Christblume

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Textdaten
Autor: A. Vollmar.[1]
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Titel: Christblume.
Untertitel: Volksblatt. Eine Wochenzeitschrift mit Bildern. Jahrgang 1878, Nr. 50, S. 394-396, Nr. 51, S. 401-403, Nr. 52, S. 411-413
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Herausgeber: Dr. Christlieb Gotthold Hottinger
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Dr. Hottinger's Volksblatt
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Erscheinungsort: Straßburg
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Christblume.
Erzählung von A. Vollmar.


I.

Lobt den Herrn der Welt!
Er tränkt die Flur, er labt das Feld,
Er schmückt das Blümlein, speist den Wurm
Und segnet auch im Wettersturm.

Fern vom Dorfe, da wo die Bäume eine große Familie bilden, welche „Wald“ heißt, steht ein einsames Haus, oder vielmehr eine Hütte. Wer es gebaut und früher darin gewohnt hat, weiß ich nicht, im Jahre 1877 aber lebte Meister Norden mit seinem siebenjährigen Sohne dort, von Wenigen gekannt, mit Wenigen verkehrend. Er war vor etwa einem Jahre hierher gekommen und hatte das leere baufällige Häuschen um ein billiges gemiethet; lieber als mit Menschen verkehrte er mit Bäumen und besonders waren es die bescheidenen, grauen Weiden dort am Bache mit den [395] biegsamen, röthlichen Zweigen, welche Meister Norden liebte; sie ließen sich auch von seinen geschickten Händen zu allerlei Körben flechten, ja sogar zu kleinen Wagen hatten sie sich willig gefügt. Die Hausfrauen in den nächsten Dörfern kauften gern diese Arbeiten des bescheidenen Meisters und für den Erlös derselben erwarb er, was er an Nahrung und Kleidung für sich und sein Kind bedurfte.

So lebte er still und bescheiden, fast unzertrennlich von seinem kleinen Rudolph, der erst kurz vor seiner Herkunft von schwerer Krankheit genesen, noch keine Schule besuchte, kaum einen anderen Menschen als seinen lieben Vater zu kennen schien. Wie schön war es, wenn der ihm im Frühling Pfeifen und Schalmeyen aus Weidenzweigen schnitt, die, wenn alle anderen noch schliefen, schon Knospen trieben; zuerst hingen die braunen Schaalen an den Zweigen, plötzlich sprangen diese auf und kleine „Lämmchen“, weich wie Seide, blickten aus der dunkeln Hülle. Zu denen kamen hungrige Bienen auf Besuch und tranken gar zierlich aus den goldenen Staubblüthen. Nach und nach belebte sich der angrenzenden Wald mehr und mehr: in dem riesengroßen Vater Eichbaum bauten fröhliche Vögel ihr Nest, die sorgsame Mutter Buche reichte den behenden Eichkätzchen schöne braune Nüsse und ließ auch für den kleinen Rudolph manch eine fallen, und unten aus dem Heidelbeerdickicht schauten die blauen Beeren den Jungen gar verlockend an und luden ihn wie die Rothkehlchen und die andern Vögel zur offenen Tafel. Ja, die letzteren sammelten nur ins Kröpfchen, Rudolph aber auch ins Töpfchen, oder vielmehr ins Körbchen, – daß dann solch ein gefülltes Körbchen beim Verkauf noch einige Pfennige mehr eintrug, als ein leeres, war selbstverständlich. Später wurden Haselnüsse gesammelt, dazwischen stets aber trockenes Holz, sogenanntes Reisig, mit heim genommen, um im Winter das Stübchen zu heizen und das Essen damit zu kochen.

Es war eine schöne Zeit und Rudolph wußte kaum, was er am liebsten sammelte: Kräuter, Beeren, Nüsse oder Holz. War ja doch immer sein Vater bei ihm und erzählte ihm wunderschöne Geschichten von den Gewächsen und Thieren des Waldes, vom Wurm in der Haselnuß und von dem plaudernden Bache, von der Sonne und den Sternen, und von dem ewigen Gott, der den Himmel und die Welt und auch den Rudolph erschuf und ihn mit Vaterliebe erhält und behütet. Wenn nun auch der Winter herein brach, die Blumen verblüht waren, das zuletzt goldig aussehende Laub der Bäume am Boden lag, und die Sonne schon früh am Nachmittag zu Bett ging, – es war auch schön in der kleinen Stube, an deren Fenster Eisblumen blühten, dicht neben den grünen Mooskränzen, mit denen der Vater die Spalten verstopft hatte, und wenn auch der Wind rings um das Häuschen pfiff, und den Schnee vor der Thür zu hohen Bergen zusammenwehte, – im Ofen knisterte das im Herbst gesammelte Reisigholz und der Vater war lieb und freundlich wie immer.

