Benutzer:Vsop.de/Moabiter Sonette

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Textdaten
Autor: Albrecht Haushofer
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Titel: Moabiter Sonette
Untertitel:
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Herausgeber:
Auflage: 2. Auflage (6. bis 15. Tausend) 1947
Entstehungsdatum: 1944/45
Erscheinungsdatum: 1946
Verlag: Lothar Blanvalet
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Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle:
Kurzbeschreibung: Während die Ausgabe der Sonette von Amelie von Graevenitz (ab 1999 in der Reihe textura bei Langewiesche-Brandt, Ebenhausen, ab der 6. Auflage 2012 bei C.H.Beck, München) den Text der „offenbar einzigen vorhandenen, nämlich der letzten Handschrift, des in Familienbesitz befindlichen »Hartschimmel-Manuskriptes«“ wiedergibt, ist die Textgrundlage der hier vorgestellten Ausgabe von 1946/47 ungeklärt. Graevenitz nimmt an, der erste Privatdruck von 1945 und die diesem im wesentlichen entsprechende Ausgabe von 1946/47 könne auf einer früheren, verschollenen Handschrift beruhen, die vielleicht schon vor dem Tod Haushofers aus dem Gefängnis gebracht worden sei. Dass abweichend von dem »Hartschimmel-Manuskript« und anderen Publikationen Haushofers, in denen jede Verszeile mit einer Majuskel beginnt und auf ß und Apostrophe verzichtet wird, 1946/47 für den Zeilenanfang auch Kleinschreibung sowie ß und Apostrophe nach den damals geltenden Regeln verwendet wurden, wird man mit Graevenitz als redaktionelle Maßnahme der Herausgeber ansehen können. Mit dem aus Rücksicht auf die Besatzungsmächte vorgenommenen Verzicht auf den Abdruck des Sonetts Nr. IL „Bombenregen“ in der Ausgabe von 1946/47, das hier am Ende hinzugesetzt ist, entfiel die im »Hartschimmel-Manuskript« vorgenommene Durchnumerierung der Sonette (I bis LXXX). Erwähnenswert sind daneben noch die hier in den Fußnoten (Anmerkungen Wikisource) beschriebenen Abweichungen vom »Hartschimmel-Manuskript«. Siehe auch w:Diskussion:Albrecht Haushofer#80 Sonette?.
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[11]
IN FESSELN

Für den, der nächtlich in ihr schlafen soll,
so kahl die Zelle schien, so reich an Leben
sind ihre Wände. Schuld und Schicksal weben
mit grauen Schleiern ihr Gewölbe voll.

Von allem Leid, das diesen Bau erfüllt,
ist unter Mauerwerk und Eisengittern
ein Hauch lebendig, ein geheimes Zittern,
das andrer Seelen tiefe Not enthüllt.

Ich bin der erste nicht in diesem Raum,
in dessen Handgelenk die Fessel schneidet,
an dessen Gram sich fremder Wille weidet.

Der Schlaf wird Wachen wie das Wachen Traum.
Indem ich lausche, spür‘ ich durch die Wände
das Beben vieler brüderlicher Hände.


[12]
NÄCHTLICHE BOTSCHAFT

Noch andre Botschaft rieselt aus der Nacht
in meines Wesens kaum bewußte Schichten,
im Wellengang von Tönen und Gesichten
wird mir von Toten letzter Sinn gebracht.

Zu deuten das Gefühlte, bleibt versagt.
Die Toten rufen uns auf eigne Weise
mit Klängen wie von einer Sternenreise –
nur eines weiß ich, da der Morgen tagt.

So wenig in den stoffgebundnen Reichen,
seit Schöpfertum im Sonnenkreis begann,
ein Körnchen Staub verlorengehen kann,

so wenig darf ein Seelenhauch entweichen.
Wohin er weht, wenn er dem Leib entflieht –
die Frage scheut, wer keine Grenze sieht.


[13]
TIBETISCHES GEHEIMNIS

In jenem Land, wo klare Winterstürme
die höchsten Gipfel dieser Welt umwehn,
soll man auf seltne Künste sich verstehn,
geborgen in den Schutz der Klostertürme.

Die Weisesten der Weisen leben dort,
in Zellen eingemauert, ihrem Denken.
Der Seele streng beherrschte Strahlung lenken
sie andern zu, gelöst von Zeit und Ort.

Was Fugenspiel und Symphonie dem Tauben,
was Rot und Grün dem Farbenblinden scheinen,
ist solche Kunst für stoffgebundnes Meinen.

Wo Geistes-Wunder, sonst ein scheues Glauben,
schon hohes Können ist, verwandelt sich
ins große Du hinein das kleine Ich –


[14]
WELLENRUFE

Ich weiß vielleicht schon mehr von diesen Dingen
als Taube von Musik. Vielleicht so viel,
wie einer hört von fernem Flötenspiel,
der Wachs im Ohr hat: ein gedämpftes Klingen.

Doch immerhin genug, um einen Wert
aus diesem oder jenem Ton zu hören,
genug, den Spieler nicht im Spiel zu stören,
genug, den Sinn zu wecken, der verehrt.

So lausch ich heute mit gebundnen Händen
auf manches, was an viele schon sich wendet,
auf manches, was an mich allein gesendet,

und rufe selber aus des Kerkers Wänden,
ob ungelenk und schwach, dem Nächsten zu:
Sei nicht in Sorge – leben wirst auch Du!


[15]
AN DER SCHWELLE

Die Mittel, die aus diesem Dasein führen,
ich habe sie geprüft mit Aug‘ und Hand.
Ein jäher Schlag – und keine Kerkerwand
ist mächtig, meine Seele zu berühren.

Bevor der Posten, der die Tür bewacht,
den dicken Klotz von Eisen sich erschlösse,
ein jäher Schlag – und meine Seele schösse
hinaus ins Licht – hinaus in ferne Nacht.

Was andre hält an Glauben, Wünschen, Hoffen,
ist mir erloschen. Wie ein Schattenspiel
scheint mir das Leben, sinnlos ohne Ziel.

Was hält mich noch – die Schwelle steht mir offen.
Es ist uns nicht erlaubt, uns fortzustehlen,
mag uns ein Gott, mag uns ein Teufel quälen.


[16]
DER SCHIERLINGSBECHER

Man will noch in Athen den Ort bezeugen,
wo Sokrates gewartet haben soll,
bis jene Frist der frommen Feste voll,
um sich dem tödlichen Gesetz zu beugen.

Ich ging vorüber an der dunklen Schwelle,
den Blick zum Parthenon emporgewandt,
und übersah, von lichtem Glanz gebannt,
den Todesbecher in der Tageshelle.

Nun reut mich, daß ich dort vorüberging.
Es hätte sich geziemt, ins Knie zu sinken
und wissend von dem Schierling mitzutrinken.

Es war ein Großer, der sich unterfing,
des eignen Staates blinden Mordgewalten
als Opfertier die Treue so zu halten.


[17]
BARBARENTUM

In Syrakus, in einer wilden Zeit,
hat man Gefangne deshalb losgegeben,
weil sie vor Jammer sich im Kerkerleben
durch Chorgesang des Aischylos befreit.

Ein Dschingis Chan sogar, des Blutes voll,
hat seine Streiter streng dahin beschieden,
daß man beim Bau von Schädelpyramiden
der Denker und der Künstler schonen soll.

Die Zeiten solcher Auswahl sind vorbei.
Wer wagte heut, ein Dschingis Chan zu sein?
Wer löste Chöre von Gefangnen ein?

So preisen wir vergangne Barbarei.
In unsrer Zeit sind all die Schädel gleich.
An Masse sind wir ja so schädelreich!


[18]
RUNDMARSCH DER GEFANGENEN

In Moskau hab ich einst ein Bild gesehn.
Van Gogh, der Meister. Dunkler Quadern Bau.
Ein Innenhof. Gefangne grau in grau,
die hoffnungslos in engen Kreisen gehen.[1]

Nun schau ich selber durch die Gitterstäbe
in einen Hof, darin man Menschen treibt
wie Herdenvieh, das noch zu hüten bleibt,
bevor man ihm das Beil zu spüren gebe.

Als Herrscher aller dieser grauen Bahnen
steht einer draußen, den die Lust erfüllt,
wenn andre leiden. Einer, der noch brüllt,

wenn andre schweigend schon die Wandlung ahnen,
die aus den Gräbern sprossend längst beginnt,
bevor sie rot in rote Ströme rinnt.


