?“ fragte sie.
„Wozu? Sind wir denn Herren? Die unten
sind Herren!“
„Die Stadt da unten ist sehr klein,“ meinte sie
belehrend, „es giebt hundert= und abermals hundertmal
größere Städte!“
Er pfiff vor Erstaunen auf und schüttelte bedächtig
mit dem Kopfe.
„Fran!“
„Sage zu mir nicht Frau; ich bin nicht verheiratet.“
„Du hast keinen Herrn?“ Sie schüttelte mit dem Kopfe, während ihre großen Augen ernst an seinen Lippen hingen. „Kannst ja einen Herrn aus der Stadt nehmen, sind ja ihrer viele wie Drohnen. Nimm einen Herrn vom Amte!“ Sie schüttelte abermals mit dem Haupte, während ein kaum merkliches Lächeln ihre Mundwinkel verzog. „Nicht? Freilich, wenn du ihm nicht folgst oder das sprichst, was er nicht mag, kann er dich auch auf achtundvierzig Stunden einsperren. Das verstehen sie gut, diese – Herren! Ich komme eben von ihnen.“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, erzählte er ihr in empörtem Tone sein Erlebnis. Sie betrachtete ihn die ganze Zeit hindurch aufmerksam. Als er zu erzählen aufgehört und nach
+. 22 2–
einer kurzen Pause den „Herren“ unten noch einen
Fluch nachmurmelte, lachte sie leise auf.
„Warum lachst du? Es ist gar nicht zum Lachen!“
„Man muß die Dinge verstehen, Meusch,“ sprach
sie nun ernsthaft.
„Bin ich denn auf den Kopf gefallen, oder hab’
ich Giftschwämme gegessen? Doch eher die nnten!“
antwortete er.
„Weder die unten, noch Du oben. Du hast sie
aber nicht verstanden. Deine Gedanken sind Herz,
ihre Gedanken sind Kopf. Sie denken nach Gesetzen
und werden dir haarklein beweisen, daß du unrecht
gehandelt hast, jene Tanne abzuhacken, trotz des mächtigen
Waldes. Bei dir, siehst du, ist es anders.
Man muß stets zum Kopfe um Rat gehen.“
Er spuckte weit vor sich durch die Zähne.
„Der Teufel mag sie holen! Sie sind alle
Verdreher; alle diese hungernden Röcklinge. – Gott
hat doch für alle Menschen den Wald erschaffen; das
können sie nicht lengnen und werden es mir auch
nicht weismachen, und mögen sie hundertmal Herren
sein und schreiben und lesen können. Daß mich das
Unglück traf, ertappt worden zu sein – na – das
+ 23
habe ich nur der unglücklichen Stunde zu verdanken,
in der ich die Tanne abhackte!“
Es giebt keine glücklichen oder unglücklichen Stunden,“
meinte sie.
„Oho!“ protestierte er.
„Glaube mir. Wenn dn studiert hättest, würdest
du derlei Unsinn nicht reden!“
Seine Augen funkelten auf.
„Du glaubst, wenn man lesen und schreiben kann,
hat man schon den Herrgott beim Fuße erwischt?
Auch die Heiligen sind noch da. Ich sage ja nicht
gescheidt sind ja die Leute, die lernen; aber sie sind
auch schlecht!“
„Mitunter ja; aber glaube nicht, daß Unwissenheit
besser macht.“
„Was weiß ich?“ sprach er. „Wie Gott einen
erschafft, so ist man; wie einem das Schicksal beschieden
wird, so lebt man; wenn einem die Zeit ausgeht, so
stirbt man. Ich kann gescheidt sein, wie ich will:
wenn Gott es will, so kann ich doch sterben!“
„Gewiß – dagegen läßt sich nichts thun.“
„Siehst du? – Und wenn sie, die Gescheidten,
so gut sind, weshalb nimmst du nicht einen zum Herrn?“
24 2–
Er sah sie schadenfroh an.
„Das ist etwas anderes. Das ist etwas, was
ich wollen oder nicht wollen kann. Es gefällt mir keiner
sehr gut. Ich bin sehr reich; ich hab’ sie alle in
der Hand.“
„Gerade wie ich die Mädchen im Dorfe,“ sprach
er flüchtig stolz und mehr wie zu sich selber. „Ich
bin auch reich; unsere Leute sagen „der Reichste“
Die Mädchen sterben alle nach mir.“
Sie lachte.
Er faltete verletzt die Stirn.
1094
„Was lachst du immer„Ich
lache nicht über dich.“
Er beruhigte sich.
„Es ist wahr,“ sprach er dann, „wenn man
reich ist, kann man schon über alle lachen. Ich lache
ja auch über alle. Ich kümmere mich um niemanden.
„Über mich möchtest du auch lachen?“ fragte sie
übermütig und wie infolge innerer Eingebung und
sah ihm voll ins Gesicht.
„Über dich?“ Er blickte sie beinahe erschrocken
an; dann lächelte er leicht errötend. „Eh – das
geht nicht so,“ meinte er.
25
„Weshalb nicht?“
„Ich weiß nicht – aber du bist so – so –“
„Wie bin ich?“ fragte sie ernst.
„So – ich weiß nicht – so wie das Bild
der Mutter Gottes in unserer Kirche …
Sie lachte wieder; nicht sehr herzlich, aber doch;
dann verstummten beide.
Schweigend schritten sie eine Zeit lang weiter.
Er war schön und kräftig gebaut, und sie bewunderte
ihn heute wie schon früher.
Einmal kam ihr der Gedanke in den Sinn, wie
er wohl wäre, wenn er ein Mädchen liebte, und
weiterhin fiel ihr, sie wußte selber nicht weshalb,
der Satz ein: „Von starkem Arme geborgen zu sein …
Sie hielt viel auf physische Kraft und körperliche
Schönheit, und wenngleich sie selten „liebte“ so
empfand sie immer Wohlgefallen an schönen, kräftigen
Menschen. Wenn sie sich müde fühlte, so empfand sie
oft eine wehmütige Sehnsucht, ein Bedürfnis, sich an
der Brust irgend jemandes auszuruhen. Dieser jemand
hätte aber kräftig und kühn sein müssen. Vor
allem – kühn.
Sie mäßigte ihre Schritte.
+ 26 2–
Sie waren lange und schnell gegangen. Nach
den tiefen Atemzügen und der Röte, die sich auf
ihre Wangen legte, schloß er, daß sie müde war.
„Du bist müde geworden,“ sprach er, „kannst nicht
mit mir Schritt halten. Ich bin zu schnell gegangen.“
„Ja,“ klang es ermüdet zurück.
Er ging plötzlich langsam.
„Du sprichst unsere Sprache so schön,“ fing er
dann an.
„Ich bin dasselbe, was du bist – auch eine
Kleinrussin. Warte ein wenig; ich bin müde. Wenn
ich zu angestrengt gehe, schlägt mir das Herz zu
stark und vor den Augen flimmern tansend Funken.“
Sie preßte beide Hände an die Schläfen.
Er war vor ihr stehen geblieben.
Einen Moment lang sahen sie einander an; es
war, als züngelten plötzlich Flammen ans beider
Augen und vereinigten sich zu einem Fener.
Sie senkten die Blicke. – Sie sah sich schen um.
War das dieselbe, ihr so wohl bekannte Gegend?
Doch. Dieselbe dunkelgrüne Schlucht, derselbe felsige
Berg da rechts mit seinen kerzengeraden Tannen,
dazwischen hinein zarte Weißbirken … üppige Farne
– 27
wucherten aus dickem Moose, und hier und da schlanke
Glockenblumen …. Leise, eintönig rauschte der Wald.
Schattige Kühle legte sich um ihre Glieder.
Irgend ein Waldvogel hatte in ihrer Nähe aufgekreischt;
sie war ängstlich zusammengefahren.
„Du fürchtest dich?“ fragte er beklommen.
„Nur heute. Sonst niemals.“
„Du bist also täglich hier? Und weshalb fürchtest
du dich heute?“
„Ich weiß nicht … ich fühle mich weniger
einsam, wenn ich ganz allein im Walde bin.
„Wie kommt das?“
„Ich weiß nicht … ich weiß – wirklich
nicht … „Was thust du hier?“ „Nichts. Ich komme nur so hierher. Ja – manchmal male ich die Tannen … gewöhnlich höre ich zu, wie die Bäume ranschen. Sie rauschen wie das Meer, nur um vieles schwächer. Du weißt nicht, wie das Meer rauscht … gehört habe ich es auch nicht, aber ich weiß, wie es ranscht … horch!“ Beide horchten mit angehaltenem Atem. Hörbar schlug jedem einzelnen das Herz.
28 2–
Sie sah sich abermals ängstlich um … so wild
und einsam schien es ihr noch nie wie heute, das
reiche Waldgrün schien sie geradezn zu ersticken.
„Fürchte dich nicht … ich bin ja hier im
Walde … schan’ nicht hinter dich … es ist nicht
gut …“ meinte er in seltsam gepreßtem Tone.
Schweigend und geradezu eilig schritten sie den
steilen Weg hinauf.
Um ihre Lippen lag ein Zug wahnwitziger Entschlossenheit,
und die Augenlider waren gesenkt. Ihre
langen, dunklen Wimpern stachen von den schneeweißen
Wangen seltsam ab.
„Bald geht die Sonne hinter die Berge,“ unterbrach
er erregt die Stille und strich sich sein Stirnhaar
hastig zur Seite. Es wurde ihm heiß.
„Als ich fort, das heißt hierher in den Wald
ging, schlng es drei. Zusammen gehen wir gute
zwei Stunden; in der Stadt kann es fünf sein.“
Bei diesen Worten, die sie fast mit zuckenden
Lippen gesprochen, zog sie eine kleine Uhr ans ihrem
Seidengürtel, blieb stehen und sah mit großer Aufmerksamkeit
auf dieselbe.
„Ah! Du hast eine Uhr? Von Gold? Zeige sie mir!“
Schweigend und geradezu eilig schritten sie den steilen Weg
hinauf. (S. 28.)
– 29
Er trat dicht an sie heran. Beide sahen mit
Spannung auf das kleine, goldene Ding.
Das geht, als ob es eine Seele hätte,“ sprach
er. „Was für gescheidte Leute es doch auf der Welt
giebt, die so etwas machen können … mein Gott,
mein Gott! … Du mußt wirklich reich sein, weil
du eine solche Uhr hast. Ist dein Vater ein großer
Herr? – Wer bist du?“
Sie lächelte wieder.
„Dut weißt nicht, wer ich bin?“
„Nein.“
„Aber du hast mich ja doch gesehen …
erinnere dich!“
„Ich habe dich niemals gesehen.“
„Erinnere dich!“
„Aber wenn ich es dir sage!“
„Also … als du dein schönes Pferd in den
Advokatenhof brachtest … und es zum Stehen
zwangst … kam ich heraus … erinnerst du dich?“
Er sann eine Weile nach.
„Ich weiß nicht …, sprach er gedehnt und
erstaunt, „aber ich habe dich nicht gesehen … es
kam jemand heraus … das weiß ich … aber
30 2–
es war jemand in schwarzer Kleidung … an dein
Gesicht erinnere ich mich nicht.“
Sie blickte von ihm fort und lächelte.
„Wenn du nicht weißt, wer ich bin, so thut es
auch nicht viel zur Sache. Ich habe dich oft gesehen,
oft genug!“
„Du lachst wieder über mich!“
„Nein!“
„Also wer bist du?
„Was kümmert das dich? Übrigens“, fügte sie
plötzlich mit einem melancholischen Lächeln hinzu, „bin
ich eine, die kein Glück hat … weißt du … in
manchen Dingen.“
„Reich und kein Glück?“ sagte er ungläubig
und lachte auf. „Schau’, vielleicht hat es dir jemand
abwendig gemacht, das kommt vor. … Aber du
bist jung …, fuhr er fort und trat noch dichter
an sie heran, währenddem er, ohne zu wollen, mit
seiner Hutkrempe ihr Stirnhaar berührte.
Sie sah auf, und in demselben Augenblick ergoß
sich eine tiefe Röte über ihr Gesicht.
„Ja ich bin jung … und wieviel
Jahre zählst du?“
31
„Zu Demetrius werde ich sechsundzwanzig. Ich …
Plötzlich hielt er inne. Wie Feuerflammen schlug auch
ihm eine glühende Röte ins Gesicht, bis in die
Stirn hinauf, und mit funkelnden Augen starrten sie
einander an.
„Du!“ stieß er bebend aus.
„Was ist?“ klang es kaum hörbar zurück. Sie
hatte die Blicke gesenkt.
„Du bist schön,“ sprach er in verändertem,
klanglosem Ton.
Leichtes Zittern überfiel ihre Gestalt.
Sie sah wieder auf. Sein Gesicht ward weiß,
als ob der letzte Blutstropfen daraus fortgewichen
wäre, und zeigte Spuren tiefster Erregung. Die
Augen schienen Funken zu sprühen.
Ein erzwungenes Lächeln erschien auf ihren Lippen,
dann erstarb es. Sie konnte seinen Blick nicht
ertragen. Sie fühlte sich plötzlich von einem ihr
bisher völlig fremden Gefühl erfaßt … und Thränen
traten ihr in die Augen. Sie schritt weit von ihm
bis an den Rand der Schlucht und meinte eilig, ohne
sich zu besinnen: „Gehen wir weiter!“
Und weiter schritten sie auch in den Wald, der
immer stiller und stiller ward und in dem sich höchstens
Laute eines rieselnden Baches durchbrachen.
Rasch glitt sie am Schluchtrande dahin, sich leicht
unter den über den Weg hängenden Tannenzweigen
neigend, während er erregt fragte:
„Es gefällt dir also im Walde?“
„Ja.“
„Warum? Man sieht ja nichts.“
„Eben weil ich nicht sehe, was ich sonst sehe.“
„Nun, so komm’ mit auf meinen Berg; dort
wird es dir noch besser gefallen; dort kommt kein
Mensch hinauf, nur manchmal an Feiertagen mein
Vater. Dort wohne ich mit meiner Mutter seit fast zwei
Monaten und es besuchte uns kaum ein Mensch.
Willst du?“
„Du bist der einzige bei deinen Eltern?“ fragte
sie, ohne auf seine Worte zu achten.
„Ja – aber kommst du?“
„Das geht doch nicht!“
„Und warum nicht?“
„Weil es nicht geht.“
„Weil du nicht willst?“
Sie schwieg.
–: 33
„Weil du nicht willst? – Du hörst?“
„Ach – was dir einfällt!“
Sie lächelte gezwungen, während ihre Augen vor
Aufregung fast unheimlich leuchteten.
„Sieh’ doch, wie dicht hier die Bäume wachsen,
die Luft wird geradezu feucht; man sieht den Himmel
beinah’ gar nicht … o Gott!“
„Du fürchtest dich doch!“
Sie schüttelte das Haupt, die Angen voll seltsamen
Glanzes nach ihm gerichtet. Zurück wollte sie
noch immer nicht; sie wußte nicht, weshalb. Sie
war auch weit davon entfernt, mit ihm bleiben zu
wollen … sie fühlte mit einem Male, daß der
Wille nie wahrhaft frei ist …. Narr, der sie noch
vor zwei Stunden war!
„Geh’ nicht so dicht an den Rand – du wirst
fallen!“
Sie gab keine Antwort.
„Hörst du? Ach! Du fürchtest dich vor mir!
Ich thue dir nichts. Deine Uhr brauche ich ja nicht.
Komm doch näher an mich; meine Brustkette da mit
den Krenzen ist mehr wert, als deine Uhr. Komm,
ich schenke sie dir! … und mehr noch könnte ich
Kobylanska, Erzählungen.
3
34 2–
dir schenken … auch meinen schwarzen Hengst mit
dem geschnitzten Sattel … Komm nur: Es war, als hörte sie ihn nicht. Eilig, mit geröteten Wangen und fieberhaft glänzenden Augen, schritt sie mühsam empor. Immer dichter und dunkler wurde der Wald, immer wilder. Der Weg, steiler und schmäler, führte bis zu einer Wiese. Bis dorthin wollte sie noch. Bis dorthin, auf jeden Fall, um jeden Preis, und erst dann zurück. Atemlos – schien es – in höchster Spannung schritt er wortlos neben ihr. Nun standen sie oben. Ihren Blicken bot sich eine wunderbare Aussicht. Gewaltige bewaldete Berggipfel, blan=dunkle Schluchten, Urwälder, grasreiche Wiesen, alles gleichsam in Bläue gehüllt. – Und das alles lag nicht in der Ferne; nein, in nächster Nähe türmte sich Berg an Berg, getrennt nur durch Tiefen; darüber ein reiner, wunderbar reiner blauer Himmel. Alles das von überwältigender Schönheit … All dieser farbenprächtige Raum, dieses überreiche, intensive, fast dunkelblane Grün. Ringsum stille Einsamkeit und Rauschen der Wälder.
4 35
Ein weithin reichendes, eintöniges Rauschen. – –
Einen Moment lang stand sie überwältigt von
dieser üppigen Schönheit; sie schien seine Nähe vergessen
zu haben.
Er saß neben ihr auf dem Boden.
Er schien die Schönheit der Umgebung gar nicht
zu bemerken oder zu fühlen; er sah nur sie.
Sie stand so hoch und geschmeidig da und war
so wunderbar schön!
Ihr prachtvoller Körper schien’ ihm im Sonnenglanz
durch die leichte, lichte Kleidung entgegenzuschimmern.
Er sah genan alle seine Formen und
Umrisse, fühlte sie so, wie man die Nähe einer starkduftenden,
betäubenden Pflanze fühlt. – Das Blut
kreiste ihm wie toll durch die Adern.
Plötzlich wandte sie den Kopf um und richtete
ihre schimmernden, weitgeöffneten Augen nach ihm.
Was verhielt er sich so still?
„Es ist so schön hier,“ meinte sie und sah sich
halb verlegen, halb ängstlich um.
„Ja, aber setz dich!“
„Ach nein, ich muß schon fort.“
3*
36 2–
„Fort? Weswegen?“ Er sprach das wie ohne
Bewußtsein.
„Ja!“
„Wozu?“
„Ich muß doch. “
„Setz dich ein wenig!“
„Ich will nicht!“
„Warum nicht?“
„Weil “
„Aber setz dich!“
Das klang wie befehlend.
Eine Art Übermut, die das Gefühl der Furcht
gar nicht kennen will, regte sich in ihr, und sie
lächelte und flüsterte:
„Wenn ich es aber nicht will?“
Ein eisig kalter Ernst legte sich auf seine Züge.
Er hob sich auf ein Knie, legte beide Arme um
ihre schlanke Gestalt und zog sie an sich.
„Du bist so schön … so schön!“ sprach er in
erstickenden Tönen.
Bei seiner Berührung ward ihr, als ob ein unerklärliches
Etwas wie ein elektrischer Strom von ihm
- 37 3–
auf sie überginge und tansend Flammen nach ihr
züngelten. Aber sie wollte sich wehren.
2/
„Was fällt dir ein? Was willst du?
„Nichts.“
„Dann lasse mich.“
„Du bist so schön, so schön!“
Eine wilde Aufregung bemächtigte sich ihrer. In
tiefen Zügen hob sich ihre Brust, und das Herz schien
seine Hülle sprengen zu wollen. Sie fühlte, wie
etwas ihre Widerstandskraft unterwühlte, wenn er sie
an sich zog.
„Mensch, lasse mich!“
Einen kurzen Moment rang sie mit ihm, stumm
und fast antomatenhaft. Seine Augen glühten, und
er war leichenblaß. Er ließ sie nicht los.
„Wenn ich dich aber bitte … siehst du …
bitte …“ murmelte er immer von neuem. „Du
bist so schön … so schön …
Ihr schwindelte, und sie vermochte nicht mehr zu
reden.
Knieend hing er sich um ihre Hüften, und seine
Arme umklammerten sie geradezu eisern. Das Antlitz
barg er mit leidenschaftlicher Geberde in die Falten
+ 38 3–
ihres Rockes, und langsam, aber kräftig zog er sie
herab. Sie verlor all ihren Willen.
Ein Lächeln, flüchtig, unbestimmt, überflog ihr
Gesicht, das schneeweiß sich tief und tiefer neigte,
und, der Gewalt einer unbekannten Macht unterliegend,
glitt sie langsam, gleich einer gebrochenen Palme,
und fast ohne Besinnung zu Boden.
Blendend und wie siegestrunken flammte die
Sonne im Westen in überreicher Goldfülle auf, und
das zartlichte Gewölke verwandelte sich in glühende
Röte rings um sie.
So war also das Ganze! –
Und jetzt sitzt er da wie vergiftet, wie zum Hohne
und Gelächter, und muß sich zu Tode nach ihr sehnen!
Er, der Reichste, der Schönste, er, nach dem im
Dorfe alle Mädchen sterben – er sehnt sich vergeblich!
Das
ist ihm nie passiert.
Er knirscht mit den Zähnen und schlägt mit
der Faust auf den Stamm.
Wie schön, wie wunderbar schön ist sie!
Während des kurzen Schlafes vorhin hat er von
ihr getränmt. An alles weiß er sich nicht genau zu
39
erinnern, nur an das, daß sie sich dicht an ihn
geschmiegt hat und es ihm bei ihrer Berührung in
den Gliedern wie eine Sonne aufgestrahlt hat. Dabei
hat sie so leise aufgelacht wie damals, als er ihr
gesagt, daß nach ihm alle Mädchen „sterben“. Auch
hat sie ihn aufgefordert, mit ihr auf eine Höhe zu
steigen, wo es einem schon schwindelt.
„Du mußt mich suchen,“ hatte sie ihm auch
unter anderem gesagt, und diese Worte hatte er sich
ganz genan gemerkt; sogar den Tonfall ihrer Stimme.
Heute Morgen hatte er sich auf seinen wilden Hengst
gesetzt und war wie toll den Weg geritten, den er
mit ihr zurückgelegt.
Vielleicht saß sie dort irgendwo und malte die
Tannen und hörte zu, wie der Wald rauscht?
Aber er hatte sie nicht gefunden.
Einmal schien es ihm, als ob etwas Menschenähnliches
durch den Wald ginge, und er horchte mit
angehaltenem Atem nach allen Seiten, stand regunglos
wie ein Tiger auf der Lauer … aber es
war ein Hirsch, und das Pferd wäre ihm fast vor
Schreck in den Abgrund gesprungen …. Das hatte
er von jenem Ritt.
40
Damals war alles so schön, so wie eine Sonne,
wenn sie am höchsten steht. Er will, daß es wieder
so schön wird. Er liebt sie ja … ja, jetzt ist die
Reihe an ihn gekommen, zu sterben!
Er lacht, während sein Herz voller Zornesthränen
ist.
Damals ging sie mit Blicken fort, als sei die
Welt für sie mit einem Male anders geworden, als
sei sie ein anderer Mensch geworden. – Sie war
schneeweiß, und ihre großen, traurigen Augen glänzten
so seltsam … Herr Gott!
„Liebst du mich?“ hatte er sie gefragt.
Sie antwortete nicht gleich, sagte aber nach
kurzem Besinnen mit einem matten Lächeln: „Nein.
„O, du liebst mich!“
„Vielleicht!“ „Warum vielleicht?“ „Weil … weil das etwas anderes ist.“ Foppte sie ihn, daß sie nicht mehr erschien? Würde sie thatsächlich niemals mehr kommen? Das war unmöglich. Die Mädchen im Dorfe kamen unzählige Male, wenn sie einen liebten, zum Beispiel ihn! Voller
41
stolzer Ungeduld schüttelte er den prächtigen Kopf,
und ein gedämpfter Wutschrei entrang sich seinen
Lippen. –
Ja, er war wild.
Er fühlte, wie seine Seele gleichsam zertragen
war und nicht mehr ineinander paßte. Kaum, daß er
sich um seine Pferde kümmerte und sie zum Tränken
jagte.
Was thun? – Was thun, um sie zu sehen und
abermals zu haben?
Aber wenn er sie noch einmal in seine Hände
bekommt, dann muß sie hinauf zu ihm; gutwillig
oder nicht. Sie muß. Er will es.
Er wird mit ihr ganz allein oben wohnen. Sie
ist ja gern allein. Hier kann sie vom Morgen bis
zum Abend dem Ranschen der Wälder zuhören
niemand wird sie stören. Er wird zu ihr kommen
dürfen, denn sie ist dann sein, aber Fremde …
Er faltete drohend die Stirn.
Das sollte nur einer wagen! Der würde mit
zerschmettertem Hanpte hinunter in irgend einen Abgrund
fliegen, daß ihn auch die Geier nicht fänden.
Mit Huzulen ist in der Liebe nicht ratsam zu
spaßen. Aber sie würde es gut haben bei ihm.
– 42
Alle Teppiche, die seine Mutter daheim, unten,
in der Truhe für ihn aufbewahrte, würde er hinanftragen.