Nur nicht mehr so fleißig wie sonst, die arbeitsamen Hände hielten oft inne, er hustete viel und mußte es immer noch hinausschieben, den großen Baumstamm, den er vom Förster gekauft, zu zersägen. „Wenn mir erst wieder wohler ist,“ sagte er zu Rudolph, „und Mittags die Sonne schön scheint, dann zersäge und zerhacke ich den Stamm und Du hilfst mir dabei.“ Aber er wurde nicht wohler, und die Kälte wurde immer größer, der Reisighaufen immer kleiner. Und jetzt, – Rudolph wußte nicht, was für ein Tag es war, aber daß das schöne Weihnachtsfest nahte, das wußte er, – war Meister Norden schon seit zwei Tagen nicht mehr aufgestanden, sah seltsam roth im Gesicht aus und sprach allerhand, was Rudolph nicht verstand; er gab auf des Kindes Fragen keine Antworten, doch sagte er mehrere Mal: „Koche Suppe! Koche Suppe!“

Rudolph war ein anstelliges Kind, konnte Feuer machen und auch zur Noth das einfache Essen bereiten, er heizte ordentlich ein; denn er selbst fror tüchtig, der Vater aber war sehr warm, ja heiß! Von der Suppe jedoch, die Rudolph so schön gekocht, wollte er nicht essen, lag überhaupt heute so still und war ganz anders als sonst. Vergebens fragte das Kind den Vater allerlei, er antwortete nicht. Draußen tobte der Wind immer wilder ums Haus, knackte die dürren Zweige von den Bäumen, drinnen athmete der Vater so schwer und unheimlich, – dazwischen das Kind, dem Vater immer wieder Teller und Löffel zur Suppe bietend. Einmal kam das Gefühl des Verlassenseins über Rudolph, aber dann erinnerte er sich, wie der Vater ihm so oft gesagt: „Wenn ich auch einmal nicht bei Dir bin und nicht höre, was du sagst: Gott, Dein treuer Vater, ist immer bei Dir, und hört, was Du ihn bittest.“ Und er faltete seine Hände und betete:

Müde bin ich, geh zur Ruh,

das liebe Kindergebet, gar andächtig mit lauter Stimme bis zum Schluß:

„Kranken Herzen sende Ruh,
Nasse Augen schließe zu!
Nimm uns endlich allzumal
Auf in Deinen Himmelssaal,“

ohne zu ahnen, wie bald Gott zu diesem Gebet Ja und Amen sprechen wollte.

Sanft und ungestört hatte der Knabe geschlafen; als er am andern Morgen erwachte, war es still im Zimmer, still auch draußen. Der Sturm hatte sich gelegt, der Vater schlief noch immer. Eingedenk der schon seit mehreren Tagen geübten Pflichten, stand Rudolph leise auf, um vor allen Dingen einzuheizen; da sah er mit Schrecken, daß sein Holzvorrath fast zu Ende war, – was dann anfangen? Im Stall war noch Holz, aber die Thür ging so schwer auf und der Vater hatte ihm streng verboten, allein in den Stall zu gehen. Nun, er machte das Feuer an, legte alles vorhandene Holz darauf; vielleicht wachte der Vater auf und Rudolph konnte ihn fragen. Aber kalt war es in der Stube, bitter kalt; Rudolphs kleine Hände waren ganz steif und das Feuer drohte bald zu verlöschen. Der Vater aber schlief noch immer; das Kind faßte ihn an, fuhr aber vor der Eiseskälte des Vaters zurück, – o wie mußte der [396] frieren! Dagegen waren ja die Kindeshände noch lebenswarm. Aber der Vater mußte eine warme Stube haben und wenn er aufwachte, auch einen Teller Suppe. Ja, wo Holz hernehmen? In den Stall durfte und konnte Rudolph nicht; dort hing eine Sense und Harken; einst war der Knabe beinah verletzt worden von der scharfen Schneide und seit der Zeit durfte er nicht mehr allein in den engen Stall gehen. Aber da draußen, der weite große Wald – er hatte Holz genug auf die Erde geworfen, um hundert Stuben zu erwärmen. – Rudolph überlegte: der Vater schlief so ruhig und hatte in letzter Zeit oft gesagt: „Wenn ich doch nur einmal ordentlich schlafen könnte!“ und er fror sosehr, – welche Freude, wenn er beim Aufwachen alles hübsch fand. Ja, Rudolph wollte hinausgehen in den Wald und Holz sammeln, wie er so oft gethan, dann würde sich hernach der Vater freuen und sagen: „Das hast Du recht gemacht, mein liebes Kind.“

