Dämmerstunde (Die Gartenlaube 1898/6)
Dämmerstunde. (Zu obenstehendem Bilde). Vom Morgen zum Mittag und vom Mittag zum Abend hat die fleißige Bregenzerwälderin ihre Hände unermüdlich am Stickrahmen gerührt; es gilt, einen großen reichgemusterten Vorhang fertig zu machen, und sie ist die geschickteste Stickerin unter den vielen zu Hause arbeitenden Frauen und Mädchen im Dorfe. Nun aber darf sie ein Weilchen rasten, bis der Tag vollends sinkt und die Arbeit bei der Lampe weiter geht. Die Hände in dem Schoß gefaltet, den Kopf ans Fenster gelegt, so genießt sie unbewußt den stillen Frieden ihres warmen Stübchens und spinnt sich in Gedanken einen Faden aus der gedrückten arbeitsreichen Gegenwart in bescheidene Hoffnungen und Zukunftsbilder hinein. Man sieht es ihrem Sehnsuchtsblick an: es dürfte einer da sein, der fern ist, und wenn er da und ihr eigen wäre, dann wollte sie freudig weiter schaffen, unermüdlich den ganzen langen Tag, und sich gewiß über nichts mehr beschweren. Nein, ganz gewiß nicht – aber da sein müßte er halt! …