[19]
DIE WÄCHTER

Die Wächter, die man unsrer Haft gestellt,
sind brave Burschen. Bäuerliches Blut.
Herausgerissen aus der Dörfer Hut
in eine fremde, nicht verstandne Welt.

Sie sprechen kaum. Nur ihre Augen fragen
zuweilen stumm, als ob sie wissen wollten,
was ihre Herzen nie erfahren sollten,
die schwer an ihrer Heimat Schicksal tragen.

Sie kommen aus den östlichen Bereichen
der Donau, die der Krieg schon ausgezehrt.
Ihr Stamm ist tot. Ihr Hab und Gut verheert.

Noch warten sie vielleicht auf Lebenszeichen.
Sie dienen still. Gefangen – sind auch sie.
Ob sie’s begreifen? Morgen? Später? Nie?


[20]
GERÄUSCHE

Von außen drückt durch schlecht gefügte Scheiben
ein kalter, winterlicher Hauch herein
und bringt in meiner Zelle Sondersein
Geräusche, die dem Krieg verbunden bleiben.

Den Schritt der Wache wie den Marschgesang,
der nahen Schienen fauchendes Geschiebe,
der Waffenwerke polterndes Getriebe,
der nächtlichen Sirenen wüsten Klang.

Geräusche, die der Zeit noch gültig sind.
Wie hör‘ ich Tag für Tag Motoren dröhnen,
wie spärlich manchmal eine Glocke tönen!

Doch ahnt ein Winter schon den Frühlingswind.
Es kommt der Tag, wo die Motoren schweigen,
und Frieden läuten wird ein Glockenreigen.


[21]
SILVESTERSEGEN

Des Jahres würdig war der letzte Schluß:
In unsren Zellen rattenhaft verwahrt,
erfahren wir in ganz besondrer Art
den Prall der Bomben wie den Flakbeschuß.

Kein großer Angriff. Ein Silvestersegen,
den Trümmerstätten von Berlin geweiht,
an eines Jahres Gabe nur gereiht
wie späte Glut an einen Flammenregen.

Was in Jahrhunderten gewachsen war,
vernichtet nun in Stunden jäh die Kraft
gewissenlos mißbrauchter Wissenschaft.

Das alte China kannte die Gefahr.
Es bannte schon das Pulver, weil darin
Versuchung lag, zu groß für Menschensinn.


[22]
LAWINEN

Wem je die hohen Berge Heimat waren,
der weiß, wie man die Hänge meiden muß,
an denen, in zermalmend jähem Schuß,
Lawinen donnernd in die Tiefe fahren.

Da mag ein ganzer Berg in Stille lauern,
der kleinste Schneeball reißt die Hüllen auf,
und weiße Lasten tosen ihren Lauf.
Begraben Täler unter Todesmauern.

Vermessenheit, Lawinen loszulösen!
Verbrecher, wer sich des Zerstörens freut.
Ein Narr zugleich, wer nicht den Wurf bereut!

Vermessenheit im Guten oder Bösen –
Ich büße den Versuch, sie aufzuhalten.
Ein Stoß – ein Wirbel – tödliches Erkalten ...


[23]
MASCHINENSKLAVEN

Ravenna, Salzburg, München, Genua,
Westminster, Köln, Antwerpen, Lübeck, Tours –
es waren Städte – doch nicht Städte nur
wie Krasnojarsk vielleicht und Omaha.

In allem Werk, das formend eine Hand
mit Liebe schuf, ist andres noch gebunden,
als in Maschinenstampf ihr je gefunden!
Maschinensklaven, werft Ihr es in Brand!

Begreift Ihr, was Ihr tut mit Euren Spielen,
atomzertrümmernde Raketenzünder,
totaler Kriege schäumende Verkünder!

Was bleibt am Schluß von allen Euren Zielen?
Ist alles Überlieferte zerstört,
fehlt Euch sogar ein Erbe, der Euch hört!


[24]
QUI RESURREXIT

In tausend Bildern hab ich Ihn gesehn.
Als Weltenrichter, zornig und erhaben,
als Dorngekrönten, als Madonnenknaben, -
doch keines wollte ganz in mir bestehn.

Jetzt fühl ich, daß nur eines gültig ist:
Wie sich dem Meister Mathis er gezeigt! -
doch nicht der Fahle, der zum Tod sich neigt –
der Lichtumflossne: dieser ist der Christ.[2]

Nicht Menschenkunst allein hat so gemalt.
Dem Grabesdunkel schwerelos entschwebend,
das Haupt mit goldnem Leuchten rings umwebend.

Von allen Farben geisterhaft umstrahlt,
noch immer Wesen, dennoch grenzenlos,
fährt Gottes Sohn empor zu Gottes Schoß.


[25]
OM MANI PADME HUM[3]

Heut nacht war mir ein andres Bildnis nah:
So mild und still, so friedevoll und fern
wie ein Geschenk von einem andern Stern.
Der große Buddha von Kamakura.[4]

Aus einem Hain von Kirschenblüten schaut
er auf das Fischerdorf und bleibt gelassen,
ob Kinderlachen spielt in seinen Gassen,
ob Weltenmeer darüber Stürme braut.

Er kennt kein Zürnen, kein Verzweifeltsein,
und lehrt nur eines: wie man sich versenke,
den Einzelwillen in die Allheit lenke,

die Seele lösend aus der Dinge Schein,
will Buddha sie aus allem Leiden heben –
dem Lotus fühl ich lächelnd ihn entschweben.


[26]
SPATZEN

Zuweilen kommt Besuch: Das Eisengitter,
für mich Gefängnis, ist für andre Rast.
Ein Spatzenpaar ist gerne da zu Gast,
ein Spatzenfräulein und ein Spatzenritter.

Sie lieben sich in Zank und Zärtlichkeit,
sie haben schnäbelnd sich viel zu erzählen,
und wollt ein andrer Spatz die Spätzin wählen,
dann gäb es einen fürchterlichen Streit.

Wie seltsam ist es, ungehemmtem Leben
in Fesseln voller Frage nahzustehn –
ob mich die flinken, schwarzen Augen sehn?

Sie schauen fort. Ein Tschilp, ein Flügelheben,
der Eisenrost ist leer. Ich bin allein.
Wie gerne möchte ich bei den Spatzen sein –


[27]
DIE MÜCKE

Ein leisestes Gesurr. Auf meine Hand
sinkt flügelschwirrend eine Mücke nieder,
ein Hauch von einem Leib, sechs zarte Glieder –
wo kam sie her aus winterlichem Land?

Ein Rüssel ... schlag ich zu? Mißgönn ich ihr
den Tropfen Blut, der solche Wesen nährt?
Den leichten Schmerz, den mir der Stich gewährt?
Sie handelt, wie sie muß. Bin ich ein Tier?

So stich nur zu, du kleine Flügelseele,
solang mein Blutgefäß dich nähren mag,
solang du sorgst um deinen kurzen Tag!

Stich zu, daß es dir nicht an Kräften fehle!
Wir sind ja beide, Mensch und Mücke, nichts
als kleine Schatten eines großen Lichts.


[28]
GEIGENSPIEL

Von denen, die sich in die Wache teilen,
spielt einer Geige. Manchmal klingt’s herauf,
ein harter Griff, ein holperiger Lauf,
und dennoch läßt es mich im Geist verweilen.

Wenn ich der edlen Stradivari denke
und ihres Meisters, dessen Freund ich bin,[5]
dann jammert meinen tonvertrauten Sinn
das hilflos Tastende, das Ungelenke.

Doch bleibt’s Musik, was diese plumpen Hände
dem billigen Gehäuse noch entlocken,
es bleibt Musik, auch wenn die Pulse stocken.

Musik im Schatten der Gefängniswände.
Von Mozart war die letzte Melodie –
und Mozart – nein: gescholten hätt‘ er nie!


[29]
BEETHOVEN

Mit sechzehn Jahren ward ich wohl verklagt,
daß ich, anstatt die pochenden Triolen
von Opus zwei genau zu wiederholen,
mich schon an Opus hundertelf gewagt.

Die Meisterin der Kunst in weißen Haaren,
sie ließ mich spielen, nickte nur und sann:
„Der so geschrieben, war ein tauber Mann.
Verstehen wirst Du’s erst in späten Jahren.“

Sie schwieg. „Wenn Dir einmal das Herz gesprungen
und weiterschlägt und weiterschlagen soll.“
Ihr großes Auge war von Güte voll.

