Benutzer:Methodios/Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen: Jugenderinnerungen eines alten Mannes, hrsg. von Philipp von Nathusius im Verlag Wilhelm Hertz (Bessersche Buchhandlung), Berlin 1870 (Erstauflage), S. 120, S. 121, S. 122, S. 123, S. 124, S. 432, 433 und 434:
Christliche Influenzen
[Bearbeiten]S. 120 Die durch Geist und Herz, wie durch jeden persönlichen Werth gleich ausgezeichneten Brüder Joseph und Carl von Zezschwitz, beide im höheren Staatsdienst und etwa um jene Zeit durch Amt und Beruf nach Dresden geführt, hatten sich meinen Eltern schnell befreundet. Sie sowohl, als ihre liebenswürdigen Frauen, gehörten nach Geburt und Neigung der Brüdergemeinde an, welche damals vorzugsweise eine Trägerin reiner und gesunder Gotteserkenntnis war, und nach dieser Richtung hin erschlossen sie jetzt auch unserem Hause ganz neue Kreise von Ideen und Menschen. Durch sie wurden die Eltern mit einer Klasse von Personen bekannt, welche die Welt zu allen Zeiten mit den unliebsamsten Bezeichnungen, als Heuchler, Frömmler u.s.w. zu brandmarken und zu kreuzigen pflegt, und namentlich war meine Mutter aufs freudigste überrascht, gerade unter solchen die trefflichsten Menschen zu finden, einem Geschlechte angehörig, nach welchem sie bis dahin in unbestimmter Herzensahnung vergeblich ausgesehen hatte.
Die hervorragendste Erscheinung unter diesen neu gewonnenen Freunden und Bekannten war eine hochgestellte Dame, eine Burggräfin zu Dohna, geborene Gräfin zu Stollberg-Wernigerode, in welcher meine Mutter die Realisirung ihres höchsten Ideals von weiblicher Anmuth und Würde zu erkennen glaubte, und die sie daher bald und zumeist vor allen Frauen ihrer Bekanntschaft liebte und verehrte. Wir Kinder blickten zu ihr auf wie zu einem höheren Wesen, und mein Vater wünschte sie katholisch, damit der Papst sie canonisiren könne.
Auf dem schönen Gute Hermsdorf, zwischen Dresden und Königsbrück, lebte die Gräfin in häuslicher Stille und Zurückgezogenheit mit ihrem gleichgesinnten, streng kirchlichen Gemahl, mit welchem sie nur selten in die Stadt kam, dann aber immer bei uns vorsprach. Sie war eine Frau in ihren besten Jahren, von einnehmendstem Aeußeren, mit weichen, dunkeln Augen, etwas bräunlichem Teint und einem Gesichtsausdruck so still und würdig, wie etwa Perugino ihn seinen heiligen Frauen zu geben [S. 121] wußte. Auf ihrer ganzen Erscheinung lag eine Weihe, die mehr oder weniger alle berührte, die sich ihr nahten, und wer von ihr ging, nahm sicherlich auch einen Segen mit.
Nicht, daß diese theuere Gräfin gepredigt hätte, wie ihre berühmte Zeitgenossin, die Frau von Krüdener, aber die wunderbare Hoheit ihres durchaus demüthigen Wesens, die herzliche Theilnahme im Ausdruck ihres schönen Auges, die Treuherzigkeit im Ton der Stimme, und am rechten Fleck ein gutes Wort der Aufmunterung, des Trostes, der Anerkennung oder Bitte, so wie auch eine stets sich gleich bleibende Heiterkeit des Geistes, das waren ebenso unabsichtliche als starke Zeugnisse von der Kraft und Herrlichkeit des Glaubens, der in ihr lebte und Gestalt gewonnen hatte. Die Leiden und selbst die Sünden anderer, auch die an ihr begangenen, fühlte sie als ihre eigenen. Sie hatte daher Entschuldigung für alles und herzliches Erbarmen für jeden Irrenden, insonderheit auch für die Feinde des Namens Jesu, deren Feindschaft sie doch auch selbst nicht selten traf.
