Blinden- und Taubstummenanstalt Gmünd

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Textdaten
Autor: Johann Georg Knie
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Blinden- und Taubstummenanstalt Gmünd
Untertitel:
aus: Pädagogische Reise durch Deutschland im Sommer 1835 : auf der ich elf Blinden-, verschiedene Taubstummen-, Armen-, Straf- und Waisenanstalten als Blinder besucht und in den nachfolgenden Blättern beschrieben habe. S. 162–172
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1837
Verlag: Cotta
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Stuttgart und Tübingen
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Nachdruck der Ausgabe Stuttgart und Tübingen, Cotta 1837. Erschienen: Würzburg : Ed. Bentheim, 1994. Commons (Exemplar der UB Heidelberg)
Kurzbeschreibung:
Siehe auch Schwäbisch Gmünd
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


Dreiundzwanzigstes Capitel.
Passirung der rauhen Alp. – Bis Göppingen und Gmünd.

Es war 9 Uhr, als ich Ulm verließ; ich fuhr allein mit dem Conducteur Schillhorn, einem seit dem Dienstage zuvor erst neugebacknen Ehemanne, den sein Beruf zum erstenmale aus den Armen seiner jungen Frau entführte. Bald hatten wir die steile Höhe des Frauensteges am linken Ufer der Donau hinter uns, und fuhren immer weiter aufwärts, um die Höhe der rauhen Alp zu gewinnen. Schillhorn ging hinter dem Postwagen her, als plötzlich von einem Seitenwege herab ein schweres Fuhrwerk an uns vorüber gerasselt kam, einige Minuten später rief Schillhorn: „du lieber Gott, wie wird es dem gehen,“ und jetzt erst erfuhr ich, daß dem Führer jenes Frachtwagens der Hemm- oder Radschuh ausgesprungen war. Unser guter Genius hatte ihn glücklich am Postwagen vorüber gelenkt, der seine aber bereitete ihm das noch größere Glück, auf einer tiefer liegenden flachern Stelle sein Fuhrwerk zum Stehen zu bringen, ehe er wieder in die noch steilere Tiefe kam. So gelangten wir wahrhaft mit Gottes Beistand in der eilften Stunde nach Lutzhausen. Hier nahmen wir, um den Muth zu erfrischen und tapfer der schon streng werdenden Nachtkühle auf den Bergen Trotzbieten zu können, ein Schöpple Wein, ich aber hörte zum erstenmale von sechs Männern an einem Tische neben mir ächt schwäbisch plaudern; doch ich muß aufrichtig gestehen, daß die ungeheure Breite der Mundart und die große Menge der Provincialismen meine Ohren so fremdartig berührten, daß ich kaum die Hälfte dessen, was ich hörte, mir zu entziffern vermochte, und ich hätte, ohne Hebels allemannische Gedichte früher gehört zu haben, vielleicht noch weniger verstanden. Ohne weitern Unfall gelangten wir von hier über Geißlingen nach Göppingen, wo ich den Postwagen verlassen und mir für den Seitenweg nach Gmünd einen Einspänner dingen mußte, den mir auch der Kellner der Passagierstube bald und freundlich besorgte. Nach zweistündigem Harren von 4–6 Uhr und eingenommenem Kaffee mit Rum konnte ich neu gestärkt die vier Stunden weite Fahrt durch die einsamen Waldreviere des Hohenstaufen antreten. Mein Kutscher, ein ächter Schwabe von Sprache und Einfalt des Herzens und des Oberstübchens, konnte durchaus nicht begreifen, warum er mir sagen sollte, wenn überhängende Aeste kommen würden; daher sah ich mich bald genöthigt, um nicht ohne Kopf nach Gmünd zu kommen, meinen Stock als beste Sonde für den ganzen Weg vor mir in der Hand senkrecht zu halten, was mir in der That das Ansehen geben mochte, als wollte ich den Leibgärber oder Blaufärber gegen das Rückenfell meines interessanten Kutschers spielen – eine Meinung, die er selbst zu fassen schien, da er sich einigemale sehr bedenklich umsah (eine Bewegung, die dem scharfhörenden Blinden nicht entgeht) und dann allemal seinen ohnedieß gut trabenden Gaul wiederholt kräftig mit der Peitsche begrüßte, damit ich ja keine Ursache zur Ungnade haben sollte.

