Berliner Bilder (1)

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Textdaten
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Autor: Wilhelm Mannstädt
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Titel: Berliner Bilder. 1. Der Kugelsucher bei Tegel
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aus: Die Gartenlaube, Heft 23, S. 379–381
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[379]
Berliner Bilder.
1. Die Kugelsucher bei Tegel.
Von W. Mannstädt.

„Halt, zurück! Hier darf Niemand passiren.“

„Dies ist aber doch eine öffentliche Fahrstraße?“

„Heute nicht. Wir haben Schießübung.“

Ich hatte allerdings seit geraumer Zeit das Donnern der Geschütze und dann auch immer deutlicher das Geschwirre der mächtigen Geschosse gehört; in diesem Augenblicke aber erklang es in nächster Nähe mit einem Geräusche, ähnlich als ob etwa tausend Völker Rebhühner aufflögen. Ich glaubte sogar die Einwirkung des Luftdruckes zu spüren. Das war eine eindringlichere Sprache, als der kräftige Haltruf des königlich preußischen Artilleristen, der als Wachtposten aufgestellt war, um leichtsinnige Wanderer von dem Betreten der gefährlichen Bahn abzuhalten.

Noch überlegte ich, ob ich mich „rückwärts concentriren“ [380] oder den Schießplatz umgehen sollte – da wird mein Ohr von einem lauten Wortwechsel gefesselt. Links aus dem Gestrüppe, das unter den hohen Kiefern die Aussicht hemmte, schrie es durcheinander. Flüche und Schimpfworte der schlimmsten Art, Klagen und Schreie von Weibern und Kindern übertönten fast die in höchster Wuth ausgestoßenen Befehle und Zurechtweisungen irgend einer Autoritätsperson. Immer näher kommt der Lärm; immer deutlicher werden die Ausbrüche einer ungestümen Leidenschaft. Jetzt bricht es sich Bahn durch das junge Eichen- und Kieferngesträuch, durch üppig wuchernde Brombeerranke. Ein wild aussehender Kerl, in Lumpen gehüllt, mit struppigem Barte, eine alte Soldatenmütze auf den wirren langen Haaren, auf zwei Krücken gehend, aber behende wie ein aufgescheuchtes Thier des Waldes, eilt an mir vorüber. Hinter ihm ein ganzes Rudel von Männern, Frauen und halberwachsenen Kindern, die mit wüthenden Geberden und dem ganzen Aufwande ihrer Stimmmittel einen Gensd’armen zurückzuhalten versuchten, welcher vergebliche Anstrengungen macht, die Hand des Gesetzes an Diesen oder Jenen zu legen. Der Lahme fuchtelt fluchend und höhnend mit seinen Krücken in der Luft und reizt die Bande zum fortdauernden Widerstande. Schon muß der Gensd’arm dem Andrange weichen, da sprengt mit verhängten Zügeln ein Camerad einher; rücksichtslos treibt er sein Pferd in den Haufen hinein, auch der Wachposten eilt zur Hülfe, und nun mit flüchtigem Schritte, aber sich im Rückzuge immer noch energisch wehrend, wälzt sich die tobende Menge an mir vorüber und verschwindet im Gebüsche.

Es waren Kugelsucher, die in ihrem lebensgefährlichen und verbrecherischen Treiben gestört wurden, der Lahme aber schien der Anführer der Bande zu sein.

Die vor mir liegende Straße war für den Augenblick unbewacht. Eine Pause in den Schießübungen benutzend, lief ich, so schnell es der tiefe Sand erlaubte, über die verbotene Schießbahn um die jenseitige sichere Grenze zu erreichen.

Ich befand mich an jenem Tage auf einer Promenade, wie ich sie fast allwöchentlich mache, um die Schönheiten der Umgegend Berlins näher kennen zu lernen und zu genießen. – Klingt das nicht wie Ironie? Und doch rede ich im Ernst. Das Auge muß freilich erst den eigenthümlichen Charakter der märkischen Kiefernwälder, der Waldseen, der Sandhügel erkennen lernen, um Freude und Genuß daran zu haben, um in und mit dieser Natur warm empfinden, träumen, sie lieben zu können. Die Tegeler Chaussee allerdings zeigt von dem sehr wenig. Von keiner anderen Seite macht die nächste Umgebung der deutschen Hauptstadt einen so unvortheilhaften Eindruck als beim Eintritt in das Weichbild Berlins, sobald man das ehemalige Steuergebäude passirt hat. Die Straße ist sehr belebt. Milch- und Bauernwagen, die sogenannten „Kremser“, die speciell dazu dienen, den Berliner in’s „Sommervergnügen“ zu tragen, Artilleriefuhrwerke, Kanonen rasseln vorüber. Soldaten, dort auch einige Matrosen in größeren, in kleineren Haufen, marschiren singend dahin.