Denn so hoch die Gräfin von denen verehrt ward, die das Glück hatten, ihr persönlich nahen zu dürfen, so traf dennoch auch sie die Schmach Christi von Seiten so mancher, die sie nicht kannten, und die Verleumdung ward nicht müde, recht bösartige Gerüchte über sie in Umlauf zu setzen. Sie war aber darüber weder verwundert noch erbittert, da es ja ihrem heiligen Herrn und Meister nicht anders ergangen, und ihr, als seiner Jüngerin, nichts besseres verheißen war. Dergleichen Persönlichkeiten aber predigen durch ihr bloßes Dasein eindringlicher und besser als alle Eloquenz der Kanzeln; doch wußte die Gräfin auch zu reden, wo sich's paßte, und Rechenschaft zu geben von ihrem Glauben. Zu ihren Freunden sprach sie gern von dem, was ihr das Herz erfüllte, und meiner Mutter öffnete sie den Blick in eine selige Welt trostreichen Erkennens.
Es ist mancherlei geredet und gestritten worden über den Begriff und Werth der Tradition in christlicher Kirche. Man hat einerseits eine Kette von Menschensatzungen als Zeugnisse des heiligen Geistes dem Worte Gottes gleichgestellt, andererseits [122] ebenso irrtümlich angenommen, daß die Heilige Schrift an sich schon genügsam zu ihrem Verständnisse ausreiche, für solche wenigstens, die den guten Willen zu verstehen hätten. Doch habe ich mehrfältig erfahren, wie der Sinn des geschriebenen Wortes selbst dem reinsten Willen verborgen bleiben konnte, bis das lebendige Zeugnis der gläubigen Gemeinde dem Verständnisse zu Hilfe kam.
Dieses persönliche Zeugnis lebendiger Menschen von ihrem Erkennen, Glauben, Lieben und Hoffen möchte ich mir erlauben, die rechte, zum Verständnisse der Schrift unerläßliche Tradition zu nennen. Sie ist nicht bei dieser oder jener Konfession, wenigstens nicht zu allen Zeiten und nicht immer in gleicher Reinheit: sie ist bei der ganzen gläubigen Christenheit aller Konfessionen, mit anderen Worten, bei der allgemeinen christlichen Kirche. Sie ist das Licht und das Zeugnis des heiligen Geistes, der bei der Gemeinde bleiben und durch sie zeugen wird bis an das Ende aller Tage.
Meine Mutter war eine jener glücklichen Naturen, die eine natürliche Affinität zum Worte Gottes haben. Von ihrer Kindheit an hatte sie sich mit wunderbarer Liebe zu der heiligen Person des Kinderfreundes Jesu hingezogen gefühlt, dessen Vorbild und Geboten sie nachzuleben strebte, so gut sie konnte. Obschon sie im väterlichen Hause unter Einflüssen hatte leben müssen, die ihrem Verlangen nach geistlichem Wachsthum die Nahrung möglichst entzogen, hatte sie dennoch die vereinzelten Strahlen christlicher Wahrheit, die an sie herandrangen, immer ohne Widerstreben in sich aufgenommen. Sie glich einer harmonischen Saite, die mitklingt, wenn verwandte Töne angeschlagen werden, hatte ein sehendes Auge und hörendes Ohr und lernte in der Regel, wo sie gute Lehre fand.
Wesentlich aus der Hand jener unvergeßlichen Gräfin nahm meine Mutter den Schlüssel zu dem offenkundigen Geheimniß der Erlösung, und nun erst fing sie an, die Heilige Schrift auch zu verstehen, sie als Wort Gottes zu begreifen und zu glauben. Nicht, daß sie damals gleich von vornherein zu einer fertig abgeschlossenen theologischen Ansicht gelangt wäre, zu der sie es überhaupt nie brachte; es waren eben nur Anfänge christlichen Anschauens und Erkennens, das seiner Natur nach niemals abschließt.