Alle die bunten Seidentücher, Seidenstoffe
die Silbermünzen, die buntfarbigen, prächtigen Wollgürtel,
alle die reichgestickten, schneeweißen Hemden,
die Felle von Bären, die er selber erlegt, alle
gestickten Pelze, alles das würde er ihr hinanfbringen
und sie damit umgeben. – Seinen schwarzen Hengst
mit dem silbergeschmückten und geschnitzten Sattel, den
er noch von seinem Großvater erhalten, würde sie auch
bekommen, denn zu Fuß dürfte sie selbstverständlich
nicht gehen. Ein echtes Huzulenweib thut das nicht.
Nur sollte es ihm nicht einfallen, sich unter ihr
zu bäumen, wie er das mit Vorliebe bei jeder Brücke
that, denn dann wäre das gleich sein letzter Augenblick.
Er würde ihn sofort niederschießen; so wie
die goldhaarige Stute, die irgend ein Herr einmal
zu ihm auf die Weide gegeben. Er wollte ihr eine
Wunde am Fuße reinigen, und sie schlug ihn dafür
mit den Hinterfüßen in die Seite, daß er fast zwei
Wochen wie ein Krüppel im Hanse hocken mußte.
Er hatte sie dann bezahlt, vielleicht auch überzahlt,
aber sie hatte auch das Ihrige bekommen!
– 43
Ja, er ist gut, wenn er gut ist … aber wenn
er böse ist … Er wühlt im Haar und reibt sich
die Stirn und brütet unaufhörlich, wie er sie bekommen
könnte. Er wird schon etwas herausdenken.
Ihr rotes Seidentuch hat er ja bei sich, das ihr
aus dem Gürtel herausgefallen war und das sie vergessen
hatte, mitzunehmen. Wie das duftete! Weiß
Gott, zwischen welchen Kräutern es gelegen! Damit
kann er ja auch zur alten Hnzulenwahrsagerin
gehen. Die hilft bestimmt, und wenn sonst nichts
hilft. Aber vorläufig will er mit Weibern nichts zu
thun haben. Will selbst etwas ansdenken.
Die Thüre der Hütte öffnete sich und seine
Mutter kam herans und rief ihn zum Abendmahl.
„Ich mag nichts essen,“ antwortete er mißmutig,
ohne den Kopf zu erheben.
Gott sei mit dir, mein Sohn,“ antwortete sie
ernst, „aber ich merke, daß sich eine Krankheit an
dich machen will. Christus mag sie fernhalten
die guten Heiligen mögen sie schlagen.
Mit bekümmertem Gesicht befühlte sie seine Stirn
und versuchte, ihm in die Augen zu schauen.
Er wich ihren ängstlich forschenden Blicken aus.
„Stehst du?“ rief sie in triumphierender Bitterkeit, „sie haben dich dort unten verdorben. Gott lohne es ihnen. Laß mich deiner Stirn das Unreine aussangen.“ Und küssend sog sie den bösen Blick ans seiner Stirn heraus.
„So, jetzt wird es besser werden; und später will ich wieder Kohlen löschen und die Hütte mit Kräutern räuchern. Ach, jammerte sie, „unglücklich die Stunde, in der du den Baum abgehackt. Krank bist du mir heimgekehrt und mit gesenktem Kopfe. Die Flöte rührst du nicht an und halb issest du nur. Die Heiligen werden das Böse schlagen, werden es auf deine Feinde werfen. Nun, komm’ herein was willst du da mit der Axt?“ „Hinein in den Wald.“ „Wozu?“ „Ich will noch eine Fichte fällen.“ „Bist du wahnsinnig geworden? Gott soll dich bewahren!“ rief sie entsetzt aus. „Zum zweiten Male willst du verhaftet werden – und erkranken? Laß ab, Duschko[5] , laß ab. Noch klebt die Folge der bösen Stunde an dir, noch bist dn nicht ganz rein.“
– 45 :
„Ich werde gehen, Mutter, ich muß gehen,“
antwortete er düster und senkte das Haupt, das
Angesicht mit beiden Händen verhüllend.
„Ich“, fuhr er fort, „will noch eine Umzäumung
hier bei der Koliba für die Schafe machen. Es
könnten welche erkranken, und da magst du sie gleich
unter den Augen haben, während ich draußen im
Walde bei den anderen oder bei den Pferden bin.
Das thue ich, Mutter. Diesmal aber steige ich den
Berg bis zum Flusse hinab, wo ich Forellen fange,
und will dort eine Fichte aushacken. Dort ist der
Wald dichter, als überall, und die Stimme der Axt
wird sich verlieren. Ich hacke den Baum bis zum
Erdboden aus und verdecke den Stumpf mit Moos.
Dort bereite ich mir die Pflöcke und werfe die Späne
ins Wasser; mögen sie mich daun unten anzeigen!
Ich fürchte mich nicht!“
Die letzten Worte sprach er mit finsterer Entschlossenheit
und erhob sich.
„Und jetzt gehe ich, Mutter; bleibt gesund und
harrt nicht vor Mitternacht auf mich.“
„Wenn es durchaus sein muß, dann gehe,“
sprach verstimmt die Alte; „aber besser wäre es,
46 3–
du bliebest daheim. Auch das Gewitter kann noch
umkehren; es hat heute nicht ganz ausgetobt.“
„Nein. Es kehrt heute nicht zum zweiten Male
ein; dort blinkt bereits der Abendstern, auch haben
wir heute Vollmond!“
„Dann geh’ mit Gott. Das Abendmahl hebe
ich dir auf und will bis zu deiner Ankunft spinnen
und für dich beten.“
Rasch schritt er den bekannten bewaldeten Berg
hinab, ungeduldig trockene Zweige oder Holzstücke,
die im Wege lagen, mit dem Fuße von sich stoßend.
Tiefe Stille herrschte im Walde, und nur sein
kräftiger Tritt oder hier und da ein ansgestoßener
Fluch, wenn er schlecht getreten, unterbrachen sie.
„Und ich bekomme sie doch!“ dachte er mit
unheimlicher Freude. „Ich steige hinnnter zum Flusse
und hacke, wo just der Wald gelichtet ist und besucht
wird, die gesündeste Tanne aus. Dann geht einer und
meldet mich unten bei den Herren an; die werden mich
abermals achtundvierzig Stunden festhalten wollen;
ich aber gehe zum Advokaten und drehe mich dort
so lange, bis sie kommt!“
Vielleicht ist sie seine Tochter? … Aber nein,
47
sie scherzte nur, als sie sagte, daß sie ihn dort oft
genug gesehen habe! Weshalb hatte er sie nicht
gesehen? Und weshalb hatte er seine Frau gesehen?
Diese strenge, schreckliche Frau, die stets nur ihre
Augen auf seine Füße gerichtet hielt, wenn sie in die
Kanzlei kam und er dort anwesend war. Das kann
nicht ihre Mutter sein … sie kann dorthin nicht
gehören, sie muß jemand anderer sein … Sie
spricht kleinrussisch, während ihre Mutter weiß Gott
was für eine schreckliche Sprache gesprochen. Er haßt sie.
Er weiß nur das eine: Er bleibt dort beim
Advokaten so lange, bis sie irgendwo zum Vorschein
kommt; und dann geht er ihr nach … und dann
wird sie schon sein werden müssen.
Alles andere kümmert ihn nicht, und an alles
andere will er gar nicht denken.
Immer rascher und eiliger wird sein Schritt.
Er hat nicht mehr weit zum Ziele. Durch den sich
bereits lichtenden Wald blinken Fluten des Gebirgsflusses
im Mondschein auf. Nur noch einige Schritte
und er befindet sich an Ort und Stelle.
Dicht vor ihm am Fuße des Berges floß der
Fluß; heute durch das Gewitter angeschwollen, bewegte
– 48 2
er sich in großen, schäumenden Wellen, die, schmutzigmatt,
im Mondlicht nnheimlich schimmerten.
Er blieb, an eine Fichte gelehnt, stehen und sah weit
vor sich in die Ferne. Schöner und sehnsuchtweckender
denn je lag eine ganze Gebirgskette vor seinen Blicken.
Vom magischen Mondlicht, von Millionen flimmernder
Sterne beleuchtet, war sie von märchenhafter Schönheit.
Ob er das großartige Schöne in der Natur
merkte oder fühlte? Er war den prächtigen Anblick,
den das Gebirge bot, von Kindheit an gewöhnt, taghelle,
lautlos schweigende Sommernächte waren ihm
bekannt, denn er hatte mehr als eine wachend
bei seiner Pferdeherde zugebracht; – und doch!
und doch wurde sein Herz, als sein Blick über die
in blaue Nebel gehüllten Gipfel schweifte, von tiefer
und nnerklärlicher Sehnsucht erfaßt!
Und da zu seinen Füßen wogten und murmelten
die Wellen etwas Trauriges; ihre Laute weckten in
seinem Herzen … Thränen. Ja, es ward ihm
schwer und einsam, und er wußte selber nicht, wie
es kam, daß er zu singen begann … . Ein echtes
Kind seines Volkes, suchte er Erleichterung im Gesange.
Er sang in langgezogenen Tönen eine jener
– 49
trauervollen kleinrussischen Weisen, „Dumka“ genannt,
welche der Ausfluß aller Trauer und allen Schmerzes
dieser unglücklichen Nation sind:
Wer ein Elend überstanden, [6]
Dem zehn andre sich gleich fanden!
Ich vergesse alle Leiden, In der Dumka find’ ich Frenden! Laß dir, lieber Freund, es sagen, übers Los darfst du nicht klagen; Will ins Aug’ die Thrän’ dir dringen, Mußt du dir die Dumka singen. Meine Dumka, meine liebe, Wie weckst du so neue Triebe! Klingst du traurig, so auch freust du Dennoch! und den Mut erneust du! Dumka, Dumka, die Kleinrussen Dich aus alter Zeit noch kennen, Denn vom Dujepr bis zum Sane Schwingst du deine goldne Fahne! Wie in Freude, so im Leide, Im Gebirge, auf dem Felde, Dumka – dich nur hör’ ich klingen, Dich, nur dich will jeder singen! Ob im Zwilchrock, ob im Fracke, Bei der Feder, bei der Hacke: Jeder Russe singt dich gerne, Hältst du doch den Schmerz ihm ferne!
50 2
Er schleuderte seinen Hut vom Kopfe zur Erde,
als steckten alle traurigen Gedanken darin.
Ihr rotes Seidentuch hatte er im Hierhergehen
um den Hals geschlungen. Der starke Duft, der
demselben entströmte, und der ihm überhaupt an ihr
aufgefallen war, bewirkte, daß sie nur noch lebendiger
vor seiner Seele stand. Sehnsucht und ein heftiges
Begehren nach ihr erwachte noch wilder als bisher
in seinem Herzen.
Er wandte sich mit dem Rücken zum Flusse.
Die dem Ufer am nächsten stehende Tanne hatte den
ersten Schlag erhalten. Anfangs kamen die Schläge
langsam, gleichmäßig; später rascher, wuchtiger.
So hackte er über eine Stunde und gönnte sich keinen
Moment der Ruhe. Eine Art Fieber hatte sich seiner
bemächtigt. Unaufhörlich dachte er an sie. Sie stand
so lebendig vor seiner Seele in ihrer ganzen hinreißenden
Schönheit und mit all ihren Worten und
ihrem Lächeln. Er lebte gleichsam noch einmal alles
durch mit ihr.
Wie schön, wie wunderbar schön war sie!
Und dann der Traum!
Er lag ihm noch in den Gliedern. Noch fühlte
So hackte er über eine Stunde und gönnte sich keinen
der Ruhe. (S. 50.)
– 51
er schier ihr Anschmiegen, fühlte ihre weichen, warmen
Glieder.
„Du mußt mich suchen!“ hörte er plötzlich dicht
in seiner Nähe rufen. Er fuhr zusammen und hielt
im Hacken inne. Fast in demselben Momente wiederholten
sich die Worte: „Du mußt mich suchen!“
Ja, das war ihre Stimme
ihre Stimme!
Ehe er sich fassen konnte, krachte und schwankte
die Tanne und hätte ihn im Stürzen fast niedergerissen,
wenn er nicht rechtzeitig zur Seite gesprungen
wäre. Er erschrak wie nie im Leben, und alles Haar
stieg ihm zu Berge. – Was bedeutete das?
Er sah sich um und starrte nach dem Wasser
von dorther hatte es geklungen, so lant und so
dentlich …. Aber nichts regte sich. Welle um Welle, nicht allzurasch und auch nicht langsamer, kamen immer von nenem, und die Tanne – die ins Wasser gestürzt war – umspülend, nahmen sie sie langsam und majestätisch auf ihren Rücken. Alles andere verhielt sich so still, so erwartungsvoll still … Die Bänme da am Rande, ja, der ganze Wald – alles, als ob es sein müßte, um irgend etwas wahrzunehmen. 4*
– 52 2
Die Fluten funkelten im Mondlicht unheimlich,
und über ihnen zogen bläuliche Nebelgestalten, nein,
sie waren überall, sie hatten sich angesammelt, als
wollten sie alles ersticken und überwältigen.
Er fröstelt vor wahnwitziger Angst und möchte
wie ein Tier aufbrüllen, aber plötzlich denkt er an
Gott. Er bekreuzigt sich einmal, zweimal, dreimal
mehreremal – hernach reißt er wie infolge einer
plötzlichen inneren Eingebung das Seidentuch vom
Halse und schleudert es geballt ins Wasser.
Mit einem Male ward ihm alles klar.
„Sie ist eine Hexe – eine Hexe!! o heilige Mutter
Gottes … o alle Heiligen!“ – Wohin war er da
geraten? Mit wem hatte er sich zu schaffen gemacht?
Er denkt mit der größten Feindseligkeit an sie.
Er möchte sie totschlagen, auf der Stelle, zermalmen,
zertreten wie einen Hund, wie einen Wurm …
und ein Rätsel nach dem anderen löst er nunmehr
mit Blitzesschnelle.
Nicht vergeblich hatte sie rotes Haar. Nicht vergeblich
roch sie nach Kräutern. Nicht vergeblich war
sie so wunderschön, glich sie der Mutter Gottes, denn
nur dadurch konnte sie fesseln!
53
Nicht vergeblich strich sie im Walde umher. Welcher
Christenmensch geht in den Wald, um zuzuhören, wie
er rauscht?
Und weswegen wollte sie nicht sagen, wer sie sei?
Und weswegen sollte sie damals am Hofe gewesen
sein, da er sich an ihr Gesicht nicht erinnern konnte?
Und dann: sie hatte kein Glück! Nur die von Gott
gänzlich Verstoßenen haben es nicht … etwas Glück
giebt Gott stets einem jeden mit. Sie wollte ihm
das seinige abwendig machen. Ha, ha, ha!
„Du mußt mich suchen!“ hatte sie im Traume
gezischelt. „Ja, suchen!“ damit er hierherkam, ihrem
Rufe, weiß Gott wohin, folgte, irre gehe und in die
Klauen ihrer Sippschaft falle und sein Glück auf sie
übergehe! Weswegen fragte sie, ob er der einzige Sohn
sei? Nur die einzigen Söhne haben besonderes Glück.
Und weswegen versprach sie nicht damals, wiederzukommen,
wenn sie thatsächlich ein Mädchen und ein
christliches Menschenkind war? Weshalb fürchtete sie
sich nicht im Walde, wenn sie ganz allein war?
Und vor ihm that sie, als ob sie sich fürchtete! Er
war doch kein Dobusch[7]
!
–. 54 2–
Als er ihr sagte, daß man im Walde nichts
sehe, sagte sie, daß sie im Walde sehe, was sie sonst
nicht sehe. Und immerfort hatte sie ihn mit ihren
großen, schimmernden Hexenaugen angestarrt; ja, so
lange, bis er toll geworden! Der Blitz möge sie treffen!
Er möge sie treffen und jede Spur von ihr von
der Erdoberfläche vertilgen. Oder sie soll versteinern
oder lebendig von wilden Pferden zertragen werden
oder in die Erde versinken; ja, von irgend einem
Felsen soll sie stürzen und in die Erde versinken!
Er ist fast ganz beruhigt. Er schreitet nach Hanse
und ist so nüchtern, so ganz „der Alte“, daß er fast
lachen möchte. Ihm ist auch noch ein anderes Licht
aufgegangen. Alles das mußte ihm begegnen, denn
er hatte seine neue Hütte da oben bezogen, ohne sie
vorher weihen zu lassen!
Aber gleich morgen geht er zum Popen. –
Eine Unzivilisierte.
Dagura hieß der Berg, unter dem ihre Hütte
stand. Und war bekleidet vom Fuße bis zum Gipfel mit dicht wachsenden Tannen. Das reiche Grün, welches Magura düster erscheinen ließ, und ihre Steilheit, machten sie unzugänglich und bewahrten sie vor Besuchen neugieriger Sommergäste. Au Werk= wie an Feiertagen stand sie allein, vertieft in das Rauschen der eigenen Tannen, oder betrachtete die Gipfel der nachbarlichen Berge und versank in Gedanken über ihren nächsten Nachbarn … Sein Name war Rung. Er war von ihr getrennt durch eine Thalenge, durch die ein Bach eilte, und war ein prächtiger Riese, hoch und breit. An der Nordseite, wo er mit jungem Walde dicht
+ 58
bewachsen war, hob er sich sanft in die Höhe – an der
westlichen Seite, wo er an Magura grenzte, war er steil
wie sie und wie sie geschmückt mit lauter alten, dichtwachsenden
Fichten.
Es schien, als ob beide für immer voneinander
getrennt wären. Die Enge, die sie schied, barg eine
Menge scharfen Gesteins, und der Bach – bei jedem
stärkeren Gewitter anschwellend – bespritzte sie mit
seinen kühlen Perlen, als erinnere er sie daran, daß
er sich nicht verloren habe, daß er da sei und sie
immer trennen werde …
An hellen Sommertagen gegen die Mittagszeit,
wenn die Sonne stark brannte und der Himmel sich
in lichtes Blan gleichsam anflöste – erhoben sich
aus der Tiefe des Rungschen Waldes Habichte, zogen
über seinen Gipfel in sanften Kreisen und verschwanden
dann im dunkelgrünen Walde Maguras. Hier ließen
sie sich auf das Gezweig ihrer Tannen für kurze
Angenblicke nieder und riefen weit hörbar, daß sie
von Rung kämen.
Sie nahm ihre Laute in sich auf und rauschte
hernach etwas, so lant, daß auch die rings um sie
waltende Stille aufhorchte.
– 59 2–
Wenn die Sonne aufging, war ihre ihm zugekehrte
Wand von goldenem Lichte überflossen.
Alle Tannen, die da auf ihr wuchsen, badeten
in diesem Tone. Und sie lachte ihn an.
Und er glänzte auch, aber vor Kühle.
Seine ihr zugekehrte Wand, abschüssig, stolz –
auch in Tannen gekleidet von der Sohle bis zum
Gipfel – war fast düster. Durchsichtige, kühle Tautropfen
standen noch auf den Nadeln der Zweige,
und seine Erde war bedeckt von Tau gleich wie von
zartem Silbergewebe. Der zwischen beiden eilende
Bach drängte sich dicht an die Magura, aber erwärmt
bog er aus, wandte sich unter die kühle Wand Rungs,
jedoch nur, um, abgekühlt, abermals an die Magura
sich zu drängen.
Erreichten die Strahlen der Morgensonne Rung
nicht? – Warf sie selber den Schatten auf ihn?
Sie wußte es nicht.
Hier und da drangen auch zu ihm einzelne
Strahlen. Sie fielen schräg zwischen seine Bäume
als durchsichtig buntfarbige Streifen und bemühten
sich, seine kühle grüne Tiefe zu erwärmen.
Wo sich die Wände beider gegen den Süden
60 3–
wandten, wo sie sanft abfielen und sich in übergroßer
Nähe fast vereinigten – da badeten beide im Lichte …
Hier wuchs in der Thalenge, die zu einem schmalen
Streifen wurde, zwischen dem großem Gestein die
prächtigste Arnika, die goldig=gelbe Blüte zur Sonne
gekehrt, wie die Sonnenblumen; hier wucherten dünne
blaß=lila Glockenblumen und üppige Disteln.
Der Bach bemühte sich, die Luft abzukühlen,
aber diese, erwärmt und berauscht vom Harzgeruche
der Tannen, machte ihn warm, entkräftete ihn bis
zur Milde, und er ergoß sich sanft und fast unhörbar
über Stock und Stein und verwandelte sich unbemerkt
in fließendes Gold.
Hier dehnte sich ein dichter, alter Wald aus,
und Rung und Magura, von ihrer Schönheit gegenseitig
überwunden, wurden zur ebenen Erde und verloren
sich in seiner dunklen Tiefe.
In der Thalenge zerschlugen Zigenner Steine.
Das laut schallende Echo des Klopfens flog in
rasender Eile den beiden nach … allein das ernste
Rauschen des Waldes wehrte es ab.
Dort war ihr Paradies.
4
61
Just hierher kam die Huzulin Paraska, Holz zu
stehlen. Sie wußte da allerlei Verstecke und hätte
sich zu verbergen vermocht, wenn sie jemand verfolgt
hätte – allein, da sie niemand verfolgte und sie
ruhig trockene Äste und anderes Brennmaterial sammeln
konnte, so war sie ihrer Beute sicher und eilte niemals.
Wenn sie genng von allem hatte, setzte sie
sich auf einen großen Stein, zog ihre Pfeife hervor
und stopfte sie. Rauchend ruhte sie aus.
So verbrachte sie oftmals wohl eine Stunde.
Über das oder jenes sinnend, bemerkte sie kaum, wie
die Zeit verstrich.
Ein Gefühl der Einsamkeit kaunte sie nicht.
Die Stille, die um sie herrschte, war anderer
Natur, als die in ihrer Hütte. Hier war sie gleichsam
lebendig. Vor ihr – beinahe ihr zu Füßen
eilte der Bach. Über ihrem Haupte, hoch auf den
Bänmen, kletterten raschelnd Eichhörnchen. Vom
Walde her wurden von Zeit zu Zeit Schreie von
Ranbvögeln vernehmbar; in der Luft schwirrten
Mücken, Libellen, tanzten Schmetterlinge – und das
reiche Grün der Bergwände nahm den Blick für sich
ein und erstickte jedes Gefühl der Einsamkeit.
62
Mitunter sah sie, wie sich zwischen dem kleinen
weißen Gestein eine schimmernde Schlange durchwand.
In ihren Anblick eine Zeitlang bewegunglos versunken,
spuckte sie zuletzt aus: „So klein war sie
und so schlimm! – ärger als ein Wolf!“
Zwischen dem Rung und der Magura war sie
gleichsam zu Hause.
Hier hatte sie auch mit wem zu plauschen.
Zwischen ihren Wänden in eben dieser Thalenge zerschlugen
Zigeuner Steine. Mit ihren muskulösen
Händen zerklopften sie das scharfe Gestein vom frühen
Morgen bis zum Versinken der Sonne. Ein älterer
Zigeuner, eine Zigennerin und ihr Knabe. Gleichsam
häuslich hatten sie sich hier niedergelassen. Unweit
von ihnen brannte Fener. An hellen Tagen verlor
sich die rötliche Flamme im Sonnenlicht, und nur
der blänliche Rauch verriet, daß sie hier loderte, sich
gierig in die Höhe reckend.
Hier kochten sie ihr
Mittagsmahl.
Wenn sie in den Wald ging oder mit dem Holze
zurückkehrte, mußte sie an ihnen vorbeigehen. Sie
setzte sich zu ihnen; und da sie gewöhnlich hier ihre
Pfeife anzündete, wobei sie öfters mit ihnen ihren
63 2–
Tabak teilte, so gingen auch die Gespräche sehr lebhaft
vor sich. Die Zigeuner kannten die kleinsten
Begebenheiten aus ihrem Leben und sie hinwieder aus
dem ihrigen. Jahraus, jahrein zerschlugen sie hier
Steine, lebten fast ganz von dieser Arbeit, und sie
ging zu jeder Jahreszeit zwischen den Rung und die
Magura.
„Ihr wandert schon wieder in den Wald?“ rief
mitunter der schwarze Zigeuner, sie mit seinen Angen
unter dem Hute her anblitzend. „Wen sucht ihr
denn?“ Und sie lachte: „Gold,“ sagte sie. „Gold? Nicht einen „Goldenen“?“ „Ja, ja, auch einen Goldenen! – ich hätte es fast vergessen!“ Und dabei lachte sie noch mehr. „Ei, schaut nur her!“ sprach er, „unsere Huzulin wird uns noch verrückt“, und ausspuckend fluchte er mit verhaltenem Lachen der Frauennatur, daß die „Ruhe von ihr wie vom Teufel fliehe“. „Schweige!“ ließ sich seine Frau vernehmen, ein schwarzes Weib, abschreckend wie eine Hexe, mit wirrem Haare, feurigen Augen und mit auf der Brust offenem Hemde. „Bald wird sie krumm von
– 64
dem Golde, das sie fast täglich schleppt, um etwas
im Ofen brennen zu haben!“
„Dann mag sie sich den „Goldenen“ holen und
er wird für sie alle Lasten schleppen! Wäre es nicht
besser, Paraska?“
„Die Füße mög’ er sich brechen, bevor er in
mein Haus kommt!“ fluchte nun auch Paraska zum
Scheine, setzte sich aber schon zur Zigeunerfamilie.