Jetzt donnert es auf dem Schießplatze. Dichte weiße Rauchwolken erheben sich über den Wald und verhüllen die Aussicht. Durch den Pulverdampf, dort oben aus dem Gebüsche hinter den Rehbergen, brechen plötzlich einige Menschen hervor; mit lautem Schreien und Höhnen fliegen sie die sandigen Hügel herab, mitten unter ihnen der Lahme, mit seiner einen Krücke fortwährend gesticulirend. Jetzt theilen sie sich; einige verschwinden auf diesem oder jenem Grundstück, andere erreichen die Chaussee und gehen nun, Arm in Arm ein Lied singend, gemächlich der Stadt zu, wobei sie versuchen, einzeln nahende Artilleristen „anzurempeln“, um dann unter allerlei Witzen endlich in irgend einer Kneipe von ihren Heldenthaten auszuruhen.

So oder ähnlich ist das Bild an jedem Sommertage auf der Tegeler Chaussee. Die Schießübungen der preußischen Artillerie und Marine, die auf dem weltbekannten Tegeler Schießplatze bis in den Spätherbst hinein dauern, haben der ganzen Gegend einen eigenthümlichen Charakter verliehen. Vom frühen Morgen bis zum späten Abende wird die Straße von Soldaten nicht leer, und im Hinblicke darauf ist hier Kneipe an Kneipe erbaut worden, eine Kette, welche höchstens durch ein Materialgeschäft oder ein sauber aussehendes Häuschen, in dem ein Beamter des Schießplatzes wohnt, unterbrochen wird.

So belebt die Straße zu jeder Tageszeit ist, so unsicher ist sie. Mit unerhörter Frechheit werden Raubanfälle und Acte gemeiner Bosheit ausgeübt. Die Kugelsucher, die in ewigem Kampfe mit dem Gesetze und in Folge ihres gefährlichen Handwerks unempfindlich gegen jede Gefahr geworden sind, verbreiten in der Gegend Furcht und Schrecken. Trotzdem ist ihr Treiben und der Umfang desselben wenig bekannt; der arglose Berliner ahnt nicht, daß sich unter seinen Augen allmählich eine Körperschaft gebildet hat, die den Räuberbanden Italiens nichts nachgiebt, sich sogar durch Verachtung gegen jede Lebensgefahr besonders auszeichnet.

Während der Uebungszeit auf dem Schießplatze werden täglich eine sehr große Anzahl Projectile verschossen; sie sind, je nachdem, mehrere Centner schwer. Es sind cylinderförmige Körper mit konischer Spitze aus Gußeisen; das untere Ende ist mit einem starken Bleimantel umkleidet, der verhältnißmäßig einen hohen Werth repräsentirt. Besondere Wachposten werden commandirt, um den Lagerpunkt der sich häufig im Sande tief einwühlenden abgeschossenen Projectile, oder die Bruchstücke derselben, wenn es Granaten sind, zu fixiren, Diebe abzuhalten und nach eingestelltem Schießen das ganze Material einzusammeln. Aber gering nur ist das Resultat ihrer Anstrengung. Die Kugelsucher sind ihnen meistens zuvorgekommen und überlassen ihnen dann nur die Nachlese.

Unter Commando des bereits erwähnten Krückenmannes liegen Männer, Weiber, Kinder unter dem Gestrüpp, wo sie oft vollständig eingerichtete Lagerstellen und improvisirte Laubhütten beziehen. Sie verfolgen mit größter Aufmerksamkeit die Lösung jedes Schusses. Mit geschärftem Auge und geübtem Ohr berechnen sie den Einschlag der Kugel schon vorher. Ohne Rücksicht auf die furchtbarste Lebensgefahr stürzen sie auf ihre Beute los, überschütten das eingeschlagene Projectil mit Sand, um es dem suchenden Auge des Wachthabenden zu entziehen, oder rollen es schnell in’s nahe schützende Gebüsch. Pfeifend und prasselnd folgt Geschoß auf Geschoß; immer wilder wird die Jagd auf die kostbare Beute. Jetzt ein Schrei und gräßliche Fluchworte – eine Granate explodirt, und schwer getroffen stürzt hier oder dort einer der verwegenen Jäger nieder; man schleppt ihn fort, ohne daß die wilde Jagd unterbrochen wird.