Gegen 9 Uhr hielt ich vor dem Hause der Taubstummen und Blinden zu Gmünd, welches auch der würdige Stadtpfarrer Jäger, der Vorsteher beider Anstalten, bewohnt, unter dessen wirthlichem Dache ich nach wenigen Minuten freundschaftliche Aufnahme fand. Schon durch den Geist seiner Schriften und durch Briefwechsel mit ihm bekannt, näherten wir uns jetzt persönlich um so leichter, obwohl der Charakter dieses achtbaren Mannes mehr ein ernster und schweigsamer genannt werden möchte. Noch denselben Vormittag wohnte ich dem Unterrichte der Blinden bei, der abgesondert von dem für die Taubstummen gegeben wird. Den nun folgenden Sonntag Vormittag erbaute mich in der Stadtpfarrkirche eine von Jäger gehaltene Predigt, nach Tische eben da die Kinderlehre und ein Besuch des Asyls für erwachsene Blinde. Noch näher lernte ich den Blinden-, wie auch den Taubstummenunterricht und sämmtliche vorhandene Lehrmittel während der zwei folgenden Tage kennen. Die hiesige Doppelanstalt ist in folgender Art entstanden: im Jahr 1807 begann der nun verstorbene katholische Dekan und Stadtpfarrer Krazer zu Gmünd den Unterricht von drei taubstummen zu seiner Gemeinde gehörigen Kindern. Seine amtlichen Geschäfte erlaubten ihm jedoch bald nicht mehr die Fortsetzung dieses Unterrichts. Hierdurch bewogen, brachte er die Errichtung einer Taubstummenanstalt in Vorschlag. Sein Antrag wurde höhern Orts genehmigt, und auf seine Empfehlung Leonhard Alle, der als Lehrer in einer deutschen Schule in Gmünd angestellt war, nach Freysing in Bayern geschickt, um sich in der dort befindlichen Taubstummenanstalt zum Taubstummenlehrer zu bilden. Alle that dieß mit glücklichem Erfolg, und wurde nach seiner Zurückkunft als Taubstummenlehrer mit einem Gehalt von 300 fl. angestellt. Doch bestand die Anstalt nur als Privatunternehmung unter Oberaufsicht des Staates, und erst seit 1817, namentlich aber nach einem Besuche des Königs, 1822, wurde mehr als bis dahin für sie gethan. Sie erhielt ein eigenes Haus, und im Jahr 1823 durch das Ministerium des Innern förmliche Statuten. Nach diesen ist es ihr Zweck eine Anzahl von Taubstummen und Blinden zu erziehen, und zugleich als Musteranstalt zur Bildung von Taubstummen- und Blindenlehrern zu dienen. Einige Jahre später wurde das frühere Gebäude der Anstalt gegen das noch bequemere jetzige vertauscht, und der geniale, aber kränklich gewordene Alle pensionirt. Der Staat verwendet gegenwärtig circa 5000 fl. auf die Anstalt. Die Commission für Erziehungshäuser in Stuttgart, zusammengesetzt aus Mitgliedern des Ministeriums, des evangelischen Consistoriums und des katholischen Kirchenrathes, hat die Oberaufsicht; die nähere Aufsicht eine örtliche Commission. Sie besteht aus dem evangelischen und dem katholischen Stadtpfarrer, und dem jedesmaligen Oberamtmann zu Gmünd, dem die Cassenverwaltung obliegt.