„So? Und noch gestern sagtet ihr, daß, wenn
sich ein braver Mensch träfe, ihr ihn gleich zu euch
ins Haus nehmen würdet!“
„Und wenn ich’s gesagt habe? Hab’ ich’s gesagt,
so hab’ ich nicht gelogen!“ wehrte sie sich.
„Und wie sollte er sein? Vielleicht so wie ich?“
scherzte der Zigenner fröhlich.
/
häßlicher Zigenner!“
„Ach, so geht doch!
rief sie und spuckte aus.
Die Zigenner brachen in Gelächter aus.
„Also wie sollte er sein, Parasotschka?“
„So laßt mich doch in Ruhe; bin ich denn eine
Sudjilnetza?!) Er mag sein, wie er ist; ich habe
‘) Sudjilnetza bedeutet im Kleinrussischen „Schicksalsengel“
Der Meinung des kleinrussischen Volkes nach bestimmen gute
darüber nicht zu entscheiden. Seid so gut und haltet
den Mund!“
Und ihre Pfeife anzündend, lehnt sie sich kokett
an das gesammelte Holz und, sich dem Genuß des
Tabaks hingebend, erwartet sie die Zigeunerscherze.
Sie war Witwe und zählte über vierzig Jahre.
Brünett und fast noch schön, war sie schlank und
fein gebant. Lebhaft, graziös, schien sie um vieles
jünger, und in ihren kleinen Händen stak Manneskraft.
„Jetzt
stirbt sie schon langsam ab“ – erzählte
sie einmal – „aber als ich jünger war! Manchmal
hob ich einen Sack mit Kukurutz auf, schlenderte
ihn aufs Pferd, daß sich sein Rückgrat einbog! …
oder ich sammelte Holz, lud es auf mich, und nicht
daß ich damit nach Hause ging – ich lief damit
nach Hause! – Hier warf ich es zur Erde, daß die
Hütte erdröhnte, und hatte während vier Wochen zu
brennen. Die Leute wunderten sich, aber ich lachte.
Glaubt ihr das nicht? – Oder was legt’ ich für
Heuschober zusammen! Aj, aj!“
und böse Engel in Gestalt der Vögel während der
Geburt des Menschen sein Schicksal.
5
Kobylauska, Erzählungen.
66 3–
So schwelgte sie in eigenen Erinuerungen, und
ihre ungewöhnlich lebhaften und klugen Angen leuchteten
von innerem Feuer, während ihr Antlitz selber fast
jung war.
„Ja, aber jetzt … jetzt werde ich immer
schwächer und schwächer und alles nimmt ein Ende!“
Sie sagte es nicht traurig. Nicht im mitleiderregenden,
weinerlichen Tone, sondern ernst, gedankenvoll.
Es gab einen Anfang und muß demnach auch
ein Ende geben; und jeden Schmerz mögen die
Winde zertragen!
„Bei wem legtet ihr denn Heuschober zusammen?“
fragte der Zigenner.
„Bei dem, der mich dazu gemietet. Beim gottseligen
Herrn Kuba; beim Vater des jetzigen jungen
Gutsherrn, der da über dem Flusse den kahlen Berg
hat. Kennt ihr ihn nicht?“
„Doch. Er ist ein Rumäne. Er ist derjenige,
der den Leuten Bier gezahlt, als er gewollt, daß
man ihn zum Bürgermeister wähle; und der ihnen
//
damals auch gesagt, daß er ihr Bruder sei ….
„Bruder?“ fragte sie und kniff die Augen zusammen.
„Und weshalb ist er jetzt kein Bruder, da
67
ein anderer gewählt wurde? Jetzt nennt er die Bauern
„Schlangen“! Aj, er ist ein häßlicher Mensch; nicht so
wie sein Vater. Er geriet seiner Mutter nach –
ja, er sagt es auch, daß er ein Rumäne ist. Sie ist
aus der Moldau … sein Vater sprach mit uns
kleinrussisch. Aj, wie gut war es doch, als sein Vater
noch lebte und das Vermögen besaß! … Bei ihm
legte ich im Gebirge Heuschober zusammen!“
Und nach einer Weile lebhaften Sinnens sprach sie:
„Bei anderen Schobern arbeiteten zwei Menschen,
bei dem meinigen war nur ich allein. Glaubt ihr
es oder nicht? Ich trug selber das Hen zusammen,
trat es selber fest, bante die Schober breit und prächtig wie
Häuser. Herr Kuba trat von der Seite heran, blieb
stehen und sah zu. Beinahe eine Stunde schaute er
zu. Wenn er sah, daß ich ganz müde ward, trat er
zu mir heran und reichte seinen Tabak: „Stopfe dir
deine Pfeife, Paraska
du bist meine beste
Arbeiterin!““ „Und ihr, Paraska?“ „Ich setzte mich unter den Heuschober, lachte und rauchte.“ „Paraska, Paraska!“ drohte der Zigenner verschmitzt.
5*
„O Iwan, Iwan … ich bin nicht von solchem
Stamme!“, und ausspuckend steht sie auf und geht
mit ihrer Last nach Hause.
Ihr Haus – das ist eine Bauernhütte, um die
Fenster geweißt und rings herum mit einer Prispa,
d. i. Lehmbank.
Beim Hause lag der Garten, und im Garten
wuchs allerlei.
Da gab es Obstbäume, Gemüse, Sonnnenblumen,
sogenannte „Landnelken“, starkduftend, und zwei volle
Beete von großen leeren Astern. Der starke Duft
von alledem war fast betäubend.
Sie war allein. Kinder hatte sie niemals gehabt,
und so bereitete ihr jede einzelne Blume Vergnügen.
„Ich habe es gern, wenn von alledem so viel
ist; das ist so schön!“ sprach sie, wenn jemand ihren
Garten bewunderte. Und wenngleich in ihm nichts
Besonderes wuchs, schien er ihr ein Paradies.
Am Sonntag Nachmittag legte sie sich unter
einen Birnbaum, und um sie herum lagerten sich ihr
Hund, ihre Katze und zwei=drei Hühner. So lag
und schlief sie oder rauchte. Gesellschaft suchte sie
nie. Sie liebte es nicht, mit den Erstbesten zu
– 69 2–
reden. Zu den Nachbarn ging sie höchst selten, und
wenn sie es that, so schaute sie den Platz, auf den
sie sich zu setzen hatte, gut an oder z. B. den Bissen,
der ihr gastfreundlich gereicht wurde.
„Paraska ist gar delikat,“ sprachen gleichsam verletzt
die Rumänen=Nachbarn. „Sie schant sich im Hause um
wie eine große Frau; besser thäte sie daran, sich bei sich
umzusehen; da fände sie eher etwas, als bei uns.“
Allein, ihr war das gleichgültig. Sie ekelte sich -
wenngleich es in den Hütten der Rumänen sehr rein
war – und es war ihr gleich, ob sie damit jemanden
verletzte oder nicht.
Schickte man sich an, sie mit etwas zu bewirten
stand sie auch schon auf der Schwelle.
„Ich vergaß, die Hühner in den Hof hereinzutreiben;
es können mir noch welche verloren gehen!“
redete sie sich aus und eilte nach Hause.
„Wenn ihr ein Kindchen hättet, wär’ es bei
euch fröhlicher!“ sagte ihr einmal eine Nachbarin.
„Vielleicht wäre es fröhlicher!“ antwortete sie,
„allein, wenn’s ein häßliches Kind wäre … aj du
lieber Gott! Nein, häßliche und schmutzige kann ich
4
nun einmal nicht ansehen!
+ 70
„Aber so allein … ist euch traurig.“
„Mir ist nicht traurig.“
Und sie sprach die Wahrheit. Ihr war nie
traurig zu Mute. Auch im Winter, wo sie wochenlang
allein saß und keinen Menschen zu Gesichte
bekam, war ihr nicht einsam zu Mute. Sie saß,
spann, rauchte, redete zu ihrem Hunde, zur Katze,
zu ihren zahmen Hühnern … sie lachte zu ihnen …
schlug sich Karten auf und las ihr Schicksal daraus,
that das Gleiche ans Kukurutzkörnern
und fühlte
weder Traner noch Einsamkeit.
An Winterabenden, wenn der Schnee an die
kleinen Fenster ihrer Hütte schlug, wenn der Sturm
mit seiner tonlosen Stimme heulte – saß sie zusammengekauert
beim Ofen, die Pfeife im Munde,
und horchte auf irgend etwas.
Ein starkes Rauschen überschwemmte die Luft, kam
vom Rung und der Magura her, gleich wie von ganzen
Wolken von Vögeln … und der Wind rang mit ihm …
Rung und Magura grollten miteinander
allein sie fürchtete nichts.
Klopfte jemand an die Thüre, so rührte sie sich
nicht von der Stelle.
„Wer ist dort?“ fragte sie mit gerader, mutiger
Stimme und öffnete die Thüre nicht, bis sie nicht
genau erfahren, wer gekommen und was er nötig hatte.
Gedanken sind bei ihr – Träume.
Alles, was sie ausdachte, erklärte sie auf die
Art: „Das sagte mir Gott im Traume.“
Sie hatte auch eine Schwester.
Diese war älter, sie hieß Thekla, war ebenso
schön und wie sie auch eine kinderlose Witwe –
allein, sie vertrugen sich nicht. Auch wohnten sie nicht
zusammen. Seit der Zeit, da Thekla sich bemüht
hatte, von ihr den Sohn der alten Malwine abwendig
zu machen, verlor sie das Herz für sie.
Übrigeus war jene …
Scherzte einmal ein Mann mit ihr oder ein
Bursche – flugs griff sie auch schon in seinen Gürtel
und suchte nach Geld und Tabak … die Schamlose!
Wie oft gab der Herr Kuba ihr Tabak …
ach du lieber Gott! – wohin wäre sie geraten,
wenn sie gewollt hätte! Allein, sie hatte ein „Gesicht“
war schamhaft.
In ihrem Hause sah es unordentlich und armselig
aus.
72
Eine lange Eichenbank, ein aus schwarz gewordenen
Brettern zusammengeschlagenes Bett, ein ebensolcher
Tisch, eine grobe, plumpe Kiste … auf einer langen,
oben zwischen den Deckbalken angebrachten Stange
nachlässig aufgehängte Kleidungsstücke – das war
fast alles. Dafür waren aber die Wände beinahe
voll. Da gab es bunte Bilder, farbige Papiere, auf
die Wand ganz glatt aufgeklebt, Bänder, geschnitzte
Holzkreuze, Lehmtöpfchen, getrocknete Blumen und
Kränter … und in den kleinen, schiefen Fenstern
hochrotblühende Blumen, die sich vergeblich an die
ungewaschenen Scheiben preßten, um ein bißchen
Sonnenlicht auf sich zu fühlen.
Und unter alledem und immer belebt war – sie.
Sie saß und spann oder schnitzte etwas ans
Holz: Krenze, Löffel, Schüsselchen oder auch audere
kleine Sachen; was ihr eben einfiel.
„Wer hat euch schnitzen gelehrt?“ fragte man
sie einmal.
„Wer?“ gab sie erstannt zur Antwort, „ich
kann’s von selber. Ohne Beschäftigung zu sitzen ist
langweilig. Ich nehme ein Stück Holz in die Hand
und es kommt dann von selber irgend etwas heraus …
+ 73 2–
Eines Tages flüchtete sich zu ihr eine Frau vor
dem Regen.
Als sie sah, wie schön die Huzulin spinne, und
auch erfuhr, daß sie für Fremde spinne, brachte sie
ihr Flachs und Geld und besuchte sie dann öfters.
Von Zeit zu Zeit schenkte sie ihr auch Tabak, als
sie bemerkte, daß das Rauchen sie in eine redselige
Stimmung bringe.: Die Huzulin ward anhänglich an
sie wie ein Kind, und als die Frau einmal für länger
fortreiste und von jener erst nach Verlauf mehrerer
Wochen und zufällig in der Stadt wiedergesehen wurde,
war die Freude dieses Weibes so groß, daß es zu ihrem
übergroßen Erstaunen sie mitten auf den Mund küßte!
„Es ist mir ordentlich leicht geworden, daß ich
ench wiedersehe!“ sprach sie voller Freude. „Kommet
zu mir auf Weichseln; sie sind gerade jetzt reif,“ Ind
sie die Fran herzlich ein.
„Soll ich ench auch Tabak mitbringen? Oder
habt ihr vom Rauchen gelassen?“ fragte die Frau,
scheinbar ernst.
„Aj, wo hab’ ich denn vom Rauchen gelassen!“
antwortete sie fast erschrocken, „jetzt liebe ich es fast
mehr als früher!“
+ 74
„So? Dann komme ich und bringe euch ein
Päckchen, und ihr bereitet mir einen großen Strauß
von euren duftenden Blumen und Kräutern vor; es
muß ja bei euch alles in schönster Blüte sein!“
„Und wie!“ prahlte sie. „Die Köpfchen bei
meinen Blumen sind so groß und offen, daß …
o du lieber Gott!“
Den anderen Tag nachmittags kehrte die Frau
von einem Spaziergange heim und trat bei ihr ein.
Sie traf sie beim Nähen.
Eine Zeitlang hörte sie ihrem Plandern zu und
dann fragte sie sie: „Weshalb sehe ich niemals bei
euch buntgestickte Hemden, Paraska? Die Huzulinnen
tragen doch immer gestickte Wäsche?“
Sie ward ein wenig verlegen.
„S’ ist ja da … “ antwortete sie mit einem
um sich suchenden Blicke, aus dem sofort zu ersehen
war, daß es nicht da war; später fügte sie hinzu:
„Jetzt hab’ ich euch erst recht angelogen: ich hab’
gar keine gestickten Hemden! Ich sticke nicht gerne.
Auch als Mädchen that ich es nicht. Ich wusch die
Wäsche schön rein, daß sie wie der Schnee rein blinkte
und trug sie so. Frauenarbeiten verrichtete ich nicht
75
gerne, und – ich sag’s aufrichtig – ich thue es
auch jetzt nicht gerne. Glaubt ihr’s oder nicht?“
Das Aussehen ihrer Hütte bestätigte die Wahrheit
ihrer Worte.
„Was arbeitet ihr mit Lust?“ fragte die Frau.
„Was? Männerarbeit. Benötigt jemand einen
Rechen – ich mache ihn. Braucht man Holz – ich
hacke es. Muß mit den Pferden zum Schmied gegangen
werden – geh’ ich. Fällt irgend ein Faß
auseinander – schlag’ ich es zusammen. Wie oft
fing ich die Pferde des Herrn Kuba droben im Gebirge
auf den Weiden ein. Aj, aj!“ Dann lachte
sie lustig auf,
„Weshalb lacht ihr?“
„Weil ich mich erinnerte, wie es manchmal zugegangen
war. Ich trieb Komödie!“ Ihre Augen
leuchteten auf, änderten sich; sie verjüngte sich förmlich
oder besser gesagt: sie hörte nicht auf, jung zu sein.
„Die Köpfe habt ihr den Burschen verdreht
nicht wahr?“
Ihre Mundwinkel zuckten mutwillig.
„Nun ja … sie wurden verrückt“, antwortete sie, und
mit diesen Worten berichtete sie einen Teil ihrer Geschichte.
Wie schön mußte sie gewesen sein! Und nicht nur
von Angesicht, welches noch jetzt Spuren fast intelligenter,
beim Landvolk dadurch ungewöhnlicher Schönheit trug,
sondern auch von einer anderen, inneren Schönheit,
voll von wildem, unentwickeltem Künstlertum und
einer ewigen Jugend, die noch jetzt in jedem ihrer
Worte und jedem Blicke ihrer klugen, leuchtenden
Augen durchbrach; in jeder Bewegung ihrer schlanken
Gestalt und am meisten in der lebhaften Bewegung ihres
Kopfes, der, voller Koketterie mit einem rotgeblümten
Tuche geschmückt, den Blick unbewußt an sich fesselte.
Sie hatte nichts von jenem groben „Etwas“ in
sich, das mit dem Ausdruck „Bauernhaftigkeit“ bezeichnet
wird und mit dem sich das feine Gefühl
weder vereinigen, noch sonst vertragen kann.
„Verdreht!“ wiederholte die Frau, „und zuletzt
nahmt ihr einen alten Witwer zum Manne; war’s
nicht so, Paraska? Ener Mann war Witwer?“
Sie sah die Frau durchdringend an.
„Wenn auch! Ist denn ein Witwer kein Mensch?
Nun ja,“ fügte sie dann hinzu, „ich heiratete ihn
wohl; aber das war eben Gottes Wille und der
4
Wille der Sudjilnetzi:“
+ 77
„Und euer Wille nicht?“ reizte sie die Frau.
„Weiß ich es denn? Wir kamen von entgegengesetzten
Enden der Welt zusammen, um uns hier
zu heiraten. Er ein vierzigjähriger Mann und ich
ein neunzehnjähriges Mädchen. Ich hatte eben Glück
gehabt. Das hat nicht ein jeder. Mancher ist so
glücklos, daß man gut thut, ihn zu umgehen, damit
nicht all sein Elend auf einen übergeht. Ich hatte
Glück gehabt; von klein auf hatte ich’s gehabt!“
„Von eurem Glücke habt ihr mir nie erzählt,
Paraska!“ sprach lächelnd die Fran.
„Ich habe nicht erzählt, weil man nicht gefragt
hat.“
„Nun, dann erzählt einmal. Stopft euch die
Pfeife … die Hände laßt ruhen und mich laßt
zuhören.“
„Zu erzählen ist keine Kunst,“ antwortete sie
gleichgültig. Dann stopfte sie ihre kurze Pfeife, zündete
sie an, that ein paar kräftige Züge aus ihr,
damit sich der Tabak gut entzünde, und begann dann
zu erzählen.
Sie lebte von ihrem neunten Jahre bei ihrer
Taufpate. In ihrem Dorfe daheim diente sie auch
78 3–
bei fremden Leuten, aber da sie vor Arbeit niemals
scheute, erging es ihr überall gut. Im fünfzehnten
Lebensjahre verlor sie ihre Eltern.
Ihr Vater war ein bekannter Meister, welcher
auch Kirchen baute; wie überhaupt ihre ganze Familie
bekannt war. Zwei Söhne eines ihrer Onkel
waren sogar berühmt. Sie waren beide sehr schön
und hielten sich immer beisammen. Beide meisterten
aus Holz Geigen, Sättel, verschiedene kleine und
große, runde und eckige Büchsen, Flaschen, prächtige
Hacken … und eines Tages gingen beide in den
Wald, um einen Baum zu fällen. Der Baum brach
und schlug sie tot. Auf der Stelle schlug er sie tot.
Man legte auch beide zusammen in ein Grab …
Das war furchtbar traurig …
Und wieder einer – ein Sohn von ihres Onkels
Sohn – Andrij war sein Name und sie war seine
Tante – das war schon der berühmteste von allen.
Einige Sachen, die er geschnitzt, nahm der Sohn
des Kaisers zu sich. Von einem solchen Stamme
ist sie – und nicht von den Bukowiner Hnzulen,
sondern von den galizischen.
„Eines Tages“, erzählte sie, „sagte mir die
+ 79
Pate, daß man am letzten Fasching – von Sonntag auf
Montag – alle Kleider, die man an diesem Sonntage
trägt, beim Schlafengehen unter das Kopfpolster
legen solle, und daß dann derjenige, der einem von
Gott zum Manne bestimmt sei, im Traume erscheine …
Ich that, wie die Pate gesagt.
Und ich träumte.
Ich träumte, daß ich auf einen Berg stieg, auf
dem Rücken Säcke trug, und in den Säcken stak Heu.
Ich stieg auf einen hohen Berg, bis zur Brust im
Grase, in einen Wald hinein – und der Wald
war trocken. Er war ausgetrocknet bis auf den letzten
Zweig, daß er fast rötlich schien, und darinnen war
es so traurig und so still. … ich sah mich um
und bemerkte plötzlich ein Thor.
Aus dem Thore trat ein Mann, der war weder
alt noch jung, und der hielt in der Hand einen
Mond, den er hin und her drehte. Er blieb vor mir
stehen, legte die Hände auf meinen Kopf und sprach:
„Mein Kind: die Gedanken, die du hegst, hege auch
weiter. Alsdann wirst du sieben Meilen und sieben
Stunden gehen und deinen Bräutigam finden. Dann
verschwand er.
+ 80
Dies träumte mir.
Dann ging eine Zeit vorüber.
Ich saß nicht müßig. Ich arbeitete, plagte mich,
diente … ich war kräftig … mein Gott, wie
kräftig war ich doch! So lebte ich dahin und kannte
keine Not. Nur litt es mich nicht lange an einem
Orte. Immerfort zog es mich irgendwohin, immerfort
hätt’ ich irgendwohin wandern mögen. In die
Bukowina lockte es mich. Ja, ja, dorthin, zur Heuarbeit.
Zur Sommerszeit bat ich meine Schwester
Thekla, mit mir dahin zu gehen, aber sie wollte nicht.
Sie trat in den Dienst und blieb dort kleben, als
wär’ sie dort angewachsen. Aber ich trug mich stets
mit dem Gedanken, in die Bukowina hinüberzugehen;
so beschlossen es die Sudjilnetzi.
Und ich ging auch hinüber.
Gewaltsam beredete ich die Schwester, und dann
gingen wir mit anderen Huzulen auf Heuarbeit in
den Wiznitzer Bezirk und nach Ispas. Dorthin kam
Gawrissan gefahren. Er kam vom hiesigen Gebirge
aus Briasa[8]
- er war ein reicher Rumäne, der Aufsicht
hielt über die Stallungen und Weiden des Herrn
- 81
Kuba – und er beredete uns alle, die wir da waren,
mit zur Heuarbeit zum Herrn Kuba in die Bukowina
nach Briasa zu kommen.
Unter mir brannte der Boden: ich wollte gehen.
Einige sagten, daß sie gehen würden, andere wieder
wollten nicht. Die dritten überlegten es sich, und
meine Schwester wollte davon nichts hören. Und ich –
aj, du mein Gott! Ich wäre geflogen, so wie ich
gestanden bin, auf der Stelle … glaubt ihr es
oder nicht?
Da wandte sich Gawrissan nach mir und maß
mich vom Kopfe bis zu den Füßen.
„Und du – Mensch?“
„Ich gehe,“ sagt’ ich.
„Gut.
Alle, die sich entschlossen, mit ihm zu fahren,
fuhren gleich den ersten Tag; die anderen, die seine
Aufforderung ablehnten, kehrten nach Hause zurück,
und mit ihnen auch meine Schwester. Späterhin
fand sie Gefallen an … dem. hier.
Und so arbeiteten wir denn beim Hen hoch oben
im Gebirge auf den Wiesen des Herrn Kuba. Wir
mähten, scharrten zusammen, häuften das getrocknete
Kobylanska, Erzählungen.
6
82
Gras. Manche legten kleine Schober, manche bauten
große. Hier legte ich derartige Schober zusammen,
daß Gawrissan den Mund aufriß! Bei anderen
arbeiteten sie zu zwei Menschen, bei meinem Schober
arbeitete ich allein. Ei, wie war ich doch hurtig!
Die Sonne brannte, wollte die Erde auflösen; kaum,
daß es möglich war, die Augen gegen den Himmel
aufzuschlagen, derart entströmte ihm blendende Hitze …
aber meine Hände welkten nicht. Es war, als müßte
mir das Blut jeden Augenblick aus den Wangen hervorspritzen,
als hätte sich in ihnen Feuer verfangen und
züngelte mir nach dem Gehirn … allein, ich ließ von
der Arbeit nicht ab, bis ich mit allem fertig geworden …
Herr Kuba suchte uns anf. Jung war er und
schön und kräftig wie ein Baum. Er kam stets zu
Pferde. Er ließ es weiden, und selber warf er sich
im Waldesrande ins Gras oder er legte sich auf die
Erde unter einen Heuschober in den Schatten, schleuderte
den Hut weit von sich und sah mich an!
Bei niemandem hielt er sich so lange auf, wie
bei mir! Glaubt ihr’s oder nicht? …
Zuletzt zog er seinen Tabaksbeutel hervor und
reichte ihn mir: „Rauche dir eins, Paraska!“
– 83 2–
Und ich rauchte und wir plauderten. Er fragte
und ich antwortete.
Er war ein guter Herr … er liebte es, wenn
ich lachte!
Nach beendeter Heuarbeit wollten wir wieder
heimkehren; ja, wir fuhren bereits.
