Das Ende des Magisters Tinius

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Autor: Erich Fließ
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Titel: Das Ende des Magisters Tinius
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aus: Die Gartenlaube, Heft 21, S. 346–348
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Das Ende des Magisters Tinius.

Von Erich Fließ.


Als Eduard Schulte am Anfang dieses Jahres die Geschichte des „Verbrechers aus Bücherwuth“, des Magisters Tinius, in der „Gartenlaube“ (Nr. 5 und 6) erzählte, da war ihm über die letzten Lebensjahre des unheimlichen Geistlichen nicht mehr bekannt geworden, als daß „Verwandte von ihm, die als Schäfer in der Provinz Brandenburg lebten, ihm eine Zufluchtsstätte boten und daß er bei ihnen gestorben ist“. Und doch bleibt über den Ausgang dieses aus so drastischen Widersprüchen sich zusammensetzenden Lebens noch manches zu berichten, was der Veröffentlichung werth ist. Es mag mir gestattet sein, das Fehlende nachzuholen und gewissermaßen den Epilog zu der Verbrecherlaufbahn des schuldbeladenen Mannes zu schreiben. –

Nach seiner im Jahre 1835 verbüßten zwölfjährigen Zuchthausstrafe hatte Tinius, da er wie selbstverständlich seines Amtes entsetzt worden war und seine Angehörigen sich von ihm losgesagt hatten, keinen festen Wohnsitz. Unstet und flüchtig, wie einstmals Kain nach dem Brudermord, streifte er durch das Land, indem er sich bald in diesem, bald in jenem Dorfe Sachsens oder Thüringens aufhielt. Erst im Jahre 1840 faßte er wieder festen Fuß in einem Dorfe der Provinz Brandenburg, das er bis zu seinem im Herbste 1846 erfolgten Tode nicht wieder verlassen hat.

Ungefähr eine Meile von Königswusterhausen, nicht weit von der Dubrow, liegt das Kirchdorf Graebendorf.

Im Frühjahr 1840 erhielt die von der Welt ziemlich abgeschlossene Ortschaft den ersten Chambregarnisten, den sie bis dahin gesehen. Es war der Magister Tinius, der bei einem weitläufigen Verwandten, dem Maurer Schiepan, Quartier nahm. Er bezog dort ein kleines Kämmerchen und hatte daneben Antheil an der gemeinsamen Wohnstube seiner Wirthsleute, wofür er einen monatlichen Miethzins von zwei Thalern zahlte. Für seine Beköstigung hatte der Magister selbst zu sorgen. Sie kam ihn nicht theuer zu stehen. Pfarrer der Gemeinde Graebendorf war damals mein Großvater, und in seinem Hause war der Magister täglicher Gast. Außerdem wurde er je einmal in der Woche von dem Amtmann des Gutes und von dem Küster im Dorfe zu Tische geladen. Es zeugt gewiß von der liberalen Gesinnung und von der Gastfreiheit dieser drei Männer, daß sie einem Manne, der aus dem Zuchthaus kam, an dessen Händen unzweifelhaft Blut klebte, den Zugaug zu ihrem Hause gestatteten, und daß sie ihn bis zu seinem Lebensende unterhielten.

[347] Aus dem Munde der unmittelbaren nächsten Nachkommen meines Großvaters, von denen zwei, eine Tante und ein Onkel, noch am Leben sind, habe ich alles das vernommen, was ich hier mittheile.

Als der Magister in dem Dörfchen erschien, befand man sich über seine Person und seine grauenhafte Vergangenheit nicht ganz im klaren. Viel Zeitungen gab es damals noch nicht, und die ländliche Bevölkerung von Graebendorf dachte nicht daran, für ihre geistige Nahrung und Bildung die sauer erworbenen Groschen hinzugeben. Erst aus dem Munde des Thäters selber erfuhr sie, welcher Verbrechen man ihn bezichtigt und welche Strafe er dafür erlitten hatte.

