Das Acetylengas
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Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.
Es war bei den neuerdings so vielfach vorgenommenen Versuchen im elektrischen Schmelzofen, daß der Amerikaner Wilson durch die Zusammenschmelzung von Kalk und Kohle das Calciumkarbid und damit die fabrikmäßige Herstellung des merkwürdigen, in kleineren Mengen schon längst bekannten Gases Acetylen entdeckte. Eine ziemlich planlose Entdeckung – denn ihr Urheber erwartete beim Oeffnen seines Ofens gewiß etwas anderes als diesen Block erstarrten Gesteins, den man kaum der weiteren Untersuchung für wert hielt –, aber eine um so folgenreichere. Etwas von jenem Block geriet in ein Gefäß mit Wasser und sofort begann ein übelriechendes Gas sich stürmisch zu entwickeln; angezündet, gab es ein Licht, neben dem die Flammen des Leuchtgases rot erschienen, und selbst in kleinen Mengen dem Kohlengase beigemischt, erhöhte es die Leuchtkraft desselben in überraschender Weise.
Es war kein Wunder, daß sich an diese Entdeckung sehr rasch eine umfangreiche Industrie zur Calciumkarbiderzeugung anschloß. Ein Rohstoff, der leicht und aus billigen Materialien herstellbar ist, sich allenthalben hinsenden läßt und nur mit Wasser benetzt zu werden braucht, um sofort ein reines Leuchtgas von der idealsten Lichtstärke zu geben, das schien für eine neue erfolgreiche Industrie gerade der gesuchte Gegenstand. Große Karbidwerke bildeten sich bald an den elektrischen Centralen des Rheins und Niagara, in England und Frankreich. Das Acetylengas schien ja von Anfang an einer noch viel umfassenderen Verwendung, als nur zu Beleuchtungszwecken, fähig. Es sollte gleich dem Steinkohlengase, aber mit viel größerem Nutzeffekt, Maschinen treiben, und man sah schon im Geiste die Schnelldampfer, anstatt mit Kohlen, mit einem ungleich geringeren Gewicht von Karbid befrachtet, durch die Wellen ziehen. Man rechnete ferner auch auf einen Versand des Acetylens, welches sich fast ebenso leicht wie Kohlensäure verflüssigen läßt, in Stahlflaschen und hoffte, mit Hilfe des flüssigen Acetylens feenhafte Lichtquellen selbst in den abgelegensten Wohnstätten, wo weder Gas noch Elektrizität zu haben sind, erschließen zu können.
Die Bäume wuchsen indessen auch diesmal nicht in den Himmel, und nicht alle auf das Acetylen gesetzten Erwartungen haben sich erfüllt.
Zunächst erwies sich die Hoffnung, das neue Gas als wohlfeile Kraftquelle benutzen zu können, als trügerisch. Das Acetylen äußert, wenn es zum Zweck der Explosion im Cylinder des Gasmotors mit Luft vermischt wird, seine Energie so stürmisch und stoßweise, daß die rasche Abnutzung der Maschinenteile jeden Vorteil des Acetylenbetriebes aufwiegt. Vielleicht wird es möglich sein, besonders starke und einfache Explosionsmotoren speziell für diesen Zweck zu konstruieren, jedenfalls aber liegt diese Ausnutzung des Acetylens noch ganz in der Zukunft.
Ein anderes Hindernis für die gehoffte rasche Ausbreitung des Acetylenverbrauchs ist der verhältnismäßig hohe Preis des elektrisch erzeugten Calciumkarbids. Selbst an den billigsten Stromquellen, wie z. B. den Niagarafällen, stellt sich der Elektrizitätsverbrauch beim Zusammenschmelzen des Kalk-Kohlegemisches so hoch, daß an einen Ersatz des Leuchtgases durch das Acetylen noch lange nicht zu denken ist. Doch hat in der jüngsten Zeit ein auf dem Gebiete der technischen Verwertung der Gase längst verdienter Fachmann, Prof. Raoul Pictet, zur Verbilligung des Acetylens einen bedeutenden Schritt vorwärts gethan. Das ältere, von Wilson und Moissan fast gleichzeitig entdeckte Verfahren der Karbidherstellung bediente sich als Wärmequelle lediglich der Elektrizität; Pictet dagegen läßt die Hauptarbeit der Erhitzung des Rohmaterials auf dem billigsten und ursprünglichsten Wege vor sich gehen. Nach seinem Patente geschieht die Verarbeitung der Rohstoffe in einem gewöhnlichen, zur Erzschmelze dienenden Hoch- oder Schachtofen, der nur am unteren Ende durch einen elektrischen Flammenbogen abgegeschlossen ist. Der gewöhnliche Ofenprozeß bringt nun die Masse schon soweit in Hitze, daß es nur noch einer mäßigen Nachhilfe des elektrischen Stromes bedarf, um den Schmelzprozeß zu vollenden und das flüssige Karbid unten ablaufen zu lassen.