Ein großer Wagen war dicht beladen mit unseren
Leuten – mit lauter Huzulen – ich befand mich
unter ihnen. Wir fuhren, die heitersten Schumkas[9]
singend … Da plötzlich bemerkten wir, daß uns jemand auf dem Pferde nachsprenge. Es war Gawrissan. „Paraska soll bleiben!“ rief er, „Paraska zurück! Der Herr will es haben!“ Man mußte stehen bleiben. „Geh“ doch grinsen!“ stichelte mich ein junger Bursche, der sich fortwährend bemüht hatte, während der Fahrt neben mir zu sitzen – als ich mich entschlossen hatte, beim Gawrissan in den Stallungen des Herrn Kuba zu bleiben. „Beneidest du mich darum?“ fragte ich ihn und brach in ein Lachen aus, in das alle übrigen mit
6*
– 84
einstimmten. Er mochte vor Zorn geplatzt sein, als
er zu Hause anlangte.
Und es erging mir gut beim Gawrissan.
Ich that meine Arbeit und war froh … so
froh … ei du lieber Gott!
„In dich ist der Kummer nicht verliebt! sagte
mir Gawrissan.
„Ich möcht’ bei ihm auch nicht in den Dienst
treten“, sagt’ ich ihm. Ich verstehe es nicht, die
Trauer auf den Mund zu küssen; ja, ich vermag es
auch bis zum heutigen Tage nicht; glaubt ihr’s oder
nicht?“
Wer hätt’ es nicht glauben mögen!
Aus ihren lebhaften dunklen Angen lachte die
Sorglosigkeit, aus jeder ihrer Bewegungen, aus der
Modulation der Stimme schlug Humor und ungeknickte
Lebenskraft, während zu alledem sich eine Naivetät
gesellte, die rührend war.
„War aus mir selber fröhlich. Nichts betrübte
mich. Dazu war ich kräftig und stark, daß ich Felsen
gesprengt hätte! Jetzt freilich … aber auch jetzt
ließe ich mir nichts anthun, wenngleich meine Hände
längst nicht mehr dieselben von einst sind! Aber auch
jetzt … wenn zum Beispiel jemand käme
nun, es sollt’s einer mit mir versuchen!“
Sie hob mit einer raschen Bewegung die kleine,
zusammengeballte Faust in die Höhe und machte eine
drohende Geberde.
„Ei, wer doch vor eurer Faust Furcht empfände!“
warf die Frau ein.
„Das ist mir einerlei; ich empfinde vor niemandem
Angst. Meine Faust kannten in der Jugend
alle gut; und auch damals, beim Gawrissan. Niemand
vermochte sie mir zu öffnen. Auch zu zwei
Menschen versuchten sie es und konnten es nicht. Kein
Bursche, kein Mann – ich wettete darauf stets um
meine Ringe.
Ein junger Schafhirt, ein Rumäne, der gleich
mir beim Gawrissan bedienstet war – ein schöner,
kräftiger Bursche, verlegte sich darauf, meine Faust
um den Ring zu öffnen. – Er war schier toll nach
mir!“ fügte sie mit gesenkter Stimme hinzu, während
ein mutwilliges Lächeln um ihre Lippen aufleuchtete,
und sie spie von sich.
„Du wirst meine Faust erst dann öffnen, wenn
die Henne krähen wird!“ sagt’ ich zu ihm. Und er
+ 86 3
antwortete bloß: „Schon gut, schon gut“ und weiter
sagte er nichts.
Es traf sich dann später, daß ich in die Tschabanija
Salz trug.
Ihr werdet wohl wissen, was „Tschabanija“
bedeutet? So heißt die ganze kleine Wirtschaft der
Schafhirten, wo sie mit den Schafen den Sommer
über wohnen, sie melken und allerlei Käse bereiten.
Eine breite Hütte, zusammengeschlagen aus Tannenholz
und gelegen auf einem der Berge inmitten grasreicher
Wiesen.
Ich stieg von der Tschabanija herunter …
allein … ringsum nur die dunklen, ranschenden
Wälder, die Gräser, die einen fast erdrücken
stieg herunter und sang. Plötzlich vernahm ich, wie
ein Echo geflogen kam … es kam laut und dehnte
sich in die Länge … „u–ch–!
Ich horchte auf.
Dann sah ich auf den gegenüberliegenden Berg.
Hoch droben unter dem Walde breitete sich eine
große Wiese aus. In ihrem Grase weideten weiße
und schwarze Schafe, und aus ihrer Mitte lief
als rolle eine Kugel vom Berge herab – der Schaf
87
hirt.
Sein langes schwarzes Haar schlug ihm um
Hals und Schultern …
Er hatte mich erkannt.
Und nun – bitt’ um Vergebung für dieses
Wort – brüllte er wie ein Stier auf. Er war
wie ich’s schon vorhin sagte – nach mir toll geworden.
Ich schüttelte nach ihm die beiden Fäuste und
lief dann fort.
Laufe mir nur nach, dacht’ ich mir, du holst
mich ein, wenn du auf dem Kopfe springen wirst!
Allein, er war bald unten, und ich verbarg mich hinter
dichtwachsenden Tannen … . Er blieb stehen und
sah sich nach allen Seiten um wie ein hungriger Wolf.
Ihi!“ rief ich plötzlich hinterm Gesträuch und
trat hervor. „Da bin ich ja, du blinder Ochs!“
Er stürzte auf mich, ein wirklicher Wolf.
„Jetzt wirst du die Faust öffnen!“ sagt’ er zu
mir und sah mich an wie der Teufel=selber. Seine
Augen sprühten Funken, und sein Gesicht änderte sich.
„Ich werde sie nicht öffnen’, sagt’ ich.
„Du wirst sie öffnen.“
„Ich werde sie nicht öffnen.
„Das werden wir sehen.“
88
„Wir werden es.“
Da warf er sich wie ein Wahnwitziger auf mich
und riß mir mit einem einzigen Ruck das Hemd
auf der Brust auf. „Jetzt wollen wir sehen …
schnaufte er, „wer wie eine Henne krähen wird …
und drängte mich zu Boden.
Da ward ich wild … daß sich Gott erbarm’!
„Du, du, du!“ stöhnte ich bloß und begann dann zu
ringen. Auf Leben und Tod rang ich mit ihm. Er
war riesenstark und außer sich und bemühte sich mit
aller Gewalt, mich auf die Erde zu schleudern; ich
hingegen wehrte mich mit einer mir selbst unbekannten
Kraftfülle.
„Du wirst krähen, du wirst krähen.“ stieß
er immer von neuem hervor und packte mich bei der
Gurgel, um mich endlich doch zu Boden zu werfen.
„Du wirst krähen!“ rief ich ihm zu und biß mit
den Zähnen in seine Hand hinein, daß er aufheulte!
Er heulte auf, und ich sprang auf die Füße und
stürzte mich auf ihn.
Er griff mich abermals an und diesmal mit
einem Gesicht zum Erschrecken; wahrscheinlich wollte
er mich ermorden, allein, ich wartete nicht darauf
sondern versetzte ihm einen Schlag ins Gesicht, nach
welchem ich mich nicht mehr fürchtete.
„Siehst du meine Faust? Siehst du sie?“ brüllte
ich. „Und meine Zähne, siehst du die auch? Zerfleischen
werde ich dich – in Stücke reißen wie eine Hündin,
zerfetzen … du, du, du!“ Dabei trat ich ganz
dicht an ihn, sah ihn an und verging fast vor Zorn!
Er stand blaß wie der Tod, ohne Hut – der
war ihm vom Kopfe geflogen – und schwieg.
„Räuber!“ sagt’ ich zu ihm, mit beiden Fäusten
drohend, „glaubst du, mein Stamm sei der letzte?
Schmach über dich!“ Dann spuckte ich zornig durch
die Zähne und ging fort.
Daraufhin hob er den Hut auf und kehrte auf
seinen Berg zurück.
Ich war schon weit … weit auf dem Rücken
des anderen Berges, als er auf der Schalmei ‘) zu
blasen begann. Er blies damals sehr traurig und
späterhin – als er mit dem Gawrissan zusammengetroffen
– erzählte er ihm, daß er geweint habe …
So waren diese meine Fäuste.
) Schalmei oder Alpenhorn, ein drei bis vier Meter langes
Rohr aus Fichtenbrettchen, mit Birkenrinde überzogen.
– 90
„Und ihr habt euch nicht gefürchtet, Paraska?“
Sie sah die Fragende mit noch funkelnden Augen an.
„Weshalb?“ fragte sie. „Das da mag sich
fürchten!“ rief sie und ergriff mit einer stürmischen
Bewegung ein kleines Hündchen, das zusammengekauert
unweit von ihr schlief, und preßte es leidenschaftlich
an sich. „Das da! wenn es mir zu viel
bellt und ich wild werde und es anschreie; aber nicht
ich!“ Dann lachte sie mit weichem Lachen und fügte
hinzu: „Wer doch ein Narr wäre, sich zu fürchten!“
„Beim Gawrissan war ich zum Hornvieh aufgedungen.
Mir
war nur die Arbeit beim Hornvieh und bei
den Pferden lieb, die häusliche Arbeit kümmerte
mich wenig.
Kurz darauf, als ich mit dem Schafhirten gerungen,
schickte Herr Kuba aus der Stadt nach mir.
Er gebot mir, zu ihm in die Stadt in den Dienst
zu kommen.
Ich wollte nicht.
Ich sei keine Stadtmagd, hatte ich geantwortet,
sondern eine Arbeiterin. Ich könne auch zurückkehren,
von wo ich gekommen. Den Weg scheue ich nicht.
91 2–
Paraska möge hierher kommen, ließ er sagen,
„hier bei mir dient ein Wirt aus ihrem Lande, der
hat etwas Hab und Gut; der wird sie heiraten, und
dann werden beide bei mir dienen!“
Er mag freien, wen er will“ – sagt’ ich – ich
werde nicht gehen!“
Und ich ging auch nicht.
Er schickte abermals.
„Nein“ – sagt’ ich – ich geh’ nicht. Was bin
ich denn, um zu einem Manne zu gehen? Ist mir
die Welt verschlossen?“
Und damit trat Ruhe ein.
Man schickte nach mir nicht mehr und fragte auch
nicht mehr nach mir – und es erging mir gut.
Die Tage verflogen mir wie Vögel. Kummer kannt’
ich nicht. Was mir Gott auch gab – aber Glück
gab er mir! Die Trauer wandten die Sudjilnetzi
von mir ab, und – wie man zu sagen pflegt –
wen sie lieb gewonnen, dessen Seele vergolden sie;
ich hatte Glück!“
„Aus dir selber!“ fügte die Frau hinzu.
„Weiß ich’s denn? Ich war glücklich.
„Wann wirst du weinen, Paraska?“ fragte mit
92 4–
unter Gawrissan und schüttelte dabei mit dem
Haupte.
Wenn der Regen trocken fallen wird“ – gab
ich zur Antwort – „aber bis dahin gebt mir Geld
auf Tabak!“
Und er lächelte und gab Geld auf Tabak. Er
war gut, der Gawrissan! Ich hätte ihn geheiratet
aber er hatte bereits eine Frau. Sie ging in schönen,
breiten Röcken und wollenen Tüchern und war eine
Hausfrau … schier ein Feuer! Sie verstand jede
Arbeit und um verlorene Zeit tranerte sie wie um
tote Kinder!
Paraska wird weinen, wenn sie sich mit dem
Elend verheiraten wird, sprach die Gawrissanin.
Ich heiratete Burschen nicht, von denen gegen
fünfzehn um mich geworben, arme und reiche, junge
und alte – und sollte das Elend heiraten? Aj, aj,
das wird mich nicht verschlingen!“
„Das sieht man; dein Leben ist lauter Sonne.“
„Nun“ – sagt’ ich – „Sonne oder nicht Sonne,
aber es ist auch keine Trauer …
Einmal träumte ich einen Traum.
Ich saß – so träumte mir –
+ 93
Hütte und spann weiße Wolle. Die Wolle war weiß
wie der Schnee, der Fäden aus ihr wurde silbern,
das Knäuel aber ward von so prächtigem Silber,
wie ich es noch nie gesehen hatte.
Ich spann.
9
Plötzlich erschien eine Jüdin und schüttete mir in
den Schoß viele, viele Semmeln!
Das träumte mir.
Und jetzt passet auf. In derselben Nacht, von
Freitag auf Samstag, träumte Jurij bei Herrn Kuba
in der Stadt, daß ich zu ihm gekommen wär’ und
ihm eine Semmel gegeben hätte. Ja, und eine hätt’
ich mir behalten. Nun – glaubt ihr das oder nicht?
Daraufhin … bemächtigte sich seiner ein starker
Wunsch, um mich zu gehen, mich vom Gawrissan
abzuholen … und … mich zur Frau zu nehmen.
So hatten es ihm die Sudjilnetzi angethan.
Der Herr Kuba hatte ihm von mir schon lange
vorher erzählt.
Er sagte ihm: „Wenn du Paraska zur Fran
nehmen wirst, so werde ich dich bis an dein Lebensende
bei mir behalten. Das Mädchen ist wie der
Blitz; und es wird euch beiden bei mir gut ergehen.“
94 2
Ein andermal drillte er ihm wieder den Kopf:
„Nimm die Paraska zur Frau“ – sagt’ er
„sonst schnappt sie dir jemand anderer wie ein Raubvogel
eine Henne vor der Nase weg.“
Und er machte sich auf den Weg.
Er nahm mit sich auch einen Kameraden, der
schon vorher einmal beim Gawrissan gewesen war
und mich gut kannte.
So kamen sie beide zu uns nach Briasa zum
Gawrissan.
Ich befand mich in dieser Zeit in einer Hütte
auf dem Berge und war mit einer Arbeit beschäftigt.
Sein Kamerad kam (er selber – der Jurij
blieb im Dorfe nuten beim Gawrissan zurück), blieb
am Fuße des Berges stehen und rief mit weithin
tönender Stimme: „Paraska he–j!’, daß das Echo
wach wurde.
„Hej!’ rief ich zurück.
„Komm herab!
„Was wollt ihr von mir?“
„Gieb mir Feuer zur Pfeife!“
„Und wo ist ener Feuerstein?“
„Ich verlor ihn.“
+ 95 2–
„Und meiner fiel ins Wasser!“
Er fluchte dort unten, und ich lachte auf.
„Kommst du nicht?“
„Ihr wollt ja Fener
„Das wirst du mir schon zu Hause reichen.
Deinetwegen ist Jurij gekommen. Komm’ nur schneller
hinab, du Hexe!“
Die Zunge mög’ es dir verhexen für deine Nachricht,
dacht’ ich mir, und damit benahm mir etwas
den Verstand. Nun war er gekommen … was
sollte daraus werden?
Und ich weiß selber nicht, wie ich vom Berge
herabgelaufen bin. Ich weiß nur so viel, daß ich
meine Pfeife, die mir Herr Kuba selber geschenkt,
verloren – und daß mich irgend etwas völlig verwirrt
gemacht hatte. … Und geschämt habe ich
mich – aj Gott! Nun, aber es mußte hineingegangen
werden. Ich trat ins Haus und … da
saß er, wo sich die Bänke vereinigten!
Ihr müßt nämlich wissen, daß, wenn ein Bursche
ein Mädchen auf alle Fälle zur Frau bekommen will,
er sich bestreben muß, vor allen anderen auf der
Stelle zu sitzen, wo sich die Bänke – wie sie an
96
den Wänden stehen – zusammenfügen. Dann bekommt
er das Mädchen bestimmt zur Frau. Damals bin
ich im Hause herumgegangen, als watete ich in der
Erde bis zu den Knieen.
Ich sah nicht, wie er aussah. Ob er jung war
oder alt. Ob sein Gesicht schön war oder nicht.
Mich hatte etwas gleichsam mit Blindheit geschlagen!
– wunderlich war mir zu Mute … schier
todesartig!
Und er verzehrte mich mit den Augen.
Dann bestand er darauf, daß ich mit ihm gehe.
Daß ich auf alle Fälle und unter allen Umständen
mit ihm gehe. Sprach schon auch mit Gawrissan
davon und mit der Gawrissanin; schon heulte auch
der Schafhirt, mit dem ich mich geprügelt, in den
Stallungen nach mir … schon hatte er allen selbst
mitgeteilt, daß er meinetwegen gekommen, und wartete
nur noch, daß ich mich auf den Weg mache.
Und ich ging – glaubt ihr es oder nicht?
Woraufhin gehst du eigentlich?“ fragte die Gawrissanin.
„Auf
Gottes Güte“ – sagt’ ich.
„Nein, die wandelt unter den Menschen herum
2 97 2
wie die Unruhe!“ brummte Gawrissan, dem es nicht
recht war, daß ich ihn verließ.
„Bald ist sie da, bald dort, und nirgends macht
sie den Platz warm.
„Ich werde den Platz warm machen, wo es mir
recht sein wird!’ sagt’ ich. „Wen hat das zu kümmern?“
„Und wenn dich Böses anstatt Gutes trifft?“
„Es wird mir nichts Böses begegnen; ich trage
meinen Kopf nicht in einem Sacke herum, um nicht
zu wissen, was ich thue. Wenn es mir nicht gefallen
wird, werde ich zu euch zurückkehren!“
„Da wäre es schon besser, den Ilija (so hieß der
Schafhirt) zu nehmen. Das ist ein Bursche wie ein
Bär; ist tauglich zu jeder Arbeit, während der …
„Heirate ich ihn denn?“ sagt’ ich ihr. „Ich gehe,
weil … nun, weil es mich zu gehen gelüstet!“
Gawrissan spuckte vor sich hin; „Pfni!“ sagte er,
,das Mädchen ist verrückt geworden. Fürchtest du
dich denn nicht – Mensch?“
„Weswegen? Die Welt gehört Gott und nicht
ihm.“
Und ich empfand keine Furcht.
Warum sollt’ ich nicht gehen? dacht’ ich mir.
7
Kobylanska, Erzählungen.
98 3–
Ich will gehen und etwas sehen. Vielleicht etwas
sehr Schönes – und auch die Stadt. Dort wohnt
Herr Kuba. Vielleicht schenkt er mir eine andere
Pfeife, denn – Tabak schenkt er mir bestimmt!
und bei ihm werde ich nicht bleiben, wenn’s mir
nicht gefällt … Er aber fragte jeden Angenblick:
„Bist du schon fertig, Paraska? Gehen wir doch!“
Ich ließ alle Arbeit liegen …
Und wir gingen. Als wir an dem Berge vorüberschritten,
auf dem die Schafherden Herrn Kubas
und Gawrissans weideten, blies Ilija in die Schalmei.
Was er blies, war schwere Sehnsucht! Ich schritt
auf den Berg hinauf und – werde ihn niemals
vergessen.
Da stand er, der Bär, das Haupt umgeben von
dichtem, schwarzem Haar, und um ihn herum weideten
weiße und schwarze Schafe. Er stand ganz allein
und „weinte in die Schalmei!
Das that er, solange er uns sah; als wir aber
seinen Blicken entschwanden, sandte er uns seine
Stimme zwischen die Felswände nach … „u–ch!“
daß es im Herzen wiederhallte.
Damals sah ich ihn auch zum letzten Male.
58
99 2
„Was bedeutet das?“ fragte Jurij und sah mich
von der Seite an.
Der Schafhirt nimmt Abschied von Paraska,“
sprach der Kamerad; er liebt sie.
„Weshalb nahmst du ihn nicht zum Manne?
wandte er sich dann zu mir, und hinter Jurij tretend,
schnitt er auf diesen ein schiefes Gesicht.
„Fühlt ihr Neid?“ fragte ich.
„Still, Eidechse …
„Ich empfand keinen Wunsch nach ihm …
Und so gingen wir.
Ich schritt hinter den beiden wie ein Blinder
hinter Sehenden. Wir gingen.
. Die beiden
voraus und ich nach.
Ich hörte zu, was sie sprachen; und sie sprachen
rumänisch, damit ich nichts verstehe, allein, ich verstand
alles; ich lernte diese Sprache von Schafhirten, nur
sprechen konnte ich sie noch nicht. Unter anderem
sagte Jurij:
„Führen wir sie über Gipfel und durch Schluchten,
damit sie mir nicht auf und davon gehe!“
Und ich erhob den Kopf und mein Blick überflog
all die grünen Berggipfel. … Dann lachte ich;
100
doch nein – nur mein Herz lachte, laut lachte ich
nicht. Hej, hej, dachte ich bloß … ich bin nicht
blind, und meine Füße treten die Erde erst neunzehn
Jahre. Werd’ ich keine Lust zum Bleiben haben,
find’ ich mich mit geschlossenen Augen zurück! Dann
merkte ich mir genau den Weg, den wir gingen, und
es war ein dunkler, räuberischer Weg.
Abends kamen wir in die Stadt und bei einer
Hütte an. Hier verabschiedete sich der Kamerad von
uns und ging seiner Wege. Jurij öffnete die Thüre.
„Wir gehen also nicht zum Herrn Kuba?“ fragte ich.
„Warum sollen wir zu ihm?“ antwortete er.
„Glaubst du, ich habe dich für ihn gebracht? Ich
weiß, daß er das gewollt, aber ich will es nicht!
Er wird schon eine andere Magd finden; kümmere
dich nicht darum!“
„Was hat mich das zu kümmern?“ sagt’ ich und
dabei dachte ich an die Pfeife. Er hätte mir eine
gegeben!
Dann sprach Jurij: „Jetzt sind wir schon zu
Hause; wirtschafte gesund; koche etwas zum Nachtessen
…, und gab Eier, Milch und Butter heraus.
Du wirst nicht erleben, daß ich dir koche, dacht’
101 2–
ich mir; dann stand ich von der Bank auf, entledigte
mich der schweren Kleidungsstücke und kochte etwas
zum Nachtessen. Beim Nachtessen saßen nur wir
zwei; weiter keine lebende Seele; weder Hund, noch
Katze, noch eine Henne. Die Bissen blieben mir im
Halse stecken … ich erstickte vor Scham.
Ich aß, halb abgewandt von ihm. Beim Nachtessen
erzählte er mir, daß Gott das Paar erdacht
habe.
Ich schwieg. Mochte es auch so sein, was kümmerte
das mich? Dann gingen wir schlafen.
Er sagte, daß er müde sei … . und ich …
nun, was eben wahr ist … aber schwer war diese
Nacht für mich und lang!
Ich träumte von der Gawrissanin. Immerfort
zürnte sie mir und fragte: Weshalb gehst du eigentlich?
Und auch vom Schafhirten träumte ich. Er
stand allein unterm Walde zwischen weißen und schwarzen
Schafen und blies in die Schalmei; und späterhin träumte
ich, daß er sich bemüht habe, mir die Faust zu öffnen
und mich zu Boden drückte. … In der Frühe
stand ich gleichsam als eine andere auf …
In der Frühe kamen sein Bruder, seine Familie
+ 102
und seine Gevattern – eine ganze Gesellschaft – zu
uns. Als sein Bruder mich erblickte, that er für
eine Weile den Mund auf und sprach dann diese
Worte: „Du hast gut dran gethan, Jurij, daß du
dieses Mädchen gebracht hast!“
Alle übrigen bildeten einen Kreis um mich und
beredeten mich, Jurij zu heiraten. Ein Weib, welches
mit Jurij in Freundschaft gelebt, reich gekleidet und
die Brust ausgeschmückt mit silbernen Münzen, mit
Stirnlöckchen und einem schneeweißen, teuren Handtuch
am Kopfe, beredete mich am meisten dazu.
„Nimm den Jurij zum Manne; ich werde mit
dir wie eine Schwester leben.
Und auf alles Zureden sagte ich nur das: „Ohne
Trauung werde ich mit ihm nicht leben. Nur diese
Worte hatte ich gesagt, und Jurij hörte sie. Kaum
hatte er sie aber vernommen, als er auch schon nach
der Mütze griff und zum Popen lief.
Jurij lief zum Popen, und ich ging im Hause
und im Hofe herum und überlegte: Soll ich ihn
heiraten? Oder soll ich fliehen? Gawrissan wird
mich mit Freuden zurücknehmen, denn ich bin seine
rechte Hand … aber dort ist auch der Schafhirt.
103
Der könnte ein häßliches Wort sagen … man
müßte sich schämen … vor Scham in die Erde
versinken … o, besser schon bleiben!
Und warum auch nicht bleiben?
War ich denn aus eigenem Antriebe hieher gekommen?
So hatten es doch die Sudjilnetzi haben
wollen! Außerdem war es ja hier gar nicht schlecht.
Da war ein Haus, Geld, eine Kuh … das war
da … während es ein Mädchenland nirgends gab!
So überlegte ich mir und blieb.
Zur Hochzeit bereitete ich alles schön vor
Fleisch, einen Hammel, Kolatschen und Schnaps, alles,
was nötig war; und ging zur Trauung.
Ich ging zur Trauung, wie bis zu den Knieen
in der Erde. Warum? weiß ich bis heute nicht.
Als wir von der Tranung zurückkehrten, fanden
wir die Töpfe – leer! Die Gesellschaft, die zu Hause
geblieben war, hatte alles aufgegessen; oder vielleicht
hatte sie es gestohlen? … Gott weiß es. Daraufhin
schürzte ich die Armel und bereitete ein zweites
Mittagsmahl, und erst diesmal war alles, wie es sich
gehörte. Ich verlebte mit Jurij siebzehn Jahre. Er
war ein guter Mann und schlug mich niemals. Nur
+ 104 3–
die letzten drei Jahre kam ich mit ihm schwer aus.