Natürlich behauptete er ebenso wie früher während der zehn Jahre dauernden Untersuchung und der nachfolgenden Zuchthausstrafe seine Unschuld. Mittelbar aber hat er öfters seine Schuld eingestanden, ja er konnte sogar hin und wieder mit einer gewissen Prahlerei von seiner dunklen Vergangenheit sprechen. So pflegte er namentlich eine Geschichte aus seiner Gefängnißzeit zu erzählen. In der Zelle unter ihm saß ein Schlächter gefangen, der wegen Mordes, begangen an der eigenen Frau, zum Tode verurtheilt worden war. Mit diesem Manne wollte sich Tinius durch Klopfen verständigt und ihm dann in der Melodie eines Kirchenliedes alles das vorgesungen haben, was er noch nachträglich zu seiner Vertheidigung vorbringen sollte. Der zum Tode Verurtheilte habe hiervon Gebrauch gemacht und so sein Leben gerettet!

Als Tinius seinen Wohnsitz in Graebendorf nahm, zählte er bereits sechsundsiebzig Jahre. Er war von kleiner, schwächlicher Statur, dabei trotz der zehn Jahre Untersuchungshaft und der zwölf Jahre Zuchthaus körperlich wie geistig vollständig gesund.

Das graugesprenkelte, noch ziemlich volle Haar trug er hinten in einen Zopf geflochten, den er aber unter dem Kragen seines langen braunen Rockes verbarg. Nichts als die scharfen, stechenden Augen deutete bei ihm auf den Verbrecher hin.

Tinius war, vielleicht von seiner als Schäferjunge verlebten Jugend her, ein großer Freund der freien Natur, und so streifte er viel im Walde und auf den Feldern umher und sammelte allerlei Kräuter, deren nützliche und schädliche Eigenschaften ihm aufs genaueste bekannt waren. Eine besondere Vorliebe hatte er für giftige Pflanzen, aus denen er allerhand gefährliche Säfte und Präparate herzustellen wußte. Wir erinnern uns dabei, daß Tinius seine Opfer öfters erst durch eine dargebotene mit narkotischen Stoffen vermischte Prise betäubte. Die Mischung hatte er jedenfalls selber ausgeklügelt. Daß er dergleichen Künste verstand, verhehlte er durchaus nicht. So erzählte er unter anderem, daß man ihn auch im Verdacht gehabt, er habe vermittelst vergifteter Blumensträuße Damen in der Postkutsche betäubt und sie dann ihrer Barschaft beraubt.

Meine Tante, die damals ein zwölfjähriges Mädchen war, getraute sich infolgedessen niemals, an den aus prachtvollen, selbstgezogenen Rosen gebundenen Sträußen zu riechen, welche ihr der Magister hin und wieder brachte. Sie fürchtete, Gift einzuathmen. Aber ihre Furcht war unbegründet. Der Magister war damals zahm geworden!

Die Dorfbewohner hatten zwar eine gewisse Scheu vor dem alten Manne; aber diese galt mehr dem ehemalige Priester, dem großen Gelehrten, als dem Mörder und Zuchthäusler.

Die erstaunliche Gelehrsamkeit, welche diesen merkwürdigen Mann auszeichnete, war es auch vornehmlich, welche die Theilnahme meines Großvaters und vieler anderer Personen für ihn wach erhielt. Seine Bibliothek, die er sich zum größten Theile mit geraubten Geldern angeschafft hatte, soll, wie schon früher mitgetheilt, bei seiner Verhaftung dreißig- oder sogar sechzigtausend Bände enthalten haben. Als er nach Graebendorf kam, besaß er nicht ein einziges Buch; eine große Kiste mit Prozeßakten, das war das ganze Besitzthum des einstmaligen, wohlhabenden Pfarrers von Poserna. Der Verlust dieser so blutig erworbenen, unwiederbringlich verlorengegangenen Bücherschätze schmerzte ihn bis zu seinem Tode; aber – der Inhalt jener Bände war ihm geblieben. Er hatte ihn aufgespeichert in seinem phänomenalen Gedächtniß, wo er ihm jederzeit zur Verfügung stand. Mein Großvater hatte täglich Gelegenheit, Proben davon zu hören. Auch andere Geistliche, denen mein Großvater bei Kirchenvisitationen und ähnlichen Anlässen diesen außerordentlichen Menschen vorstellte, durften sich davon überzeugen, wie geringfügig und schwach ihr eigenes Wissen gegen das des mehrfachen Raubmörders war, der in den letzte fünfundzwanzig Jahren kein wissenschaftliches Buch mehr in die Hände bekommen hatte!