Schnell fuhr er in seine warme Jacke, zog die dicken Handschuh über die kleinen Hände und trat muthig seine Wanderung an. Als er die Thür hinter sich, ganz leise, fest geschlossen hatte, wurde ihm so fröhlich zu Muth, er war ja mit wenigen Schritten im Walde, der ihn wie ein alter Bekannter ansah. Wie reich hatte er aber auch für das arme Kind gesorgt! Hier die Eiche hatte ihre schönsten Aeste auf den Boden geworfen, dort die Birke ihre dürrsten Zweige dem kleinen Sammler gerade vor die Füße gelegt. Und Rudolph las und las, bald hatte er ein Aermchen voll und legte es auf ein Häuflein, und aus dem Häuflein wurde ein Haufen, und noch einer, und ein dritter. Wie würde der Vater sich freuen, daß Rudolph so fleißig war! Mehrere Male sah sich das Kind um, ob nicht die liebe Gestalt, wie so oft, dicht neben ihm stand. Aber nein, der Vater lag ja drinnen in der Stube und schlief, und war so kalt – – Rudolph sammelte hurtiger und dann versuchte er alle die Reisigbündelchen zu einem großen Bündel zu vereinen, das er auf dem Rücken nach Hause trug. Nach großer Mühe gelang es endlich, obwohl die kleinen Finger sich hier und da blutig geritzt, – nun aber lag es fest und ordentlich da, rasch aufgeladen und nach Hause, am Ende ist der Vater schon aufgewacht und weiß gar nicht, wo sein Rudolph geblieben! –

Das Bündel ist zu schwer, der kleine Kerl kann es nicht heben; er hat es wohl zehnmal versucht, aber vergebens. Doch vielleicht kann er es ziehen, wie man einen Wagen zieht? Er greift tapfer hinein in das Holz, – er zieht und zieht, nein, es ist auch dazu zu schwer, es liegt steif da und bewegt sich nicht von der Stelle. Was nun machen? Nach Hause laufen und den Vater holen, daß er anfaßt? Ach nein, dann ist es mit aller Ueberraschung vorbei, und wer weiß auch, vielleicht schläft der Vater noch. Wenn nur ein anderer Mensch käme, – der Weg, auf dem sie zuweilen gehen, ist gar nicht weit von hier. Rudolph läuft auf die Straße – nein, es ist weit und breit Niemand zu sehen, den er um Hilfe bitten könnte. Da fängt er bitterlich an zu weinen, – aber nicht lange; denn ihm fällt ein, daß er ja noch einen Vater hat, den er um Hilfe bitten kann. Dieser Vater schläft nicht, – Rudolph faltet seine Hände und betet: „Lieber Gott, schicke doch Einen, der das Holz mit anfaßt!“ [401]

II.

Von der Gewalt, die alle Menschen bindet.
Befreit der Mensch sich, der sich überwindet.

Es war am Tage vorher, als in einer weit entfernten Stadt zwei Menschen ein ernstes Gespräch führten. Der Eine war der alte hochachtbare und rühmlich bekannte Mechanikus Francke, der Andere sein Lehrling, Bernhard Winter, ein junger Mensch von achtzehn Jahren.

„Bernhard, ich sage Ihnen noch einmal,“ fuhr der Alte jetzt fort, „besinnen Sie sich. So kann es nicht länger mehr mit Ihnen fortgehen. Auf die Art, wie Sie arbeiten, lernen Sie nicht nur nichts, sondern stehlen unserm Herrgott den Tag. Sie sind der einzige Sohn Ihres braven Vaters, seine ganze Hoffnung. Wenn Sie einst seine große Fabrik übernehmen und anderen Leuten befehlen wollen, so müssen Sie vorher etwas Rechtschaffenes gelernt haben. Zum Studiren hatten Sie auch keine Lust, mit Ihren Händen zu arbeiten eben so wenig, dagegen sehr große zu dummen leichtfertigen Streichen, – ich frage Sie, was soll aus Ihnen werden?“

„Ich weiß es nicht,“ stieß Bernhard abgewandten Gesichtes hervor, „jedenfalls kein Mechanikus.“

„Ist auch nicht nöthig,“ antwortete Meister Francke, „Sie sollen einst große Unternehmungen leiten, aber aller Besitz ist todt, nur der Erwerb ist lebendig. Wenn Sie Ihre Pflicht – ordentlich zu lernen – jetzt nicht erfüllen, – wie wollen Sie einst größere Pflichten übernehmen?“

Da Bernhard schwieg, näherte sich ihm der Alte und sagte mit herzlichem Ton: „Lieber Junge, Ihr Vater war ein Freund von mir und ich wünschte ihm, daß er Freude an Ihnen erlebt. Machen Sie diese Hoffnung nicht zu Schanden. Eigentlich wollte ich ihm schreiben, wie wenig ich mit Ihnen zufrieden bin, – aber morgen ist heiliger Christabend, den möchte ich ihm nicht mit solcher Nachricht verderben. Reisen Sie nun heute nach Hause, der ganze Tag liegt vor Ihnen, überlegen Sie sich da, welchen Weg Sie gehen wollen. Am zweiten Festtag erwarte ich einen Brief von Ihnen, worin Sie erklären, ob Sie mir von nun an freudig gehorchen und ordentlich etwas lernen wollen. Versprechen Sie mir das, gut, so will ich es noch einmal versuchen; im andern Falle schreibe ich den ganzen Sachverhalt Ihrem Vater. So, nun überlegen Sie sich, ob Sie links oder rechts gehen wollen.“ – –