Seit Alle’s Abtreten wurde das Amt des unmittelbaren Vorstehers von dem des Oberlehrers getrennt, und das erstere dem Stadtpfarrer Jäger übertragen; auch wird der Religionsunterricht von den beiden Pfarrern den Taubstummen und Blinden ihrer Confession ertheilt. Bei dem übrigen Unterricht wird hauptsächlich nach den Grundsätzen und der Methode verfahren, die Jäger in seiner Anleitung für den Unterricht der Taubstummen bereits öffentlich dargelegt hat, und von der binnen kurzem auch die vierte Abtheilung erscheinen wird. Hr. Victor August Jäger ist ein Würtemberger und geboren den 26 November 1794 zu Linsenhofen, daher ein Mann noch in seiner vollen Kraft. Als Oberlehrer für den Taubstummenunterricht ist angestellt Joseph Roth, geboren zu Ellwangen den 8 März 1809. Als Unterlehrer sind es Johann Nabel, geboren zu Owen den 13 Dec. 1806, und Friedrich Oswald, geboren zu Altdorf den 14 März 1809. Die Stelle des Hülfslehrers, in welche jedes Jahr ein anderer junger Schulmann berufen wird, versah der erst unlängst angekommene Hr. Böhm, ein Ludwigsburger, geboren 1817 den 17 Januar. Ihm liegt fast ausschließlich der Blindenunterricht ob. Der Unterricht in weiblichen Arbeiten und die besondere Aufsicht über die weiblichen Zöglinge ist mit der Kostreichung und der Besorgung der häuslichen Geschäfte der verwittweten Frau Pfarrer Hoffacker übertragen, welche ihre Tochter und einige Dienstmädchen unterstützen. Von letzterer wird aber auch nur die zugleich zur Mädchenaufseherin bestimmte Person von Staats wegen für das angewiesene Quantum von 80 fl. erhalten. Die Gesammtzahl der Zöglinge betrug 40, unter diesen 19 taubstumme Knaben und Jünglinge, 14 Mädchen, 6 blinde Knaben und 1 blindes Mädchen. Die Taubstummen werden in drei Classen unterrichtet, und haben die zweite und dritte ein gemeinschaftliches Lehrzimmer, was bei dem Nichthören dieser Schuljugend ohne gegenseitige Störung möglich ist. Die Tonsprache herrscht hier in und außer den Stunden, auch selbst bei den Gebeten sehr erfreulich vor, wovon ich mich durch mehrfache Unterhaltung mit einzelnen Zöglingen hinreichend überzeugt habe. Alle Kinder verriethen den Geist friedlicher Lebendigkeit und hatten ein frohes, zutrauliches Wesen.