„Wir sind nicht werth, daß wir ihm die Schuhriemen lösen“ – mit diesem aufrichtigen Geständniß entfernten sich gewöhnlich die Besucher.

Mein Vater, der in jenen Jahren das Joachimsthalsche Gymnasium in Berlin besuchte, ließ sich, wenn er in den Ferien zu Hause weilte, von dem alten Magister im Lateinischen, Griechischen und Hebräischen unterrichte. Oft genug habe ich ihn – er war ebenfalls Theologe – von der Belesenheit, von der schier übermenschlichen Gedächtnißkraft seines Ferienlehrers erzählen hören. In manchem mag die Frau Fama etwas übertrieben haben. So wurde behauptet, daß Tinius seine Muße im Gefängniß dazu benutzt habe, um auf Papierfetzen, die er auf dem Hofe und in den Winkeln des großen Gebäudes zusammengesucht, im Laufe mehrerer Jahre allmählich ein vollständiges aramäisch-chaldäisch-deutsches Lexikon frei aus dem Gedächtniß niederzuschreiben! Die Tinte sollte er sich aus Wasser und Ofenruß bereitet haben! – Ich habe diese Anekdote stets in das Reich der Fabel verwiesen. Ich brauchte mir bloß den dickleibigen Gesenius anzusehen, aus dem ich mich im Schweiße meines Angesichts als stolzer Sekundaner auf die Genesis und die Psalmen präparieren mußte, um aufs deutlichste von der gänzlichen Unmöglichkeit eines solchen Titanenwerkes überzeugt zu sein. Zweifellos handelt es sich hierbei um eine Verwechslung mit der großen Studie über die Offenbarung Johannis, die Tinius im Gefängniß abgearbeitet hat, woselbst ihm übrigens auch Schreibmaterial zur Verfügung stand.

Tinius selbst schrieb seine unverwüstliche Gesundheit, seine geistige Frische, sein untrügliches Gedächtniß dem andauernden Genuß von allerlei Wald- und Wiesentheekräutern sowie von verschiedenen Gemüsen und Gartenfrüchten zu. Von den letzteren bevorzugte er namentlich den Kürbis, den er für ungeheuer gehirnstärkend hielt. Mein Vater erlaubte sich daher einmal während der Ferien einen kleinen Schülerscherz, indem er mit seinem Taschenmesser auf einem Kürbis im Pfarrgarten den Spottvers einritzte:

„Vom Magister, dem weisen,
Laß ruhig dich verspeisen!
Daß er noch länger lebe,
Vorm Tode nicht erbebe!“ . . .

Der Kürbis wuchs zu einem Riesenexemplar aus und ebenso die Inschrift. Der Magister verspeiste ihn, wurde zweiundachtzig Jahre alt, aber – vor dem Tode hat er in seinen letzten Tagen unzweifelhaft doch gebebt. Kurz vor dem Fallen des Vorhangs meldete sich doch das Gewissen bei ihm, obwohl er sonst mit der größten Ruhe und Gelassenheit von seiner blutigen Vergangenheit sprach. Denn bei aller Gelehrsamkeit und philosophischen Ueberlegenheit war Tinius kein sogenannter Freigeist, kein Atheist. Er hielt – was als ein psychologisches Räthsel gelten mag – fest an den Grundwahrheiten des Christenthums und an den Lehren der protestantischen Kirche. In seinen Gesprächen war er stets ernst und überzeugungstreu; nie versäumte er den Gottesdienst; an jedem Sonn- und Feiertag saß er im Kirchenstuhl des Gutes Graebendorf, der ihm vom Amtmann eingeräumt worden war. Dagegen ist er allerdings nie zum Abendmahl gegangen. Es mag sein, daß er innere Gewissensbisse empfand, die ihn von dem Genuß des höchsten Gnadenmittels der evangelischen Kirche zurückhielten.