– – – Ja, wenn Bernhard das nur selbst gewußt hätte! Er saß jetzt in der Postkutsche, welche ihn von früh Morgens um zehn bis Abends um sechs Uhr dem Vaterhause oder vielmehr der Eisenbahnstation zuführen sollte; nach sechs Uhr bestieg er den Dampfwagen und war dann um neun Uhr im Vaterhause, sehnlich erwartet, um morgen mit den Seinen das liebe Weihnachtsfest zu feiern.

So hatte ihm der Vater geschrieben, auch außer dem Reisegelde noch eine Summe Geldes gesandt, „damit Du Weihnachtsgeschenke mitbringen kannst.“ – Ach, und gerade dies Geld wurde zum Versucher, einen abenteuerlichen Plan auszuführen, der schon längst in Bernhards Herzen keimte. [402]

Es war ihm unerträglich, anhaltend arbeiten zu müssen; er wußte, daß er eines wohlhabenden Mannes Sohn war, da schien es ihm eine Ungerechtigkeit, sich irgendwie anstrengen zu sollen. Er wollte frei sein von jedem Zwang, von jeder Pflicht, von jeder geregelten Thätigkeit; frei wie sein Freund Philipp, der in Amerika wohnte und ihm sein dortiges Vagabundenleben mit den lockendsten Farben schilderte. Bernhard war unzufrieden mit seinem Loose, und diese Unzufriedenheit hatte ihn zur Arbeit unlustig gemacht. Er fand es sehr ungerecht, daß Meister Francke Gehorsam und Fleiß verlangte; Nichtsthun war viel angenehmer. Ach, wenn er doch auch in Amerika wäre, thun und lassen könnte, was er wollte! Jetzt hatte er ein gutes Stück Geld in Hand, der Dampfwagen, welchen er hier bestieg, führte ihn geradeswegs nach Hamburg, von dort war er in vierzehn Tagen in Amerika; reichte das Geld nicht zur Ueberfahrt, so verkaufte er noch seine goldene Uhr und Kette – gewiß, es ging. Einmal dort, dann hatte er keine Sorge, dann schlenderte er mit Philipp umher, wie er es früher auf der Schule gethan, und der Vater, – er würde doch wegen Meister Franckes Brief so wie so zürnen, – da ging es in Einem hin.

Unter diesen Gedanken war es Abend geworden, er war an der Eisenbahn, und während er noch stand und es in seinem Herzen kämpfte, fuhr der Zug ab. So war es für heute entschieden, – nach Hause konnte er nicht mehr; kein anderer Zug ging von der kleinen Station heute Abend, – so entschloß er sich, über Nacht zu bleiben.

Es war eine wilde, stürmische Nacht. Draußen heulte der Wind, in Bernhards Brust pochte das Gewissen laut und lauter. Nein, er wollte doch lieber nach Hause gehen, des Vaters ernstes, der Mutter gütiges Gesicht machte ihm ordentlich Heimweh. Morgen früh mit dem ersten Zuge wollte er heimfahren und den Eltern vorlügen, daß er den Zug heute versäumt. Nachdem Bernhard diesen Entschluß gefaßt, wurde er ruhiger und schlief endlich ein.

Aber als er am andern Morgen erwachte, – wo waren da alle besseren Vorsätze? Hatte sie der Wind verweht? Waren sie mit den Wolken davon gezogen? Bernhard erschien sich selber wie ein Narr, daß er so wankelmüthig gewesen, wie hatte er nur dies elende Leben voller Arbeit und Einschränkung noch weiter leben wollen! Tag für Tag, vom Morgen bis zum Abend arbeiten, stets seinen Willen beugen, – dagegen in Amerika bei seinem Freunde unbegrenzte Freiheit und Gelegenheit zu wer weiß was für großartigen Thaten! Das Bild der Eltern, das gestern mahnend und lockend vor Bernhards Seele gestanden hatte, war heute mit dem hellen Tageslichte verschwunden. Sein Entschluß war fester als je, – jetzt galt es nur noch, ihn auszuführen.