Sie setzte sich, der Flügel hat geklungen.
In diesen Tagen ist mir oft im Sinn
dies eine Spiel der toten Meisterin.


[30]
FIDELIO

Ein Kerker. Einer, der das Böse will.
Ein Todgeweihter. Kämpfend, eine Frau.
Ein heller Klang durchdringt den dunklen Bau,
und einen Atem lang sind alle still.

In allem Zauber von Musik und Bühne
wird keinem Ruf so reiner Widerhall
wie diesem herrischen Trompetenschall:
Dem Guten Sieg, dem Bösen harte Sühne.

Geborgen steigen Sie empor ins Licht,
gegrüßt von denen, die gefesselt waren,
geleitet von befreienden Fanfaren.

Im Leben gibt es diese Töne nicht.
Da gibt es nur ein lähmendes Verharren.
Danach ein Henken, ein Im-Sand-Verscharren.


[31]
GEFÄHRTEN

Als ich in dumpfes Träumen heut versank,
sah ich die ganze Schar vorüberziehn:
Die Yorck und Moltke, Schulenburg, Schwerin,
die Hassell, Popitz, Helfferich und Planck –[6]

nicht einer, der des eignen Vorteils dachte,
nicht einer, der gefühlter Pflichten bar,
in Glanz und Macht, in tödlicher Gefahr,
nicht um des Volkes Leben sorgend wachte.

Den Weggefährten gilt ein langer Blick:
Sie hatten alle Geist und Rang und Namen,
die gleichen Ziels in diese Zellen kamen –

und ihrer aller wartete der Strick.
Es gibt wohl Zeiten, die der Irrsinn lenkt.
Dann sind’s die besten Köpfe, die man henkt.


[32]
HEIMAT

Man hat mich über meine Flucht befragt,
warum ich nicht den Weg zum Rhein genommen,
zur nahen Schweiz, den jungen Strom durchschwommen,
bevor man gründlich erst nach mir gejagt.

Ich wollte nicht aus meiner Heimat gehn.
Sie schien mir lange guten Schutz zu gönnen.
Dann hat auch sie mich nicht mehr bergen können,
ich werde lebend kaum sie wiedersehn.

Doch bleibt es tröstlich, ihrer Berge Mauern
im Hintergrund von Alm und Hof zu wissen,
muß ich auch selbst den Gipfelhauch vermissen.

Die silbergrauen Wände werden dauern,
ob sie der Mensch durchklettert oder flieht,
bis neues Eis die Felsen rings umzieht.


[33]
ACHERON

Ein großer Dichter[7] hat das Wort geprägt[8],
man müsse selbst den Acheron bewegen,
wenn sich zur Hilfe nicht die Götter regen.
Mein Vater hat es oft im Trotz gesagt.

Mein Vater war noch blind vom Traum der Macht.
Ich hab' die ganze Not vorausempfunden.
Zerstörung, Brand und Hunger, Tod und Wunden,
das ganze Grausen solcher Teufelsnacht ...

Bewußten Abschied hab‘ ich oft genommen
von allem, was das Leben Schönes bot:
Von Heimat, Werk und Liebe, Wein und Brot.

Nun ist das Dunkel über mich gekommen.
Der Acheron ist nah, das Leben fern.
Ein müdes Auge sucht nach einem Stern.


[34]
OLYMPISCHES FEST

Mit einem Dom von hochgestrahltem Licht
begannen sie das letzte ihrer Feste.
Der Hochmut freute sich der stolzen Geste:
Man sah vor lauter Glanz die Sterne nicht.

Gelöst von aller Tage bunten Sorgen,
bestaunte man der Jugend Marsch und Spiel,
bewunderte der Griechenfackel Ziel,
im Leuchten dieses Kuppelscheins geborgen.

Mich täuschte dieser helle Zauber nicht.
Ich sah die Kräfte, die so milde schienen,
dem grauenhaftesten der Kriege dienen.

Ich kannte wie die Maske das Gesicht.
Die sich zum Spielen Schar um Schar gereiht:
Die ganze Jugend ist dem Tod geweiht.


[35]
VISION DER FACKEL

Ein Mannesleib von Adel, Maß und Schwung
vollendet eines Feuers Fackelzug,
das man aus Griechenland nach Norden trug,
als Licht olympischer Erinnerung.

In jenem Hain der Säulen und der Bäume,
wo Götterzeugung durch die Zeiten webt,
entsprang die Leuchte. Hüte sie, wer lebt!
In jeder Leuchte zucken Flammenträume ...

Durch viele Länder nahm es seinen Lauf,
das Feuer, das, in Griechenland entzündet,
Jahrtausenden von Geist und Spiel gekündet –

zwingt ihr dem Feuer eine Knechtschaft auf?
Es zischt und sprüht, wie man's in Banden hält.
Die Fackel flackert. Lodern – wird die Welt.


[36]
ARENA

Am Ende saß ich in die Nacht hinein
mit einem Gast aus England noch zusammen.
Von draußen leuchteten die Festesflammen.
In unsren Gläsern funkelte der Wein.

„Ich habe mich gefragt“ – der Lord geruht
zu sprechen - „was dem Fest noch fehle.
Jetzt weiß ich’s: Für den Rausch der Massenseele
die Löwen und die Tiger und das Blut.“

Er lächelt böse. Altes Wissen stieg
empor in seinen scharfgeschnittnen Zügen.
Ein Caesar sprach: „Das andere – sind Lügen.

Jetzt feiern sie mit Fahnen ihren Sieg.
Bald brüllen Sie nach Blut. Dann sind sie echt.“
Vansittard[9] schweigt. Ich auch. Der Lord hat recht.


[37]
DIE TIGER-AFFEN

In China hieß ein Weiser schon vor Zeiten
Den Tiger-Affen das erhabne Tier
(- als homo sapiens benennt man‘s hier -).
Der Name wäre gut, ihn auszubreiten.

Dem Affen gleich im Spielen seiner Triebe,
dem Tiger gleich an mörderischer Kraft,
so hat der Mensch Gewalt an sich gerafft
und wird zum Teufel, mangelt ihm die Liebe.

So wachsen Mord und Brand und Quälerei
mit stolzem Wissen immer neu verbunden,-
von Menschen ganz allein wird so geschunden.-

Und ließ ein Göttlicher sich heut herbei,
sie nur zu mahnen, stürb‘ er morgen schon,
ans Kreuz genagelt, unter Spott und Hohn.


[38]
ASTI SPUMANTE

Der letzte Wein des Südens, den ich trank –
Turin. Superga. Von den Bergen kam
ein spätes Leuchten. Meine Seele nahm
und gab dem besten Freunde Lebensdank.

Der Freund ist tot. Die Stadt Turin zerstört.
In meinem Krug, da schäumt kein edler Wein.
Vor sieben Jahren soll’s gewesen sein?
Der Sinn ist tot, der auf die Jahre hört ...

Ich werde keinen Asti mehr genießen,
mag auch die Traube von der Sonne glühn,
um perlend in den Kelchen aufzusprühn.

Mag edler Wein für junge Herzen fließen –
im Aschengrund von allen Weltenfeuern
sind immer Seelen, die das Glück erneuern.


[39]
DER FREUND

Du Toter, denkst Du des Gefährten auch?
Heut war mir wieder zwischen Traum und Wachen,
als hört ich Dein vertrautes, tiefes Lachen,
als fühlt ich an der Wange Deinen Hauch –

Du hast so viel geschaut, gespürt, geahnt,
hast früh mit früher Wandlung Dich verbündet
hast mir noch dunkle Mühsal streng verkündet –
ist nun auch mir der Weg zum Strom gebahnt?

Ich bin bereit zu bleiben und zu gehen.
Es leben nicht mehr viele, die mich halten ...
der Toten sind die tieferen Gewalten ...

Ich fühle Dich im Boot als Fergen stehen,
ich fühle Deine Hand sich grüßend heben –
Du schweigst ... soll ich Dir folgen? Soll ich leben?


[40]
MUTTER

Ich sehe Dich in einer Kerze Licht
im Rahmen einer dunklen Pforte stehn.
Du spürst[10] die Kühle von den Bergen wehn.
Du frierst ja, Mutter ... dennoch weichst Du nicht.