Abgesehen davon, daß der Magister meinem Vater während der Ferien einige Unterrichtsstunden in den klassischen Sprachen ertheilte, hat er sich in Graebendorf niemals mit einer gelehrten geistigen Arbeit beschäftigt. Nur einmal, es war im Herbst 1843, machte er Anstalten zu einem größeren schriftlichen Aufsatz. Er wollte – die Revision seines Prozesses beantragen, um eine nachträgliche Freisprechung zu erzielen. Auf seine Bitten ertheilte ihm mein Großvater die Erlaubniß, die nothwendigen Auszüge aus den dicken Aktenstößen und die Vertheidigungsschrift im Pfarrhause anzufertigen, da er in seiner Miethswohnung nicht die erforderliche Ruhe zu dieser wichtigen Arbeit finden konnte. Drei Wochen lang bewohnte Tinius so die Giebelstube des Pfarrhauses, die sonst mein Vater in den Ferien einzunehmen pflegte.

Meine – damals vierzehnjährige – furchtsame Tante hat in jener Zeit nicht viel geschlafen. Sie fürchtete immer noch, der unheimliche Gast könnte sich des Nachts in ihr doppelt und dreifach verriegeltes Schlafzimmer einschleichen und sie im Schlafe mit seinem Hammer erschlagen.

Es geschah ihr nichts; aber aus der großen Revisionsschrift wurde auch nichts. Der Magister gab seinen Plan wieder auf. [348] Warum? Wer weiß es? War es ihm überhaupt Ernst mit seinem angeblichen Vorhaben gewesen? Er mußte doch ganz genau wissen, daß er sich eben nicht rechtfertigen konnte!

Mein Großvater hoffte stets, daß Tinius auf seinem Sterbebette ein offenes Schuldbekenntniß ihm gegenüber ablegen würde, indessen es kam nicht so weit. Ausgefragt hat mein Großvater ihn niemals, auch nach andern Dingen nicht, die allen Dorfbewohnern räthselhaft waren.

So wußte z. B. niemand, woher der alte Magister das Geld bezog, um seinen kleinen Haushalt, der doch immerhin mit Miethe, Kleidung und andern Nebenausgaben gegen fünfzig Thaler jährlich betragen mochte, zu bestreiten. Zweimal im Jahre begab sich Tinius zu Fuß nach dem fünf Meilen von Graebendorf entfernten Berlin, um seine Gelder zu erheben. Er behauptete stets, daß ihm von der großen Loge der Freimaurer eine gewisse Summe als lebenslängliche Unterstützung ausgesetzt worden sei, da er selbst Freimaurer gewesen und es auch noch sei. Die Unwahrheit dieser Behauptung liegt auf der Hand. Einmal konnte der Magister als Geistlicher gar nicht der Loge angehört haben; und dann ist auch nicht anzunehmen, daß der Orden ein wegen Mordes zu langjähriger Zuchthausstrafe verurtheiltes Mitglied unter sich geduldet oder ihm gar eine bestimmte Jahresrente gewährt haben sollte. Höchst wahrscheinlich wird es sich hier um die Unterstützungsgelder gehandelt haben, die ihm von seiner früheren Gemeinde Poserna bei Weißenfels ausgeworfen waren. Durch Ueberweisung kamen sie dann bei irgend einer Kasse in Berlin zur Auszahlung.

Auf diesen eintägigen Abstechern kehrte Tinius gewöhnlich bei der ältesten verheiratheten Tochter meines Großvaters in der alten Jakobstraße ein. Wenn er ankam, war er in der Regel – wie ganz erklärlich – stark erschöpft, aber er erholte sich nach einer kurzen Ruhe sehr schnell, und niemals haben die Anstrengungen der neun- bis zehnstündigen Fußtour seiner Gesundheit geschadet. Dieser meiner ältesten Tante – sie ist als eine hohe Siebzigerin gestorben – hat Tinius wiederholt mittelbar seine Schuld eingestanden.

