Critik der reinen Vernunft (1781)/Das System der Grundsätze des reinen Verstandes Erster Abschnitt. Von dem obersten Grundsatze aller analytischen Urtheile.

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Das
System der Grundsätze des reinen Verstandes
Erster Abschnitt.
Von dem obersten Grundsatze
aller
Analytischen Urtheile.

Von welchem Inhalt auch unsere Erkentniß sey, und wie sie sich auf das Obiect beziehen mag, so ist doch die allgemeine, obzwar nur negative Bedingung aller unserer Urtheile überhaupt, daß sie sich nicht selbst widersprechen; widrigenfals diese Urtheile an sich selbst (auch ohne Rücksicht aufs Obiect) nichts sind. Wenn aber auch gleich in unserm Urtheile kein Widerspruch ist, so kan es demohngeachtet doch Begriffe so verbinden, wie es der Gegenstand nicht mit sich bringt, oder auch, ohne daß uns irgend ein Grund weder a priori noch a posteriori gegeben ist, welcher ein solches Urtheil berechtigte, und so kan ein Urtheil bey allem dem, daß es von allem innern Widerspruche frey ist, doch entweder falsch oder grundlos seyn.

|  Der Satz nun: Keinem Dinge komt ein Prädicat zu, welches ihm widerspricht, heißt der Satz des Widerspruchs, und ist ein allgemeines, obzwar blos negatives Criterium aller Wahrheit, gehört aber auch darum blos in die Logik, weil er von Erkentnissen, blos als Erkentnissen überhaupt, unangesehen ihres Inhalts gilt, und sagt: daß der Widerspruch sie gänzlich vernichte und aufhebe.

 Man kan aber doch von demselben auch einen positiven Gebrauch machen, d. i. nicht blos, um Falschheit und Irrthum (so fern er auf dem Widerspruch beruhet) zu verbannen, sondern auch Wahrheit zu erkennen. Denn, wenn das Urtheil analytisch ist, es mag nun verneinend oder beiahend seyn, so muß dessen Wahrheit iederzeit nach dem Satze des Widerspruchs hinreichend können erkant werden. Denn von dem, was in der Erkentniß des Obiects schon als Begriff liegt und gedacht wird, wird das Widerspiel iederzeit richtig verneinet, der Begriff selber aber nothwendig von ihm beiaht werden müssen, darum, weil das Gegentheil desselben dem Obiecte widersprechen würde.

 Daher müssen wir auch den Satz des Widerspruchs, als das allgemeine und völlig hinreichende Principium aller analytischen Erkentniß gelten lassen; aber weiter geht auch sein Ansehen und Brauchbarkeit nicht, als eines hinreichenden Criterium der Wahrheit. Denn daß ihm gar keine Erkentniß zuwider seyn könne, ohne sich selbst zu vernichten, das macht diesen Satz wol zur conditio| sine qua non, aber nicht zum Bestimmungsgrunde der Wahrheit unserer Erkentniß. Da wir es nun eigentlich nur mit dem synthetischen Theile unserer Erkentniß zu thun haben, so werden wir zwar iederzeit bedacht seyn, diesem unverletzlichen Grundsatz niemals zu wider zu handeln, von ihm aber, in Ansehung der Wahrheit von dergleichen Art der Erkentniß, niemals einigen Aufschluß gewärtigen können.
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 Es ist aber doch eine Formel dieses berühmten, obzwar von allem Inhalt entblößten und blos formalen Grundsatzes, die eine Synthesis enthält, welche aus Unvorsichtigkeit und ganz unnöthiger Weise in ihr gemischt worden. Sie heißt: Es ist unmöglich, daß etwas zugleich sey und nicht sey. Ausser dem, daß hier die apodictische Gewißheit (durch das Wort unmöglich) überflüßiger Weise angehengt worden, die sich doch von selbst aus dem Satz muß verstehen lassen, so ist der Satz durch die Bedingung der Zeit afficirt, und sagt gleichsam: Ein Ding = A, welches etwas = B ist, kan nicht zu gleicher Zeit non B seyn, aber es kan gar wol beydes (B so wol, als non B) nach einander seyn. z. B. Ein Mensch, der iung ist, kan nicht zugleich alt seyn, eben derselbe kan aber sehr wol zu einer Zeit iung, zur andern nicht iung, d. i. alt seyn. Nun muß der Satz des Widerspruchs, als ein blos logischer Grundsatz, seine Aussprüche gar nicht auf die Zeitverhältnisse einschränken, daher| ist eine solche Formel der Absicht desselben ganz zu wider. Der Mißverstand komt blos daher: daß man ein Prädicat eines Dinges zuvörderst von dem Begriff desselben absondert, und nachher sein Gegentheil mit diesem Prädicate verknüpft, welches niemals einen Widerspruch mit dem Subiecte, sondern nur mit dessen Prädicate, welches mit ienem synthetisch verbunden worden, abgiebt, und zwar nur denn, wenn das erste und zweyte Prädicat zu gleicher Zeit gesezt werden. Sage ich, ein Mensch, der ungelehrt ist, ist nicht gelehrt, so muß die Bedingung: zugleich dabey stehen; denn der, so zu einer Zeit ungelehrt ist, kan zu einer andern gar wol gelehrt seyn. Sage ich aber, kein ungelehrter Mensch ist gelehrt, so ist der Satz analytisch, weil das Merkmal (der Ungelahrtheit) nunmehr den Begriff des Subiects mit ausmacht, und alsdenn erhellet der verneinende Satz unmittelbar aus dem Satze des Widerspruchs, ohne daß die Bedingung: zugleich hinzu kommen darf. Dieses ist denn auch die Ursache, weswegen ich oben die Formel desselben so verändert habe, daß die Natur eines analytischen Satzes dadurch deutlich ausgedruckt wird.


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