Du schaust mir nach, der in die Nacht enteilt,
in dunklen Schicksals ungewisse Frist,
mit einem Lächeln, das nur Weinen ist,
mit einem Schmerz, den kein Vertrauen heilt.

Ich sehe Dich in Deiner Liebe Licht,
im Zittern Deiner weißen Haare stehn.
Du spürst die große, dunkle Kühle wehn –

und langsam, langsam senkt sich Dein Gesicht.
Noch immer leuchtet fern der Kerze Schein –
Du frierst ja, Mutter ... Mutter – geh hinein ...


[41]
DER SCHWANENRING

Der Siegelring aus Deinem Ahnenkreis,
ich ließ ihn, Mutter, Dir. In Deiner Hut
bin ich gewiß, daß er in Treue ruht,
der viel von meines Lebens Bahnen weiß.

Das Wappen, das er führt, den weißen Schwan,
der mächtig schlagend seine Schwingen hebt
und zwischen Sternen in den Himmel strebt –
ein Kaiser gab ihn einem fernen Ahn.[11]

Er siegle weiter. Komm ich nicht zurück,
so steck ihn – gehst Du selbst ins andre Land –
dem tüchtigsten der Neffen an die Hand

und sag ihm: Schwanenflug bedeute Glück ...
Gedenkt er dessen, der sein Erbe trug
nur einen Tag im Jahr, so sei’s genug.


[42]
PARTNACHALM

Von allen quaderfest gefügten Mauern
in Hof und Haus, in städtischem Besitz,
wird wenig bleiben in der Zeiten Blitz –
der kleine Bau von Holz allein mag dauern.

Sein Dach ist fern von allen Kampfeszielen,
im Winter tief in weißem Schnee versteckt,
im Sommer hoch von grünem Wuchs gedeckt,
von grünem Wuchs, darin die Winde spielen.

So darf es noch vielleicht in späten Jahren,
dem Tal entrückt und nur dem Berg vertraut,
an dessen Flanke sich das Wetter staut,

den Erben seinen Zauber ganz bewahren.
Wer Frieden, Rast, Versenkung suchen will –
Dort findet er’s ... Wie sind die Nächte still!


[43]
ABSCHIED

Schon müssen Jupiter und Venus bleichen,
die Gipfel hellt ein erstes Rosenlicht.
Ich weiß um meine nächsten Wege nicht,
weiß nicht, ob Grüße jemals mich erreichen –

Allmählich schwindet in den Berg hinein
das Hufgetrappel, das mich fortgeleitet.
Das Maultier, das zu Tale mich begleitet,
ist umgekehrt im frühen Morgenschein.

Noch immer hört mein Ohr den grauen Huf.
Der Saumweg windet sich den Fluß entlang.
Es rauscht. Es trappelt ... Ungewisser Klang ...

Erstorben nun – der Heimat letzter Ruf.
Die Wasser strömen aus der Berge Tor,
und ferne Hufe ziehn zur Alm empor.


[44]
HONIG

Nachdem sie aus der Heimat mich getrieben,
auf meiner langen Flucht und bittren Fahrt
ein Glas mit Honig hab ich mir gespart –
so viel an Heimat ist mir nun geblieben.

Ich öffne’s nur: dann steigt ein Duft empor
von tausend Blüten, ja von tausend Bäumen,
und Bienen summen wie aus bunten Träumen
aus allen grauen Ecken rings hervor –

Es ist noch Winter in der weiten Flur:
Ihr Bienen, hütet euch vor frühem Schwärmen!
Laßt euch die Sonne noch die Pelze wärmen!

Ihr sammelt süßes Heil im Honig nur,
wenn rötlich-weiß die Pflaumenäste blühn,
und goldne Primeln leuchten auf im Grün.


[45]
DER ARZT

Wenn nicht – von allen Lastern dieser Welt –
am meisten blasses Gift im Neid sich fände,
so neidet ich dem Arzt die milden Hände,
mit denen er die Hilfe rings bestellt.

Sein Mahl ist kalt, daß keiner von den Kranken
die Wärme misse. Halten andre Rast,
so wandert er und pflegt, und keine Last
ist ihm zu groß, mag er vor Bürde schwanken.

Des Heilens Gnade ward ihm zugeteilt.
Von seinen Händen strahlt ein heller Schein
in vieler Zellen dumpfes Grau hinein.

Bevor die rechte Stunde mir enteilt,
erbitt ich, ohne Scheu, mit klarem Ton,
dem Doktor Gottes Dank und Gottes Lohn!


[46]
DER BRUDER

Mein Bruder[12] sitzt im gleichen Bau gefangen,
doch ohne Plan und Anteil an der Schuld.
Sein Schicksal fordert heute nur Geduld,
bis mir der Spruch der Mächtigen ergangen.

Mein Bruder hat die Erde nicht umfahren,
er hat sich nicht aufs Meer hinausgewagt.
Er hat sich um der Scholle Frucht geplagt,
und Kinder wuchsen ihm in raschen Jahren.

Mein Bruder – hoff ich – sieht die Heimat wieder,
die Eltern, seine tapfer-kluge Frau,
des Ackers Braun, des Alpenhimmels Blau.

Ihm blühe neu der Zeiten junger Flieder –
Er liebt den Boden. Lohne der ihm gut,
und seinen Kindern, seine treue Hut.


[47]
DER VATER[13]

Ein tiefes Märchen aus dem Morgenland
erzählt uns, daß die Geister böser Macht
gefangen sitzen in des Meeres Nacht,
versiegelt von besorgter Gotteshand,

bis einmal im Jahrtausend wohl das Glück
dem einen Fischer die Entscheidung gönne,
der die Gefesselten entsiegeln könne,
wirft er den Fund nicht gleich ins Meer zurück.

Für meinen Vater war das Los gesprochen.
Es lag einmal in seines Willens Kraft,
den Dämon heimzustoßen in die Haft.

Mein Vater hat das Siegel aufgebrochen.
Den Hauch des Bösen hat er nicht gesehn.
Den Dämon ließ er in die Welt entwehn.




[48]
SCHULD

Ich trage leicht an dem, was das Gericht
mir Schuld benennen wird: an Plan und Sorgen.
Verbrecher wär‘ ich, hätt‘ ich für das Morgen
des Volkes nicht geplant aus eigner Pflicht.

Doch schuldig bin ich anders, als ihr denkt,
ich mußte früher meine Pflicht erkennen,
ich mußte schärfer Unheil Unheil nennen –
mein Urteil hab ich viel zu lang gelenkt ...

Ich klage mich in meinem Herzen an:
Ich habe mein Gewissen lang betrogen,
ich hab‘ mich selbst und andere belogen -

ich kannte früh des Jammers ganze Bahn –
ich hab‘ gewarnt – nicht hart genug und klar!
Und heute weiß ich, was ich schuldig war ...


[49]
VERHÄNGNIS

Im Westen steigt Gewitter aus den Meeren,
vom Osten überzieht ein Steppenbrand
mit ungeheuren Flammen alles Land,
und keine Macht ist da, den Sturm zu wehren.

Verschwendet sind in frevlem Ubermut
die Kräfte, die beharren und bewahren.
Nun rächt sich das entwurzelnde Verfahren,
das viel zu reich und rasch vergoßne Blut.

So schließt nun ab in jäh zerborstnem Stein,
in zuckendem Gefild, zerstampfter Saat,
so endet jetzt im Untergang die Tat.—

Nur Schutt und Asche werden Zeugen sein,
nur Schutt und Asche, wo in tausend Jahren
gezeugte Bilder höchsten Daseins waren ...


[50]
RATTENZUG

Ein Heer von grauen[14] Ratten frißt im Land.
Sie nähern sich dem Strom in wildem Drängen.
Voraus ein Pfeifer, der mit irren Klängen
zu wunderlichen Zuckungen sie band.
 
So ließen sie die Speicher voll Getreide -
was zögern wollte, wurde mitgerissen,
was widerstrebte, blindlings totgebissen -
so zogen sie zum Strom, der Flur zuleide ...
 
Sie wittern in dem Brausen Blut und Fleisch,
verlockender und wilder wird der Klang -
sie stürzen schon hinab den Uferhang --
 
Ein schriller Pfiff - ein gellendes Gekreisch:
der irre Laut ersäuft im Sturmgebraus ...
Die Ratten treiben tot ins Meer hinaus ...


[51]
DIE GROSSE FLUT

Den Missisippi hab ich einst befahren,
als unter seiner Fluten brauner Wucht
an tausend Meilen bis zu großen Bucht
ringsum die Fluren tief begraben waren.