Meine Tante war damals Mutter von zwei kleinen Knaben im Alter von sechs bis acht Jahren. Natürlich besaß sie wie alle Mütter den Ehrgeiz, daß aus diesen echten Berliner Rangen etwas Großes werden möchte. Sie äußerte daher oftmals ihrem Besucher gegenüber den Wunsch: „Wenn meine Jungens bloß halb so klug werden wollten, wie Sie es sind, Herr Magister!“

Tinius winkte dann ab: „Wünschen Sie das nicht, liebe Frau! Das war gerade mein Unglück, daß ich so klug war und immer noch mehr wissen und immer klüger werden wollte! Es wäre mir besser gewesen, man hätte mich als Hütejungen bei meinen Schafen gelassen; so wäre ich wie mein Vater ein ehrlicher Schäfer geworden!“

Diese und ähnliche Redensarten, die Tinius meinen Verwandten gegenüber gethan hat, schließen zweifellos ein volles Sündenbekenntniß in sich.

Am nächsten Tage trat er – es mochte noch so schlechtes Wetter sein – regelmäßig beim ersten Tagesgrauen den Rückweg an. Er trug nicht die geringste Schutzwaffe, nicht einmal einen Stock bei sich. Wenn man ihn fragte, ob er sich nicht fürchte, mit einem vollen Geldbeutel in der Tasche gänzlich wehrlos und schutzlos meilenweit über Land und durch den einsamen Forst zu gehen, so schüttelte er stets den Kopf und wiederholte ernst, aber ohne Salbung, die Worte des dreiundzwanzigsten Psalms: „Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln! Er führt mich auf rechter Straße, um seines Namens willen! Und ob ich schon wanderte im finstern Thal, fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir; Dein Stecken und Stab trösten mich.“

Welch ein wunderbares Ding ist doch das Menschenherz! Wie viel widersprechende Gefühle können in einem so kleinen Raum dicht bei einander wohnen! . . . Dieser Mann, der sich eine besondere Liste von reichen Personen angelegt hatte, um sie, nach einem sorgfältig ausgeklügelten Plane, zu beschleichen wie der Jäger das Wild des Waldes – dieser selbe Mann vertraute allein auf seinen Herrgott, daß er ihn sicher vor Räuber- und Mörderhänden auf allen Wegen geleiten würde!

Aber als Tinius den Weg durch das dunkle Thal des Todes antreten sollte, hat er doch gezittert!

Es war am Montag in der vierten Woche des Monats September im Jahre 1846 An diesem Tage war Tinius zum letzten Male in seinem Leben bei meinem Großvater zu Tische. Zufällig war Besuch aus Berlin da, zwei Damen, die mit sehr gemischten Empfindungen auf ihren seltsamen Tischgenossen hinschauten.

Der Magister sprach fast gar nicht, aß, trotz wiederholter Aufforderung, nichts und brütete stumm vor sich hin. Auf die Frage meines Großvaters erklärte er, er fühle sich nicht wohl. Nach Beendigung der Mahlzeit empfahl er sich.

Als er am nächsten Tage nicht erschien, wurde meine inzwischen zu einer siebzehnjährigen Jungfrau herangewachsene Tante beauftragt, einen Korb mit Essen einzupacken und ihn dem erkrankten Magister in seine Wohnung zu bringen. Meine Tante kam dieser Weisung nach, übergab den gepackten Korb einer jungen Magd vom Pfarrhofe und machte sich mit ihr auf den Weg. Als ihnen auf ihr Klopfen an der Stubenthür des Magisters niemand öffnete, klinkten sie auf und traten ein. Ein unheimlicher Anblick bot sich ihnen dar. In der Mitte der Stube stand Tinius, starrte mit verstörtem verzerrten Gesichte in die Luft und murmelte allerhand unverständliche Worte vor sich hin. Er zitterte am ganzen Leibe wie Espenlaub. Auf wiederholtes Ansprechen kam er wieder so weit zu sich, daß er den Besuch erkannte. Er wandte sich ab und stöhnte: „Sehen Sie mich nicht an, Fräulein, sehen Sie mich nicht an! An mir ist nichts Gutes; weder außen, noch innen! Es ist alles schlecht, alles . . . alles.“ Dabei taumelte er. Meine Tante schob ihm schnell einen Stuhl unter, auf welchem er buchstäblich in sich zusammenbrach.