Vielleicht wird schon die durch dieses Verfahren bewirkte Karbidverbilligung hinreichen, um dem Acetylen diejenige Stelle in der Beleuchtungsindustrie zu verschaffen, die ihm seinen technischen Vorzügen nach zweifellos zukommt. Es ist dem Steinkohlengase fünfzehnmal an Leuchtkraft überlegen, sobald geeignete Brenner, wie sie jetzt mehrfach konstruiert sind, benutzt werden. Seine Herstellung ist im Vergleich zu dem Prozeß der Leuchtgasfabrikation von solcher Einfachheit, daß kleine Acetylengasanstalten, wie sie von mehreren Firmen gebaut werden, für Hotels, Fabriken, Villen, ja für manchen größeren Haushalt schon jetzt ihre Vorteile besitzen. Endlich erhöht ein geringer Zusatz von Acetylen zum gewöhnlichen Leuchtgas auch dessen Leuchtkraft so sehr, daß sich dieses Verfahren wahrscheinlich einbürgern wird, sobald es nur irgend der Preis des Calciumkarbids zuläßt.
Indessen gab es für das Acetylen auch ein Hindernis der schnellen Einführung, das nicht auf technischem oder ökonomischem Gebiete lag. Bald nach der Entdeckung Wilsons zogen mehrere durch Acetylenexplosionen veranlaßte schwere Katastrophen in Berlin, Brüssel, Paris und anderen Städten die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich und gaben sogar den Anlaß zu polizeilichen Maßnahmen, die den Gebrauch des Gases beträchtlich einzuengen geeignet waren. Eingehende Versuche haben aber erwiesen, daß namentlich das verflüssigte Acetylen, das zum Zwecke des Transportes gleich der Kohlensäure in Stahlbehälter gepreßt wird, besondere Neigung zu gefährlichen Explosionen zeigt. Man mußte also von dieser Art der Verwendung absehen, was wiederum manche an die leichte Transportierbarkeit des Acetylens geknüpfte Hoffnung zerstörte. Eine Entdeckung von G. Claude und A. Heß löste indessen kürzlich auch diese Schwierigkeit, indem die Genannten große Mengen Acetylen dadurch in kleinen Behältern aufbewahrten, daß sie das Gas in flüssiges Aceton hineinpreßten. Aceton, das auch Essiggeist genannt wird, vermag bei 12 Atmosphären Druck das 300fache seines Rauminhaltes an Acetylen aufzunehmen und gefahrlos festzuhalten, um es zum Zweck des Gebrauchs bei vermindertem Druck leicht wieder abzugeben.
Noch einfacher scheint es allerdings, anstatt des gepreßten Gases das Calciumkarbid selbst, dessen Transport und Aufbewahrung unbedenklich ist, zu versenden und die Gasentwicklung jedesmal erst am Gebrauchsorte vorzunehmen. Man bringt diesem Prinzip zufolge Lampen in den Handel, die nur mit Wasser und kleinen Karbidstücken gefüllt werden und ein vorzügliches weißes Licht geben. Von ganz besonderem Wert aber erscheint die Acetylenbeleuchtung für Zwecke, die ein helles, sicheres Licht in fahrbaren Räumen verlangen. So ist man bemüht, dem Acetylen und der Karbidlampe Eingang in die Eisenbahnbeleuchtung zu verschaffen, ferner bringt man Acetylenapparate, die nur mit Wasser und Calciumkarbid geladen werden, für schwimmende Leuchtbojen in Anwendung. In Paris hat man längst Versuche zur Acetylenbeleuchtung von Omnibus und Straßenbahnen gemacht, in Berlin beweisen Anlagen zur Acetylenfabrikation auf dem Werkstätten- und Rangierbahnhof Grunewald, daß das anfänglich gehegte Mißtrauen abgelegt ist. In der deutschen Gold- und Silberscheide-Anstalt zu Frankfurt a. M. werden mit Erfolg Versuche gemacht, die große Hitze der Acetylenlampe zum Schmelzen schwerflüssiger Metalle zu verwenden. Vor allem aber mehren sich die Versuche, das Acetylen auch in den Dienst der Stadtbeleuchtung zu stellen. So hört man jetzt auf allen Seiten von regen Fortschritten der Acetylenindustrie; wir erleben das Schauspiel, daß wieder einmal ein neuer technischer Fortschritt die Fesseln der Versuche abwirft und siegend ins praktische Leben eintritt.