Ein öder Spiegel, wo zuvor Gedeihen
von grünen Saaten, goldnen Ernten war,
wo vieler Hände Fleiß von Jahr zu Jahr
daran geschaffen, Heim und Heim zu reihen.

Was flüchten konnte, floh, das andre starb.
Die weite Fläche war an Leben leer.
Dann zog die große Flut hinaus ins Meer.

Ihr Erbe blieb. Der Sonne Licht umwarb
den feuchten Schlamm, der alles Land bedeckt.
Zu neuem Leben hat’s ihn bald geweckt.


[52]
Verbrannte Bücher

Als Chinas großer Zwingherr Shi Hwang Ti[15]
vor seinem Willen einen Widerstand
der geistigen Vergangenheit empfand,
befahl er einfach: Man zerstöre sie!

Die Bücher ließ er sammeln und vernichten,
die Weisen töten. Durch das ganze Land
fuhr kaiserliche Macht in Mord und Brand.
Elf Jahre ging das Brennen und das Richten.

Im zwölften war der große Zwinger tot.
Die alten Bücher wurden neu geschrieben,
von denen die am Leben doch geblieben ...

Der nächste Kaiser, der im Land gebot,
war allem Denken freundlich zugewandt:
Hat Bücher nicht, hat Weise nicht verbrannt.


[53]
ALEXANDRIEN

Als des Propheten kampfgewohnte Scharen
von einem starren Willen weit bewegt,
vom Raub der Länder taumelhaft erregt,
nach Alexandrien gedrungen waren,

hat man den Plünderer der Stadt gefragt,
ob auch die weltberühmte Bücherei
gleich allem andern zu verbrennen sei -
Der groBe Feldherr Allahs hat gesagt:

„Was dieser Wust von Büchern mag ermessen,
ist überflüssig, steht es im Koran.
Wo nicht, so schadet's nur. Drum zündet an!“

Der Name jenes Feldherrn ist vergessen.
Homer und Plato, die sein Spruch verbrannt,
sind heute noch dem Erdenkreis bekannt.


[54]
GOTTVERTRAUEN

Im Albigenserkrieg, vor langer Zeit,
als Papstes Zorn auf eines Königs Rat
die Ketzerblüte der Provence zertrat,
war eine große Stadt dem Tod geweiht.

Der Graf von Montfort, der die Mauern brach,
sah sinnend nieder auf die Metzelei.
„Legat – sind nicht auch Gläubige dabei?“
der Eiserne zu dem im Purpur sprach.

„Wenn ihr es wünscht, erlaß ich ein Gebot
und schone noch ihr Blut.“ Der Kardinal
Erhob die Hand zur Abwehr. „Überall –

kennt Gott die Seinen wieder. Schlagt nur tot!
Euch fehlt“ - der Kirchenfürst verzog die Brauen –
„in seinem tiefsten Sinn das Gottvertrauen.“


[55]
UNTERGANG

Wie hört man leicht von fremden Untergängen,
wie trägt man schwer des eignen Volkes Fall!
Vom fremden ist's ein ferner Widerhall,
im eignen ist's ein lautes Todesdrängen.

Ein Todesdrängen, aus dem Haß geboren,
in Rachetrotz und Übermut gezeugt -
nun wird vertilgt, gebrochen und gebeugt,
und auch das Beste geht im Sturz verloren.

Daß dieses Volk die Siege nicht ertrug -
die Mühlen Gottes haben schnell gemahlen.
Wie furchtbar muß es nun den Rausch bezahlen.

Es war so hart, als es die andern schlug,
so taub für seiner Opfer Todesklagen
Wie mag es nun das Opfer-Sein ertragen ...


[56]
DIE GROSSEN TOTEN

Wenn sich das deutsche Schicksal ganz erfüllt:
Die Herren ohne Maß nur Knechte sind
und bleiben bis auf Kind und Kindeskind,
wenn alles winseln wird, was heute brüllt,

wenn alles kriechen wird in Schmutz und Pein,
und nichts mehr zeugt von echter Leidenschaft,
dann werden mit gewaltig strenger Kraft
die großen Toten ihre Sprecher sein.

Ein Kant, ein Bach, ein Goethe werden zeugen
noch lange für zerstörtes Volk und Land,
auch wenn die Menge nie den Sinn verstand.

Nie brauchen große Tote sich zu beugen
vor Aberwitz und Schmach. Ihr Geist besteht,
solang der Atem Gottes aus ihm weht.


[57]
DAS ERBE

In Schutt und Staub ist Babylon versunken,
ein Tempel blieb vom alten Theben fest,
von Ktesiphon zeugt einer Halle Rest,
das große Angkor ist im Wald ertrunken –

auch unser ganzes Erbe sind Ruinen.
Noch kurze Weile zwischen toten Mauern
wird kümmerlicher Menschen Sorge dauern -
danach wird alles nur dem Efeu dienen.

Der Efeu des Vergessens wird sich ranken
um ein Jahrtausend hoher Blütezeit,
um dreißig Jahre mörderischen Streit.

Wir sind die Letzten. Unsere Gedanken
sind morgen tote Spreu, vom Wind verjagt,
und ohne Wert, wo jung der Morgen tagt.


[58]
WANDLUNG

Von dem, was uns in jungen Jahren band,
an Wunsch und Wort in menschlichen Gestalten,
wie wenig hielt den tödlichen Gewalten
im letzten Prüfen unsrer Seele stand!

Wie vieles, was wir früher kaum gesehn,
ist heute nah mit ungeheurem Wirken:
Wir nähern uns den heiligen Bezirken,
vor denen scheu wir nun in Ehrfurcht stehn ...

Wie Gold und edle Steine sich im Sand
verborgen halten, bis der Sand verweht
und ihr Gewicht allein im Sturm besteht,

so hebt sich nun aus allem lauten Tand
das Unvergängliche. Das Ich wird still,
wenn Es in ihm schon leise beten will ...


[59]
Entfesselung

Seit Wochen bin ich nun an Hand und Fuß
von Fesseln frei. Noch weiß ich kaum zu sagen,
ob ich sie lang, ob ich sie kurz getragen,
ob ich ein zweitesmal sie tragen muß.

Sie haben mich gelehrt, daß andre Ketten
zu dulden wie zu lösen schwerer sind:
Begierden, Wünsche, die sich aus dem Kind
In Mannestrotz und Greisenhärte retten.

Die großen Feßler, die das Herz versteinen,
des Willens Lüste, wie sie Buddha nennt,
das Christentum als harte Sünden kennt, -

die Feßler, die der Gnade Macht verneinen –
Bin ich von ihnen freier als ich war,
so dank ich diesem letzten halben Jahr ...


[60]
NEMESIS

Noch gestern hat er vier zum Strick verdammt,
und heute liegt er tot in den Ruinen,
wird keinen mehr zu Strang und Beil bedienen,
ein Haufe Trümmer ist sein ganzes Amt.

Gericht – ein schweres Wort! Ihn hat’s gefreut,
wenn er die Waage tief zum Bösen wandte,
wenn er dem Henker neue Hälse sandte,
kein Todesurteil hat ihn je gereut.

Gericht – ein Zufall? Tausend Bomben schlugen
in dieser großen Stadt auf Menschen ein –
und ein Bombe dürfte Richter sein?

Gericht – so viele von den Toten frugen
vergeblich nach dem Sinn ... drum richtet nicht!
Uns allen gilt ein höheres Gericht!


[61]
DEM ENDE ZU

Die Stimmen, die von außen uns erreichen,
sind schrill und heiser. Geiferndes Erschrecken
verrät der Hinkende. Die andern recken
mit hohlem Schrei die toten Siegeszeichen.

Das Ende wittern selbst erprobte Toren.
Doch kann der Krieg nicht enden dieses Mal,
bis kein Gefreiter mehr, kein General
behaupten darf, er wäre nicht verloren.

Was half es, daß der wägende Verstand
die Rechnung führte bis zum letzten Schluß!
Der Wahn begreift nur, was er fühlen muß.

Der Wahn allein war Herr in diesem Land.
In Leichenfeldern schließt sein stolzer Lauf,
und Elend, unermeßbar, steigt herauf.


[62]
NACHBARN

Den ersten reut vielleicht, was er getan,
den zweiten höchstens, was er unterließ,
den dritten reut, daß er nicht schärfer stieß,
dem Abgrund näher, seiner Kugel Bahn.