Den beiden jungen Mädchen wurde bei dieser höchst seltsamen, erschütternden Scene angst und bange; sie stellten den Korb hin und machten, daß sie davonkamen.

Am nächsten Tage begab sich mein Großvater in die Wohnung des Magisters. Er bekam ihn aber nicht mehr zu sehen. Tinius hatte sich in sein Schlafkämmerchen zurückgezogen, dasselbe von innen verriegelt und sich ins Bett gelegt. Er antwortete aber auf die an ihn durch die Thür gestellten Fragen, es ginge ihm immer noch schlecht, aber doch ein wenig besser als gestern.

Dann entfernte sich mein Großvater, der immer noch an der Hoffnung festhielt, Tinius würde ein offenes Sündenbekenntniß ablegen.

Als am Tage darauf die Wirthsleute von der Feldarbeit heimkehrten, fanden sie den Magister, vollständig angekleidet, mitten in der Wohnstube auf der Erde liegend – tot! Auf seinem Gesichte sowie an seinem Leibe sollen zahlreiche blaue Flecken sichtbar gewesen sein, so daß das ganze Dorf behauptete, Tinius habe sich vergiftet Man machte aber weiter kein Aufhebens davon, holte keinen Arzt zur Obduktion des Leichnams, sondern sargte diesen einfach ein.

Mein Großvater hat sich die Leiche nicht angesehen. Er glaubte nicht an das Gerücht von dem Selbstmord, und auch ich bin der Ansicht, daß die Annahme einer Vergiftung unhaltbar ist.

Als Tinius aufgefunden wurde, war er schon mehrere Stunden tot. Daß sich an ihm einige Flecken, die sogenannten „Totenmale“, vorfanden, ist ganz natürlich. Da er aber ein Mensch mit einer blutigen Vergangenheit war, so durfte er, nach der Ansicht der Dorfbewohner, auch keines natürlichen Todes gestorben sein. Deshalb fand man für die blauen Flecken, deren Anzahl durch die geschäftigen zungenfertigen Dorfweiber im Handumdrehen verdoppelt und verdreifacht wurde, nur die Erklärung: aus Gewissensbissen und weil er fürchtete, in der letzten Stunde schwach zu werden und ein Bekenntniß abzulegen, hat der Magister sich selber schnell vergiftet! . . .

Ich möchte beinahe genau das Gegentheil annehmen.

Unzweifelhaft war Tinius vor seinem Ende von den stärksten Gewissensbissen gefoltert. Als sie unerträglich wurden, sprang er auf, zog sich an, um zu dem Geistlichen zu eilen, dessen Milde und Güte er jahrelang kennengelernt hatte. Er wollte von ihm die Gnadenmittel der Kirche empfangen, an deren heilsame, versöhnende Wirkung er thatsächlich fest glaubte.

Es war zu spät! Ohne mit sich, mit der Welt, mit seinem Gott sich ausgesöhnt zu haben, stand er plötzlich vor dem höchsten Richterstuhle.

Mein Großvater hat ihn, wie jedes andere Mitglied seiner Gemeinde, christlich zur Ruhe bestattet. Niemand erhob Einspruch dagegen, daß das Grab mitten unter den andern aufgeworfen wurde. Von dem Makel des Selbstmordes war Tinius hierdurch offiziell gereinigt.

Er hat alle seine dunklen blutigen Geheimnisse mit sich ins Grab genommen. Kein Mensch hat jemals nach ihm gefragt. Weder Angehörige, noch eine Behörde wandte sich an meinen Großvater um Ausstellung eines Totenscheins. Er war für die Welt längst gestorben!