Er trank, arbeitete aber nichts. Hatte ich die Arbeit
verrichtet, so war sie verrichtet, und that ich’s nicht,
so blieb alles tot. Dann starb er.
Dieses Häuschen da, in dem ich jetzt lebe, haben
wir uns beide erarbeitet; das andere mußten wir
verkaufen – und es ist gut, daß ich es habe.“
Sie verstummte und klopfte die Asche aus der
Pfeife.
„Und jetzt lebt ihr so einsam und allein, Paraska?“
begann die Frau nach längerem Schweigen.
„Ja,“ entgegnete sie und zuckte gleichgültig mit
den Achseln.
„Und ist euch nicht bange, immer so allein zu
sein?“
„Nein, es ist mir nicht bange. Ich habe zu
thun drinnen … und draußen … ich
rauche, und es ist mir nicht bange.“ Dann wiederholte
sie fast spöttisch: „Wo ist mir denn bange!“
„Und im Winter?“
„Im Winter auch nicht. Ich gehe ums Holz,
spinne und schleuße Federn. Auch habe ich Karten,
aus denen ich mir wahrsage. Ich wahrsage immer am
105 2–
Sonntag=Nachmittag; dies ist der beste Tag; auch
am Abend, wenn ich Zeit habe …
„Wer lehrte euch, aus den Karten wahrsagen?“
„Ich kann es von selbst. Wenn ich allein sitze,
denke ich über Verschiedenes nach. Manches sagen
mir die Träume … manches Gott … manches
errate ich von selbst … und es ist mir wohl
dabei. Wenn nicht das Holz wäre, das mir so
schwer zu erlangen ist, würde ich nicht wissen, was
Not ist. Nur das Holz zu bekommen ist schwer.
Es fällt mir schwer, es zu schleppen.“
Sie hatte etwas am Fuße und hinkte.
„Warum hinkt ihr, Paraska?“ fragte die Frau,
die durch das Erzählen der Huzulin immer neugieriger
geworden war.
Sie zog für einen Augenblick die Stirn in Falten.
„Daran ist dieser Verfluchte schuld,“ sprach sie,
ohne den umdüsterten Blick zu erheben.
„Wer?“
„Der Sohn der alten Malwine und meine
Schwester.“
„Wieso, Paraska?
„So wie ihr’s seht!“
+ 106 2–
„Erzählt doch.“
„‘s ist nicht gut anzuhören.“
Und dann erzählte sie es. Aus ihren jetzigen
knappen Sätzen ergab es sich, daß sie mit diesem
„Sohn der alten Malwine“ gelebt und ihn geliebt
habe, wenngleich das Wort „Liebe“ nicht über ihre
Lippen kam.
Ihre Schwester Thekla wollte den schönen jungen
Rumänen (weiß Gott, wozu sie sich hier unter die
Kleinrussen gemengt!) für sich gewinnen und verschwärzte
sie vor ihm mit allerlei Verdächtigungen.
Sie bestrebte sich, ihm zu gefallen, indem sie ihn so
oft wie möglich ins Wirtshaus lud, ihm Branntwein
kaufte, Geld schenkte, im geheimen seine Wäsche zum
Waschen nahm und ihn manchmal sogar zur Nacht
nicht nach Hause ließ.
Es kam schließlich dazu, daß sich beide besprachen,
Paraska ums Leben zu bringen, um sich dann hier auf
ihrem Hab und Gut breit zu machen! Er war ein
armer Taglöhner, und sie besaß auch kein eigenes
Hans. Sie mietete eine kleine Hütte, lebte wie er
von ihrer Hände Arbeit, und was sie verdiente, ging
auch bald wieder in alle Winde. Er also, der alten
– 107
Malwine Sohn (die alte Malwine war ein braves
Weib, und die Karten, aus denen sie nun wahrsagt, hat
sie von ihr bekommen), besprach sich eines Tages mit
Thekla, sie, Paraska, in den Tod zu schicken.
Er schickte sie in die „Teufelsmühle“, welche bei
den schönen Wiesen, Schandru genannt, lag, damit
sie sich erkundige, an welchen Tagen dort unentgeltlich
gemahlen werde. Dann würde entweder er selber
oder sie mit Mais dahin gehen und solchen mahlen
lassen. Die „Teufelsmühle’ sollte sehr gut mahlen,
und an manchen Tagen würde dort für Arme umsonst
gemahlen. Der Weg zur Mühle war, wie es
hieß, sehr beschwerlich, und der Müller nahm von
ärmlichen Leuten keine Bezahlung an, damit sie nur
kämen und dann auch andere beredeten, hinzugehen.
Von der Stadt lag diese Mühle vier oder vielleicht
auch fünf Stunden entfernt.
Und sie ging. Sie ging, wie er gesagt.
Zuerst auf einem Wege, der sich zwischen schönen
Wiesen und Weideplätzen so fröhlich und grün wie
das Paradies dahinzog. Später auf einem schmaleren und
beschwerlicheren Wege, der sich zwischen zwei Bergreihen
verlief. Hier ging sie lange, ohne eine Hütte
108 3–
oder ein Lebenszeichen von Menschen zu sehen, wie
durch eine Wüste – bis sie endlich, endlich dahin
gekommen, wohin er gewollt!
Sie war endlich aus den Bergreihen heraus,
zwischen denen sie mutterseelenallein geschritten und
keiner menschlichen Seele begegnet war; ja, und als sie
von dort heraus war, trat sie auch gleich in einen
Wald.
Und es war kein solcher Wald, wie er die Magura
oder den Rung bedeckte – fröhlich wie ein
Kind, in den man auch mit geschlossenen Angen hineingehen
konnte –, der war so, als stünde er seit der
Zeit, als noch die Gotteshand die Welt erschaffen.
Er war alt, dicht wie ein Sieb … und finster
ach, du großer Gott! Sein Rauschen überschwemmte
die Luft und war so lant, daß es einen zwang, auf
die Kniee zu fallen und zu beten, damit einen nichts
Böses packe. Und es gab keinen Weg, der durch
diesen Wald führte; nur ein Bach lief geradeaus wie
eine Schnur. Dieser Bach sollte sie bis zur Mühle
führen; in ihm sollte sie gehen.
Sie ging in diesem Wasser.
Aus dem Wasser ragten große Steine, scharf und
109
kantig, und hinderten im Gehen; das Wasser war
reißend, stellenweise vor Bosheit schäumend; seine
Kälte drang bis an das Mark und brach die Füße!
Trat sie jedoch aus demselben auf den Rand des
Waldes, um ein paar Schritte im Trockenen zu thun
und um sich zu erwärmen, mußte sie auch gleich
wieder hinein: Am Waldesrande war die Erde durchfeuchtet,
und es wuchs daselbst so viel Gestrüpp, daß
es auch den menschlichen Verstand überwucherte.
Dabei war es so hoch und üppig, so dicht und kräftig,
und sie war barfuß!.
Da lag zum Beispiel ein Baum – dick wie die
Hälfte ihrer Hütte, gestürzt durch weiß Gott wessen
Hand. Sie wollte über ihn schreiten, er gab unter
ihren Füßen nach, und unter dumpfem Krachen fiel
sie in ihn bis zur Brust hinein! Er war morsch!
Er war uralt, hatte seine Zeit ausgelebt, fiel zur
Erde und moderte langsam unberührt im Staube,
unberührt auch von den Strahlen der Sonne!
Hei, hei, was war das für ein Weg! Und diesen
Weg ging sie – sie mag es gar nicht sagen, wie
lange!
Sie trat aus diesem Walde wie aus einer kalten
110 2–
Nacht heraus und trat zwischen zwei hohe Felswände,
welche gleichsam auf eine Menschenseele harrten, um
sie sogleich zu zermalmen. So dicht standen sie einander
gegenüber.
Sie und vielleicht noch so eine wie sie konnten
da nebeneinander gehen, aber sonst niemand. Und
wie es da kalt war und frostig wehte … und
warum nicht? Das Wasser war kalt, über dem
Wasser herrschte Kühle, die Sonne wagte sich bis
hierher auch nicht herein … und es kam, wie es
kommen mußte.
Und warum kam dieses Unglück?
Und war sie auch irre gegangen? Hatte sie einen
falschen Weg eingeschlagen oder führte sie etwas
Böses?
Er sagte, daß der Weg schlecht sei, sagte aber,
daß er später weit besser werde, sie möge nur tüchtig
vorwärts gehen, und in der Mühle würde sie schon
ausruhen und übernachten.
Sie mußte also gehen. Ein beschwerlicher Weg
war noch kein Unglück; vor einem schlechten Wege
hatte sie auch keine Furcht, nur empfand sie Angst
vor … vor … so etwas, was man nicht sieht
Sie und vielleicht noch so eine wie sie konnten da gehen, aber
sonst niemand. (S. 110.)
111 2
und es fühlt … nach welchem man sich umsieht …
allein, was sollte sie thun? Aber es sollte schon
sein, wie es sein mußte.
Sie wollte schon ans Ziel kommen, hatte keine Ruhe,
um diese Mühle endlich einmal zu erblicken! Es wurde
ihr so seltsam zu Mute, so bange … sie begegnete
niemandem … nicht einmal menschliche Spuren
waren da … aj, gar menschliche Spuren!
Sie wollte rauchen, damit ihr das Herz leichter
würde, denn auch das Herz ward ihr immer schwerer,
als hinge sich etwas Häßliches daran – aber sie
hatte keine Pfeife. Sie war ein paarmal hingefallen und
die Pfeife war ihr aus dem Gürtel herausgeflogen!
Und so ging sie, die Armste.
Vielleicht würde die Sonne endlich doch einmal
hereinleuchten, würde eine wärmere Luft hereinwehen! …
Sie war so erfroren
inmitten des Sommers,
am Tage, war sie bis an die Knochen erfroren. Glaubt ihr das jemand oder nicht? Welch ein Gespenst hatte hier eine Mühle aufgebaut? Welchen Nutzen brachte sie? Und wer würde diesen unmöglichen Weg gehen? Hier konnte man weder mit Pferden noch mit Ochsen, weder mit Wagen noch mit
112
Schlitten durchkommen. Hier war das Ende der
Welt … und ein Paradies für Ranbvögel und
Bären … hier hörte alles auf.
Die Felswände gingen zu Ende.
Sie trat aus ihnen wie aus einem Thore heraus.
Sie trat heraus, blieb stehen und erstarrte.
Was lag vor ihr?
Vor ihr lag wieder Wald. Derselbe Wald, den
sie hinter sich gelassen, dunkel, grenzeulos … kraftvoll
wie für die Ewigkeit … und dabei still
nein, er war verzaubert … denn was war das
für ein Rauschen, welches sich in den Lüften übereinandertürmte?
Sie hatte solch ein starkes Rauschen
nie vernommen, durch wie viele Wälder sie in ihrem
Leben auch geschritten! Es erstickte, goß sich in die
Ohren, brauste, und dabei war es doch so still …
o großer Gott, o Christus! Diese Stille lockte einem
die Seele aus dem Leibe, und man fühlte, wie man
sie verlor. … Und ans dem Walde unweit vor ihr
erhoben sich zwei himmelhohe, spitze Felsen in die
Höhe – der Raryw!![10]
113
Sie stand und starrte vor sich.
Sie sah, daß die Felsen vom Sonnenlicht vergoldet
waren, daß die Sonne im Sinken war …
über dem Walde hing die Nacht; und dann sah sie
wieder den Wald
Ihre Seele verdunkelte und erhellte es plötzlich,
als durchzucke sie der böseste Blitz; dann fuhr es in
sie wie ein Messer, und mit einem Male wußte sie
es: das war die Teufelsmühle! das war ihr
Rauschen, welches so die Luft überschwemmte, während
sie mahlte
Sie wimmerte auf.
Er hatte sie genarrt. Er schickte sie hierher,
damit sie irre gehe, damit sie sich den Kopf zerbreche,
ein wildes Tier sie zerreiße oder damit sie der Böse hole! In ihr brauste der Zorn auf und entfesselte die Seele. Sie verlor auch fast die Besinnung. Wo war er, damit sie ihn totschlüge? gegen diese Felsen dort schleudere, daß er in tausend Stücke zerflöge, und die Raubvögel, die umherkreisten, ihm die Augen herausnähmen? … damit sie ihn mit eigenen Händen totschlüge oder zerdrücke wie eine Schlange – sie 8 Kobylanska, Erzählungen.
– 114 2
schrie auf, sich mit beiden Händen in die Haare
fahrend … Dann rannte sie gegen die erste beste
Tanne und schlug mit dem Kopfe gegen sie …
Sterben sollte sie! Sterben sollte sie gleich, nachdem es
schon dazu gekommen war!
Dann sah sie sich um.
Und sie wußte nicht, ob sich die Welt in ihren
Blicken verdunkelt hatte oder ob die Nacht herabkam.
Es kam die Nacht herab
O Christus!
Und sie verfluchte ihn hier. Und in einer guten
Stunde verfluchte sie ihn; Gott selber oder auch der
Böse legte ihr diesen Fluch auf die Lippen, denn
er ereilte ihn.
Sie preßte die Hände gegen den Kopf, um nicht
den Verstand zu verlieren. Oder – vielleicht hatte
sie ihn schon verloren? Sie wußte und wußte doch
nicht, was mit ihr vorging. Was jetzt beginnen?
Sollte sie hier nächtigen oder weitergehen? Sie
wußte bereits, daß es hier keine Mühle gab, und daß
alles, was sie sah und hörte, die Teufelsmühle sei!
Und nächtigen oder zurückkehren war einerlei. Der
Tod würde sie holen, wenn sie bliebe, und würde sie
115
mitnehmen, wenn sie ginge. Wie war es möglich,
in dieser Hölle zu nächtigen, wo die Teufel bei Tage
mahlten? … Dann stieg ihr plötzlich alles Haar
zu Berge: wenn Mitternacht kommt, wird sie
ohne Licht sterben! … Ach, wie ward ihr so
schwer! In ihrer Brust schien sich alles Blut angesammelt
zu haben vor Weh, Zorn und Angst. Um
sie herum lag schwarze Dämmerung, und etwas senkte
sich wie eine Wolke herab. Aus dem Walde gähnte
Finsternis – der Tod. Aber es sollte nun schon
sein, wie es zu sein hatte. Es war doch immer
besser, umzukehren. Wenn sie zu leben und noch
Tage und Stunden vor sich hatte – würde sie alles
überstehen. Bis hierher hatte sie immer Glück gehabt,
vielleicht würde es sie auch jetzt nicht verlassen. Die
Füße schmerzten sie; sie zitterte vor Kälte und sollte
wieder ins Wasser zurück!
Wenn doch wenigstens der Mond schiene …
aber wird sie zwischen den Felswänden etwas davon
haben?
Als sie wieder aus dem Felsenthor heraus war,
leuchtete auch schon der Mond. Aber nun sollte sie
wieder in den Wald hinein. Es war da bei Tage
8*
116 2
unheimlich zu gehen und gar erst, als die Nacht
herabkam! … Lieber will sie davon nicht reden.
Und wieder watete sie im Wasser. Böse Stellen,
welche sie bei Tage vorsichtig umschritt, waren ihr
jetzt gleichgültig. Sie wußte nur, daß, wenn sie im
Wasser ging, sie nicht fehl ging, und daß es ihr in
der Seele leichter war, wenn sie das Murmeln und
Geplätscher in der schwarzen Stille hörte.
Manchmal stahlen sich die Mondstrahlen durch das
Gezweig, das dicht war wie ein Netz, und spielten
für kurze Augenblicke auf dem Wasser; und das war
das ganze Licht, das sie sah. In solchen Momenten
gewahrte sie, wie sie geradeaus auf den oder jenen
scharfen Stein zuschritt, der, aus dem Wasser herausragend,
tölpelhaft harrte, auf daß sie sich an ihn
stoße; allein, wo dachte sie noch an den Schmerz in
ihren Füßen! Die hatte sie sich schon so wund
gestoßen, daß, wenn es Tag wäre, man vielleicht
sehen könnte, wie ihr Blut das Wasser gefärbt
Dann fiel sie wieder in morsche Bäume bis zur
Brust. Sie hatte sich die Hand zerschunden …
da, da blieb noch ein Zeichen – und als sie sich
aus einem Banme herausarbeitete, da war ihr über
die Hand etwas Feuchtkaltes geglitten, wovor es sie
noch jetzt schüttelt. Nur an eines kann sie sich nicht
entsinnen, sie ging wie ohne Bewußtsein –: ob der
Wald auch bei ihrer Rückkehr gerauscht? Und ob da
so stark wie drüben hinterm Felsenthor? Sie glaubt,
er habe nicht mehr gerauscht … . Und sie hatte
sich ausgerechnet, daß, wenn sie aus diesem schrecklichen
Walde herauskommen würde, gerade auch Mitternacht
sein werde. Dann würde es sich auch entscheiden,
ob sie leben oder sterben würde.
Sie schaute sich nicht um.
Ihr schien’s, als trüge sie etwas Schreckliches,
Schweres auf den Schultern, welches sie jeden Augenblick
zum Lachen kitzeln werde. Vielleicht trug sie auch
etwas? Konute sie es denn wissen? Gott weiß es.
Aus der Tiefe des Waldes drängte sich etwas
gegen den Rand des Baches; durchsichtige, weißliche
Gespenster. Sie schienen sich vom Erdboden zu
erheben und dehnten sich im Gezweige aus. Manche
drängten sich bis an ihre Brust und wollten sie
ersticken, indes, sie hatte es bemerkt, schlug drauf los
mit beiden Fänsten und ihr ward leichter.
Als sie aus dem Walde heraustrat und sich zum
– 118 2–
ersten Male nach seiner Tiefe umschaute, da –
Gott möge jeden davor bewahren! – kitzelte sie
plötzlich etwas so stark, daß sie aus vollem Halse
auflachte … nein, aufschrie. Und Gott gab, daß
sich dieser Aufschrei zuerst im Walde verlor
dann laut und deutlich an ihr Ohr schlng und sie
wieder zur Vernunft brachte. Irgend etwas wollte
ihr den Verstand nehmen: das, was sie auf dem
Rücken getragen, und was sie gekitzelt. Glaubt ihr
das jemand oder nicht?
Nun aber begann sie auch zu laufen!
Sie lief, lief den ganzen düsteren Weg, wie er
sich zwischen den zwei Bergreihen zog, bis sie zwischen
die schönen Wiesen und Weideplätze kam. Hier
standen hie und da Hirtenhütten, bei denen das Vieh,
in kleine Herden zusammengedrängt, nächtigte, und
erst hier ward ihr leichter. Hier leuchtete der Mond
ganz taghell, und hier erblickte sie die Welt.
Sie sah die Berge, wie sie sie noch zu Mittag
geschaut, den Himmel, mit den heiligen Sternen
besät, und einmal bellte auch irgend ein Hund, der
beim Vieh wachte, und das beruhigte sie wie eine
menschliche Stimme.
119
Überall lag Stille … das schreckliche Rauschen
verlor sich, und man sah und fühlte: hier herrschte
die Gotteskraft
Aber von jetzt an vermochte sie nicht mehr zu
laufen. Aus ihren Füßen schwand die Kraft, als
hätte sie sich irgendwo verloren, und sie schleppte sich
nur noch vorwärts.
Nächtigen wollte sie nirgends. Wie sollte sie
dann auch in der Frühe durch die Straßen und an
den Wohnungen bekannter Wirtinnen vorbeigehen?
Was sollte sie von den blutenden Füßen, von den
zerfetzten, kotbespritzten Kleidern erzählen, und daß sie
wie ein Mädchen, ohne Tuch am Kopfe, heimkehre?
Und ihr schönes, rotes Tuch! …. ach, ach, wo
blieb das nur! Vielleicht war es gut in Teufelshänden
aufgehoben
Und sie schleppte sich langsam, langsam, wie eine
Blinde oder wie eine Zerschlagene oder wie das
Alter selber – bis sie sich endlich an ihre Hütte
herangeschleppt. Als sie an das Thor heranhinkte,
bemerkte sie in den Fenstern Licht. Er war zu
Hause. Sie trat an das Fenster und blickte hinein …
und sah: auf ihrem Bette lag ansgestreckt ihre Schwester,
120
mit verworrenem Haare … häßlich, häßlich, und
schlief. Unweit von ihr, beim Ofen … saß er
und nähte etwas
Sie begann plötzlich zu zittern. Die Füße
schwankten unter ihr, und aus ihrem Herzen stieg
ihr etwas Schreckliches geradeaus in den Kopf. Es
überkam sie die Lust, das Haus anzuzünden oder irgend
etwas anzustellen, um ihn und sie aus der Welt zu
schaffen … aber dann schwand diese Lust, wie von
jemandes Hand abgewendet; sie fühlte keinen Schmerz
und kein Weh mehr. Ihr ward alles gleichgültig.
Sie war nur ermattet, entkräftet, sie fühlte Schmerz
im ganzen Körper, und in den Füßen stach es wie
Schlangenbisse – sie brach fast zusammen.
Im Kopfe sanste es ihr … das böse Waldranschen
hatte sich in ihrem Kopfe verfangen, und dazwischen
summte es wie Bienenstimmen. Dann schleppte sie sich
in den kleinen Schuppen, der, an das Haus angebaut,
von einem alten Weichselbaum beschattet war, warf
die Pelze von sich ab … warf sich auf dieselben,
bekrenzte sich – und schlief ein. Als sie am nächsten
Morgen erwacht und aufgestanden war, fand sie das
Haus leer. Weder er noch sie war anwesend.
121 2–
Und sie schlief noch einen ganzen Tag und eine
ganze Nacht, und als sie am nächst=nächsten Morgen
aufstand, war sie fröhlich und kräftig wie damals,
als sie sich auf den Weg in den Tod machte.“
„Und als er kam, Paraska?“ fragte die Fran.
„Als er kam,“ erzählte sie, „da fütterte sie
gerade ihre Hühner. Als er sie erblickte, spie er aus.
„Nun, fragte er, „warst du in der Teufelsmühle;
wann wird man mahlen?“
„Deine Sünden mögen dich zermahlen, sagte sie
ihm, mehr nichts.
Und sie sprach zu ihm während fünf Tage kein
Wort.
Sie hieß ihn nicht bleiben und hieß ihn nicht
fortgehen. Sie kochte ihm kein Essen, zündete kein
Licht an, wenn er des Abends von der Arbeit kam,
und als er am Sonntag klagte, daß er keine reine
Wäsche habe, sagte sie bloß: „Ich bin nicht mehr da.“
„Und Thekla?“
„Als Thekla bei ihr erschien, fühlte sie Schmerz,
als ob hundert Schlangenzungen sie gestochen hätten.
Sie sprang auf und griff nach der Axt. „Wirst du
aus meinem Hause gehen, Hündin?“ schrie sie auf.
– 122
„Ei, schaut doch! Bist du verrückt?“ rief diese
zurück und starrie sie mit ihren Zwiebelaugen an … Wirst du gehen? Wirst du gehen?“ schrie sie immerfort dasselbe; „gleich giebt’s deinen und meinen Tod. Und schon hob ihr etwas die Hand, um ihr die Axt in den Kopf zu tauchen, aber Gott gab, daß sie gegangen war, und die Sünde wandte sich von ihr ab. Sie warf die Axt unter den Ofen und wischte sich den Schweiß von der Stirne ab … ach Gott! Am fünsten Tage ging sie in die Stadt. Er holte sie ein. „Gieb mir zwei Gulden, sagte er ihr. „Ich gebe sie nicht.“ Wirklich? höhnte er sie. Sie schwieg. „Du giebst sie nicht?“ Ich gebe sie nicht. Er spie vor sich und schob sich den Hut zur Seite. „Du giebst sie nicht?“ Ich gebe sie nicht.“ Da versetzte er ihr einen Schlag ins Gesicht. „Da hast es!“
+ 123 2–
Die Welt drehte sich mit ihr im Kreise, verfinsterte,
verdunkelte sich. Funken tanzten vor ihren
Augen auf und ab … und sie fiel nieder. Daraufhin
ergriff er sie beim Fuße, warf sie über den
Rücken wie einen Sack und trug sie nach Hause.
Hier schlenderte er sie unterm Hause auf die
Lehmbank. „Stirb!
Als sie zu sich gekommen war und aufstehen
wollte, konnte sie es nicht. Der Fuß war aufgeschwollen
und schmerzte sie. Wer einen solchen
Schmerz nicht kennt, der möge ihn auch nicht kennen
lernen.
Und sie verfluchte ihn zum zweiten Male.
Und in einer guten Stunde verfluchte sie ihn;
Gott selber oder auch der Böse legten ihr diesen
Fluch auf die Lippen, denn er ereilte ihn.
Nach einer Woche kehrte er zurück.