Ein vierter jammert noch um Amt und Rang,
der nächste fühlt von allem sich entlastet.
Der eine zehrt und sorgt, der andre rastet –
und schleppend oder federnd ist ihr Gang.

Sie alle wissen um die dunklen Lose:
„Drei Jahre Zuchthaus“, stöhnt der eine stumm.
Ein andrer lacht: „Was wär ich froh darum!“

Der eine grüßt im Sterben noch die Rose,
von ihrem wundersamen Duft berührt –
der andre lebt – und hat sie nie gespürt.


[63]
MYTHOS

Die Kampfgesänge voll von Blut und Wunden,
an denen tote Zeit so freudig schuf –
der Goten letztes Ringen am Vesuv,
der Todestrotz der schuldigen Burgunden –

wie düster glühn die dunklen Mythen auf,
darin so gnadenlos die Rache gärt.
Wenn man mit ihrem Geist die Jugend nährt,
wie furchtbar endet solcher Jugend Lauf!

Vor tausend Jahren war’s ein echter Klang,
wenn Teja Narses einen Feigling schalt,
wenn Hagen Tronjes Trotz als Treue galt.

Die Zeiten sind vorbei, da Volker sang!
Der Heldenkampf in Etzels Hunnensaal
Ist heute nur mehr Mord und Todesqual.


[64]
SESENHEIM

„Im Raum von Straßburg wurde Sesenheim
im Sturm genommen“. Sesenheim! Der Ort,
wo Goethe, glücklich in der Liebe Hort,
das Glück verlor an seiner Größe Keim.

Der Garten, wo das milde Mondeslicht
ihm Verse gab von wunderbarer Stille,
die Straße, wo im Ebenbild sein Wille
den Reitenden ermahnte: Säume nicht!

Der junge Goethe kehrte nie zurück.
Er zog davon – „und über ihm die Sterne“ –
Der alte grüßte sinnend aus der Ferne.

Im Sturm genommen ... Sesenheim ... Das Glück
hat keine Dauer. Nächtlich glüht im Rhein,
im Spiegel, strömend, roter Feuerschein ...


[65]
MEMPHIS

Im frühen Morgen stand ich einst am Nil
und sah das erste rosenrote Licht
den Bau der Pyramiden, Schicht um Schicht,
umrieseln, bis es in die Gärten fiel ...

Zur Dauer prägen Menschen – Werk und Art:
Wie hat Ägyptens Wille drum gerungen,
hat Königsbild in Diorit gezwungen,
hat Königsantlitz körperhaft bewahrt.

Der Adel jener großen Pharaonen,
besiegelnd mit dem Lande seinen Bund,
schläft heute noch in seinem tiefsten Grund.

Noch fühlt man ihre Gräber sie bewohnen ...
man spürt ihr Walten, ahnt noch, ob sie leiden –
wie sinnlos, Tod und Leben je zu scheiden ...


[66]
KÖNIG AMENEMHAT

Ein Papyrus: „Gespräch des Lebensmüden
mit seiner Seele“[16], voll von dunkler Trauer,
bezeugt uns wirre Zeit von langer Dauer,
bis ordnend kam ein Herrscher aus dem Süden.

Der große Amenemhat[17] schuf dem Land
Ägypten Frieden, wie sein Mund verhieß. –
Den harten Rat „Vertraue keinem“ ließ
dem Sohn Sesostris er als Unterpfand.

Viertausend Jahre zeugt sein schweres Wort
von eines königlichen Herzens Not.
„Vertraue keinem!“ Bitterstes Gebot.

Wie furchtbar wirkt ein solches Mahnen fort!
„Vertraue keinem!“ Trägt man dieses Leben,
hat solcher Einsicht man sich ganz ergeben?


[67]
PAIDEIA

„Vertraue keinem!“ Wer in sich die Kraft
zum Herrscher fühlt, zum Richter, zum Propheten,
verlernt er nicht, im Herzen still zu beten,
so stärkt es ihm die kalte Leidenschaft.

Wer andre hüten soll, dem Gärtner gleich,
der jungen Wuchs mit fester Hand umhegt
und Freude hat, wenn eigne Form sich regt,
so scharf wie fein, so zielbewußt wie weich –

wie sollte vor der Jugend er bestehn,
wenn ihm die Gabe des Vertrauens fehlte,
wenn er Vertrauenden die Wahrheit hehlte. –

Wer könnte lang in junge Augen sehn,
der sich’s versagte, nicht allein sein Denken,
sein ganzes Wesen helfend fortzuschenken!


[68]
WISSEN

Mir allen Mitteln reiner Wissenschaft
hab ich versucht, Erforschliches zu kennen,
das Klare klar, das Dumpfe dumpf zu nennen –
hab eignes Denken immer streng gerafft.

An Meer und Ländern hab ich viel durchstreift,
hab gleich Odysseus in bewegten Jahren
von Menschenart und Menschenleid erfahren,
allmählich ist mein Bild der Welt gereift.

Hab dann versucht, ins Tätige zu wenden
des Wissens Gabe. Doch die Unbeschwerten
verlachten hell, was mich die Winde lehrten.

Nun scheint im Dunkel aller Weg zu enden.
Das Wissen liegt gebunden vor dem Streit.
Sein bestes Erbe heißt Gelassenheit.


[69]
KASSANDRO

Kassandro hat man mich im Amt genannt,
weil ich der Seherin von Troja gleich,
die ganze Todesnot von Volk und Reich
durch bittre Jahre schon vorausgekannt.

So sehr man sonst mein hohes Wissen pries,
von meinem Warnen wollte keiner hören,
sie zürnten, weil ich wagte, sie zu stören,
wenn ich beschwörend in die Zukunft wies.

Mit vollen Segeln jagten sie das Boot
im Sturm hinein in klippenreiche Sunde,
mit Jubelton verfrühter Siegeskunde –

nun scheitern sie – und wir. In letzter Not
versuchter Griff zum Steuer ist mißlungen. –
Jetzt warten wir, bis uns die See verschlungen.


[70]
DIE BEIDEN FRÖSCHE

Wenn Ungeduld und Hoffnungslosigkeit
in mancher Stunde mir das Herz umzwängen,
die harten, grauen Feinde fortzudrängen,
ist alte Fabel helfend mir bereit.

Ein kluger und ein dummer Frosch gerieten
in einen tiefen Eimer Milch hinein.
Die glatte Wölbung schien, nach langer Pein,
Den beiden kein Entkommen je zu bieten.

Der Kluge sieht die Lage hoffnungslos,
gibt auf und sinkt. Der Dumme zappelt weiter ...
Nach Stunden springt er, müde zwar, doch heiter

von einem dicken, runden Butterkloß.
Ich lächle wohl. Doch muss ich mir gestehn,
am Ende möchte ich gern – die Butter sehn ...


[71]
PERSISCHE LEGENDE

Im alten Schiras ließ ein Schelm verbreiten,
er lehre seinen Esel, wie man spricht.
Der Schah erfuhr's, befahl dem frechen Wicht,
den klugen Esel zum Palast zu reiten.

„Du lehrst ihn sprechen?" - „Ja! „Was forderst du
für deine Kunst?“ „Fünf Jahre Zeit und Lohn.“
„Gewährt. Doch spricht das Tier dann nicht, mein Sohn,
gibt’s hundert Peitschen für das Jahr dazu!“

Der Schelm, der Esel bleiben in der Pracht.
Ein Freund besucht die beiden im Palast
und fragt besorgt: „Was du versprochen hast –

begreifst du, was es heißt?“ – Der andre lacht:
„Der Schah – der Esel - ich – was ist dabei?
Wir können täglich sterben – alle drei!“


[72]
KARDINAL BALUE[18]

Nicht hoch genug, darin sich aufzurichten,
wohl zwanzig Jahre lag der Kardinal
gesperrt in solchen Käfig. Seiner Qual
gelang es nicht, im Geist ihn zu vernichten.

Der Kirchenväter viel umstrittnes Meinen,
in strenger Prüfung hat er’s lang durchdacht,
in leuchtendes Französisch dann gebracht,
was gültig war in geistigem Erscheinen.

Er las und schrieb in seiner Kerze Sicht,
bis langsam ihm erlosch der Augen Kraft.
Den Greis entläßt man aus der grimmen Haft.