In wiefern nun meine liebe Mutter bei solcher Bereicherung ihres inneren Lebens einer Selbsttäuschung erlegen oder nicht, darüber mochten die Ansichten ihrer älteren Freunde auseinander gehen. Ich kenne es aber nicht anders, und zwar nach einer langen Reihe von Erfahrungen, als daß alle diejenigen, denen es durch Gottes Gnade gelang, den Christenglauben zu ergreifen, eine köstliche Perle gefunden zu haben meinten, in deren Besitz sie sich beseligt und versöhnt mit Gott und Menschen fühlten. Umgekehrt aber habe ich es auch stets erfahren, daß Gläubige, die in ihrem Glaubensleben gestört wurden, dies immer auch in ihrem Seelenfrieden waren. Was meine Mutter anbelangt, so bekannte sie selbst von sich, nicht etwa, daß sie besser und vollkommener geworden, sondern daß sie in ein Element gerathen, in welchem es ihr wohl war, und da sie volles Genügen fand. War das Täuschung, so möchte ich allen Menschen solche Täuschung wünschen.
Die stillen Sonntag=Morgen, die wir Kinder bei der Mutter zu verbringen pflegten, wurden jetzt immer segensreicher für uns. Wir saßen dann um den runden Tisch, wir Brüder zeichnend, die Schwester mühsam Strümpfe strickend für ihre Puppe, [124] während die Mutter uns irgend etwas Erbauliches vorlas, etwa aus den damals erscheinenden Krummacher'schen Kinderschriften, dem Sonntage, dem Festbüchlein und anderen, oder auch Geschichten aus der Heiligen Schrift. Dann unterhielt sie sich mit uns über das Gelesene auf eine Weise, die wir wohl verstehen konnten, und in solchen Stunden schlang sich um die natürliche Liebe der Familie noch ein anderes, heiligeres Band, das unser aller Herzen trotz mannigfaltiger späterer Verirrung nicht nur unter einander, sondern wie ich hoffe, auch mit unsrer ewigen Heimath auf immer fest verknüpft hat.
Auch der Vater fand sich jetzt bisweilen, namentlich wenn wir auf dem Lande waren, mit irgend einer leichten Arbeit zu diesen kleinen Hausgottesdiensten ein. Er hatte keinen Widerspruch in seiner Seele und hörte freundlich zu, sich anfänglich wohl nur des ruhigen Beisammenseins mit den Seinen freuend. Da kam es auch über ihn, und allgemach ward auch er von jener wunderbaren Ansteckung ergriffen, die aus tugendhaften Leuten arme Sünder macht und das Herz zu einer Liebe entzündet, die nicht von dieser Welt ist. Doch es mögen dies aber auch nur die ersten Lockungen der Gnade, die ersten Anfänge himmlischer Berufung gewesen sein. Das entschiedene Eingreifen der geoffenbarten Wahrheit blieb einem späteren Lebensabschnitt vorbehalten.
Wie es weiter in Lausa herging
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S. 432 Mehr hatte es zu bedeuten, daß ich jetzt des öfteren gewürdigt ward, die Abende mit in Hermsdorf zuzubringen. Das Schloß allein schon wäre eines Besuches werth gewesen. Es war ein großer, mit seinen Nebengebäuden durch einen Wassergraben vom Wirthschaftshofe und Parke isolirter dreithürmiger Prachtbau aus älterer Zeit. Nachdem man eine Zugbrücke passirt, gelangte man mittelst eines tiefen Thores auf den inneren Schloßhof, der zur Sommerzeit, mit Springbrunnen geziert, den reizendsten Anblick darbot. Weiterhin empfing den Eintretenden im Erdgeschoß des Schlosses eine weite steinerne Halle, durch welche man zu einer Wendeltreppe gelangte, die, im mittleren Thurme auflaufend nach den oberen Gemächern führte. Da war's so schön, so still und geräumig. Nichts erinnerte an die Beschränkungen des gemeinen Lebens und nichts an Augenlust, an Weichlichkeit und Hoffart. Es fand sich alles, was zum wirklichen Comfort eines behaglichen Lebens gehört, aber nichts Unnützes und nichts, was geblendet oder geprahlt hätte.