Woher? Sie wußte es nicht. Sie fragte nicht.
Schon hatte sie für ihn das Herz verloren und
wartete nur noch, damit der Fluch in Erfüllung gehe.
„Gnten Abend, sprach er.
„Guten Abend.
Und das war auch das Ganze. Sie ging im
– 124 2–
Hause herum … nein, schon hinkte sie und stützte
sich auf den Stock, suchte sich Beschäftigung, und zu
ihm sprach sie kein Wort, als hätte sie den Mund
voll Wasser.
Ich möchte etwas essen, Paraska!“ sagte er und
warf sich ermüdet aufs Bett.
Iß, was du gekocht hast!“ antwortete sie ihm.
Er aber lag da … lag eine zeitlang …
und dann begann er zu weinen, gerade wie ein
angeschossener Wolf, so heulte er.
Sie sagte nichts. Weine nur, dachte sie sich,
solange bis du die Hölle unter dir ansgelöscht hast;
ich habe für dich kein Herz mehr!
Die ganze Nacht weinte er.
Auch am nächsten Tage weinte er. Er ging
herum, suchte seine Wäsche zusammen, spaltete ihr
Holz und weinte dabei immerfort. Dann endigte
der Tag. Abends sprach er: „Paraska, ich gehe in
die Badestadt Dorna=Watra auf Arbeit in eine Brettsäge.
Lebe wohl!“
Gehet gesund!“ hatte sie ihm darauf erwidert.
Gott helfe euch!“
Er ging und kehrte bis zur Stunde nicht mehr zurück.“
125 3–
„Was geschah denn mit ihm, Paraska?“
„Ei was!“ antwortete sie. „Er ging gar nicht
nach Dorna=Watra. Er bestahl hier einen Inden,
denselben, zu dem er immer mit Thekla auf Branntwein
gegangen, und entfloh dann nach Rumänien.
Während der Flucht brach er sich eine Hand und
verlor alles Geld. „So hat es dir Gott gegeben,
sagte ich, als ich dies vernommen. „Du brachst mir
den Fuß, und Gott brach dir die Hand.“ Die alte
Malwine, seine Mutter, weinte und erzählte, daß er
für immer zum Krüppel geworden sei und betteln
gehe. Nun, aber so hat er’s selber gewollt.“
„Ach, Paraska, ihr wußtet nicht einmal, wen
ihr im Hause gehalten!“ sprach die Frau. „Er hätte
euch noch ermorden können!“
Sie schüttelte mit dem Kopfe und lächelte:
„Was hätte er auch von mir genommen? Ich bin
arm, und meinen Körper hätte er nicht für Geld
umgetauscht. Übrigens … ehe er mich erschlagen
hätte, hätte ich ihn erdrosselt. Ich fürchte mich nicht!“
„Ihr fürchtet euch nicht … und doch! Er
hat euch genarrt und verletzte euch den Fuß für
immer!“
126 3–
„Nun,“ meinte sie und zuckte mit den Achseln,
„so haben es auch vielleicht die Sudjilnetzi gewollt.
Dafür strafte ihn auch Gott. Weil das eine ist,
muß auch das andere sein.“
„Und wie ward es mit Thekla? Habt ihr euch
mit ihr nicht ausgesöhnt?“
Sie spie vor sich und begann von neuem ihre
Pfeife zu stopfen.
„Was hätt’ ich denn auch mit ihr sonst thun
sollen? Sie näherte sich mir wieder … und so
mochte ich ihr schon die Thüre vor der Nase nicht zuschlagen.
Eine Schwester … mag sie nun einmal
gut oder böse sein : … ist immer eine Schwester.
Ich lebe mit ihr der Leute wegen. Die Leute sollten
sich den Mund nicht mit unnützen Worten vollstopfen,
aber ein Herz habe ich für sie nicht mehr. In einer
Woche darauf, als ich sie totschlagen wollte, nahm
sie ein blindes Kind, ein dreijähriges Mädchen, zu
sich als eigen auf. Es war gewiß, das Gewissen
ließ sie meinetwegen nicht in Ruhe oder vielleicht
gab ihr Gott den Traum, die Waise zu sich zu
nehmen. Und sie that gut daran, dem Willen Gottes
zu folgen, denn vielleicht wird ihr dafür in jener
127
anderen Welt was Gutes zu teil. Und das arme
blinde Eugelchen … das lächelt so lieb zu ihr …
starrt mit den lichtlosen Augen nach ihr … thut,
als spinne es immerfort mit ihr zusammen. O, du
teure Duschinka’)! Vielleicht erspinnst du ihr noch
den Eintritt in das Himmelreich!“
„Und dann, Paraska … dann bliebt ihr allein …
nicht wahr?
„Nun ja, … ich lebte fast allein,“ erwiderte
sie etwas zaghaft. „Eines Tages nahm ich noch
einen Meister bei mir auf … auch wieder einen
Rumänen. Er war weder alt noch jung und ein Witwer.
Ich dachte: Wird er mir gut sein, wird es auch ihm
gut gehen; wird er aber irgend ein Übel auf den
Mund küssen, so wird sich für ihn auch eine Thür
im Hause finden.“
„Wie könnt ihr nur so gleich den ersten besten Mann
ins Haus nehmen?“ fragte die Fran vorwurfsvoll.
„Habt ihr denn keine Furcht? So ein alleinstehendes
Weib wie ihr
und noch dazu nicht mehr so
stark!“ Ihre Angen leuchteten auf, und ein fröhliches
)Seelchen, Herzchen.
128 2–
Lächeln überflog ihr Gesicht. „Aj, aj, ein alleinstehendes
Weib! Bin ich denn zuzweit zur Welt
gekommen, um mich allein zu fürchten?“ antwortete
sie. „Wer war mit mir, als ich mit Jurij ging?
Kannte ich ihn? Er kam und ich ging. Und damals
wußte ich nicht einmal, ob es mir bei ihm gefallen
würde, und doch ging ich. Ich hatte Glück gehabt.
Ich fürchte mich niemals. So gab es mir Gott,
daß ich mich niemals fürchte. Immmer denke ich
mir: was zu sein hat, wird auch so sein.“
„Nun, und wie wurde es mit dem Meister?“
„Nichts wurde es. Eine zeitlang ging es gut.
In der Frühe ging er auf Arbeit und abends
kehrte er heim. Abends spaltete er mir Holz, half
bei der Arbeit drinnen und draußen, und es ging
alles gut. Ich dachte: nun werd’ ich jemanden
haben, dem ich mein Haus verschreiben kann, wenn
ich sterbe! Allein, es wandte sich zum Bösen. Er
fing an, betrunken nach Hause zu kommen. Das
eine Mal, das zweite, das dritte Mal; das war
schlecht. In der Nacht schlief er nicht, sondern warf
sich unruhig hin und her und sprach sinnloses Zeug
durcheinander, daß einem angst und bauge wurde.
– 129
Er stand auf und schrie, manchmal wachend, manchmal
im Schlafe; legte sich wieder nieder … stand
wieder auf … ach Gott!
Er lag im Bette, und ich lag bei der Thüre
auf der Bank. Lag zusammengekauert und schlief
ganze Nächte nicht. Und Gott gab mir immerfort
diesen Traum: er wird dich noch ermorden! Was
war da zu thun?
Und ich dachte mir: ein Unglück hat mich aufgefunden
und macht sich bei mir breit; mög’ es doch ersticken!
Ich grämte mich, schlief nicht, er aber trieb
immerfort sein Unwesen. Und es war nicht genug
daran; nein; er … begann mir den Kopf mit
Dummheiten zu drillen. Darauf ward ich wild, wie
er mich niemals gesehen – sagte ihm, aus welchem
Stamme ich sei, und warf ihn aus dem Hause hinaus.
Er kam dann noch während einer ganzen
Woche jeden Abend und versuchte hereinzudringen;
pochte und hämmerte an der Thüre – aber ich gab
keine Antwort. Mög’ es dir im Kopfe herumpochen!
dacht’ ich mir und rührte mich nicht vom Ofen.
Was hab’ ich für eine Ursache, dich im Hause zu
halten, wenn du mir nicht gefällst? Giebt es denn
9
Kobylanska, Erzählungen.
130 3–
keine anderen Meuschen auf der Welt? Ich kann
mein Leben auch allein leben, und wenn ich das
nicht will, so habe ich keine Furcht, daß ich nicht
jemanden finde. Ich finde schon, wen ich will.
Er scherte sich dann fort. Er begegnet mir
manchmal, bald da, bald dort, traktiert mich mit
Tabak und sagt mir jedesmal: Liebes Frauchen –
sagt er mir – mir thut das Herz um euch sehr weh!
Und ich antworte ihm: Guter Meister – euch
thut das Herz um mich weh – mir aber thut das
Herz um euch nicht weh!
Und so ist es. Jetzt bin ich wieder allein. Ich
lebe, wie es sich trifft. Einmal gut, das andere
Mal schlecht; wie es schon die Zeit mit sich bringt.
Etwas Ausgewähltes giebt es nicht. Und wie
es auch sein mag – aber Glück hab’ ich immer.
Auch Tabak habe ich immer. Mag es ein, zwei
Kreuzer sein – aber ich habe sie.“
„Das ist mir aber auch ein großes Glück!“
warf die Frau mit unverhohlenem Spotte in der
Stimme ein.
Doch jene sah die Sprechende mit ihren klugen
Angen an.
131 3–
„Was für eines einem eben zufällt!“ sagte sie.
„Trauern? Ich traure nicht, weil Gott mir um
nichts zu trauern gegeben; ich würde das auch gar
nicht treffen. Ich thue, was mir einfällt.
Essen habe ich, froh bin ich auch – gut ist mir …
und vielleicht wird’s auch noch einmal besser! Ein
altes, altes Väterchen … ein schneeweißer Mann,
sagte mir, daß ich ein großes Glück bei mir habe.
Noch als Jurij lebte!
Eines Tages sammelten wir Weichseln.
An einem Samstag. Ich war oben auf dem
Baume und Jurij auf der Erde. Er sammelte,
was zur Erde fiel. Da kam ein altes Väterchen
und bat um eine milde Gabe. „Trage ihm eine
Schüssel voll Mehl heraus!“ gebot Jurij. Ich war
mit einem Satze unten und trug ihm das Mehl heraus.
„Nun, sprach er, „wenn du schon so barmherzig
bist, daß du es mir schenkst – so trage es auch
nach meinem Hause. Mein Haus liegt nicht weit
von hier. Dafür will ich dir aus meinem Schicksalsbuche
dein Schicksal herauslesen!“
Ich trug ihm die Gabe in seine Hütte, und er
zog aus einer Kiste ein dickes Buch und las mir
9*
– 132
daraus. Las alles heraus, was bis dazumal war
und was noch zu sein hatte. Er las heraus, daß
ich nicht von hier sei, daß Inrij mir zum Manne
bestimmt, daß ich ein Unglück mit meinem Fuße
haben würde und noch vieles, vieles andere. „Du
hast ein solches Glück“ – sagte er – „welches dich
nie verlassen kann; und so steht es dir bis an deinen
Tod bevor: Glück, Heiterkeit, Frende. Die Trauer
fehlt in deinem Leben. Lebe dein Leben gesund bis
an die letzte Stunde.“
Darum sag’ ich, daß ich Glück habe!“
Nach leichtem Sinnen sprach sie:
„Wenn ich auf einen Menschen treffe, der gut
sein wird und dem ich mein Haus hinterlassen kann,
wenn mich der Tod holt … so werde ich ihn zu
mir nehmen. Und wenn sich kein solcher trifft, bleibt
es, wie es ist.“
„Nehmt eure Schwester zu euch.“
„Meine Schwester? Aj Gott! Da würde ich
erst recht ohne Licht sterben. Nein; zu ihr zieht es
mich nicht hin. Ich werde allein bleiben. Das
Sonnenlicht wird mein Haus nicht meiden!“
- 133
Und sie ist auch bis nun allein.
Sie wirtschaftet, macht sich in ihrem Hause und
Garten zu schaffen, und ihr „Vieh“, der Hund, die
Katze, die Hühner und zwei schöne, reingehaltene
Ferkel, die Iwan und Paraska heißen, folgen ihr
auf Schritt und Tritt. Manchmal geht sie auf Heuarbeit
zu gut bekannten Bauern, und diese Arbeit,
die ihr die liebste ist, bringt sie in die beste Laune.
Sonntags kleidet sie sich kokett und geht in die
Kirche; nachmittags bekommt sie Besuch, und wenn
das nicht, dann lehnt sie sich bequem auf die Prispa! [11]
am Hause, in ihrer gewöhnlichen Gesellschaft, und raucht
ihre Pfeife.
Im Vorbeigehen rufen ihr bekannte Bäuerinnen zu:
„Kommt in die Stadt, Paraska!“
„Ich habe meinen Geldbeutel verloren und hab“
kein Geld, Branntwein zu kanfen!“ giebt sie scherzend
zur Antwort.
„Kommt nur so zum Vergnügen, irgend etwas
Schönes anzusehen!“
„Ich fürchte, daß mich jemand mit bösen Augen
+ 134
besieht! ich habe Kinder: und damit streichelt sie dasjenige, was ihr am nächsten liegt; die Katze, den Hund oder eines der Hühner. Und die Bäuerinnen gehen beleidigt von dannen. „Wie stolz Paraska thut!“ Aber trotzdem sind sie ihr gut. „Sie ist eine gute Nachbarin; kennt verschiedene Kränter und hat auch eine geschickte Hand. Giebt sie etwas – gerät ihr alles.“ Eines Morgens stieg sie auf die Magura um Himbeeren und erstieg nach und nach den Gipfel. Als sie die Kanne voll hatte, wandte sie sich gegen die südliche Seite, von der abzusteigen leichter war. Da zog sich der Wald nur streifenweise, breiteten sich schöne, grasreiche Wiesen aus, und die Magura fiel sanft ab. Sie befand sich gerade auf der höchsten Wiese und setzte sich nieder, um auszuruhen. Sie war sehr befriedigt. Für die Himbeeren bekommt sie Geld und wird sich dafür etwas anschaffen. Was? weiß sie noch nicht, aber irgend etwas wird sie sich kanfen. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirne. Das Tuch, welches um den Kopf gebunden war, fiel
135
frei über den Hals auf den Rücken und machte ihr
heiß. Dann zog sie ihre Pfeife hervor, stopfte sie
mit Tabak und rauchte.
Rings um sie war es grün.
Weit und breit sah man nur die Gipfel anderer
Berge – denn die Magura war hoch – und den
Himmel, der rein und blau und so licht war, daß
die Lider sich unwillkürlich über die Augen senkten.
Hoch über alle anderen Gipfel ragte der Felsen
Raryw.
Ihn umgaben unbegrenzte dunkle Waldungen, über
denen fast immer bläuliche Nebel wie über sumpfigen
Gegenden lagerten. Aus diesem Walde, nahe den
stolzen Felsen, ragten zwei gleiche, einander gegenüberstehende
Felswände wie ein Spalier, das gleichsam
den weiteren Weg zu den Steinriesen wies.
Dort war die „Teufelsmühle“
Und sie blickte lange dahin.
Sie spie von sich. Sie war ja doch dort gewesen!
Verlor dort ihr wunderschönes hellrotes Tuch und
eine funkelnagelneue Pfeife! Hui, welch eine Pfeife!
Nur Herr Kuba kaufte solche Pfeifen. Dann lachte
ihr Herz. Welch einen Schrecken stand sie in jener
136 3–
häßlichen Mühle aus: fast hätte sie ihren Verstand
dort gelassen! Nun … aber sie hatte Glück und
alles nahm ein gutes Ende; hätte das aber jemand
anderen getroffen … ach Gott! Der bliebe bis
heute dort … So saß und sann sie über Verschiedenes
nach; erinnerte sich an dieses und jenes, und
als sie ihre Pfeife zu Ende geraucht, dachte sie an
die Heimkehr.
Morgen ist Sonntag, und sie will auf den Rung
um Schwämme gehen. Er liefert jahraus jahrein
die prächtigsten Schwämme; sie will sich von ihnen
ein paar Kränze trocknen, welche ihr einmal, wenn
der Winter mit seinem Schnee kommt, gut zu statten
kommen werden. Allein, zu Hause gab es Arbeit,
welche für heute und morgen gemacht werden mußte.
Auch mußte sie noch mit den Zigennern zusammentreffen.
Der alte Zigenner bat sie, ihm ein paar
Sechser zu leihen, wofür er ihr demnächst Holz aus
dem Walde zu bringen sich verpflichtete. Wenn er
überhaupt die Wahrheit sprach! Er log ja fast mit
jedem Worte! Sie wollte ihm aber das Verlangte
bei der Rückkehr geben; wollte schon auch heimkehren;
die Zigenner würden nach ihr ausschanen. Sie wissen,
- 137 3–
von welcher Seite sie auf die Magura um die Himbeeren
gestiegen ist und von welcher sie herabsteigen
muß. Sie kannten sich hier aus wie die hungrigen
Raubvögel!
Sie ist jedoch so müde und hat keine Lust, sich
von der Stelle zu rühren. Wenn sie die Arbeit
heute nicht verrichtet, kann sie morgen nicht um
Schwämme gehen; aber … schlug denn schon ihre
letzte Stunde? Und wenn es morgen schon mit dem
Morgengrauen zu regnen anfinge? Und wenn es
heuer überhaupt keine Schwämme gäbe? So ersann
sie sich Entschuldigungen, narrte sich selber, um nur
länger sitzen zu können.
Und es saß sich gut da.
Dann entdeckte sie weit von sich auf einer Wiese
eine Koliba[12]
und daneben weidendes Vieh.
War jemand in der Koliba? Oder stand sie
leer? Es überkam sie eine lebhafte Lust, eine jugendliche
Neugier, irgend etwas zu erfahren, hier in der
Einsamkeit eine menschliche Stimme zu vernehmen.
Sie rief aus voller Brust und mit ihrer hellen,
138
volltönenden Stimme: „Hej, hej!“ Aus der Koliba
trat ein Mann heraus und sah sich um.
Hatte er sie entdeckt?
Sie wußte es nicht. Aber dafür drang bis zu
ihr ein langes, sehnsuchtsvolles „hei! hej!“, welches
sie an etwas aus längst vergangener Zeit erinnerte;
aus längst vergangener Zeit, – als sie noch beim
Gawrissan diente
Ein undentliches Gefühl eines erlebten Glückes
übermannte sie für einen Moment und ging dann,
ohne daß sie sich dessen bewußt wurde, in den Gedanken
über: „Gut war Gawrissan!“
Dann streckte sie sich, ohne sich zu besinnen, ins
Gras.
Sie möchte ein wenig schlummern. Sie stand
so früh auf … und jetzt ging es gegen Mittag.
Sie bleibt den Mittag über da; was hat sie auch
für eine Ursache, nach Hause zu eilen? Was sie thut
oder auch nicht thut, geschieht doch nur für sie allein
und nicht für jemand anderen! Und wenn sie zu
lange ausbleibt, werden sie die Zigenner schon suchen
und aufwecken. Der Zigenner wird das Geld nicht
lassen … Daß ihn doch! … Aber sie hat sie
- 139
alle lieb. Mag man sie wann immer anreden
stets sind sie heiter und zufrieden; und ihre Scherze,
die sind echt zigennerhaft, daß man sich die Seiten
halten muß.
Sie streckte sich am Rande des Waldes und halb
im Schatten aus.
Die Kanne mit Himbeeren schob sie etwas von
sich und die Faust unter den Kopf schiebend, schloß
sie die Augen.
Neben und über ihr tanzten in der Luft und
über den Blumen, die in überreicher Fülle zwischen
dem Grase wuchsen, zahllose Mücken und summten
in zarter Harmonie. Unweit von ihren Füßen
wimmelten im großen rötlichen Ameisenhaufen die
Ameisen, und dort weiter, vielleicht drei Schritte von
ihrem Kopfe, sonnte sich auf einem Riesensteine, den
der Berg ans sich herausgeworfen zu haben schien, eine
zusammengerollte Schlange. Im glühenden Sonnenlicht
lag sie da mit halb geschlossenen Augen.
Weit und breit herrschte die Mittagsstille …
In ihr versanken alle Laute wie in einem unsichtbaren
Meere, und das Rauschen des alten Waldes,
in dem sich Rung mit Magura vereinigte, wogte in
– 140
üppigen Wellen in der Luft auf und nieder. Die
Stille nahm es gierig in sich auf und belebte sich
damit
Hier war gut zu liegen.
Weiß Gott, weshalb so gut! Vor ihren geschlossenen
Augen wechselten allerlei Farben. Gelbliche, rötliche
… und so sonderbare! … erstanden und
zogen vorbei, Bilder, unbestimmte und abgerissene Gedanken Ein Gedanke kehrte immer von neuem zurück: „Ich nehme ihn doch!“ Er bezog sich auf das, was sie in letzter Zeit überaus lebhaft beschäftigt hatte; auf den Meister, den sie aus dem Hause gejagt. Er kroch alle Angenblicke zur alten Malwine, drillte ihr den Kopf, damit sie sie, Paraska, berede, ihn wieder zu sich ins Haus zu nehmen. Er könne ohne sie nicht leben, sagte er. Sie hätte ihm irgend etwas angethan, mit guten oder mit bösen Kräften, und nun ziehe es ihn immerfort zu ihr. Es möge kommen, was da wolle, aber trinken werde er nicht mehr; nur möge sie ihn anfnehmen! Und die alte Malwine hatte ihr das alles erzählt
– 141 2–
und sie tüchtig beredet, ihn aufzunehmen. Allein –
sie wollte davon gar nichts hören. Litt sie Not
ohne ihn? Höchstens, daß ihr der Gang ums Holz
schwer ist. Aber er bat immerfort.
Neulich kehrte sie von der Stadt zurück, in die
sie um „Körner“ für ihre Hühner gegangen, und
sah: vor dem Hause lag ein Haufen gespaltenen
Holzes! – und sie hat es auch gleich weggehabt,
daß er es gethan
In ein paar Tagen daranf kehrte sie von einer
Arbeit heim, und was sah sie? Auf der Bank unterm
Haus lag sein Pelz und standen – wie ein paar
Kinder – seine neuen Stiefel.
Was hätte sie thun sollen? Sie übers Thor
hinauswerfen? Da hätte sie einfach jemand gestohlen.
Es wäre zu gut, wenn er nicht mehr trinken
würde; aufrichtig gesagt, ist er gar ein guter Mann.
Die Hand hat er niemals an sie gelegt, und auch
zur Arbeit ist er wie geschaffen. Er hatte schöne
Kleider, zwei Pelze und mehrere Hemden
Nimm ihn! vielleicht ändert er sich zum Guten!
riet ihr immerfort der Traum; es wird leichter zu
leben sein. Der Zaun steht nicht allein, sondern
142 2–
muß gestützt werden, und mit einem Pflocke wird
er nicht gestützt. – So wimmelte es ihr im Kopfe.
Und sie wird ihn noch einmal aufnehmen; wird
noch einmal versuchen, mit ihm zu leben. Da er
es so heftig wünscht … wer weiß. vielleicht
wird es noch gut sein. Manchmal glaubt der Mensch,
irgend etwas sei schlecht, indessen ist es doch gut.
Und – was wahr ist: nicht sie bittet bei ihm
um Aufnahme, sondern er bei ihr. Und wenn er
wieder einen Sturm im Hause aufführt, wird sie sich
Rat schaffen. Ihre Fäuste sind noch gesund, noch
wird sie es vermögen, einen Betrunkenen zu Boden
zu werfen. Aber wenn sie ihn einmal zu Boden
geschleudert, dann … nun, er wird sich diesen Tag
schon merken! … Sie ist gut, solange sie gut ist,
aber wenn sie böse ist – will sie – aj Gott! …
Ein breiter Streifen des Sonnenlichts drang bis zu ihr und spielte auf ihrem Gesicht. Sie lag im Halbschlummer. Ihr war, als hörte sie ein entferntes, wunderliches Länten, wie das Länten von Glöckchen an den
143 2–
Hälsen alter Schafe und Ziegen, und Pfiffe und Rufe
der Hirten, durch die sie beisammengehalten werden.
Plötzlich befand sie sich bei Gawrissan.
Sie ging mit Jurij und seinem Kameraden, ging
vorbei an dem Berge, auf dem die Schafherden
Herrn Kubas und Gawrissans weideten. Dort befand sich der Schafhirt Ilija. Er stand in der Wiese am Walde mit seinem dichten, langen Haare, stand allein zwischen weißen und schwarzen Schafen, die aus dem Grase ganz klein erschienen, und weinte in die Schalmei. Wie weinte er so schwer! Die Stimme der Schalmei tönte sehnsüchtig zwischen den Bergen, traurig und so gedehnt – ach Gott! und ihr war’s im Herzen, als ginge sie in den Tod. So schwer war es ihr – sie wußte nicht, weshalb! Dann verstummte die Schalmei. Seine Stimme hatte sich irgendwo zur Erde gelagert, und rings um sie legte sich auf alles eine tiefe Finsternis. – Ihrer bemächtigte sich ein Angstgefühl, und sie faßte Jurijs Kameraden an der Schulter: „Rettet mich, Mann!“ Und er sprach: „Jetzt hat dich dein Glück verlassen. Von jetzt an wirst du ohne Glück auf der Welt leben!“
– 144 2–
Sie hatte vor Schrecken aufgejammert – und
erwachte.