Den Blick verbergend vor dem grellen Licht[19]
der Sonne, schleppt ein Beter sich zum Dom ...
In dunkler Sänfte trägt man ihn nach Rom ...


[73]
BOETHIUS

Vom edlen Ausklang römischer Geschichte
schenkt eines Mannes Buch die Zeugenschaft,
geschrieben vor dem Tod in strenger Haft:
„Der Weisheit Trost“ – Gedanken und Gedichte.

Der Letzte, der dem römischen Senat
im Gotensturm die Würde streng erhielt –
hat nicht sein Leben höchsten Rang erzielt?
Des Todes Adel ward in ihm zur Tat.

Sein Tod hat keinen Untergang gewendet –
erloschen war die Kraft der alten Welt. –
Sein Tod hat nur den Untergang erhellt.

Und vielen hat er Trost gespendet,
da seines Beispiels hohe Hilfe spürt,
wen gleiches Los auf gleiche Bahnen führt.


[74]
SIR THOMAS MORE

Sir Thomas lag im Tower lange fest,
bis man sich ernstlich auf den Block besann. –
Britanniens frauenwechselnder Tyrann
hätt‘ lieber seinen Kopf zum Dienst gepreßt.

Zuerst umwarb man ihm den strengen Sinn,
und mit Verlockung wurde nicht gespart –
dann quälte man und band. Ein langer Bart
entwuchs in dieser Zeit des Kanzlers Kinn.

Als man zum Block den Kopf ihm niedertat,
den unverführbar treuen, klaren, weisen,
schob er den Bart zur Seite, sprach mit leisen,

gelassnen Worten lächelnd: „Hochverrat
hat nur der Kopf und nicht der Bart begangen.“
Und lächelnd gab er sich dem Tod gefangen.


[75]
BHAGAVADGITA

Ein junger Held, von dem sein Heer das Zeichen
zum Kampf erwartet, schaudert vor der Schuld.
Dem Zögernden, in väterlicher Huld,
erscheint nun Krischna[20], ihm den Mut zu reichen

zum ungehemmten Handeln in der Schlacht,
zum Handeln ohne Lust sogar im Bösen.
Dem Gott gelingt’s, die Zweifel ihm zu lösen.
Er hebt den Arm. Die Schuld wird Sieg und Macht.

So endet jeder Sang. Doch bleibt im Sein
die Frage, die der Fürst dem Gott gestellt:
Nach allem bösen Handeln in der Welt.

Drum heiß ich den vermessen, dennoch rein,
der sich im Traumbild eine Welt entwarf,
die Sterbens wohl, doch Tötens nicht bedarf.


[76]
FRITJOF[21] NANSEN

Von allen, die mein Auge selbst gekannt
aus denen, die der Menge hoch entragen,
(und viele durft ich nach dem Sinn befragen),
am tiefsten hat mich Nansens Art gebannt.

Er war ein Starker, der in jungen Jahren
aus Wagemut, aus hellem Überschaum,
von keines Menschen Fuß durchmessnen Raum,
des Nordens weite Welt von Eis befahren.

Dann hat an seinem Volk er Dienst getan,
hat neues Wissen lotend sich ergründet,
in edler Zeichnung reine Kunst verkündet -

um auf der Höhe seiner Lebensbahn
nur eins zu tun: der Menschen Leid zu mindern,
zu retten und zu helfen und zu lindern.


[77]
ALBERT SCHWEITZER

Den Arzt von Lambarene kenn ich nicht,
der Orgel spielt, den Meister Bach versteht,
als Deutender durch Christi Leben geht,
der Inder Denken prüft in klarem Licht.

Nun lebt er, in der Ferne lang verweilend,
am dunklen Kongo. Gerne fragt ich ihn,
warum er sich dem Abendland entziehn,
sich läutern mußte, kranke Neger heilend.

Ich wüßt ihn gerne frei von allem Streit -
vielleicht verwies er auf des Herzens Drang,
das ihn zu Dienst in schlichter Güte zwang,

vielleicht verwies er auf die wirre Zeit,
vielleicht auch lächelt er: Du blinder Tor!
und spielte mir die „Kunst der Fuge“ vor.


[78]
MIYAJIMA[22]

Ein Tempeltor, durch das die Wasser ziehn,
am Strand geschwungner Steinlaternen Reihe,
uralter Kiefern leis durchrauschte Weihe
und Rehe, die vor keinem Menschen fliehn.

An plätscherndem Gewässer steigt empor
den Hang ein Pfad von Stufen, im Verblühn
von reichster Wildnis: Rot und Gold und Grün.
Aus Abendwolken bricht die Sonne vor ...

Der Gipfel – goldne Nebel ringsumher
und Inseln ungezählt, Gebirge, Meer –
aus lichter Tiefe schimmern Segel her. –

Du hohes Eiland, stilles Heiligtum
in Japans blauer See, bewahre rein
durch alle Zeiten deiner Geister Sein!


[79]
KOSMOS

Ob sich in Klängen wie zu freier Wahl,
im Keplerschen Gesetz ihr Sinn enthüllt,
es muß wohl sein, daß diese Welt erfüllt
geheimnisvolle Harmonie der Zahl.

In Strahl und Schwingung zu gemessnem Spiel
umwebt sich aller Stoff und löst sich wieder,
und alle Formen sind gewollte Glieder
in einem Weltgesetz, vor einem Ziel. –

Wer je den großen Bau der Welt bedacht
und fühlte nicht, wie Gottes hoher Geist
noch über den Gesetzen wacht und kreist –

wie blind erscheint, wer Schöpfertum verlacht!
Wir kennen kaum den kleinsten Teil davon:
Gesetz ist Wunder, Zahl ist Weltenton.


[80]
OMAR KHAJJAM[23]

Das dunkle Bild vom Töpfer und vom Ton,
das trunken sich der große Perser schuf,
das durch die Welt begleitet seinen Ruf –
man hat’s mißdeutet, so als wär es Hohn,

als würf es auf den Schöpfer selbst zurück
des Menschen Mißgestalt, des Menschen Schmerz,
den tiefen Zweifel, der das reinste Herz
befallen muß, befragt’s die Welt nach Glück.

Das Bild vom Töpfer und vom Ton bezeugt
Nur eines: daß in dieser Erde Wind
die sämtlichen Geschöpfe sterblich sind. –

Wer sich dem Sinn des Dichtens tiefer beugt,
der spürt im letzten Zweifel noch die Lehre,
daß man das nie zu Deutende verehre ...


[81]
DER FASAN

Der größte Kaiser aus dem Haus der Tang,
Taisung[24], ging einen Meister darum an,
ein Bild zu malen: Sterbender Fasan. –
Drei Jahre Frist der Meister sich bedang.

Im vierten lud er dann den Herrscher ein,
den goldnen Seidengrund sich anzusehn.
Der Kaiser kam – und sah im Flug entstehn
Das wundgeschossne Tier in seiner Pein.

„Vollendet!“ sprach er mit erstaunter Frage.
Der Meister führt im nächsten Raum ihn stumm
an hundert unvollendeten herum. –

So lehrt ein Künstler Schöpfertum der Tage.
Von Gottes Welt – so geht nun das Geschrei –
wird gleich gefordert, daß sie fertig sei.


[82]
PAOLO E FRANCESCA[25]

Von allem, was des Florentiners Blick
an mächtigen Gesichten aufgegangen,
mag eines rühren: wie, noch eng umfangen,
die Liebenden erzählen ihr Geschick.

Und wenn wir zwischen Marter, Qual und Stöhnen
erschrecken vor dem seherischen Bild,
so lassen die verbundnen Seelen mild
ein Lächeln zu – ist’s doch wie ein Versöhnen,

daß nicht einmal der strenge Richter Dante,
der in der Sühne nichts an Härte meidet,
umschlungne Schatten voneinander scheidet.

So darf auch der zum Höllenkreis Verbannte
Gewißheit haben: Wenn die Seele brennt,
kein Schicksal eine große Liebe trennt.


[83]
TRAUMGESICHT

Du hast so lange mich im Traum gemieden,
Du früh Verblichne.[26] Heute warst Du da,
so jung, so unzerstört, so seltsam nah
wie damals, als zum erstenmal wir schieden.

Wie loderten in jener Nacht die Sterne,
wie schien die Welt voll Glück. Wie lang ist’s her.
Wie wurden Dir die jungen Jahre schwer.
Wie trieb es mich hinaus in alle Ferne.