Noch wurde er nicht vermißt; ob er gestern Abend oder heute Mittag nach Hause kam, war nicht fest bestimmt gewesen. Kam er aber nun heute nicht zu den Seinen, so würde der Vater hier nachforschen, erfahren, daß er sich ein Billet nach Hamburg gelöst und ihn dort vielleicht einholen, ehe er den Dampfer bestiegen. Er mußte ihn da etwas irre leiten und sein Forschen erschweren; deshalb beschloß Bernhard, von hier zur nächsten, etwa anderthalb Stunden entfernten Bahnstation zu gehen, und von dort nach Hamburg zu fahren. Gedacht, gethan! Er machte sich daran diesen Vorsatz anzuführen. – –

Gemächlich schlenderte er auf der winterlich einsamen Chaussee dahin; es war ihm lieb, daß ihm kein Mensch begegnete; wenn man auf unrichtigem Wege wandelt, bleibt man am liebsten ungesehen, und daß Bernhard sich auf einem solchen befand, sagte ihm sein klopfendes Herz doch fortwährend mit lauter Stimme. Aber er betäubte es, und auch den Gram und Zorn seiner Eltern zu beschwichtigen schien ihm so leicht, wenn er nach Jahren als ein „gemachter Mann, als Held und Ritter ohne Tadel“ zurückkehrte. Immer mehr vertiefte er sich in lockende Bilder zukünftigen Glückes, bald war er ja nun in dem Orte, von dem aus er mit Dampf alle jene Dinge erreichen konnte, nach denen sein Herz dürstete. Da, – nicht fern von einem Wäldchen, wurde er plötzlich durch einen Laut aufgeschreckt, – es war kein Vogelton, kein Wagenknarren, – sondern eine flehende Kindesstimme, welche so laut sie konnte, rief: „Du, komm doch und hilf mir! O komm doch mal her!“

Bernhard sah auf, – nicht weit von ihm am Chausseegraben stand ein kleiner Knabe, etwa sechs Jahr alt, blaß und verweint aussehend, welcher jene Bitte aussprach und angstvoll auf die Antwort zu warten schien.

Bernhard war von Natur nur allzu geneigt, jeder Bitte nachzugeben, – eilig sprang er über den Graben und sagte: „Was willst Du denn von mir?“

Zutraulich faßte der Kleine seine Hand und bat: „Komme doch und hilf mir das Holz tragen. Ich kann es nicht allein.“

„Wo ist es denn? Doch nicht weit?“

„Nein, nein,“ rief ängstlich der kleine Bursche, „nein, gar nicht weit. Du kannst es da liegen sehen.“

Wirklich sah Bernhard in kleiner Entfernung ein großes Reisigbündel. „Nun, dann komm schnell," sagte er guthmüthig, und ging mit seinem Begleiter darauf zu.

Aber es war zu schwer für den Kleinen; Bernhard erschien es unbarmherzig, dem zarten Kinde diese Last aufzuladen. Er wollte es überreden, das Holz liegen zu lassen und Hilfe vom Hause zu holen, aber da traten dem Kleinen die Thränen in die Augen und er sagte sehr entschieden:

„Nein, ich muß Holz haben, sonst kann ich nicht einheizen, und Vater friert so sehr.“

„Ist er denn krank?“ forschte Bernhard. „Liegt er im Bett?“

Der Kleine nickte traurig.

„Nun den,“ – Bernhard sah nach der Uhr, er hatte noch viel Zeit, – „wo liegt denn Euer Haus?“

„Da,“ das Kind wies nach einer Richtung, welche nicht weit von Bernhards Wege lag. Der sah noch einmal [403] seinen Begleiter an – er hatte wirklich Aehnlichkeit mit seinem Bruder Lorenz, der im selben Alter starb; wenn nun der solch eine Last hätte tragen sollen – Bernhard bedachte sich nicht länger, muthig hob er das Holz auf seinen Rücken und sagte zu dem Kleinen: „Ich will es Dir tragen, geh nur voran und zeigte mir den Weg.“

Bald war das Haus erreicht. Bernhard war es warm und weh ums Herz geworden bei dem Geplauder des Kleinen, in dem sich fortwährend wiederholte: „Wie sich der Vater freuen wird! Wie sich der Vater freuen wird!“ – Ob wohl Bernhards Vater sich auch über seinen Sohn so freuen konnte, wie dieser Vater über den kleinen anstelligen, lieben Jungen? Bernhard wurde flammend roth, als er sich diese Frage vorlegte.