Nein – es herrschte keine Finsternis! Helllichter
Tag umgab sie, und der Glauz der Mittagssonne
machte alles golden.
Sie setzte sich auf, rieb sich die Augen, und
gleichzeitig horchte sie. Aber nein; man hörte keine
Schalmei. Um sie her lag es so still … und
nur das Rauschen des Waldes wogte in den Lüften …
Das war ein häßlicher Traum und ein unwahrer!
Ihr Glück kann sie niemals verlassen. Das
Väterchen hatte gesagt:
„Dein Glück ist derart, daß es dich niemals verlassen
wird. In die Seele legte dir Gott dein Glück
hinein, damit es dich niemals verlassen kann …
Ein Alter wie er – wird nicht lügen
Eine Schlacht.
uska, Erzählunge
Die Karpathen Bukowinas.
Berg an Berg reiht sich in stummer
Größe, bekleidet mit Nadelwaldungen.
Pyramidenartig und kugelförmig, so stehen sie
da, unerschütterlich, jedes vor ihren Blicken vorgehenden
Wechsels spottend, schwelgend in der eigenen Schönheit
und siegesbewußt ihrer Dauer
Viele parallellaufende Bergketten des Bezirkes
Kimpolung sind noch mit Urwäldern bedeckt. – Als
blaudunkles Grün schimmern sie in der Entfernung,
und von nachbarlichen Höhen aus betrachtet, scheinen
sie in grünlich blauen Nebeln vornehm und unzugänglich.
In der Gegend von Rußmoldawitza hatten sich zwei
Reihen jener Ketten so dicht genähert, daß ihr Thalraum
nur ein bequemer Tummelplatz für einen übermütigen
Bach sein konnte. Wo er sich erweiterte
oder schmal wurde, wo er endete – wußte niemand
10*
148
genan anzugeben. Er zog sich in Windungen hin, rechts
und links von bewaldeten Höhen beschützt, und verlor sich
mit dem lustig laufenden Bache zwischen felsigen Vorsprüngen.
Da waltete überall eine beängstigende Stille.
Und eine Uppigkeit in der Vegetation, eine Farbenpracht
der Flora und auf den Bergen ein Reichtum
von Grün von fast erdrückender Gewalt!
Kniehohes, braungrünes Moos wucherte dort
unberührt in sanften Wellen aus dem halbfeuchten
Boden der Urwaldungen. Daraus hervor – nicht
allzudicht – stiegen Tannen, deren Alter hätte erraten
werden können, deren Umfang und Schönheit aber
stumm machte. Ihre stattlichen Kronen wurden vom
Gewölke gestreift und duldeten über sich nur den
Goldglanz des Sonnenlichtes
Hie und da lagen am Boden Riesenbäume, vom
Alter unterwühlt, gespalten vom Blitz und vom Sturm
zu Boden geworfen. Von außen moosüberzogen und
umwuchert von Gräsern, waren sie inwendig hohl
und morsch.
Neben ihnen schossen junge Bäumchen empor,
breitästig angelegt und gegen die Höhe zu überschlank
und voller jugendlicher Biegsamkeit.
+ 149 2
Vogelsang – kaum hie und da.
Öfters ein lautes, in der kirchenartigen Stille
deutlich vernehmbares Knistern und Rascheln, gleichwie
das Brechen und Aneinanderreiben völlig verdorrter
Zweige – und fast immer ein schwermütiges, weithin
hallendes Rauschen
Selten, daß der Wind stark die Zweige hob.
Kaum, daß beim stärksten Sturm die Kronen
sich wiegten … Es schien, als käme das Rauschen
aus weiter Ebene dahergerast, verfinge sich in den
Zweigen, verteilte sich als schweres Seufzen im
Walde und kämpfte zwischen dem dichten Geäste wieder
um Ausgang …
Als der gellende Pfiff der Lokomotive das erste
Mal die Luft jenes Thalranmes durchschnitt, –
fuhr es den hundertjährigen Bäumen jäh wie ein
Blitz durch Mark und Bein.
Mit ihr erschien ein Haufe Menschen.
Der wagte sich kaum über den fast unzugänglichen
Waldsaum in die Tiefe des Waldes, denn alltäglich
sah es hier nicht aus.
150 2–
Ringsum waltete tiefste Stille.
Die Luft war kühl, durchdrungen vom Geruch
des Harzes, das in dicken, weißlichen Tropfen aus
der geborstenen Rinde herausquoll und an der Luft sich
verdichtete, und hohes Moos hemmte überall den
Gang. Armdicke Banmwurzeln wie Schlangen quollen
aus dem Moose, hart und trotzig, und, verflochten
ineinander, bahnten sie sich in tollem Ringen den
Weg zur weiteren Tiefe, die, in grünes Dunkel
geborgen, unheimlich gähnte.
Einer von den Ankömmlingen schlug mit einem
eisernen, axtartigen Stabe an einen alten Fichtenbaum,
an dessen Stamme Schwämme wuchsen gleich
riesigen Schwalbennestern.
Der zuckte zusammen.
Seit er lebte, hatte er an sich keine Axt gefühlt.
Der Schlag rief ein Echo im ganzen Walde
hervor, daß alle Bäume stitzten.
Der Schlag wiederholte sich – die Bäume hielten
den Atem an, eine lautlose, erwartungsvolle Stille
verbreitete sich, und eine Stimme sprach langsam und
deutlich ein Wort aus: „Abholzen!“
Wie durch eine Kirche lief es: „Abholzen“
151
„Abholzen!“ erklang es deutlich in der nächsten
Nähe und fast zugleich in der Ferne. Es hallte
wie erwachte Rufe wieder, erfüllte den ganzen Wald,
lief ängstlich in alle Ecken und Enden und wollte
nicht verstummen
„Abholzen!“ Es ging in ein Säuseln über.
Daraus ward ein beklommenes Flüstern, ein Seufzen,
endlich erhob sich ein Rauschen, wie vom Sturm hervorgerufen
… erfüllte weithin die Luft, wie ein
Meereswogen, daß es unheimlich ward … schlug bis an die Wolken hinauf, und zuletzt beschwor es ein Gewitter herab. Schwarzgrau färbte sich der Himmel, und dann kam es. Schwere Regentropfen fielen herab. Zuerst einzeln und so wuchtig, daß die Blätter unter ihrer Last erzitterten und raschelten; dann dichter und endlich in schrägen Strömen. Blitze fuhren in die Tannen, spalteten erbarmungslos die prächtigsten Stämme, und der Donner versuchte die Berge zu sprengen. Mit rollendem Gekrach und Getöse erschütterte er sie, als wollte er sie aus ihrer unbeweglichen Ruhe
152
zwingen. Es schien, als rollten durch sie der Reihe
nach Riesenkugeln, heransgefordert von Zeit zu Zeit
von goldig zuckenden Blitzen
Dann ward es still, und der Regen fiel ungestört.
Laut und schluchzend fiel er
Im Walde ward es dunkel.
Bewegungslos, mit angehaltenem Atem dem Vorgange
um sich lauschend, standen die alten Bänme,
während die jungen in leichtes Schwanken gerieten.
Von den am Waldessanme wachsenden Sträuchern
tropften emsig übergroße Regentropfen ins Moos,
und der hochangeschwollene Bach unten im Thalraume
stürmte in schmutzig=plumpen Wellen über Stock und
Stein fort, lant schäumend, alles mitreißend. Blumen,
Forellen, trockene Aste, hie und da abgelöste Erdstücke,
in völlig unbeherrschter, wahnwitziger, nie
gesehener Erregung.
An einem nebelgrauen Morgen begann die Schlacht.
Auf dem durch den engen Thalraum gebauten
Bahnwege, dessen Schienen sich wie Silberschlangen
153 2–
in koketten Krümmungen um den dicht neben ihnen
lanfenden Bach wanden – kam die Rollbahn gefahren.
Ein feindseliges Gezisch, ein gellendes, durchdringendes
Pfeifen kündigte ihre Ankunft an. Nicht
weit vom Ende dieses Weges hielt sie unter Schnauben
an, zornige, schwarze Dampfringe pfeilschnell in die
Höhe stoßend
Sie hatte den Feind gebracht.
Er stieg aus.
Mit rohen Gesichtern, in zerrissenen, schmierigen
Arbeitskitteln. Mit plumpen, von schwerer Arbeit
unförmigen Händen; bewaffnet mit blitzenden Hacken,
mit schweren, schwarzen Eisenketten – ein häßlicher,
mißratener Anblick –: so kam er daher.
Ein Adler, der in nächster Nähe auf einem
spitzen Felsen gesessen und mit gesträubten Federn
hinabgelauert – breitete plötzlich seine Flügel weit
aus, schlug beleidigt und voller Zorn um sich und
schwang sich dann jäh in die Höhe.
Er kreiste lange wie in tiefer Erregung über
jener Gegend, dann schoß er wie infolge einer
inneren Eingebung blitzschnell in schräger Richtung
hinab ins Thal, verweilte daselbst eine Weile, hob
+ 154
sich dann abermals, jedoch diesmal ganz langsam,
empor und verschwand im grauen Gewölke gleichsam
für immer … Unsägliche Traurigkeit breitete sich
aus, eine Art – Todesstimmung.
Man wartete.
Die Bäume regten sich nicht; die ältesten standen
gewappnet in Stolz und Unnahbarkeit und glaubten
gar nicht an die Möglichkeit eines Angriffes.
So viele Jahrzehnte hatten sie dagestanden, ganze
Jahrhunderte! So vieles hatten sie wachsen und sterben
sehen! So viele Frühlinge und Winter durchlebt,
so oft die Sonne aufgehen sehen! Die prächtige, goldblendende
Sonne, die sie des Morgens in ihrem glutroten
Lichte baden ließ und des Abends segnete!
So vielen verheerenden Stürmen getrotzt! Jetzt sollten
sie eines anderen Todes sterben, als den ihre Vorfahren
gestorben: als den des Alters oder den des
Blitzes?
Lächerlich!
Sie wollten sich gar nicht regen. Nicht einmal
durch das geringste Rauschen ihre Verwunderung bezengen.
Nur die jungen – wenn nur die nicht so
leicht ins Schwanken gerieten!
Der Angriff begann.
Mit einem wilden Hurrageschrei führten ihn die
Söldlinge aus. Sie kletterten mit katzenartiger
Gewandtheit auf den ersten Berg, als wollte einer
dem anderen zuvorkommen oder als wäre es eine
Heldenthat fürs ganze Leben, derjenige zu sein, dessen
Hand die Axt an den Urwald anlegte! – Aber sie
trafen auf Widerstand. Das trügerische, braungrüne
Moos gab unter ihren plündernden Händen nach, und
sie rutschten herab. Die kieselige Erde bröckelte unter
ihren Füßen, und sie rissen sich die Hände wund, wenn
sie sich festhalten wollten.
Aus dem in Fetzen herausgerissenen, an der
Wurzel feuchten Moose krochen allerlei das Sonnenlicht
meidende Insekten und liefen ihnen über die
Hände. Als sie einen fest liegenden morschen Baum
in wilder Kampfeslust hinunterrollen wollten und es
ihnen nur gelang, ihn ins Schwanken zu bringen,
wanden sich aufgescheuchte Schlangen hervor und zischten
sie an. Viele der Söldner, die nur leichte Sandalen
trugen, wurden gebissen.
Stachelige Heckenrosenbüsche, deren Zweige in
großen Ruten bogenförmig aufgewuchert waren,
156 3
verflochten mit anderen Sträuchern und unzerreißbaren,
epheuartigen Pflanzen und Disteln, bildeten undurchdringliche
Wände. Uppige, hellgrüne Farren spreizten
sich fächerartig in schwellender Schönheit in die Breite
und Höhe, und Giftschwämme von schreiend roter
Farbe drängten sich vor.
Junge Fichten wuchsen so dicht nebeneinander,
streckten ihre Zweige so abwehrend von sich, daß an
ein Fortkommen nur mit Mühe gedacht werden
konnte. Sie zerstachen das Antlitz, zerrissen das
Haar und zerrten an der Kleidung. Unförmige,
buckelige Spinnen hatten Netze von Baum zu Baum
gezogen, und diese legten sich gleich Schleiern vor die
Augen – während Ameisenhaufen, aus trockenen,
rötlichen Fichtennadeln aufgebaut, sich wie kleine Hügel
vom Boden erhoben, und der Fuß wie an Glasglocken
herabglitt.
Aber sie drangen unermüdlich weiter vor.
Tief im Walde, wo sich der Boden eine Zeit
lang eben hinzog, blinkte ihnen etwas Leuchtendes
aus dem Gründunkel des Waldbodens entgegen.
Es war umsänmt von stämmigen Fichten, von
deren Zweigen langes, grangrünes Moos schleierartig
in steifer Vornehmheit fast bis zur Erde hing, –
von üppigen, rundblättrigen Sumpfpflanzen und vom
breiten Schilfgras.
Es war ein Meerauge.
So wie ein Spiegel, umgeben vom überreichen
Grün der Pflanzen, lag es unbeweglich, träumerisch
da – mit klarer, glatter Fläche – bodenlos
ein ewiger Spiegel des Himmels und der Baumwipfel;
ein Stück unberührtester Schönheit.
Quer darüber lag ein Tannenbanm.
Stellenweise mit kurzem Moos überwachsen und
zur Hälfte im Wasser, bildete er einen Steg für
leichtfüßige Waldtiere und einen Sammelplatz für
Eidechsen und für Libellen, die ihre blauweißen,
durchsichtigen Flügel im Wasser netzten und es im
blitzartigen Tanz nnermüdlich umkreisten
„Hurra!“
– Also doch!
„Hier wird der Urwald eingenommen!“
Es wiederhallte: „Ein=genommen!“
„Hier – einhauen!“
Ein gellender Schrei des Entsetzens lief durch
158 2
den Wald: „Ein=hauen!“ Das Eisen der Axte
blitzte im Halblicht, und wie Ein Schlag ging es
los. – Angstlich verwirrt flatterten die in der Nähe
weilenden Vögel auf, und zum ersten Male spiegelte
die bewegungslose Fläche des Meerauges andere Erscheinungen
wieder als Baumwipfel und Himmel
Zuerst kamen die Jungen daran.
Es wurde Maß an die Hoffnungsreichen gelegt.
Die, welche gleich hoch, gleich gesund und gleich
schlank waren, wurden ihrer grünen Kleidung beraubt
und niedergehauen.
Als sie alle, an beiden Enden gleich, abgesägt
waren – wurde aus ihnen ein Weg hergestellt, der
zwischen den Bergen im Thalraume und fast über
den Bach entlang führte. Dort, wo der Bahnweg
nicht weiter fortgesetzt werden konnte, mußten sie als
Pfad dienen. Ein Stamm wurde dicht neben den
anderen gelegt.
Solchergestalt bereitete man eine Straße für
die übrigen Truppen vor, und die zog sich in Windungen
lang zwischen den zwei Bergreihen und bot
einen traurigen Aublick. Auf diesem Wege sollten
159 ––
dann die hundertjährigen Riesen überführt werden.
Als man sie auf der Erde dicht aneinander reihte,
erhielten sie wuchtige Axthiebe in den Kopf und in
die Füße, daß aus ihnen Blut rann. Der Bach,
der dicht neben ihnen dahineilte, preßte sich von unten
herein, rieselte sanft zwischen ihnen hervor, wusch sie
– Stellenweise, wo die
ab und trank ihr Blut auf.
Sonnenstrahlen am längsten verweilten, setzte es sich
an Gestein fest und färbte es für immer rot.
Bis diese gemieteten Söldner mit allem fertig
geworden, verging eine lange Zeit, und sie wurden
fast wild darüber.
Sie gingen nie ins Thal, bekamen nie ein Weib
zu Gesichte, ihre Kleidung war in Teer getaucht,
Haar und Bart wuchs ihnen lang und verlieh ihnen
ein wildes Aussehen.
Mittelst der Rollbahn erhielten sie jede Woche
Lebensmittel, vor Ungewitter und Kälte schützten sie
Hütten aus abgehackten Tannenzweigen, welche in
massenhafter Fülle umherlagen. Die von Harz durchdrungenen
Baumrinden, die gleich riesigen, braunen
Papierrollen an der Sonne trockneten – wurden des
Abends auf den Höhen rechts und links in großen
– 160 2–
Haufen angezündet und loderten in roten, gierigen
Flammenzungen als Lebenszeichen der Söldner empor.
So stärkten sich diese zum Kampfe mit den
Hundertjährigen.
Endlich kam die Reihe auch an diese.
Eine Nacht zuvor – es war eine lichttrunkene
Nacht – hatte sich der Mond zu einer großen,
mattroten Scheibe erweitert.
In der Stille, die mit dem Dunkel gewachsen
war, schien das Gebirge mit seinen unabsehbaren,
dunklen Waldungen von stoischer Ruhe. Das Mondlicht
durchschimmerte die zartbläulichen Nachtnebel,
erleuchtete die Ferne mit klarem Licht und schien sich
den auf den höchsten Gipfeln stehenden Wipfeln der
Bänme mitzuteilen. Sie waren von seinem Schein
wie verklärt und lösten sich darin gleichsam auf.
Flehentlich blickten sie empor.
Sie nur allein?
So viele ihrer da waren – und ihre Auzahl
war so groß, daß niemand im stande war, sie anzugeben
– sie blickten alle zur Höhe und flehten um
ihr Leben! Selbst die Luft war geschwängert von
Sehnsucht nach Leben. Sie roch nach Uppigkeit, nach
Eine Nacht zuvor hatte sich der Mond zu einer großen mattroten
Scheibe erweitert … (S. 160
161
–
unersättlichem Dürsten und schien der Atem Tausender
und abermals Tansender lebensgieriger Wesen zu sein.
Ein Duft, der an berauschende Leidenschaft
gemahnte, an vollendete, begehrende Reife, strömte
aus der Tiefe des Waldes und riß auch die mit sich
fort, die seither nur in keuschverstecktem Erwarten dastanden,
den Wunsch, voll zu leben als schamhaftes
Geheimnis im Herzen bergend.
Die Farne lösten ihre prophetischen Zungen.
Die Kelche der kenschesten Blumen wurden zu
vollendeten Blüten. Die Angst, daß sie morgen zu
leben aufhören könnten, erweckte in ihnen die Gier,
nebeneinander zum letzten Male in vollster Pracht zu
prangen. Morgen würden sie vielleicht schon zertreten
daliegen, ihre Kronen entblättert und gebrochen
werden. Morgen würde vielleicht niemand mehr
wissen, daß sie waren und voll Schönheit waren.
Der Waldboden belebte sich mit Johanniskäfern, die
wie Lichttropfen im Moose glänzten; Grillen in
erstaunlicher Menge riefen sich an und antworteten
und wollten gar nicht verstummen. Es herrschte
in ihnen die Stimmung, aus sich selbst herauszutreten,
Verlangen nach Schwelgereien, nach rückhaltlos
Kobylanska, Erzählungen.
entfesselten Gefühlen, welche nur die vornehme Stille
der Nacht dämpfte.
Lachen nie gekannten Entzückens, vermischt mit
schweren Schmerzensthränen, ließ sich hören, und eine
Sehnsucht, weich wie ein Sammetmantel, lag auf
allem und rief immer mehr Wünsche und Liebe zum
Leben hervor
Seltsam waren die Laute um die Stille dieser
Nacht … zärtlicher als Musik. Mehr ein Geflüster,
vereint mit dem weichen Dunkel der Nacht – oder
wie das Fallen von Wassertropfen von Blatt zu
Blatt nach ersehntem, mitten im Sonnenschein gefallenem
Regen
Eine lange, kampfesvolle Zeit,
und die
Hundertjährigen waren gefallen. Starre, steife Majestät, so lagen sie gebettet im eigenen Grün. Ihre zurückgebliebenen Stümpfe mit den runden, an die Oberfläche der Erde herausgewucherten Wurzeln klafften verstümmelt aus dem Grase. Noch lagen sie auf den Höhen – jedoch nicht mehr vereinzelt.
163 3–
Besäet waren die Berge mit ihren Leichen, rechts
und links, schräg und quer und wagerecht. Dicht
nebeneinander Kopf an Kopf, gruppenweise oder auch
übereinander oder wie es sonst im Stürzen der Zufall
gewollt. – Aus der Ferne sah man nur abgemähte
Waldungen!
Bis zur Nacktheit ihres Schmuckes entblößt, der
sich Jahrzehnte Sommer und Winter hindurch in
seiner schwellenden Schönheit unverändert gehalten-
starrten die Berge beschämt gegen den Himmel, vergeblich
bemüht, mit den Überresten der einstmaligen
Kleidung die unförmigen Glieder zu verhüllen.
Verratene Adler und verwaiste Habichte flogen
schwermütig umher, und während die Adler, von
Zeit zu Zeit nach ruhelosem Fluge ausruhend, zornig
ihre Gefieder sträubten, die schwarzen, feindselig funkelnden
Augen spähend in das Thal gerichtet
zogen die Habichte stille, langsame Kreise über den
Gefallenen
Als man die Gestürzten von ihrer Höhe zog,
gab es einen Kampf auf Leben und Tod.
Viele Söldner büßten ihr Leben ein, viele wurden
11*
– 164 2
für immer zu Krüppeln, und andere lagen schwerverletzt
monatelang im Thale.
Größen zu stürzen!
Solche, die ihre Plätze Hunderte von Jahren
behauptet hatten! Deren Wurzeln in das Innerste
der Berge ihre Fasern erstreckt und sich mit denen
anderer Gewächse für immer verkettet hatten! Zu
stürzen, ohne sich zu beschädigen, ohne den jungen
Nachwuchs zu vernichten und ohne die nähere Umgebung
zu verwüsten! Gleich nie ermüdeten Käfern krochen
die Söldner auf die unzugänglichsten Orte, bewaffnet
mit Ketten und allerlei Werkzeugen.
Zuerst wurden die Gefallenen ihrer Rinde beranbt.
Dies gab viel zu schaffen.
Festgewachsen an das Fleisch, war sie hart und
spröde und ließ die Äxte von sich abprallen. Erst
nach langem Hacken sprang sie in Splittern auseinander
und fiel auf die reiche Fülle elastischer Zweige,
die, abgetrennt vom Körper, nunmehr im Grase verdorrten.
Dann wälzten kraftvolle Hände mit Todesverachtung
die schweren Riesen vorwärts.
Unter öden, gleichzeitig ausgestoßenen Aneiferuugsrufen,
die mehr den Schreien wilder Vögel glichen,
+ 165 2–
als harmonischen Menschenlauten – verrichteten die
Schlächter diese Arbeit, während helle Schweißtropfen
ihnen über die Stirnen rannen und Blut aus den
verletzten Händen floß. – Der Aufenthalt in der
Einsamkeit und die Verwilderung stimmte sie bei
solchen Unternehmungen tollkühn, und die Aussicht
auf einen hohen Lohn entzündete in ihren Augen das
Gefunkel des Sieges.
Herab bis zum Bergfuße zerrten sie die Kolosse.
Dort wurden dann schrägfallende Brücken aus runden
Balken gebaut, – und über diese hinrollend, wurden
die Großen dann dicht nacheinander dröhnend zur
ebenen Erde fallen gelassen.
Sie blieben nicht lange liegen.
Große Eisenhaken wurden ihnen in das Haupt getrieben;
Pferde wurden vorgespannt, und über den Weg, der
aus den Jungen hergestellt wurde, zogen sie die Riesen
hinunter, langsamen Schrittes und gesenkten Kopfes.
Hellrotes Siegesfeuer prasselte nach solcher Überwindung
in die helle Nacht hinein, während die Helden,
im Kreise lang ausgestreckt, ihre Pfeifen rauchten und
die Widerstandskraft des Urwalds besprachen.
Unten harrte der Besiegten die Rollbahn.
– 166
Sie bestand aus vielen aneinandergeketteten Wagen
und einer ungeduldig schnaubenden Lokomotive.
Auf jeden Wagen wurden fünf bis sechs Stämme
geladen und mit armdicken Ketten zusammen befestigt.
Und zwar mit solcher Enge, daß sich das Eisen in
ihr von der Rinde entblößtes Fleisch einschnitt und
stellenweise Blut herausquoll. Das sammelte man
auf, knetete es zu einem Ballen, und, in glühende
Kohlen getaucht, daß es Feuer fange, wurde es in
nebeligen Herbstnächten als Fackel bei der Überführung
benutzt. – So gefesselt, jagte die Bahn mit ihnen
hinunter ins Thal, von Zeit zu Zeit einen gellenden
Siegespfiff ansstoßend
Im letzten Wagen saß ein Aufseher.