An Lehrmitteln fand ich für den Blindenunterricht zum Lesen: Buchstaben aus Holzstäben im vergrößerten Maßstabe, Setzkasten mit Klötzchen, zum Einschieben in Falzleisten, auf einem Brettchen. Die Buchstaben auf den Klötzen sind aufgeleimte Stachelschrift; gestochene Blätter und Bücher; zweierlei Maschinen zum Stechen, die eine mit einem Hebelarm zum Drucke auf die Typen versehen, und es läßt sich der Hebelarm auf einer eisernen Stange hin und herschieben. Die Stechbuchstaben sind theils aus Drath auf hölzerne Klötzchen eingesetzt, theils aus Eisen verfertigt; die letztern haben die Form des Buchstabens von außen und ein rundes Heft. Zum Schreiben, das die Behörde noch verlangt, sind die Buchstaben auf Brettchen vertieft eingeschnitten, auch auf Pappe mit Wiener Masse erhöht und groß geschrieben. Das Schreiben geschieht anfangs auf Schiefertafeln mit eingegrabenen Linien, später mit Bleistift auf einer Schreibrahme, wo die Linien durch aufgeleimte Bindfaden bezeichnet sind. Auch waren noch andere Schreibmaschinen vorräthig. Zur Naturbeschreibung sind Thiere aus Holz geschnitzt ohne Fußgestelle, ausgebälgte Vögel, einige Insecten, Muscheln und Mineralien, deßgleichen eine Samen- und Früchtesammlung. Zugleich mit zur Formlehre dient eine Sammlung von Holzklötzchen, Kugeln und Würfeln von verschiedenen Holzarten und Metallen, theils von gleicher, theils von verschiedener Größe. Zur eigentlichen Geometrie sind Figuren auf Papptafeln gestochen, und Körper aus Pappe verfertigt. Für die Geographie sind zwei kleine Globen halb erhöht und recht deutlich, so wie eine dreifache Karte von Würtemberg im Gebrauche. Die eine Karte von Würtemberg enthält alle 64 Oberämter (die Namen in den Raum eingestochen), eine zweite zeigt die vier Kreise und die Flüsse; die Gränzen sind hier gleichsam gestrichelt (was mir aber undeutlich erschien). Auf der dritten Karte sind nur die vier Kreise, und in denselben mit gestochener Schrift die Zahl der Oberämter, der Flächenraum, die Einwohner, Städte, Marktflecken, Dörfer, Weiler, Höfe und Schlösser eines jeden angegeben. Andere Karten sind nicht im Gebrauch. Zur Geschichte sind zwei Tabellen für die würtembergische und eine für die allgemeine Geschichte vorhanden. Bilder aus Eisenguß üben den Tastsinn, eben so eine Sammlung verschiedener Stoffe in einer Schachtel. Zum Rechnen dient die Saunderson’sche Rechentafel. An Handarbeiten betrieben die Blinden des Instituts das Strohzopfflechten und Teppichmachen aus diesen, das Flechten von Winterschuhen aus Tuchkanten, und das Mädchen die Strickerei. – Der Musikunterricht, den Hr. Lehrer Oswald den Blinden ertheilt, besteht für alle nur in der Unterweisung auf dem Clavier, weil man hier, wie in Linz, durch den übrigen Instrumentalunterricht wandernde blinde Musikanten zu bilden fürchtet, und dieß gern verhüten will. – Der Schulunterricht für die Blinden, welchem ich beiwohnte, wurde so gut ertheilt, als dieses von einem nicht untüchtigen Lehrer, der aber erst vor kurzem eingetreten und daher noch Neuling in seinem besondern Fache ist, nur möglich war. Die Blindenanstalt ist hier leider nur ein Anhängsel der Taubstummenanstalt, und wenn auch in ökonomischer und disciplinarischer Beziehung die Vereinigung sich nicht bloß rechtfertigen läßt, sondern sogar Vortheile gewährt, so kann dieses doch keinesweges in Hinsicht des Unterrichtes behauptet werden, namentlich so lange jedes Jahr der Lehrer für die Blinden wechselt, und so lange man genöthigt ist die jungen Männer, welche hier den Taubstummenunterricht erlernen sollen, gleichsam für den Blindenunterricht zu mißbrauchen. Der würdige Jäger verkennt dieses nachtheilige Verhältniß keinesweges und wünscht ernstlich, die Unterweisung und Erziehung seiner Blinden einem Lehrer ausschließlich und auf die Dauer übergeben zu können, wozu indeß neue Bewilligungen von Seite des Staates erforderlich sind, so wie bei einer Vermehrung der Blinden der Raum wohl auch nicht zureichen würde. Das Gebäude von sieben Fenstern Front begreift ein Parterre und zwei Stockwerke, nebst einem angebauten Flügel. Im Parterre des Vordergebäudes (Hauptgebäudes) sind: der Schlafsaal der Mädchen, die Wohnung der Oekonomin, die Wohnung eines Unterlehrers, das Arbeitszimmer, eine kleine Speisekammer; im zweiten Stockwerke sind die zwei Schulzimmer der Taubstummen und das der Blinden, die Wohnung des Oberlehrers mit drei Zimmern; im obern Stock ist die Wohnung des Vorstehers mit sechs Zimmern. Im Flügel (Hintergebäude), der unmittelbar an die evangelische Kirche stößt, sind im Parterre: Küche, Speisesaal, Waschhaus und ein kleines Zimmer, das die Kostreicherin bewohnt; im mittleren Stock ist der Schlafsaal der Knaben, die Küche des Oberlehrers; im obern Stock sind zwei Krankenzimmer, eine Kleiderkammer, die Küche und Speisekammer des Vorstehers. Die Lagerstätten sind Heumatratzen nebst Federkissen für den Kopf, und wollene Teppiche, in ein Leintuch eingeschlagen, als Decke. Der Hülfslehrer schläft bei den Knaben, ein Dienstmädchen, zugleich Gehülfin beim Arbeitsunterricht, schläft bei den Mädchen. – Zu Körperübungen sind in dem Hofe für Taubstumme und Blinde: ein Regg, eine Barre, ein Kletterbalken und eine Schaukel angebracht. Die Kleidung besteht bei den Knaben aus grünem Tuche für den Winter, aus Leinwandhosen und Wämsern für den Sommer; bei den Mädchen aus baumwollenen Zeugen, im Winter ebenfalls aus einer Tuchkleidung.

Die Kosten auf Verpflegung und Bekleidung belaufen sich für einen Blinden, wie für einen Taubstummen, jährlich nur auf 115–120 fl., und es wird von hier aus die Bekleidung der Taubstummen, die sich in der mit dem evangelischen Schullehrerseminar zu Eßlingen verbundenen Tochteranstalt befinden, mit besorgt. Der Vorsteher wie der Oberlehrer genießen jeder nur 450 fl. Gehalt, die beiden Unterlehrer circa 250 fl., die Oekonomin und Arbeitslehrerin 200 fl. und der Hülfslehrer 130 fl. Man erkennt hieraus den Geist möglichster Sparsamkeit, der übrigens, so weit ich Kenntniß davon nehmen konnte, in allen Zweigen der würtembergischen Verwaltung vorherrscht, und den ich in ähnlicher Art nur im Weimarschen wieder gefunden habe.