Rudolph, – denn er war es – öffnete die Thür, blickte hinein und sagte zurückkehrend mit leiser Stimme: „Vater schläft noch immer.“ Bernhard hatte das Holz abgelegt und trat nun an Rudolphs Hand in die Stube. Dort in der Ecke stand das Bett, darauf ruhte bewegungslos der Schläfer. Die Beiden traten leise näher, noch näher, dann riß sich Bernhard los, trat rasch an den Schläfer, faßte seine Hand, – steif und bewegungslos fiel sie zurück, und Bernhard rief erschrocken: „Er ist ja todt!“

Einen Augenblick begriff Rudolph nicht, was das heißen sollte; aber ein Blick auf Bernhard erschrockenes, ja entsetztes Gesicht sagte ihm, daß etwas Schreckliches hier geschehen; zudem hatte er doch schon manches todte Thier gesehen und wußte, daß der Tod ein Ende machte. Zugleich aber erinnerte er sich, wie oft ihm der Vater von seiner Mutter gesagt: sie sei todt und bei Gott. So sah er zuerst nur den Vater an und sagte dann scheu: „dann ist er bei dem lieben Gott.“

Als er aber nun mit dem Vater sprechen wollte, und der Mund, der ihm sonst so gern Antwort gegeben, stumm und still blieb, als keine seiner Liebkosungen mehr erwidert wurde, da kam Traurigkeit über ihn, bitterlich fing er an zu weinen und schmiegte sich an das einzige lebendige Wesen, das in dieser Einsamkeit neben ihm stand.

Aber in Bernhard war seit seinem Eintritt in dies Zimmer eine wunderbare Veränderung vorgegangen. Tief erschüttert blickte er auf die Leiche. Diesem Vater konnte sein Kind keine Liebe mehr erweisen, das Holz, das ihn wärmen sollte, kam zu spät. Zu spät!

Wenn es nun auch für ihn einmal zu spät wäre, seinem Vater Liebe zu erweisen? Wenn er einst aus Amerika heimkehrte und ihn so als Leiche fände? Wenn er nie mehr seinem Sohne sagen könnte: Ich habe Dir all den Schmerz vergeben, den Du mir gemacht? – Hier wurde Bernhard plötzlich inne, wie heiß er seinen Vater und dieser ihn liebte, hier wurde es ihm klar, daß sein ganzes böses Leben, das er jetzt geführt, nun sein thörichtes Fortlaufen, das er noch heute leichtfertig ausführen wollte, ein wirkliches Vergehen wider denselben war. Und alle die hochfliegenden Pläne, die noch eben sein stolzes Herz geschwellt, wie sahen sie an dieser Leiche so erbärmlich aus! „Es ist den Menschen gesetzt einmal zu sterben und dann das Gericht,“ diese Worte verfolgten ihn jetzt wie Hammerschläge. – Aus weiter Ferne tönte ein Pfiff der Eisenbahn herüber, – war es der Zug, welcher den verlorenen Sohn als Vagabunden nach Hamburg bringen sollte? – ach, dieser stille Mann da auf dem Bette, der kein Glied regte, hielt den wilden Knaben fest, daß er auf rechtem Wege blieb. Jener todte Vater, welcher sein Kind hilflos und allein zurückließ, rettete einem anderen Vater seinen einzigen Sohn. Amerika, weite Welt, Freiheit, Freunde, Wohlleben, – Alles verschwand wie ein Blendwerk vor dem Ernst dieser engen Stube.

„Vater, lieber Vater,“ schrie jetzt der kleine Rudolph in ahnungsvollem Schmerz seines großen Verlustes und sank an seinem Lager nieder.

„Vater, mein lieber Vater!“ rang es sich aus der gequälten Brust des Jünglings; er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und kniete neben dem Waisenkinde, – – ein geretteter Sohn. [411]

III.

Die beste meiner Gaben,
Wenn nur Dein Herz bereit, –
Du sollst sie heute haben
In alle Ewigkeit.

Es schlug sieben Uhr vom Thurme. Die hell erleuchteten Kirchen, in denen Christvesper gehalten war, leerten sich allmählich; Kinder und Erwachsene eilten in die Häuser, wo Freude und Ueberraschung Aller harrte. Gleich Sternen flammte hier und da ein Fenster auf im hellen Lichterglanz, und: „da brennt schon ein Weihnachtsbaum! Und da wieder einer,“ riefen die, welche noch auf der Straße waren, und schneller eilten sie nach Hause, um auch solchen Glanzes und solcher Freude theilhaft zu werden.

Nur im Hause des Fabrikherrn Winter blieben die Fenster dunkel und kein fröhlicher Weihnachtsjubel erscholl in den Räumen. Wohl war Alles festlich geschmückt, wohl prangte der riesige Baum inmitten des Zimmers, wohl lagen die reichen Geschenke geordnet ringsum, – aber sorgenvoll waren des Hausherrn und der Hausfrau Gesichter, ängstlich schlichen die Schwestern umher – der Bruder Bernhard war ja nicht gekommen, gestern und heute sehnlich von Allen erwartet!

Vor der Christvesper hatte der Vater an Meister Francke telegraphirt und gefragt, warum der Sohn zum Weihnachtsabend nicht heim komme; eben war die Antwort geworden, daß er schon gestern früh abgereist, – großer Gott, was war dem Bernhard begegnet? Warum kam er nicht?