Dem befriedigenden Eindruck dieser Häuslichkeit entsprachen denn auch die Personen, die hier hausten. Der Graf und die Gräfin waren beides Menschen, wie man sie sich zum vertraute= 433 sten Umgang wünschen möchte, einfach, wahr und wohlwollend und dazu niet- und nagelfest in ihrem ganzen Wesen. Von der großen Welt zurückgezogen, lebten sie jedoch nichts weniger als einsam, denn ihr Haus war nach und nach ein Sammelplatz geworden für Glaubensbrüder aus allen Kirchen und Confessionen der Christenheit, ein richtiges hospitium ecclesiae dei, da sich mancher wackere Pilgersmann im Vorübergehen für fernere Wallfahrt Kraft und Segen holte. Was an hervorragenden, für die Ausbreitung des Reiches Gottes thätigen Männern nach Dresden kam, das pilgerte auch hinaus nach Hermsdorf, sich das hospitium und seine Wirthe anzusehen. Da sah man Brüder aus England, Frankreich, Rußland und Amerika, Missionare von den fernsten Orten der Erde, Lutheraner, Reformirte aller Denominationen, selbst Katholiken, und alle fühlten sich verbunden durch e i n e n Glauben, e i n e Liebe und e i n e Hoffnung. Es bestand damals eine in hohem Grade erbauliche Herzensunion unter den Offenbarungsgläubigen aller Kirchen, welche freilich mit der eben zu jener Zeit erfundenen Königlich preußischen Kirchenunion nicht das geringste gemein hatte, vielmehr in dieser nur ihr Zerrbild und ihren Untergang fand. Immerhin ist es auch ein Unterschied, ob man sich mit einzelnen über den Zaun hinweg die Hand reicht und gute Nachbarschaft mit denen hält, die jenseits wohnen, oder ob man den Zaun ganz abträgt und damit mein und dein vermischt und verwischt. Graf Dohna und sein Pastor waren entschiedene Widersacher jener preußischen Gleichmacherei, die jeder inneren Wahrheit baar und ledig ging; sie erkannten jeden der Jesu Christo angehören wollte, als mit sich auf einem Wege, und wenn er auch ein Quäker oder Wiedertäufer gewesen wäre; zugleich aber hielten sie das lutherische Bekenntniß für das allein correkte und wollten es dem lutherischen Volke ungetrübt erhalten wissen. Der Rationalismus war zwar in die lutherischen Hürden so gut eingebrochen, wie in alle anderen, factisch herrschte er sogar darin, doch aber stand das Bekenntnis in Sachsen noch unter dem Schutze des Rechtes und diese Position muthwillig aufzugeben schien gefährlich. Auf solche und 434 andere geistlichen Materien kam an jenen Abenden viel die Rede, und ich achtete auf das Gespräch der Alten und hatte davon wenigstens den Vortheil, mit den theologischen und kirchlichen Fragen der Zeit einigermaßen bekannt zu werden.
Demungeachtet aber, und obgleich meine liebe Mutter die Quelle in der Hand hielt und die Bibel fleißig las, besonders seit ihr diese durch manches, was sie von Herder gelesen, lieb und werth geworden, hatte sie doch bis dahin gerade die beseligendsten Aussprüche derselben kaum bemerkt, und erst jetzt im persön- [123] lichen Verkehr mit gereifteren Christen, und durch diese hingewiesen auf eine specifisch christliche Literatur, begann ihr allgemach die Decke von den Augen zu fallen. Sie wurde angesteckt durch das Contagium einer ewigen Heilung und trat ein in die Vorhallen des auf Golgatha erbauten Heiligthums, da Jesus Christus selbst das Hochamt hält.