Unter dem Dunkel der Nacht, oder auch sofort durch bereit stehende und sorgsam versteckte Karren, werden die Metallmassen fortgebracht und in sicheren Räumen geborgen. Die geschickte Organisation und Leitung der Bande macht dies möglich. Der lahme Anführer dirigirt seine Truppen äußerst umsichtig, und nur muthige, kräftige und erfahrene Burschen werden direct auf das Schlachtfeld commandirt. Besonders dazu geschickte Hände lösen, wen es möglich ist, an Ort und Stelle den Bleimantel ab, um den weniger werthvollen und schwerer transportabeln Eisenkörper im Falle der Noth zurücklassen zu können. Weiber und Kinder graben Löcher zu etwaiger Bergung der Beute, oder sie sammeln Granatsplitter ein, wobei sie in der fortwährenden Gefahr schweben, durch Berührung einer Spur unentzündet gebliebener Sprengmasse eine erneute Explosion herbeizuführen. Andere packen die Beute in Wagen und Karren. In heimlichen Schmelzräumen harren aber schon die Hehler beim prasselnden Feuer, um die Bleimasse in neue Form zu bringen, während die Eisenstücke in besonderen Kellern aufbewahrt werden.

Der Gewinn, den diese Raubzüge abwerfen, ist ein ganz ungeheurer. Wie gewöhnlich in ähnlichen Fällen, fließt er allerdings zum größeren Theile in die Taschen der Hehler.

Von der im Jahre 1873 verschossenen Munition konnte nach amtlichen Berichten so wenig wieder eingesammelt werden, daß der Ausfall einen Werth von zweiundneunzigtausend Thalern repräsentirte. Also für zweiundneunzigtausend Thaler Blei und Eisen ist in etwa drei bis vier Monaten durch die Kugelsucher gestohlen worden. Bedenkt man, unter welchen erschwerenden Umständen dies geschehen mußte, welcher Aufwand von persönlicher Kraft, von Muth, Verwegenheit und List dazu erforderlich ist, so wird man zugestehen, daß man es mit einer höchst gemeingefährlichen Gesellschaft zu thun hat.

Der Militärfiscus hat vergeblich versucht, dem Unwesen zu steuern. Seit einigen Jahren hat sich indessen die Polizei in’s Mittel gelegt, und in Folge sorgsamer Bewachung der Gegend durch [381] Gensd’armen hat sich schon vieles dort gebessert. Im Jahre 1874 sind nicht weniger als achtundachtzig Personen wegen Kugelsuchens und hundertachtunddreißig Personen wegen unbefugten Betretens des Schießplatzes gerichtlich bestraft worden. Man kann hieraus ermessen, wie groß die ganze Körperschaft ist. Eine vollständige Ausrottung derselben wird erst dann möglich sein, wenn der Schießplatz von Tegel, wie beabsichtigt wird, nach Cunersdorf verlegt wird. Der Gewinn, den das Kugelsuchen ergiebt, ist eben ein zu enormer und verlockt deshalb viele Menschen vom Pfade der Ehrlichkeit, zumal bei einem etwas lockeren Rechtsbewußtsein der Gedanke an einen wirkliche Diebstahl bei den Betreffenden gar nicht aufkommt.

Ich begegne zuweilen zwei Krüppeln, verkommenen Gestalten mit bösem, menschenfeindlichem Blick. Einst waren es tüchtige Männer, gesund an Seele und Leib, die als ehrliche Tischlergesellen sich und die alte Mutter ernährten. Sie gingen in die Fremde und schickten nach guter Kindespflicht der Alten, was sie entbehren konnten. Es war nicht gerade viel, aber es genügte für den Unterhalt der Mutter. Die aber sah, wie ihre Nachbarn gar viel darauf gehen ließen. Mußte sie einen Groschen überlegend umwenden, ehe sie ihn ausgab, so warfen Jene mit den Thalern um sich. Das verdroß die Alte und erweckte in ihr die Sehnsucht nach einem ähnlichen bequemen, ja luxuriösen Leben. Und sie schrieb ihren Söhnen: „Kommt zurück! Hier könnt ihr ein besseres Glück machen. Kommt und werdet Kugelsucher, wie alle unseren Nachbarn, und wir können herrlich und in Freuden leben.“ Lange widerstrebten die Söhne. Endlich gaben sie dem Drängen der Mutter nach. Sie kamen zurück und wurden Kugelsucher. Aber das Unglück verfolgte sie. Kaum waren acht Tage verflossen, da trug man der Mutter den ältesten Sohn blutend in das Haus – ein Bein war ihm abgeschossen. Und nur wenige Tage später – da trug man ihr den zweiten in’s Haus. – Jetzt ist die Mutter eine stumpfsinnige Greisin, dem bittersten Elend ausgesetzt, die Söhne aber sind Krüppel an Körper und Seele, keiner ehrlichen Arbeit mehr fähig. – – –

Das sind die Kugelsucher auf dem Tegeler Schießplatz!