Alle Möglichkeiten wurden erwogen, er konnte mit der Post oder Eisenbahn ein Unglück gehabt haben, – aber dann hätte der schnelle Telegraphendraht das längst verkündet, und wohin sollte er noch einen Abstecher gemacht haben? – aber selbst wenn er es gethan, heute, am heiligen Abend konnte er doch nicht fehlen im Familienkreise, – was war ihm nur?

„O, wenn ihn nur nicht Räuber unterwegs erschlagen haben?“ weinte die zehnjährige Emma plötzlich auf.

„Kommt denn nun auch das Christkind nicht zu uns, wenn Bernhard nicht kommt?“ fragte ängstlich die jüngste Schwester Marie.

Der Vater antwortete nicht, sein Herz war voll schwerer Ahnungen; er sprach leise mit der Mutter; dann schickte er den Diener fort, sich zu erkundigen, ob heute noch ein Zug von H. einträfe; er selbst schrieb schnell mehrere Briefe und Depeschen, – und während dem wartete der Christbaum, daß man ihn anzünden sollte und die Kinder warteten und das ganze Haus wartete – o solche Angst und Pein ist am heiligen Abend noch schwerer zu tragen als sonst wohl.

„In Gottes Namen denn,“ – sprach endlich der Vater, „wir können nichts weiter thun, wir wollen bescheren, – wenn auch das Herz voller Angst statt voller Freude ist.“

Die Klingel erscholl durchs Haus; Herrschaft und Gesinde versammelte sich in der Weihnachtsstube, – der Mutter Auge füllten Thränen, als sie auf Bernhards leeren Platz sah, und der strahlende Tannenbaum schien heute Allen nicht so hell als sonst zu brennen. Mit ernster Stimme las der Vater das Weihnachtsevangelium, dann wurde das schöne Lied: „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ gesungen; beim dritten Verse aber, der da lautet

„Es ist der Herr Christ, unser Gott,
Der will euch führ’n aus aller Noth,
Er will Eu’r Heiland selber sein,
Von allen Sünden machen rein,"

waren leise Schritte vernommen und an der geöffneten Stubenthür erschienen zwei Gestalten, dort in dem draußen herrschenden Dunkel nicht zu erkennen, aber unter den zunächst Sitzenden entstand eine Bewegung, – der Vater sang ruhig weiter, doch als er geendet, wandte er sich, statt wie sonst zu sagen: „Nun kommt und seht, was Euch das Christkind gebracht hat,“ lebhaft zur Thür und rief: „Bernhard, wo kommst Du her, und wen bringst Du da?“ [412]

Ehe Jener antworten konnte, hatten ihn schon die Arme der Mutter umfangen, die Geschwister drängten sich um den Bruder, betrachteten neugierig den kleinen Jungen, den er an der Hand hielt und wollten Beide zum Lichterbaum ziehen; da der Erwartete nun da war, hatten ihn auch keine Räuber erschlagen, und die Weihnachtsbescherung trat wieder in ihr volles Recht.

Bernhard aber wehrte den Schwestern, sein Auge blickte nicht einmal nach dem Christbaum, er wagte nicht die Schwelle des Festzimmers zu überschreiten, bittend und ernst sagte er:

„Liebe Mutter, ich bitte Dich, nimm den Kleinen, mit Dir wird er am ehesten gehen und Du, Vater, vergib, daß ich die Festfreude störe, aber ich kann nicht eher eintreten, ich muß Dich erst allein sprechen.“

Ueberrascht blickte der Vater den Sohn an, der ihm schon seit langer Zeit durch seinen Leichtsinn manchen Kummer gemacht, heut aber so fest und doch so von Herzen demüthig zu ihm sprach. Er gab der Mutter einen Wink und ging mit dem Sohne in sein Zimmer.

Die Unterredung hat kein Dritter gehört, nur Gottes Engel waren in der Stube. Aber eins wurde offenbar: das Wort des Sohnes ging aus dem Tone: „Vater ich habe gesündigt im Himmel und vor Dir: ich bin hinfort nicht werth, daß ich Dein Sohn heiße.“ Bernhard zeigte dem Vater klar und wahr sein ganzes böses Herz mit seinem Murren, ungehorsamen Gedanken und bösen Absichten. Er beschönigte sein Thun mit keinem Worte, er sagte, wie er, um jeder Zucht und Ordnung zu entgehen, leichtsinnig und gottlos habe entlaufen wollen, und erzählte dann von der ergreifenden Predigt, die der todte Vater dem irre gegangenen Sohne gehalten. Herr Winter hörte ruhig zu, und als der Sohn zuletzt sagte: „Vater, willst Du mir vergeben und es noch einmal mit mir versuchen,“ da schloß er ihn fest in seine Arme, und ohne ein Wort zu sagen, reichte er dem Sohne die Hand. – Dann rief er die Mutter, theilte ihr in kurzen Worten mit, was geschehen, und auch sie verzieh; aber ihr Herz schlug voll Dankbarkeit dem armen kleinen Waisenknaben entgegen, der in Gottes Hand das Werkzeug gewesen war, den Sohn wieder ins Vaterhaus zu führen, von dem er innerlich seit langer Zeit fern gewesen.