Das Blindenasyl. Der Urheber dieses Werkes christlicher Milde ist der treffliche Jäger. Gnadengeschenke Ihrer Majestäten des Königs und der Königin von 800 fl., aus Staatscassen 1000 fl., andere wohlthätige Spenden, und namentlich der Ertrag einer Kirchencollecte, ergaben bis jetzt die Summe von 12,000 fl., wodurch der Ankauf und die Einrichtung des obenangeführten Gebäudes mit zugehörigen Grundstücken an Baumgärten und Wiesen möglich wurde. Das kleine noch vorhandene Capital von 6000 fl. nebst dem Pachtzinse gewähren jährlich den nöthigen Ertrag für Beheizung, Bedienung und Unterricht, und einige Gratiale an Blinde, die noch nicht das Nöthige verdienen können. Uebergeben Angehörige, oder eine Gemeine, dieser Versorgungs- und Beschäftigungsanstalt eine blinde Person, so haben sie auf so lange für deren Unterhalt zu sorgen, bis dieselbe sich etwas erwerben kann. Jährlich betragen die ungefähren Unterhaltungskosten 80 fl. Die Geschlechter sind gesondert, die Kleidung beschafft jeder selbst. Wer durch Zahlung oder Erwerb sich ganz erhält, kann, wenn er will, jederzeit wieder austreten; Blinde, die Zuschüsse aus dem Fonds erhalten, müssen diese, wenn sie austreten, wieder erstatten. Bei dem Ableben im Asyle fällt diesem der Nachlaß zu. Auch Ausländer werden aufgenommen. Für den Absatz der Arbeiten wird durch Commissionslager in verschiedenen Orten gesorgt, weil Gmünd selbst zu klein ist. Jägers Bemühen ist deßhalb dahin gerichtet, einige Tausend Landeseinwohner zu vermögen, daß jeder, in so weit er die Waaren der Blinden brauchen kann, sich jährlich zu einer bestimmten Abnahme im Werthe von einem oder einigen Gulden erklären soll, wodurch ein fortwährender Absatz und eine ununterbrochene Beschäftigung, so wie die Selbsternährung sehr vieler Blinden möglich werden wird. Eine Verlegung des Asyls nach Stuttgart, welche der biedere Jäger ernstlich erstrebt, wird sicher ebenfalls günstig zur ferneren Erweiterung und festern Begründung der ganzen sehr löblichen Stiftung mitwirken. Von den angeführten Arbeiten habe ich das Haftel- oder Häftel- und Schlingenmachen aus Drath zur weiblichen Kleidung, als eine mir neue Arbeit, von der erblindeten Sophie Sauter erlernt, sie fertigt täglich 2–300 Haftel und eben so viel Schlingen, wodurch sie 10–12 kr. erwirbt. Zu den Bürsten liefern die Züchtlinge des nahen Strafhauses die gebohrten Brettchen; ein Tischler besorgt bei den feinern Bürsten die Politur für einen billigen Preis. Das Einziehen der Borsten geschieht von den Blinden. Alle übrigen Arbeiten machen sie ohne besondere Beihülfe. Recht geschickte Arbeiter waren die Erblindeten Geiger und Leisle. Auch eines Blinden, der nicht in der Versorgungsanstalt, sondern bei seinen Eltern lebt, und seine Erziehung der königl. Erziehungsanstalt verdankt, muß ich hier gedenken.