Nun prüfst Du mich im Traum. Es ist kein Schmerz
und keine Trauer mehr in ihm gewesen.
Du nickst und flüsterst. Bist Du nun genesen? –

Ich liege still. In Ruhe schlägt mein Herz.
Geblieben – ist ein Dank. Der Dank soll ziehn
hinauf zu Deinem Grab im Engadin.


[84]
KAMI

Vor vielen Gräbern hätt ich mich zu neigen,
um nach des fernen Ostens tiefem Brauch
noch Dank zu sagen, eh der eigne Hauch
hinüberweht – nun muß ich’s aus dem Schweigen

der Zelle tun. Die Seele loszubinden
von aller Umwelt hab ich längst gelernt,
zu lenken, wenn sie suchend sich entfernt. –
Die Toten helfen ihr, die Bahn zu finden.

Die Toten wissen die besondren Zeichen:
Sie bleiben stumm für Seelen, die begehren,
und stumm für Seelen, die noch nicht verehren –

doch lassen sich die Toten gern erreichen,
wenn man, befreit von aller Wünsche Weben,
nur kommt, um ihnen Lebensdank[27] zu geben.


[85]
WAHRSAGE

In Penang, mein ich, war’s, daß aus der Hand
ein alter Inder suchte mein Geschick.
Er maß mich lang mit klug-erfahrnem Blick –
und schwieg von vielem, was er tastend fand.

Geschmeichelt hat er nicht. Nun sinn ich dran,
daß manches an Verheißnem sich erfüllt –
so prüf ich andres, was er mir enthüllt
auf Abbruch oder Dauer meiner Bahn ...

Ich solle spät – er zeigt auf seinen Bart
von weißem Haar – nach Asien wiederkehren –
und viele würden dann mein Wort verehren ...

Wie gerne zög ich ostwärts auf die Fahrt!
Wer ist so wenig Tor, daß er sich nimmer
verlor an eines Traumes fernen Schimmer ...


[86]
WIND VON MEER

Es pfeift von draußen. Tiefe Wolken treiben,
von hellem Blau zuweilen jäh durchdrungen –
Nordwestwind ist in Stößen aufgesprungen
und rüttelt laut an Gitterwerk und Scheiben.

Er drängt in meine Zelle. Kann es sein –
die Nase prüft -. Ist’s nicht wie eine Spur
von Salz in dieser Luft? Wär’s eine Täuschung nur?
Und plötzlich rauscht das Meer zu mir herein.

Die Lippen summen leis das Hornsignal,
das mich so oft auf hoher See geweckt,
am frühen Morgen, wohlig ausgestreckt,

gewiegt von langer Dünung Berg und Tal ...
Ich fahre wieder. Dort – am Horizont –
ist’s nicht der Glast von Rio, der sich sonnt?


[87]
JAN MAYEN[28]

Von Grönland wandern weiße Nebel her.
Die Luft ist kalt und still. Gelassen gleitet
ein Bug dahin, der leichte Wellen breitet
auf unbewegtes, milchig blaues Meer.

Die Nebel fließen aus des Schiffes Bahn
und öffnen plötzlich ungeheure Sicht.
Umspielt von Schleiern, hebt sich hoch ans Licht
erlassner Insel mächtiger Vulkan.

An seinen Flanken strömen Gletscher nieder,
und wenn es heiß aus dunkler Tiefe stöhnt,
dann klirrt sein heller Mantel, birst und dröhnt –

im Sturz ins Meer. Dann ruht der Riese wieder,
als ob er ganz in Eises Banden schliefe, -
und nichts mehr glüht und wühlt in seiner Tiefe.


[88]
VAL TUOI

Von hohen Gipfelglück des Piz Buin
ins Val Tuoi zog unsre Wanderspur
durch weicher, bachdurchrauschter Ahnen Flur,
durch Arvenwald hinab ins Engadin.

Ich fühlte, wie die Zeit des Glücks entrann,
so flüchtig wie des Morgens klare Luft,
so flüchtig, wie der Matten süßer Duft —
ich sah zurück auf Eis und Fels und sann:
 
Wär‘s nicht ein schöner Schluß für meine Tage,
dort oben müd in weichen Schnee zu sinken,
zum letztenmal der Sonne Schein zu trinken

und einzuschlafen ohne Wunsch und Klage?
Wir wandern fort. Ich denke still zurück
ans Val Tuoi, an Gipfel, Tod und Glück.


[89]
ZEIT

Ich träumte viel bei Nacht und viel bei Tag.
Die Zeit ist ohne Wert. Ich kann vergessen,
der Stunde wie der Woche Gang zu messen,
wenn ich mich nicht auf sie besinnen mag.

Doch wittern auch die Träume wohl die Zeit. –
Erwach ich dann im Dienstgeklirr der Schlüssel,
vom Mittagsruf nach meiner Suppenschüssel,
und raffe mich, zum Täglichen bereit:

Dann weiß ich, aus den Träumen aufgestört,
wie einer fühlt in seinen letzten Stunden,
der an ein ruderloses Boot gebunden,

den Fall des Niagara tosen hört.
Die Wasser schlagen an des Bootes Rand.
Sie strömen rasch. Gebunden – ist die Hand ...

................................................

IL Bombenregen

Ein Bombenteppich nach dem andern rauscht
Aus hellem Himmel todesnah heran.
Wie todesnah berechnet ihre Bahn,
Wer eingegittert ihrem Brausen lauscht!

Wir alle wissen wohl, dass unsre Leben
So billig sind wie Stroh: der deutsche Strick,
Die Russenkugel jählings im Genick,
Die Britenbombe sind als Los gegeben.

Ein Wunder wärs, wenn uns ein Schicksal gönnte
Noch Dasein ohne Wirkung, Sinn und Ziel -
Wir wissens: dennoch danken wir dem Spiel,

Dem Spiel des Zufalls, das uns töten könnte,
Mit jedem Wurf, und heut noch unser schont.
Wer hoffte nicht, dass doch ein Tag ihm lohnt!

Anmerkungen Wikisource[Bearbeiten]

  1. commons:File:Vincent Willem van Gogh 037.jpg
  2. commons:File:Himmelfahrt-Christi-Isenheimer-Altar.jpg
  3. w:Om mani padme hum
  4. w:Daibutsu von Kamakura
  5. w:Karl Klingler
  6. w:Peter Graf Yorck von Wartenburg; w:Helmuth James Graf von Moltke; w:Fritz-Dietlof von der Schulenburg; w:Ulrich-Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld; w:Ulrich von Hassell, w:Johannes Popitz; w:Erwin Planck. w:Hans Helferich
  7. Vergil, Aeneis VII 312: „flectere si nequeo superos, Acheronta movebo.“ w:Liste lateinischer Phrasen/F#Flectere
  8. „gewagt“ bei Graevenitz 1999 ff.
  9. w:Robert Vansittart, 1. Baron Vansittart
  10. Rechtschreibfehler berichtigt. Im Druck von 1946/47 „spührst“
  11. Albrecht Haushofers am 25. November 1930 in Partenkirchen verstorbene Großmutter Christine Anna Maria Adolfine von Doß führte ihren Adel auf ein Reichsadelsdiplom zurück, das Kaiser Karl VI. am 22. Juni 1740 den drei als Landschaftskassier bzw. Rath bzw. Hofkammerrath in kurbayrischen Diensten stehenden Brüdern Dos (oder Doß) ausgestellt hatte.
  12. w:Heinz Haushofer
  13. w:Karl Haushofer
  14. „braunen“ bei Graevenitz 1999 ff.
  15. w:Qin Shihuangdi
  16. w:Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele
  17. w:Amenemhet I.
  18. w:Jean de La Balue
  19. „Schmerzenslicht“ bei Graevenitz 1999 ff.
  20. w:Krishna#Krishna-Religiosität
  21. „Frithjof“ bei Graevenitz 1999 ff.
  22. w:Miyajima
  23. w:Omar Chayyām
  24. w:Tang Taizong
  25. w:Francesca da Rimini (Adlige), s:Göttliche Komödie (Streckfuß 1876)/Inferno#Fünfter Gesang Vers 73-142
  26. w:Annemarie Schwarzenbach
  27. „ihrem Leben Dank“ bei Graevenitz 1999 ff., die anmerkt, das Manuskript sei zwischen kommt und Leben „stark beschädigt“ und „daher nicht eindeutig lesbar.“
  28. w:Jan Mayen