Seine Wärterhacke in die Brust des Obenaufliegenden
eingehackt, saß er mit verschränkten Armen
und stumpfen Blicken da.
So oft machte er diesen Weg!
So oft hatte sein Blick auf den Kämmen dieser
Berge geruht, so oft war er den Krümmungen der
Bahn gefolgt – daß er nunmehr ermüdet den Blick
zurückwandte. Die, über welche er die Aufsicht hatte,
verhielten sich ja still. Sie grüßten die Gegend, durch
die sie fuhren, und nahmen von ihr Abschied
Rechts und links erhoben sich Berge; die waren noch mit
Nadelholz bekleidet. – Das waren Genossen, Jahrzehnte
lang, und von diesen schied man für immer.
Niemals mehr sollten sie ihr eigenes Rauschen
vernehmen … Und sie suchten zu erraten, wohin
sie geführt würden.
Daß es hinunterging in ein weites Thal, wo die
Berge zurücktreten mußten, wo anstatt eines Baches
schon ein Fluß wogen mochte – wußten sie. Die
Bahn jagte rasend dahin und wand sich durch die Engen
wie eine Schlange; ob es aber zu den Menschen ging?
Sie dachten an die Zeit der Stille, wo sie stolz
gestanden, und ihre Kronen nur stolze Adler berührt.
Jetzt lagen diese Kronen tief unten.
Und dann … wie alles über sie hereingebrochen,
und sie auch ohne Kronen fielen
Ging es also zu denen, die ihr Schicksal beschlossen
und sie zu stürzen sich das Recht erkauft? – Oder
zu Menschen, welche weder Sonntag noch Feiertag
kannten und von Schönheit nie etwas gewußt?
Aber nein; außer diesen mußte es auch noch andere
Menschen geben, vielleicht ihnen selber ähnliche
168 2
Ihnen ähnliche!
Als sie nach stundenlanger Fahrt durch Urwälder
in das Thal herauskamen, sahen sie hie und da
einzelne Hütten. Zuerst auf den Bergen und dann
an der Dorfstraße, welche sich an den Bahnweg schloß
und mit ihm parallel lief. Die Hütten waren klein,
bedeckt mit Brettern, über denen Steine lagen; und
einzelne hatten auch Schindeln.
An einem Schankhause, das zum Vorschein kam,
hielt die Bahn still. Sie hatte Fremde und Arbeiter
mitzunehmen, die da ihrer harrten. Hier sah man
auch die Bewohner jener Hütten. „Huzulen“ naunten
sich die. Groß und kräftig, mit slavischen Zügen, in
malerischer Tracht, so lagen und saßen sie dort.
Dort ein junges Weib mit etwas abgespannten,
aber schönen und fast kindlichen Zügen, gekleidet nach
der Sitte ihres Volkes, buntfarbig und reich. Sie
rauchte aus einer Pfeife und blickte gleichgültig vor
sich hin, unbekümmert darum, daß ein Haufen fremder
Menschen sie mit Blicken schier verschlang.
Ihre Genossen – prächtige Männer, schlank wie
Tannen und elastisch wie Rohre – saßen umher in
der Stube, in der bequemsten Haltung von der Welt.
169 3–
Ihre Tracht war nicht minder originell.
Blutrote Beinkleider, dazu schneeweiße, reichgestickte
Hemden und ebenso reichgestickte, kurze, ärmellose
Schafpelzchen. Breite, buntfarbige Ledergürtel, behängt
mit Fingerhüten und allerlei glänzendem Tand, und
Hüte mit hohen, emporgeschlagenen Krempen, geschmückt
mit Pfauenfedern, vervollständigten die Kleidung.
Da es ein Feiertag war – so versammelten
sie sich da zum Tanz. Zwei von ihnen spielten auf
den Geigen ihren Nationaltanz, die Kolomyjka. Ein
anderer lag auf der Bank, in seiner vollen Länge
ausgestreckt, blickte träumerisch durch die offenen Fenster
hinaus und ließ sich neugierig betrachten.
Alle ließen sich betrachten, ohne es zu fühlen,
gerade wie Kinder, allein, selber bezeugten sie fast
nie Erstaunen oder Nengier, weder für die fremden
Ankömmlinge, die kaum einmal im Jahre in ihre
Gegend kamen, noch für andere Vorgänge in ihrer
Umgebung. Während die Lokomotive mit ihrem jedesmaligen
Erscheinen ihre nachbarlichen Dorfbewohner
gewöhnlich in Aufregung versetzte, – wandten sie
kaum die Köpfe nach der Seite. Das war ihnen ein
Schanspiel, so weit und so fremd, sie hatten damit
– 170
so wenig gemeinsam, als wären sie aus einer anderen
Welt und sollten damit so wenig in Berührung
kommen, wie mit den Wolken da droben!
Viel mehr Ähnlichkeit besaßen sie mit denen, die
gefesselt auf den Wagen ins Thal geführt wurden.
So unberührt waren sie aufgewachsen, so harmonisch,
so eigenartig in ihrer Schönheit und ihren
Sitten. Auf steilen Höhen in ganz für sich gelegenen
Erdenwinkeln führten sie ihr Dasein, ohne Herren und
Knechte. Unwissend bis zur Rührung und für alles Große
der Zivilisation verständnislos, begegneten sie ihren Errungenschaften
mit kindlichem Lächelu auf den Lippen.
So waren sie, jene Kinder der Wälder, die um
keinen Preis Hand anlegen wollten an die, die von
ihrer Höhe gestürzt wurden.
„Wer seid ihr?“ hatten sie mißtrauisch die gefragt,
die gekommen waren, sich den Nutzen der Schlacht
auszurechnen – „welches Glaubens? Wohl keine
Christusmörder?“ und dabei griffen sie nach ihren
feingeschnitzten Hacken, die sie fast nie aus den
Händen ließen. Für Waffen hatten sie Sinn.
Als sie zum ersten Male die Rollbahn fahren
sahen, bekreuzten sie sich und spieen weit von sich.
+ 171
Das ging nicht mit rechten Dingen zu, und sie
wollten nie eine Gemeinschaft mit jenen haben, die solch
Ungetüm lenkten. Sie hielten sich auch fern von dem
Getriebe, und unter der Menge Kerle, die bei der Schlacht
beteiligt waren – befand sich kein einziger Huzule.
„Hacket selber, was Gott geschaffen hat, ihr
Hundeseelen! … uns laßt in Ruhe!“ hatte einer
voller Haß über die Aufforderung, beim Abholzen
mitzuhelfen, geantwortet. Und man ließ sie in Ruhe.
Ihre Welt war Berg und Wald, und nur da
gediehen sie zur Vollendung. Gleich prächtigen, glühroten
Blüten schimmerten sie in ihrer schönen, malerischen
Tracht zwischen dem Grün der Bäume oder auf
flinken, starkmähnigen Pferden, deren Zucht zu ihren
Lieblingsbeschäftigungen gehörte. – Durch Wälder
scholl auch das Echo ihrer schönsten Lieder.
Das waren Menschen, die den Stämmen ähnlich
waren
Als sich die Bahn in Bewegung setzte und immer
rascher vorwärts flog, sahen die im letzten Wagen
Fahrenden durch die weit geöffneten Thüren und
Fenster des Schankhauses, wie dort im großen Kreise
Männer und Frauen im wilden Reigen tanzten!.
– 172 2–
Ein unvergeßlicher Anblick, flüchtig wie ein Blitz und
ebenso zündend
Eine einfache Melodie zweier Geigen brachte sie ins
Feuer. In übersprudelnder, unbeherrschter Lust tanzten
sie. Ihre Kleider und Tücher wehten im Kreise, und
von Zeit zu Zeit stießen sie helle Frendenrufe aus.
Es sah aus, als tanzten sie ihr Glück zu Ende und
wollten sich jetzt damit sättigen für alle Zeit .
.
Vor dem Hause standen andere in Gruppen, oder
lagen da, aus kurzen Pfeifen ranchend, langgestreckt
bei ihren Pferden. Es war, als flöge das Haus
mit dieser Pracht voller Farben und Lebensfülle an
der Bahn vorbei
Ein schönes Weib
eine junge Witwe
sprengte auf einem halbwilden Pferde den übrigen zu. Ihr nach jagte ebenso toll ein Schwarm junger Burschen. Sie ließ sich nicht einholen. Den Kopf über die Schulter nach ihnen gewandt, mit ansgestreckten Händen dem Pferde freie Zügel lassend, lachte sie ein schallendes, sorgloses Gelächter! Alle diese Sorglosen, in wilder Lustigkeit Zurückgelassenen lachten noch dieses Lachen! Noch fühlten sie keinen Schander beim Kommen und Gehen jenes
– 173
feindselig zischenden Ungetüms, das mit seinem Erscheinen
Licht, aber auch namenloses Elend brachte!
Noch hatten sie keine Ahnung von jener tiefen,
zersetzenden Sehnsucht mit dem kranken Lächeln um
den Lippen, die nur die Bildung und Kultur hervorruft!
… Sie lebten in den Tag hinein, unbekümmert
um die Zukunft und ihre Gestaltung, ihre Wünsche waren klar und bündig, und die Bedingungen ihres Glückes … Sonnenschein und ein blauer Himmel
Im Thale waltete reges Leben. Eine große Dampfsäge war im Betriebe. Ziegelrote Schlöte von imposanter Größe erhoben sich vom Boden und spieen schwarze Rauchwolken unter den Himmel – während im Fabrikgebände ein Getöse herrschte, ein Brausen und Zischen, das alle anderen Laute übertönt wurden. Rings herum lagen tausende von Brettern, hochaufgestapelt, fertig zum Transport, und kreuzweise übereinandergelegt, schmale und breite, und Massen von noch ungeschnittenen Stämmen harrten ihres Todes. Da lagen noch Riesen von mehreren Metern Umfang, wahre Wunder an Alter und Schönheit, und schlanke, blutjunge Tannen.
174
Fast ohne Unterbrechung wurden frische Stämme
in die Fabrik hereingewälzt, um schon nach kurzer
Zeit, in dünne Bretter geschnitten, hinausgeschoben zu
werden. Die Bahn brachte immer neue Opfer, und
der nie ruhende Moloch verarbeitete sie in erstannlich
kurzer Zeit. Auch diesmal wieder.
Die Lokomotive wurde von den Wagen abgetrennt,
und diese rollten allein mit ihren Gefangenen ein
Stück vorwärts und nach dem Lagerplatze zu.
Hier wurden den Stämmen die Ketten gelöst,
und man lud sie ab.
Als sie am Fabrikeingange vorbeigerollt wurden,
vernahmen sie die Worte des Sägemeisters, mit denen
er einen Gast belehrte: „Die Waldungen wurden
von der Firma O. & C. vom Religionsfonds gekauft.
Man sägt schon sieben Jahre und hat noch drei Jahre
zu sägen. Täglich werden siebenhundert Stämme
4
zerschnitten
Siebenhundert Stämme täglich! – Wie ergreifend
deutlich dies klang! – Siebenhundert ihrer Genossen
täglich vernichtet, die jeder von ihnen Jahrzehnte, ja,
zu Hunderten von Jahren gebraucht hatte, um sich zu
diesem Umfange zu entwickeln!
+ 175 2–
Und hier lagen noch Türme von Stämmen.
Tausende und tausende lagen noch daheim, auf den
Gipfeln der Berge, die hernnterzuschaffen man sich
bis zum Schluß aufgespart; und wieder Massen
auf den Rollbrücken aufgeschichtet. Dreimal im Tage
brachte die Bahn die Opfer herein. Dazu hatte man
es so eilig mit ihrem Vernichten und geizte mit
jeder Stunde im Tage!
Mit glühenden Eisen hatte man die frisch angelangten
gezeichnet und sie dann in das Getriebe
ringsum blicken lassen.
Sie sahen, wie Arbeiter – genau solche, wie die
halbverwilderten oben im Walde – hier unten arbeiteten.
Wie sie massenweise gleich unermüdlichen
Ameisen umherwimmelten drinnen und draußen. Wie
sie den dröhnenden Eisenmoloch, der in der Vernichtung
wahre Wunder leistete, pflegten und sich geradezu aufopferten,
um es ihm nur an nichts fehlen zu lassen.
Sie sahen und vernahmen vieles.
„Ja, ja,“ hörten sie einen Arbeiter erzählen,
den man den „Närrischen“ nannte, „so verheeren
ausländische Antichristen die schönen Waldungen, die
176
Gott unserem Lande zur Freude wachsen ließ! …
Weiß Gott … die Kutten behüteten ihn schlecht
und werden es dereinst schwer zu verantworten haben.
Und nun soll all dies wunderschöne Holz fort, vielleicht
übers Meer? Und was unser Land davon hat?
Frage man nur die Kirchenratten, die das große
Wort bei der Verwaltung reden, die im Wohlstand
schwelgen und fasten, daß ihre fündigen Leiber aus
den Fugen gehen. Fraget sie, was unser Land davon
hat!“ – Und nach einer Weile, während welcher er die
Sägespäne aus den Augen gewischt hatte, rief er
weiter: „Man baut schon nach der anderen Seite hin
den Bahnweg. Es heißt wieder: „Auf neue zehu
Jahre gepachtet!“ Ja, nur noch zehn Jahre und daun
noch einmal zehn Jahre, und aus wird es sein mit
dem Reichtum unseres Landes. Verfluchte Gerechtigkeit!
– daß ich doch nicht lieber deinen Leib zersägen
kann, anstatt dieses Stammes da, und alle die Höllen–//
öfen
da unten nicht lieber mit jenen Teufelsbr
eine schallende Ohrfeige des Sägemeisters machte dieser
Rede ein Ende.
„Daß du lieber aufpaßt auf deine Affenpfoten,
anstatt daß du dein Mundwerk ewig in Bewegung
+ 177 2–
hast – verdammte Brut noch mal!“ … Die
Antwort des Gezüchtigten ging in dem betäubenden
Getöse verloren, denn neu hereingerollte Stämme
rollten unter die Säge.
Die einen kamen unter zehnblätterige Sägen,
andere unter fünfzehn=, und wieder andere, die Hundertjährigen,
unter zwanzig= und mehrblätterige. Mit
einem ohrenzerreißenden Gezisch, das sie zunächst
betäubte, ehe sie getötet wurden, fuhren die Sägen
in ihre Leiber. Mit den scharfgespitzten Zähnen
zerschnitten sie mit blitzartiger Schnelligkeit die schönen
Stämme; während dessen sprudelten Sägespäne aus
ihnen hervor wie Blut und überschütteten sie.
Als die Sägen den letzten Riß thaten – es
zog wie ein schriller Mißton durch den Raum
zerfielen die einstmals so stolzen Riesen in dünne,
blasse Bretter und hörten auf zu sein für immer
Arbeiter mit Riesenkarren kamen eilig und gingen.
Sie fegten die Sägespäne zusammen, die sich am
Boden angesammelt, führten sie fort und schüttelten
sie in den Schlund der Ofen im Erdgeschosse. Ohne
Unterbrechuug führten sie diese Arbeit aus, tagaus, tagein.
12
Kobylanska, Erzählungen.
178
Andere zogen die in Bretter zerfallenen Stämme
fort und schleuderten sie derart wuchtig auf den
Lagerplatz, daß sie im Niederfallen noch einmal wie
elastische Stahlblätter emporschnellten.
Wieder andere schoben schlanke Tannen unter
streifenartig schneidende Sägen, und noch andere
schmiedeten und schärften Sägen und besäeten ringsum
alles mit rotblitzenden Funken
Auf dem Lagerplatze wimmelte es von Menschen.
Die einen schoben Bretter heraus, andere stapelten sie
auf. Es war ein Lärmen und Rufen, ein ewiges Hin
und Her, eine fieberhafte, nach mathematischer Genanigkeit
bemessene Thätigkeit, hervorgerufen durch den Koloß
der Maschine, der eine Hitze entströmte zum Ersticken.
Lautlos, schien es, bewegten sich die Riesenräder,
umschlungen von breiten Riemenbändern, aber die
Luft war erfüllt von ihrem Getöse, und die Gegend
weit bis in die Wälder belebt. Nur in der Nacht war
es totenstill. Wie ein Wächter stand da der schwarze
Schlot und übersah finster das Kriegslager.
Da lagen die weißen, entblößten Stämme in großer
Menge, umflossen vom sanften Mondlicht, wie starre
Leichen. Die zu stolzer Höhe aufgestapelten Bretter
– 179 2–
reihen, zum Transporte vorbereitet, schimmerten silbergrau,
und von der Seite betrachtet, schienen sie bloße
Linien zu sein.
Stämme! – Überall, wohin der Blick fiel, lagen
Stämme, Holz, Bretter, Abfälle; und zwischen all’
diesen Haufen schlichen lautlos Bluthunde wie Gespenster
umher, große, ungeschickte Schatten werfend und schnüffelnd
nach Eindringlingen. – Seitdem die Fabrik einmal
in Flammen gestanden, wurden sie zu Wächtern
auserkoren. Aber niemand drang hinein; niemand
störte die Ruhe der Gefallenen
Halbleises Gemurmel des Gebirgsflusses, welcher
unweit der Fabrik unter dem Walde floß, drang weich
und eindringlich herüber, während der Wald eine
dunkle, unübersteigliche Mauer um das ganze Thal
bildete, über die nur der Mond herüber konnte.
Und der kam auch allnächtlich herüber. Blaß und
still und unbeweglich, als sei er gänzlich ermattet vor
Wehmut und als thäte es ihm wohl, seine Strahlen
in den bläulich durchsichtigen Nachtnebeln aufzulösen
oder hie und da in den dunklen Ton des Wassers zu
tanchen. Das Wehgemurmel der Wellen stimmte ihn so
schwermütig, und er vermochte es nicht zu überhören.
12*
– 180 2
„Wohin? Wohin? Wohin?“ murmelten sie unermüdlich
Nacht für Nacht und leckten gierig das Ufer
und plätscherten schmeichelnd in hörbaren Lanten an
große Steine, die hie und da aus dem Wasser plump
hervorragten. Aber sie erhielten keine Antwort.
Auf dem Lagerplatze blieb es still. Die Stämme
lagen entseelt und die Bretter steif und ansgestreckt.
Er aber sah die Antwort … Wohin er sein blasses
Antlitz auch wenden mochte, sah er auf den zum Transport
bestimmten Brettern die in schwarzen Lettern
geschriebenen Worte: „Nach Batum“ – „Nach Ba„Nach
Batum“
tum“
Hochsommer. – Versengend schienen die Strahlen
der Sonne, und die Luft war schwül und heiß.
Einzelne Wolken, die sich am Himmel eingefunden,
waren düster und regenschwer. Von Zeit zu Zeit hob
sich ein leichter Wind und dehnte die Wolken in die
Breite und zu unheilverkündenden Schatten. Eine
zeitlang schien es, als ließen sie sich von ihm bewegen,
fortzuziehen, als übte die Macht der Sonne einen zerstörenden
Einfluß auf sie aus; – allein, um die
Mittagszeit blieben sie plötzlich in ihrem Fluge stehen
+ 181 –
und hingen als gräulich-schwarze Massen über den
Bergen.
Es war nach der Schlacht.
Ringsum herrschte öde Stille. So weit das Auge
über die Bergreihen reichte, begegnete es der tiefsten
Verwüstung, und die abstoßende Nacktheit der Höhen
rief Stimmungen der Leere hervor.
Weißliche, verwitterte Baumstümpfe klafften dicht
nebeneinander gleich Gerippen aus dem vergilbten Grase
hervor. Überflüssige, zurückgelassene Bänme lagen in
großer Anzahl verstümmelt umher, und von der Rinde
entblößte Stämme, die sich als morsch erwiesen,
moderten unberührt.
Große, ansgebrannte Erdstellen mahnten an Brandwunden
und gaben Zeugnis vom Sieg der Flammen,
die hier so oft das Dunkel der Nacht wie rote Zungen
durchflackert und jedes in ihrer Nähe befindliche
Element gierig verzehrt hatten.
Stöße von Fichtenrinden lagen als dunkelbranne
Fetzen und Rollen halbverfault umher, und erdrückend
schwer lasteten haufenweise Holzspäne auf dem Grase.
Alte, vom Blitz zerspaltene Tannenbänme, unangetastet
zurückgelassen, standen da, die halbverdorrten
182 3–
Aste weit von sich streckend gleich hinfälligen Greisen,
vergeblich bemüht, den Wind in ihren erschütterten
Zweigen aufzuhalten.
Von Zeit zu Zeit zog durch die Luft ein klägliches,
trauriges Knarren. Es rührte her von gesunden,
einzeln zurückgebliebenen Fichten, die, jugendschlank
und von fast schwindelnd hohem Wuchs, nur in der
höchsten Spitze bekleidet waren. Diese Wipfel neigten
sich jetzt bogenförmig zur Erde, als hinge zwischen
ihren kurzen Kronenzweigen ein Zentnergewicht und
zöge sie nach unten. – Preisgegeben den Lannen des
Windes, bar des Schutzes und ohne jeglichen Halt,
wiegten sich diese Fichten tranervoll hin und her und
knarrten endlos, ruhelos Junge Tannenbäumchen,
einst von helllichtem, fast schimmerndem
Grün bedeckt, waren gebrochen und für immer vernichtet.
Farren ließen ihre Blätter wie ausgefrauste
Lappen hängen, und beraubt des Schattens, verblaßten
sie und starben langsam im Sonnenglanz. Das alte,
hohe Moos, herausgerissen, zerfetzt und mit der Wurzel
zur Sonne gekehrt, war ausgetrocknet, und denselben
Tod erlitt auch das schwellende, reiche Gras.
Die reichen Waldbüsche, Himbeersträuche, Wacholder
und andere widerstandsfähige Gewächse und Blumen,
die einst voller Uppigkeit gewuchert, waren am Boden
anseinandergezerrt. Denn über alle wurden ja tausende
und tausende Kolosse gewälzt!.
Hie und da zur Erde gedrückte Maulbeersträuche,
ihrer Kraft noch nicht beraubt, trugen reichlich ihre
blutroten Beeren, und sie schimmerten aus der Ferne
aus mattgrünem Hintergrunde hervor wie Blutlachen.
Kleinlant sickerte zwischen dem Gestein der einstmals
übermütige Bach. Massen von abgehackten
Zweigen, Baumrinden und Holzspänen dämpften sein
lautes Rieseln für lange, unbestimmte Zeiten.
Adler und Habichte verließen ihre Stätten und
verirrten sich nur felten in diese Gegend. Kaum daß
sie einige Male zur Frühlingszeit im raschen Fluge
die einstmals so stolze Heimat passierten. Ode, verwüstet,
bar aller ursprünglichen Schönheit, eines fast
erdrückenden Reichtums – waren die Berge gleichsam
zum Hohne zurückgeblieben und konnten es nicht verhindern,
daß die sengenden Strahlen der Sonne die
zurückgebliebene Flora, welche den tiefsten Schatten
erforderte, erbarmungslos ausbrannte.
Die zurückgelassenen, kaum dem Boden entwachsenen
184
Fichten und Tannen, welche durch Zufall unverletzt
geblieben waren, standen traurig und verlassen.
Stürme und Sonnenglut zogen abwechselnd über
ihre jugendlichen Kronen, die lange nicht gestählt genug
waren, um all’ das Ungemach der Witterung zu
ertragen. Die Hundertjährigen hatten sie mit ihren
stämmigen Armen bis jetzt vor allem geschützt
aber nun?
Und wenn sie auch allem trotzten? Aller Sonnenglut,
die so gierig ihre jungen Säfke anstrank, allen
Stürmen, die ihre Kronen zu brechen begehrten, aller
Kälte und allen übrigen äußerlichen Gefahren – was
dann?
Vergriff sich dann nicht auch an ihnen, wenn sie
schon in ihrer stolzesten Pracht da ständen, in Uppigkeit
prangend – über sich nur den Himmel anerkennend –
dieselbe ruchlose Hand? Und sie beschlossen zu sterben.
PG
Kobylians’ka, Ol’ha
3948
Kleinrussische Novellen
K55K5
PLEASE DO NOT REMOVE
CARDS OR SLPS FROM THIS POCKET
UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY
- ↑ Kleinrussischer Volksdichter.
- ↑ Kleinrussisches Trauerlied.
- ↑ Kleinrussischer Gebirgsbewohner.
- ↑ Bezeichnung der Huzulen für ihre Berghütte.
- ↑ Seelchen, Herzchen.
- ↑ Dies ist ein echtes Volkslied, übersetzt von Simiginowitsch Staufe.
- ↑ Berühmter kleinrussischer Räuberhäuptling.
- ↑ Briasa: ein Huzulendorf im Hochgebirge Bukowinas.
- ↑ Schumkas, fröhliche Gesänge der Kleinrussen und meist humoristischen Inhalts.
- ↑ So heißen die höchsten Felsenspitzen des Karpathengebirges in der Bukowina.
- ↑ Lehmbank am Hause draußen.
- ↑ Eine aus Brettern zusammengeschlagene Hütte, in der Hirten den Sommer über nächtigen.