Leopold Kraft, ein ansprechender junger Mann, dessen Haupterwerbszweig das Clavierstimmen ist, hat sich auch als Dichter versucht, und unter dem Titel: „Gedichte eines Blinden,“ herausgegeben und seinen Freunden und Gönnern gewidmet von Leopold Kraft“ (108 S. 8.) seine Lieder und sonstigen Leistungen drucken lassen. Die gelungensten unter diesen sind die im Geiste der Kirchenlieder gehaltenen. An mir und andern Blinden glaube ich die Bemerkung gemacht zu haben, daß die Phantasie den Nichtsehenden zu wenig Stoff von außen empfängt, um einen vielseitigen dichterischen Aufschwung zu nehmen. Dem Sehenden wird es leicht, durch häufige Anschauung von verschiedenen Personen, Trachten, Sitten, anziehenden Gebäuden und Gegenden, mittelst bloßer Charakteristik und Beschreibung derselben, schon eine große Mannichfaltigkeit in seine Darstellungen zu bringen, während der Blinde hauptsächlich nur auf das Physische angewiesen ist. Das meiste Dichtertalent unter den jetzt lebenden Blinden scheint mir Johann Friedrich Richard in Hamburg in seinen „Klängen durch die Nacht“ (1830) und seinen „Nachtfaltern“ (1832) zu bekunden. Auch die „Lieder des blinden Constantin Möllmann, Essen 1823,“ enthalten Gutes und Schönes. Bedauern muß ich jedoch, daß Kraft auf den Einfall gerathen ist, als Clavierstimmer ein Wanderleben im Würtembergischen zu beginnen, und dabei seine Gedichte für 24 kr. selbst zu Markte zu tragen. Fast fürchte ich, der sonst wackere junge Mann überschätzt sein Talent, wozu Blinde leicht verleitet werden können durch das unmäßige und unvorsichtige Lob, das Sehende in der Regel jedem Blinden spenden, der Kopf und Hand nur einigermaßen rühren kann. Bei allgemeinerer Ausbildung aller Blinden wird dieß allmählich aufhören, und man wird vielmehr jedem Blinden zurufen: Lerne etwas Nützliches für dich und Andere, so sollst du uns willkommen seyn als Glied in Familie und Gemeinde. Die Zahl aller Taubstummen im Königreiche Würtemberg beträgt 1200, dieß gibt bei 1,500,000 Einwohnern 1 Taubstummen unter 1250 Bewohnern, was mit dem Ergebnisse der Zählung in Preußen ziemlich stimmt. Blinde sollen dagegen nach Jägers Versicherung im Würtembergischen nur 360, und unter diesen bloß 63 im bildungsfähigen Alter vorgefunden worden seyn, wornach auf 4000 Bewohner nur Ein Blinder käme. So gern ich diesen günstigen Umstand glauben möchte, fühle ich mich doch bewogen, ihn zu bezweifeln, da nach der Beobachtung des gleich näher anzuführenden Hrn. Wagner zu Stuttgart in einigen Gegenden fast immer auf zwei Landgemeinden ein Blinder kommt – ungefähr 1 auf 1500 Bewohner.[1] – Ueber die Gmünder Anstalt sind folgende Schriften nachzulesen: 1) Bericht über die königliche Taubstummen- und Blindenunterrichtsanstalt zu Gmünd 1828; 2) Bericht über die königl. würtembergische Taubstummen- und Blindenanstalt zu Gmünd 1827 - 1830. Erster Bericht über das am 1 Januar 1832 eröffnete Blindenasyl, Gmünd 1833, und zweiter Bericht über das Blindenasyl zu Schwäb. Gmünd 1834 und „Statuten der zu Gmünd errichteten Versorgungs- und Beschäftigungsanstalt für erwachsene Blinde 1832.“

Gmünd, das 5000 Seelen zählt, war bis in den Anfang des 19ten Jahrhunderts eine freie Reichsstadt, was seine ältern Bürger noch nicht vergessen können. Der Hauptnahrungszweig derselben, die Verfertigung von ächtem und unächtem Geschmeide und anderer Waaren aus Gold und Silber, worin Schwäbisch Gmünd schon einen alten Ruf besitzt, ist noch heute ziemlich in Blüthe.


  1. Vielleicht verhält es sich mit dieser würtembergischen Zählung der Blinden und Taubstummen im Lande wie mit derjenigen, welche im Königreiche Sachsen im Dec. des Jahres 1834 stattgefunden hat, welche alle Taubstummen, von den Blinden aber nur die Blindgebornen in sich begreift. Sie lieferte folgendes Resultat:
    Königreich Sachsen. Zahl aller Einwohner. Blindgeborne Taubstumme
    m. w. Summe m. w. Summe
    In den Städten 508473 78 57 135 179 121 300
    Auf dem Lande 1071897 98 91 189 375 334 709
    Zum Militair geh. 15298 1 1
    Summa 1595668 176 148 324 555 455 1010

    (Entnommen aus den Nachrichten des statistischen Vereins zu Dresden S. 38 und 39.)

Anmerkungen (Wikisource)

Zur Gmünder Anstalt siehe Statuten der Taubstummen- und Blindenanstalt zu Gmünd (1823) mit Anmerkung.