Jetzt betraten die Drei den Weihnachtssaal, und nun ging der Jubel, aber auch das Fragen der Uebrigen los. „Bernhard, wo warst Du und wer ist der Kleine?“ Der Vater erzählte leise, wie Bernhard den Jungen getroffen und in dessen Stube den Vater todt gefunden. Da ging alles Fragen in inniges Mitleid über. Herr und Frau Winter aber verstanden sich ohne viele Worte. Sie traten zu Rudolph und sagten ihm: „Du sollst nun unser Kind sein.“

„Nein, nein,“ wehrte dieser, „ich will zu meinem Vater.“

„Morgen wollen wir zu ihm gehen, mein liebes Kind,“ entgegnete Herr Winter, und seine Frau fügte freundlich hinzu: „Sieh nur den schonen Lichterbaum!“

„Hat denn mein Vater auch einen?“ fragte Rudolph.

„Ganz gewiß, und einen viel schöneren, als dieser hier ist. Aber sieh, was hier hängt, und da, und dort.“

Und liebreich wurde das Kind auf andere Gedanken gebracht. Kindesleid ist ja bald vergessen.

„Meinst Du,“ fragte Herr Winter seinen Sohn, „daß Niemand Ansprüche auf den Kleinen machen wird?“

„Ich weiß es nicht, Vater, mir schien es aber, als ob sich Keiner um ihn bekümmert; ich glaube, der Mann war schon seit dem vorigen Abend todt.“

„Morgen früh wollen wir alles weitere veranlassen,“ sagte Herr Winter. „Kann ich das Kind behalten, so hat mir der heutige Tag zwei Söhne geschenkt, fürwahr, ein göttliches Weihnachtsgeschenk.“

„Vater, wie gut bist Du,“ sagte Bernhard bewegt, „ich will versuchen von nun an Deine Liebe zu verdienen.“

Die Mutter liebkoste Rudolph. „Du liebes Kind, wolltest Deinem Vater eine warme Stube machen und hast Dir dadurch eine Heimath gewonnen. Wir wollen Dich sehr, sehr lieb haben.“

Rudolph aber betrachtete den herrlichen Weihnachtsbaum. War es möglich, daß es einen noch schöneren gab? Da oben am Himmel? Gewiß waren alle die funkelnden Sterne die äußersten Spitzen jenes Himmels-Weihnachtsbaumes. Sehnsucht ergriff das Kind, – es eilte zu Bernhard, den es ja am besten kannte, und sagte leise:

„Ich möchte aber doch lieber zu meinem Vater gehen und seinen Baum sehen.“

„Morgen,“ tröstete Bernhard, der nicht recht wußte, was er dem Kinde sagen sollte.

Damit war Rudolph zufrieden und freute sich der kleinen Sachen, welche ihm geschenkt wurden, freute sich der grünen Tanne, in deren spitzen Nadelzweigen goldene Früchte hingen, fühlte sich wohl in der Liebe, die ihn umgab.

„Weißt Du,“ sagte Marie zu ihrer Schwester Emma, „es ist bei uns gerade wie in dem Liede, das wir gelernt haben: „Des fremden Kindes heilger Christ.“ Da ist auch ein armes Kind ganz allein und hat keinen Vater und keine Mutter, keinen Baum und Nichts, und da kommt der heilige Christ und sagt:

Ich bin der heilige Christ
War auch ein Kind vordessen,
Wie du ein Kindlein bist;
Ich will dich nicht vergessen,
Wenn Alles dich vergißt.“

„Ja, es ist eben so, aber doch ganz anders,“ bestätigte Emma, „denn da nimmt das Christkind das arme Kind zu sich in den Himmel, und der kleine Junge soll doch nun bei uns bleiben.“

„Ja, jetzt“ entgegnete Marie, „aber wir wollen doch alle in den Himmel kommen, Vater, Mutter, Bernhard, wir und der kleine Rudolph auch.“

An der Tanne waren schon einige Lichter niedergebrannt und am Verlöschen; in allen Aesten wiegten sich Weihnachtsträume und leise erzählten sie der weißen [413] Christblume, die neben ihnen stand, wunderbare Dinge; aus den Träumen wurden Lieder, das Erzählen wurde zum Singen, und durch die stille Weihnachtsstube tönte es:

Himmelan! Das Christkind zeigt
Mir das schöne Loos von ferne,
Und mein Herz schon aufwärts steigt
Ueber Sonne, Mond und Steine;
Denn ihr Licht ist viel zu klein
Gegen jenen Glanz und Schein.



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Anmerkungen (Wikisource)

  1. wahrscheinlich Agnes Vollmar